Nutzungsvielfalt für Graz-Reininghaus

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Nutzungsvielfalt f端r Graz-Reininghaus



Nutzungsvielfalt f端r Graz-Reininghaus 6 Konsulenten zum zuk端nftigen Stadtteil Graz-Reininghaus


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Inhalt Die Reininghaus-Methode Das Areal Graz-Reininghaus Perspektive Nutzungsvielfalt Die Konsulenten Aspekte der Nutzungsvielfalt Aspekte – Kurzfassung Projektbeteiligte

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Wie aus der gebauten Stadt die erlebte Stadt wird Nutzungsvielfalt als Konsequenz und Voraussetzung für zeitgemäße Urbanität

Was nützt es, wenn … diese entwaffnend pragmatische Frage ist letztlich der Prüfstein für jedes theoretische Konzept. Auch in der Stadt. So könnte man zu einem vollständig entwickelten Graz-Reininghaus in der Zukunft einmal fragen: Was nützt ein schöner Boulevard, wenn man keine Lust hat, auf ihm zu flanieren? Das bedeutet: Die Idee, einen Boulevard zu schaffen, ist wunderbar. Wenn aber Atmosphäre, das Angebot der Geschäfte und der Stadtteil rundum nicht zum Stadterlebnis einladen, ist der Nutzen für alle Betroffenen enden wollend. Genau das Gegenteil – der maximale Nutzen für alle – ist jedoch für Graz-Reininghaus das Ziel. Um es zu erreichen, wäre es falsch, das Konzept einfach dem Bedarf unterzuordnen. Das ist zum einen nicht unser Anspruch, zum anderen ist es erwiesenermaßen der falsche Zugang. So hat man etwa im Zeitalter der Moderne Anfang des 20. Jhdts. eine klare Nutzungstrennung für die Stadt als ideal erkannt. Wohnen, Leben und Arbeiten in jeweils eigenen Stadtteilen, dafür gab es damals durchaus gute Gründe. Allein die Dichte der Bevölkerung und des Straßenverkehrs haben aber dazu geführt, dass sich dieses Konzept, ehemals für die Stadt der Zukunft gedacht, inzwischen gegen die Stadt richtet und sie zerstört.

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Nutzungstrennung ‚nützt’ also heute nichts mehr. Sie hat nichts Positives mehr, nichts, das in die Zukunft weist, Graz-Reininghaus einzigartig und Graz wertvoller macht. Und die bloße Ausrichtung der Stadtentwicklung am kurzfristigen Bedarf hat sich auch als Irrweg herausgestellt. Daher unsere intensive Beschäftigung mit Konzepten, mit allem, was heute über die Stadt gewusst wird. Mit der Nutzungsvielfalt verfügen wir über einen für Graz-Reininghaus Ziel führenden Ansatz: Die richtige Mischung der Nutzungen in einem Stadtteil ist angesichts der Kollateralschäden der Moderne über das schwärmerische GrätzlDenken weit hinaus. Nach allen Erkenntnissen ist Nutzungsvielfalt heute Konsequenz und Voraussetzung für zeitgemäße Urbanität. Nutzungsvielfalt ist jedoch nicht planbar, weil es kein unverrückbares Endergebnis gibt wie etwa bei einem Gebäude. Das Ergebnis der Nutzungsvielfalt ist vielmehr ein kontinuierlicher Prozess, der in seiner Wirkungsweise genau das abbildet, was die Stadt zur Stadt macht: Eine paradoxe, polythematische und polyatmosphärische Verdichtung von Situationen – bei gleichzeitiger Bereitstellung von Freiräumen für Anonymität, Sozialisierung und für noch nicht definierte Nutzungen.


Diese für Graz-Reininghaus als richtig erkannte, zukünftige Wirklichkeit ist auch der Ausgangspunkt des Nutzungsvielfalt-Konzepts. Hier werden die Fäden aufgenommen und zu den entsprechenden Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zurückverfolgt. Diese sind gut untersucht und mit ausreichend Evidenz versehen, so dass sie bei richtiger und konsequenter Gestaltung entscheidend zur Nutzungsvielfalt beitragen. Unter der bewährten Stadtteil-Intendanz von kleboth lindinger partners brachte dieser jetzt abgeschlossene Entwicklungsschritt wieder wertvolle Erkenntnisse, Antworten und Wegweiser für ein glückendes Graz-Reininghaus: Vom Zusammenleben der Einwohner über das Nebeneinander und einander Verstärken der Nutzungen bis hin zu möglichen Formen der Umsetzung und Begleitung. Brennpunkt der Beschäftigung mit der Nutzungsvielfalt in Graz-Reininghaus war ein Symposion im Mai 2008, an dem mit Wolfgang Amann, Christoph Chorherr und Raimund Gutmann drei Experten mit möglichst divergierenden Erfahrungshorizonten teilnahmen. Jutta Kleedorfer, Michael Klees und Christian Krainer erweiterten das Forum mit ihrem Anwendungswissen. Moderiert wurde die spannende und leidenschaftliche Diskussion vom Fachjournalisten Wojciech Czaja, Der Standard.

Die Auswahl in der Gleichzeitigkeit von Situationen und Angeboten – das ist es, was die Stadt zur Stadt macht. ‚Sowohl als auch’ an einem Ort statt ‚Entweder – oder’ an allen Orten. Denn wir sind der festen Überzeugung, dass die Planung eines Stadtteils heute – und noch mehr in Zukunft – in unterschiedlichen und vielfältigen Szenarien denken und handeln muss. Auf dem Weg, Graz-Reininghaus von der Konzeption in die Wirklichkeit überzuführen, war die Auseinandersetzung mit der Nutzungsvielfalt – intensiver als sonst üblich – ein wichtiger Schritt. Zusammen mit den noch laufenden Prozessen werden die Ergebnisse weiter zu einem fassbaren Stadtmodell und zu einem urbanen Versprechen für Graz-Reininghaus verdichtet werden. Roland Koppensteiner CEO der Asset One AG

Vorwort

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Die Reininghaus-Methode

02 / 2006

01 / 2007

Woher kommt das Neue?

werkstadt017

Das Buch

Die Konzeption des Wünschenswerten

Struktur der Eigenschaften

Die Kultur des Scheiterns Der Wurm in der Bildung

Standpunkte

ReininghausGesellschaft Rodelle

Wissenslandkarte

La Strada MIPIM 2007 Smart Cities FH-Kooperation

sTennisMasters 07 steirischer herbst

Die Asset One Immobilien Entwicklungs AG nimmt sich für die Entwicklung von GrazReininghaus vor allem Zeit. Zeit für eine detaillierte Suche nach den Qualitäten, die den zukünftigen Stadtteil charakterisieren und unverwechselbar machen werden.

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Dieser Prozess dauert mehrere Jahre. Zum einen, um die Eigenschaften behutsam und genau entwickeln zu können. Zum anderen, um bekannte und allgegenwärtige Fehler zu vermeiden. Es gilt, möglichst viele Blickwinkel einzunehmen und Optionen abzuwägen, bevor man die gesammelten Erkenntnisse Schritt für Schritt in tragfähige wirtschaftliche Konzepte, in Architektur und insgesamt in einen zukunftsweisenden Stadtteil übersetzt.


01 / 2008

Future of Cities, Copenhagen

Was baut Wien? Exkursion Oberösterreich

Exkursion nach Barcelona

01 / 2010

01 / 2009

Denksalon Bildung

Stadtmodelle

Bildung / Wissenschaft

Charta Graz-Reininghaus

Stadtsoziologie / Kulturwissenschaften

Nutzer Symposium Next City

Energie

Perspektiven

01 / 2011

Stadtgestalt

Good Governance

Rechtsform

Nutzungsvielfalt

Finanzierung Symposium

Stadtszenarien Frei- und Grünraum Mobilität Kickoff

Vermarktung Nachhaltigkeit

Symposium 7 grüne Ideen für Graz

Verdichtung

Mobilität für Graz-Reininghaus

Wohnen

Rechtliche Grundlagen Genehmigungsplanung

Bauen und Leben

Realisierungsplanung

Städtebaulicher Rahmenplan

Infrastruktur Verkehr

Wohnen für Graz-Reininghaus

Workshop Smart Cities Impulse Urbanism Kooperationen Pioniernutzungen

Urbane Zukunftsszenarien

Sozialraumanalyse sTennisMasters 08

Wesentlich dabei erscheinen noch zwei Faktoren: Kontinuität und Transparenz. Kontinuität, was die Bearbeitung der Themen und die Verlässlichkeit der Aussagen angeht. Das schafft Vertrauen und ist eine wesentliche Voraussetzung für ein erfolgreiches Miteinander der beteiligten Akteure.

Transparenz signalisiert den Grazer Bürgern ebenso wie der Politik und möglichen zukünftigen Investoren: Hier wird mit großem Engagement versucht, einen neuen, lebenswerten Stadtteil entstehen zu lassen. Man kann zusehen, wie die Gedanken, Ideen und Entwürfe – und später die Häuser und der Stadtteil wachsen.

Die Reininghaus-Methode

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Konzeptionen des Wünschenswerten – Was Städte über die Zukunft wissen sollten. Erschienen im Czernin Verlag und bei SpringerWienNewYork. www.graz-reininghaus.com

Perspektivenwechsel Nicht Städteplaner und Architekten, sondern 32 Grazerinnen und Grazer unterschiedlicher beruflicher Herkunft und deren Gesprächspartner aus den verschiedensten Lebensbereichen im In- und Ausland begaben sich 2006 auf die Suche nach wünschenswerten Konzeptionen für zukünftiges urbanes Leben, Arbeiten und Lernen. Das Ergebnis waren demnach auch keine Pläne und Zeichnungen, sondern ein Buch. Und ein Netzwerk von Eigenschaften.

Der Entwicklungsprozess von Graz-Reininghaus hatte damit seine ersten grundlegenden inhaltlichen Orientierungslinien, die in der Folge in fünf zentralen Standpunkten von Asset One manifestiert wurden. Demnach soll GrazReininghaus ein vollwertiges und gemischt genutztes Stadtzentrum werden, das unter der inhaltlichen Führung von Asset One schon aufgrund des einzigartigen Entwicklungsprozesses als eigenständige Marke eindeutig zu erkennen sein wird. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, hat kleboth lindinger partners eine Prozessarchitektur entworfen, in deren Rahmen der Weg vom Denkbaren zum Möglichen konsequent und transparent beschritten wird. Das komplexe Thema Stadtentwicklung wird dabei von Experten aus verschiedenen Diszi­plinen vertieft und Perspektiven zu den The­men Grün- und Freiraum, Stadtszenarien, Nutzungs­ vielfalt, Mobilität, Energie und Wohnen werden entwickelt. Zudem werden zentrale Aspekte des Lebens in einer Stadt der Zukunft aus der soziokulturellen Perspektive heraus formuliert und bearbeitet. All dies sind Themen, innerhalb derer Graz-Reininghaus konsequent weitergedacht wird und aus ­denen ein erstes, noch stark abstraktes Stadtmodell des zukünftigen Stadtteils von Graz entstehen wird.


Ein Stadtzentrum im Grazer Westen

Vielfalt durch Urbanit채t

Graz-Reininghaus als Marke

Der Prozess als Qualit채t

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Asset One als Impulsgeber

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5 Die Reininghaus-Methode

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Perspektiven der Entwicklung von Graz-Reininghaus Nutzungsvielfalt Stadtszenarien Grün- und Freiraum Mobilität Energie Next City

Perspektive Stadtszenarien Joan Busquets, Andres Duany, Erick van Egeraat, Vittorio Magnago Lampugnani, Dietmar Leyk, Philipp Oswalt, Kazunari Sakamoto und Dirk Baecker im Gespräch mit Andreas Kleboth und Max Rieder auf der Spur von städtebau­ lichen Möglichkeiten für Graz-Reininghaus …­ im Rahmen von Interviews an den Bürostand­ orten der genannten Konsulenten in Berlin, Zürich, Rotterdam, Tokyo, Miami, Barcelona und Friedrichshafen und bei einem zweitägigen Symposium in Graz wurden vielfältige Themen aus dem Bereich des Städtebaus aufgezeigt, erörtert und nebeneinandergestellt. Durch intensives Betrachten einzelner Themen wie Startpunkt, Wachstum und Planbarkeit von Stadtteilen, Herstellen von Wertbeständigkeit und Kommunizierbarkeit städtischer Optionen entstand ein umfassendes Bild für entscheidende Fragen einer Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts. Ganz bewusst ging es dabei vorrangig darum, Potenziale aufzuzeigen, ohne bestimmte Themen festzuschreiben. Eine ausführliche Publikation zum Thema „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“ liegt vor.

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Perspektive Grün- und Freiraum Bilder des Frei- und Grünraums als erste konkretisierte Bilder eines Stadtteils, das war die Idee. Also wurden sieben europäische Landschaftsarchitekturbüros aus Graz, Wien, Meran, Karlsruhe, Paris und Amsterdam eingeladen, Vorschläge für den Freiraum in Graz-Reininghaus zu machen. Ganz bewusst nicht als Wettbewerb gedacht, sondern als Sammlung von Ideen und Anregungen.

Die eingebrachten Vorschläge waren vielfältig und reizvoll: Sie reichten von kleinen Interventionen wie einem Giraffengehege im bestehenden Malzsilo über eine Sichtbarmachung der bestehenden Quellen durch Fontänen und Trinkhäuser bis hin zu gesamthaften Lösungen wie etwa einem Central Park in der Mitte von Graz-Reininghaus. In einem zweitägigen Symposium waren alle sieben Landschaftsarchitekten am 24./25. Juni 2008 in Graz-Reininghaus und diskutierten dabei gemeinsam mit Vertretern der Stadt Graz grundlegend und intensiv wesentliche Fragen der Freiraumplanung. In einer Abendveranstaltung wurden die Ent­ würfe auch öffentlich diskutiert. Eine ausführliche Publikation zum Thema „Grün- und Freiraum für Graz-Reininghaus“ liegt vor.

Die Reininghaus-Methode

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Perspektive Mobilität Mobilität ist eines der Kernthemen für eine langfristige Standortentwicklung. Einerseits sind einfache Erreichbarkeit und optimale Anbindung an überregionale Wegenetze unabdingbare Bedingungen jedes erfolgreichen Immobilienprojekts. Andererseits stellt die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum einen wesentlichen weichen Standortfaktor dar. Zudem greift das Thema Mobilität in einem Stadtteil elementar in den Alltag von Bewohnern und Passanten ein. Ein derart großes Betrachtungsgebiet wie Graz-Reininghaus bietet besondere Chancen, das Mobilitätsverhalten der Menschen grundlegend zu ändern. Hierfür zwei Beispiele: 1. Wenn ein einzelnes „autofreies“ Wohnhaus errichtet wird, bleiben für die Bewohner durch den Transitverkehr trotz allem noch die üblichen Belastungen des motorisierten Verkehrs. Denkt man aber das Modell innerhalb eines ganzen Stadtteils durch, so summieren sich die Vorteile: Kein Autolärm, maximale Verkehrssicherheit für Fußgänger auf den Straßen und die Gestaltung des Straßenquerschnitts folgt verstärkt den Anforderungen der Aufenthaltsqualität. 2. Steht das Auto nicht direkt unter den jeweiligen Wohnhäusern, sondern in zentralen Sammelgaragen, können sich vielfältige Perspektiven ergeben: Die scheinbar zwangsweise Koppelung von Wohnung und Parkplatz wird aufgehoben, dadurch wird Wohnraum billiger. Öffentliche Verkehrsmittel sind gleich gut oder besser erreichbar als die privaten Autos, dadurch erhöht sich die Akzeptanz des öffentlichen Personennahverkehrs.

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Und schließlich führt die vermehrte Benutzung des öffentlichen Raums zu mehr Sozialkontakten und zur Aktivierung der Sockelzonen, wo Geschäfte in fußläufiger Umgebung entstehen können. Die Perspektive ‚Mobilität’ wird im Zeit­ raum April bis Dezember 2008 bearbeitet. Die Ergebnisse werden anschließend in der vor­lie­ genden Dokumentationsreihe zusammengefasst.


Perspektive Energie Es ist das hochgesteckte Ziel zukunftsorientierter Stadtentwicklungen, „energieneutral“ zu sein. Das heißt, der Betrieb des Stadtteils erfolgt ohne externe Energie (Elektrizität, Gas, Öl usw.), vielmehr wird die benötigte Energie in bzw. an den Häusern selbst erzeugt, meist durch Solaranlagen, Solarzellen, Erdwärme, Grundwasser etc. Zusätzlich wird auch jene Energie, die in die Herstellung und Entsorgung der Bauwerke investiert wurde (graue Energie), innerhalb des Lebenszyklus erwirtschaftet. Wie eine derartige saubere Vision für Graz-Reininghaus Wirklichkeit werden kann, wird in dieser Perspektive geklärt. Dabei geht es einerseits um die technisch sinnvolle Machbarkeit solcher Vorhaben und andererseits um das Aufzeigen von Verwertungschancen der Immobilien. Besonders spannend erscheint dabei, welche Synergien sich durch die ganzheitliche Betrachtung der Energiebilanz eines ganzen Stadtteils ergeben. Denn gerade unterschiedliche Funktionen und Nutzungszeiten bergen überraschende Möglichkeiten, wenn die Abwärme des einen Gebäudes zum Heizen des nächsten dient, wenn Büros blendfrei nach Norden und Wohnungen zur Sonne orientiert sind und wenn darüber hinaus Wege des täglichen Bedarfs fußläufig in Graz-Reininghaus stattfinden.

Die Reininghaus-Methode

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Perspektive Next City Wie man „Stadt“ im Rahmen der absehbaren Veränderungen unserer Gesellschaft denken kann, ist Gegenstand der stadtsoziologischen Perspektive, die im Projekt Graz-Reininghaus unter der Überschrift „Next City“ bearbeitet wird. Durch Forschungskooperationen u. a. mit der Zeppelin University Friedrichshafen und unter Einbindung internationaler Experten werden all die relevanten gesellschaftlichen Fragestellungen aufgegriffen, die sich mit dem Übergang der modernen Gesellschaft in eine post-moderne Weltgesellschaft für die Entwicklung urbaner Räume ergeben. Dabei steht insbesondere die Neubewertung der Frage nach Heimat und Verortung des Menschen in Zeiten globaler, zunehmend virtueller Lebenszusammenhänge im Mittelpunkt. Die Ergebnisse dieses Arbeitsprozesses werden in Form eines „stadtsoziologischen Pflichtenhefts“ zusammengefasst, in dem Überlegungen und Anforderungen an eine „Nächste Stadt“ am konkreten Beispiel von Graz-Reininghaus durchdekliniert und festgehalten werden. Ein dreitägiges Symposium zum Thema fand vom 13. bis 15. November 2008 in GrazReininghaus statt.

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Ausblick: Stadtmodell Reininghaus In diesem kommenden Prozessschritt werden die bisher gesammelten Inspirationen, Ideen und Perspektiven erstmals gebündelt und materialisiert. Dies wird in Form von sogenannten „Stadtmodellen“ geschehen, die man als abstrahierte Verräumlichungen interdisziplinär gedachter Stadtideen verstehen kann. Sie sind die umfassende Materialisierung der vielfältigen Überlegungen für Graz-Reininghaus, die Übersetzung wünschenswerter Eigenschaften aus unterschiedlichen Disziplinen in ein auch grafisch dargestelltes Stadtmodell. Die Konzeption der Stadtmodelle wird stark geprägt sein von Wissen, Erfahrung und von Erkenntnissen aus dem bisherigen Prozess. Darauf aufbauend werden sich wiederum durch die subjektive Wahrnehmung geprägte, kreativ-individualistische Lösungsvorschläge ergeben. Die Varianten dieser „Stadtmodelle“ werden ein Spektrum an prinzipiellen Möglichkeiten für Graz-Reininghaus liefern und so Richtungsentscheidungen für die weitere Entwicklung erleichtern. Ihnen folgen intensive Diskussionen, Evaluierungen durch externe Experten, Kommentare und Kritik – danach wird aus den vorgelegten Varianten eine ausgewählt. Diese wird dann zum „Stadtmodell Reininghaus“.

Das „Stadtmodell Reininghaus“ wird zum Haltegriff, Schrittmacher und Gradmesser für alle weiteren Umsetzungsmaßnahmen von Graz-Reininghaus. Erst danach werden die herkömmlichen Entwicklungs- und Planungsschritte, wie Bebauungsplanung, Projektplanung usw., zum Einsatz kommen – auf dem höchst ambitionierten Weg zu einem „normal funktionierenden Stadtteil des 21. Jahrhunderts”.

Die Reininghaus-Methode

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Das Areal Graz-Reininghaus >>


Das Areal Graz-Reininghaus

Graz-Reininghaus Im Westen von Graz liegt, nur 1.800 Meter vom historischen Stadtzentrum entfernt, das 545.786 Quadratmeter große Areal der ehemaligen Brauerei Reininghaus. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine große, durch charakteristische Pappelhaine strukturierte Grünfläche mit einigen Industriegebäuden als Altbestand. De facto ist Graz-Reininghaus zurzeit ein weißer Fleck auf dem Stadtplan.

In der Ruhe liegt heute die Kraft Die erste bekannte Nutzung des Gebiets war der Weinbau, von den nach Südosten ausgerichteten Lagen des Plabutsch bis weit in die Ebene hinein. Unter den Römern kam zur bestehenden, in Nord-Süd-Richtung führenden Straße eine West-Ost-Achse hinzu. An der Kreuzung dieser beiden Verkehrswege wurzelt Graz-Reininghaus: 1361 erweiterte Graz sein Stadtgebiet nach Westen über die Mur bis zur alten Poststraße, um von dem an Graz vorbei fließenden Alpen-Adria-Verkehr Maut einheben zu können. Dem Mauthaus folgte eine Gastwirtschaft und 1669 erhielt ihr Besitzer vom Fürsten zu Eggenberg die Erlaubnis für die Errichtung einer Brauerei. 1853 erwarben Johann Peter und Therese Reininghaus das Mauthaus samt Brauerei und 45 Hektar Land. Ein idealer Zeitpunkt: Die Brachen und ehemaligen Militärflächen vor den inzwischen geschleiften Befestigungen der Stadt waren leicht verfügbar. Die Monarchie wurde von der Industrialisierung erfasst, im Brauwesen ermöglichten innovative Verfahren neue ­Dimen­­sionen der Bier-Produktion und die aufkommende Eisenbahn bot ungeahnte logistische Vorteile.

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Der Boom der Gründerzeit hat Folgen: Graz wächst 1850-1910 von 56.220 auf 151.781 Einwohner. Zur industriellen Nutzung kommt im Grazer Westen die Bebauung mit Häusern, Wohnungen und Kleingärten. Die Marktgemeinde Eggenberg wird zum Villen­viertel und zur Arbeitervorstadt. Reininghaus investiert – durchaus auch im Eigeninteresse – in kommunale Infrastruktur, so verbinden ­bereits 1901 zwei Straßenbahnlinien die ­Grazer Altstadt mit dem Reininghaus’schen Landbesitz in den westlichen Bezirken. Auch die Stadt erkennt das neue Zeitalter. Der 1892 vom Grazer Gemeinderat ­verabschiedete Generalbebauungsplan antizipiert einen Zeitraum von 50 bis 100 Jahren und definiert schon damals Grünraum als Kennzeichen von Graz. Dieser Masterplan ­bezog bereits Randgemeinden wie Eggenberg mit ein, die 1938 – wenn auch unter voll­ kommen anderen Vorzeichen – in Groß-Graz integriert wurden. Nach 1945 wird es ruhig in Reininghaus. Die im Krieg unterbrochene Bierproduk­ tion wird nach Puntigam verlagert, Ländereien und Gebäude werden verpachtet und die ­freien Flächen bis heute landwirtschaftlich ­genutzt. Eine Ruhe, die – noch – andauert. Erste Anzeichen für eine Belebung in Graz-Reininghaus sind aber schon spürbar. So gibt es bereits einige innovative Unternehmen und auch zarte Pflänzchen einer Nutzungsmischung: ­Kinderhort und Kinder­ garten befinden sich hier, weiters Forschungsbetriebe wie SFG-Graz West, Roche Diagnostics und das Internet Startup-Center Graz, aber auch produzierende Betriebe wie die Stamag und die Druckerei DMS haben sich hier angesiedelt.


Größere Unternehmen, Einrichtungen und Institutionen in unmittelbarer und mittelbarer Nachbarschaft:

Helmut-List-Halle

Hauptbahnhof FH Joanneum Siemens

Baumarkt Hellweg

Graz-Köflacher Bahnhof AVL + DiTEST

Kormann Baustoffe

Richtung Norden und Nordosten: · Fachhochschule Joanneum · AVL List Skills Center & Academy · DiTEST · Siemens Transportation Österreich · Graz-Köflacher Bahnhof · Graz Hauptbahnhof · Helmut-List-Halle · Baumarkt Hellweg Richtung Osten und Südosten: · Roche Diagnostics Austria · Marienhütte Stahl und Walzwerk · Kormann Baustoffe · Nahverkehrsknoten Don Bosco

Marienhütte Roche Diagnostics

Don Bosco

Das Areal Graz-Reininghaus

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Historische Entwicklung des Gebiets

14. Jahrhundert Die Stadt Graz errichtet ein Mauthaus im Grazer Steinfeld am Kreuzungspunkt der OstWest- und Nord-Süd-Routen, die bereits in der Römerzeit bekannt waren.

16. Jahrhundert Ein neues Mauthaus entsteht an der Stelle, wo sich heute das Restaurant Reininghaus befindet.

1853 Der aus Westfalen stammende Johann Peter Reininghaus und seine Frau Therese Mautner Markhof kaufen das Mauthaus und das dazugehörige Areal.

1855

Johann Peter und sein Bruder Julius Reininghaus gründen die Firma „Brüder Reininghaus“. Sie bauen die erste mit Dampf betriebene Brauerei der Steiermark und melden mehrere Patente für Brauereigeräte an. In den kommenden Jahrzehnten werden Eisteiche angelegt, ein Kanal zur Mur gegraben und ein Sportplatz angelegt, der heute noch existiert. 1882 Anschluss des Geländes an die Südbahn.

1892 Die Brauerei zählt 700 Mitarbeiter und ist damit die fünftgrößte der Monarchie. Die Brüder Reininghaus beteiligen sich an der Gründung der Grazer Tramwaygesellschaft, am Elektrizitätswerk in Lebring und am Bau der Schlossbergbahn.

Im Grazer Gemeinderat wird der „Generalbebauungsplan 1892 der Stadt Graz mit allen Teilen als Rahmenentwurf für die bauliche Entwicklung der Stadt in den nächsten 50 – 100 Jahren“ beschlossen. Der bürgerliche Hausbau und die Betonung von Grünräumen als Teil der städtischen Wohlfahrt sind zwei markante Kennzeichen dieses Beschlusses. Die Marktgemeinde und Arbeiter­ vorstadt Eggenberg hat ein eigenes Rathaus, ein Bauamt, ein Volksbad und 68 Gemischtwarenhandlungen.

1900 und 1901 werden zwei Straßenbahnlinien in den Grazer Westen eröffnet. Der Landbesitz der Brüder Reininghaus reicht bis zum heutigen Weblinger Gürtel.

Nach 1918 Die Förderung des Kleinwohnungsbaus führt in den Stadtrandgebieten von Graz zum Bau zahlreicher Einzelhäuser mit Gartenanteil. Karl Hoffmann ortet in dieser Tendenz 1928 eine fehlende „notwendige Zusammenfassung zur städtebaulich befriedigenden Einheit“ und schlägt eine nutzungsbezogene Gebietsaufteilung vor, die in ihrer Funktionsaufteilung bereits die Richtung späterer Flächenwidmungspläne einschlägt und auch auf die Nachbargemeinden von Graz Bedacht nimmt.

1938 Eggenberg, Wetzelsdorf und weitere Gemeinden westlich der Südbahn werden eingemeindet. Graz erreicht damit seine noch heute gültige Ausdehnung.

1939 Emigration der Familie Reininghaus.

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Das Areal und seine Umgebung 1) Jüdischer Friedhof 2) Gründerzentrum 3) WIKI Kindergarten 4) Stamag Mälzereiturm 5) Einfamilienhaussiedlung 6) Graz-Köflacher Bahn

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Das Areal Graz-Reininghaus

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Die Brauerei Reininghaus im Jahr 1908

Reininghaus war einer der Pioniere der Industrialisierung im Brauwesen

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1941 NS-Pläne sehen vor, Graz zum „Bollwerk gegen Südosten“ mit Platz für 300.000 bis 400.000 Einwohner samt überdimensionalen Stadtachsen und Aufmarschplätzen auszu­ bauen. Von diesen NS-Plänen werden lediglich einige Wohnbauten in der Nähe des Zentralfriedhofs realisiert.

1944 /1945 Die Brauerei Reininghaus wird mit der Brauerei Puntigam zwangsfusioniert. Auf dem Reininghaus-Gelände wird unterirdisch Kriegsgerät produziert. Die Brauerei wird mehrmals Opfer von Bombenangriffen und ist bei Kriegsende stark beschädigt.

1946 /47 Die Familie Reininghaus kehrt aus dem Exil zurück. Die Bierproduktion wird nach Puntigam verlegt.

1948 Städtebauliche Planung für Graz durch BleichEhrenberger-Gallowitsch, die sich an den Prinzipien der Moderne und an Le Corbusiers „offener Stadt“ orientiert. Entwurf eines auf die Topographie abgestimmten Planes für die Festlegung von hochhausfreien Zonen.

1960er-Jahre Der Generalverkehrsplan widmet sich der Erschließung der ganzen Stadt für den Autoverkehr. Der Plan, die Nord-Süd-Verkehrsachse des Fernverkehrs durch Eggenberg zu leiten und mehrere Anbindungen ins Zentrum zu schaffen, wird von Bürgerinitiativen verhindert. Die Umfahrung von Graz durch den Plabutschtunnel gilt als Alternativvariante.

1975, 1982, 1992 Die Flächennutzungs- bzw. Flächenwidmungsplanung der Stadt Graz nimmt immer stärker die Position der örtlichen Raumordnung ein. Schwerpunkte sind die Begrenzung des Baulandverbrauchs, das Abblocken von aus dem Rahmen fallenden Vorhaben sowie bewahrende Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität.

1995 – 1999 Im Rahmen des EU-Programms URBAN I erfolgt 1997 die Ansiedlung der FH Joanneum an der Kreuzung Eggenberger Allee/Alte Poststraße als Impuls für die Aufwertung des Grazer Westens.

1997 Übernahme der Steirerbrau AG durch die Brau Union.

2001 – 2005 Im Rahmen von URBAN II werden u. a. der Bau der Helmut-List-Halle beschlossen und der Ausbau des FH-Campus Graz-West. ­Unterstützt werden der Bau der Unterführung Graz-Köflacher Bahn in der Alten Poststraße, die Einrichtung des Start-up-Centers im „Businesspark Reininghaus“ sowie weitere Projekte zur städtebaulichen Entwicklung von Graz-­­West.

2003 Heineken erwirbt die Aktien der Brau Union.

2005 Asset One erwirbt das Gelände von GrazReininghaus.

Das Areal Graz-Reininghaus

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Perspektive Nutzungsvielfalt >>


Perspektive Nutzungsvielfalt

Ansatz

Rechte Seite Die Diskussionsrunde Ausblick in die Stadt

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Im Sinne eines vielfältigen, bunten Stadtteils Graz-Reininghaus erscheint eine funktionale und soziale Durchmischung unumgänglich. Die klassische urbane Nutzungsmischung – Geschäfte im Erdgeschoß, darüber Büros und Wohnungen – wird nicht mehr allen Anforderungen künftiger Nutzer gerecht werden. In Graz-Reininghaus sollen die vielfältigen Facetten des Alltags – Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Freizeit, Kinder genau so wie Altenbetreuung, aber auch Bildung, Ruhen und Kommunikation – zunächst umfassend neu ­gedacht und anschließend unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Konzentration neu komponiert werden. Der Wunsch nach einem neuen Miteinander erfordert für GrazReininghaus eine noch intensivere Auseinandersetzung mit den Anforderungen an die ­Nutzungsmischung als es bisher üblich war.

Wenn man weiters davon ausgeht, dass funktionierende Nutzungsvielfalt auch aus Gründen der Risikominimierung in der Verwertung ­häufig gesucht aber nur ganz selten gefunden wird, dann ist es sinnvoll, eingehend darüber nachzudenken, welche Voraussetzungen in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht dafür zu schaffen sind – und wie auch das Marketing für den Standort allenfalls neu und anders zu denken ist. Vielleicht stehen die Weichen in unserer Gesellschaft zur Zeit nicht auf ‚selbstverständliche Nutzungsvielfalt’ – dann besteht in Graz-Reininghaus die Chance, sie neu zu stellen. In der Folge lassen sich aus den ­Ergebnissen dieses Nachdenkprozesses neue Qualitäten für Bewohner und Benutzer ableiten. Übergeordnetes Ziel für Graz-Reininghaus ist jedenfalls ein ‚Sowohl-als-auch’ anstelle ­eines ‚Entweder-Oder’: Sowohl arbeiten als auch die Frühlingssonne genießen, sowohl Kinder als auch Karriere und sowohl Beruf als auch Familie.

Ziel Im Rahmen des Projekts Graz-Reininghaus dient die fachliche Auseinandersetzung mit der Nutzungsvielfalt im städtischen Raum dazu, ein breites Spektrum an Möglichkeiten aufzuzeigen. Statt einer Einzellösung werden die ­herausragenden Modelle der urbanen Durchmischung dargestellt, zusammen mit ihren ­jeweiligen Vorteilen und mit der entsprechenden Plan- bzw. Umsetzbarkeit. Durch diese Ausarbeitung soll in Graz-Reininghaus städtische Vielfalt von Anfang an gewähr​​​leistet werden können.


Methode Um ein möglichst vollständiges Bild von den ­­ Modellen der Nutzungsvielfalt zu erhalten, wurden Konsulenten aus unterschied­lichen Wissensbereichen, mit vielfältiger E ­ rfahrung und aus einem breit gefächerten räum­lichen Umfeld in diesen Prozess ein­­gebunden. Sie sollten in Folge die Nutzungs­mischung ­hin­­­sichtlich der folgenden drei Aspekte be­ trach­ten: 1) Bau und Recht 2) Funktion 3) Gesellschaft/Sozialwissenschaft Bei der Auswahl der ebenfalls beigezogenen Diskussionsgäste war es hingegen wichtig, dass diese mit der Stadt Graz bzw. mit den Bezirken im Westen der Stadt vertraut sind. Zudem sollten sie die Notwendigkeit mittragen können, dass bei der Entwicklung eines lebendigen Stadtteils Graz-Reininghaus eine inno­ vative Herangehensweise erforderlich ist. Die Konsulenten Wolfgang Amann, Christoph Chorherr und Raimund Gutmann ­referierten zunächst über ihre Arbeitsgebiete und Erfahrungen. Anschließend trugen sie ­jeweils ihre Thesen zur Nutzungsvielfalt vor. An der nachfolgenden Diskussion, moderiert von Wojciech Czaja, Der Standard, nahmen dann auch die eingeladenen Gäste Jutta ­Kleedorfer, Michael Klees und Christian Krainer­ ­teil, weiters Vertreter von Asset One und v­ on kleboth lindinger partners. In dieser Runde wurden Möglichkeiten und Varianten, aber auch Bedingungen und Planbarkeit von N ­ utzungs­­­vielfalt in aller Tiefe erörtert.

Perspektive Nutzungsvielfalt

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Die Konsulenten >>


Dr. Wolfgang Amann

„Nutzungsvielfalt als Selbstzweck allein ist zu wenig. Wichtig ist die strategische Entwicklung im Prozess. Im Endeffekt funktioniert Nutzungsvielfalt als ökonomisches Prinzip nur dann, wenn sie auch tatsächlich ökonomisch rentabel ist.“ „Nutzungsvielfalt muss mehrere Aspekte gleichermaßen berücksichtigen: ökono­mische, ökologische, soziale und politische.“ Dr. Wolfgang Amann 1989 – 1991 Journalismus und Publizistik in Städtebau, Immobilien, Recht, Kultur 1991 – 1994 Synthesis Forschungsgesellschaft 1994 Gründung von Büro Amann – forschungsorientierte Dienstleistungen im Immobilienbereich 1997 – 2005 Geschäftsführer der FGW – Forschungsgesellschaft für Wohnen, Bauen und Planen 2005 Erwerb der IIBW GmbH – Institut für Immobilien, Bauen und Wohnen (www. iibw.at).

Wolfgang Amann arbeitet in seinem Institut für Immobilien, Bauen und Wohnen auch als Bauträger in der Projektentwicklung. Als K ­ oordinator der Arbeitsgruppe „Legal aspects of building, land and planning“ des European Network for Housing Research (ENHR) und als ­Mitglied des UNO-Beratungsgremiums “Real Estate Market Advisory Group” liegt sein Forschungsschwerpunkt im interdisziplinären Zugang zu ökonomischen, rechtlichen, politischen und ökologischen Aspekten des Wohnungs-, Bau- und Immobilienwesens. Im Hinblick auf die Nutzungs­ vielfalt weist er einerseits auf ihre vielfältigen Aspekte hin (ökonomisch, sozial, ­politisch u.a.m.) aber auch auf die notwendige Zusammenarbeit von Privaten und öffentlicher Hand.

„Der öffentliche Raum ist offen, das ist der Ort, wo sich Menschen treffen. ­Öffentliche Räume müssen daher ­bespielt werden. Es gibt viele Arten der Öffentlichkeit – die eigene Öffentlichkeit kann man sich in jedem Falle aus­ suchen. Die Aneignung von Flächen ist jedoch allgegenwärtig.“ „Die Organisation unserer Städte hat sich verändert. Es gibt heute weitaus mehr Verkehr und die Komplexität ­­ der Verkehrswege wird auch weiterhin ­zunehmen. Aber auch die Organisationseinheiten haben sich vergrößert: Früher war die Stadt von Einzelhandelsbetrieben geprägt, heute dominieren multinationale Konzerne.“ „Wenn eine Marke nach einiger Zeit ­im­­plodiert, beispielsweise weil die PRArbeit nachgelassen hat, dann kann ­­ sie im Endeffekt mehr zerstören als sie ­am Anfang womöglich genutzt hat.“

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Mag. Christoph Chorherr

„Es gibt einen riesigen Trend zu ­verzeichnen. Die Freizeit der Menschen nimmt kontinuierlich zu. Es gibt nicht mehr nur Arbeit und nur Wohnen, ­sondern auch Freizeit – und im Bildungsbürgertum ist das vor allem der Sport. Sporteln ist in Reininghaus möglich, ­da­zu ist das Areal groß genug.“ „Bildung boomt wie wild. Hier muss man ein großes Programm anbieten können. Das reicht von einer Volkshochschule bis hin zu WIFI und zu Yoga-Kursen. Die Bildungseinrichtungen, die sich hier in zehn Jahren einmieten werden wollen, kennen wir heute noch nicht. Vielleicht gibt es die heute noch gar nicht!“ „Wie werden wir in Zukunft Arbeiten und Wohnen kombinieren? Tatsache ist: Viele Leute haben heute kein Büro mehr. Wir brauchen mehr Third Places. In San Francisco funktionieren diese Third Places, die über Wohnung und Arbeitsstätte hinausgehen, perfekt. Das Einzige, was Sie dazu benötigen, ist Wireless LAN.“ „Wir wissen nicht, was in zehn Jahren sein wird. Wir können daher nur flexibel reagieren und vorsorgen. Man muss zum gegebenen Zeitpunkt so weit sein, dass man den Leuten Flächen, die für sie passend sind, prompt zur Verfügung stellen kann.“

Mag. Christoph Chorherr Studium der Volkswirt­ schafts­lehre an der Wirt­ schafts­universität Wien (WU) Seit 1987 Lektor an der WU, Lehraufträge an der ­Universität Wien und der Technischen Universität Wien 1991 – 1997 Geschäftsführer von Chorherr & Reiter Ökologische Bauprojekte Gründer des Ithuba Skills College in Südafrika (www.ithuba.org) Christoph Chorherr ist Bauträger und (Mit-)Initiator von Wohnprojekten wie bike city und swim&bike. Deren Schwerpunkte sind ökologische Nachhaltigkeit, flexible Wohneinheiten für neue Familienstrukturen und Themenwohnen (Hausgemeinschaften von Frauen, Radfahrern oder von ganz jungen Menschen).

Obwohl die meisten seiner Projekte den städtischen Wohnbau betreffen, können die Herangehensweisen durchaus auch auf die Gestaltung durchmischter Stadtquartiere umgelegt werden (z.B. Abänderung der Bauordnung, um Kinderspielplätze als notwendig festzulegen – statt, wie üblich, die Autoabstellplätze). Christoph Chorherr vertritt weiters die Ansicht, dass intensivere Nutzungsvielfalt vor allem durch neue Formen von Eigentumsverhältnissen, durch die Schaffung neuer Rechtsverhältnisse und Regulative und durch bessere Erdgeschoßnutzung gefördert werden kann. Er sieht hinter allen Bemühungen der heutigen Planer den unverändert großen Wunsch nach einer modernen ReDefinition der „alten mitteleuropäischen Stadt“.

„Es ist wichtig, möglichst lange nichts ­ zu zeichnen, sondern nur zu diskutieren, wie man die Vorteile der europäischen Stadt retten und was man sich davon ­ab­­­schauen kann.“

Die Konsulenten

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Dr. Raimund Gutmann

„Oft kommt ein neues Stadtviertel ohne Quartiersmanagement nicht mehr aus. Das ist ein spezifisches Aufgabenfeld, um die Bewohner anzusprechen. Die ­Be­­treuungsarten reichen hier von Quartiers-Coaching über Gebietsbetreuung bis hin zu Sozialarbeit und Bewohner­ service.“ „Verkauft werden immer seltener ­Produkte sondern immer öfter ­Wunscherfüllungen von Kunden.“ Dr. Raimund Gutmann Sozialwissenschaftler, Eigentümer und Institutsleiter von wohnbund:consult Büro für Stadt.Raum.Entwicklung (www.wohnbund.at). Studium der Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Salzburg mit dem Schwerpunkt Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung, Mitbegründer und langjähriger Leiter des Instituts für Alltagskultur in Salzburg, 1990 Gründung wohnbund:consult, seit 1993 Leiter des Österreichischen Wohnbunds. Durchführung zahlreicher Studien und Forschungsprojekte im Auftrag von Bund, Ländern, Kommunen und Wohnbauträgern, Mitglied im Management Committee des EU-Forschungsprogramms COST-C20 „Urban Knowledge Arena“.

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Als Sozialwissenschaftler begleitet Raimund Gutmann Bauprojekte (Stadtentwicklungsprojekte, Wohnbauprojekte u.a.m) und vermittelt zwischen Stadt, Bauträgern und Sozialen Diensten, um das Zusammenspiel von ­sozialer Durchmischung und funktionierendem Gemeinwesen zu verbessern. Er ist davon überzeugt, dass gemischte Stadtquartiere, in denen Arbeiten und Wohnen ideal verbunden sind, vor ­allem durch kleinteilige ­sozialplanerische Inszenierungen, durch die Förderung wohnungsnaher Ser­ viceangebote sowie durch ­begleitende Prozesssteuerung (Quartiersmanagement) entstehen können.

„Die Berücksichtigung zukünftiger Wohntrends und neues Service rund ums Wohnen leisten einen wichtigen Beitrag zur feinkörnigen Nutzungsvielfalt.“ „Das schwierige Ziel der Balanced ­Community kann nur durch bewusste ­soziale Inszenierung erreicht werden.“ „Die Kindheit wird immer kürzer, die ­Jugend- und Ausbildungsphase wird ­dagegen immer länger. Viele Menschen machen in der Mitte ihres Lebens eine Rush Hour durch – der Ruhestand ist dann zumeist ein Un-Ruhestand, denn die Leute sind in ihrer Pension viel ­aktiver und agiler als früher.“


Diskussionsg채ste

Von links nach rechts: Andreas Kleboth, Katharina Karoshi, Christoph Chorherr, Wolfgang Amann, Roland Koppensteiner, Raimund Gutmann

Michael Sammer, Wojciech Czaja Cyrus Asreahan, Christian Krainer, Andreas Kleboth, Helmut Koch

Die Konsulenten

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Diskussionsgäste

DI Jutta Kleedorfer, Stadt Wien Dipl.-Ing. Jutta Kleedorfer ist Projektkoordinatorin der ‚Einfach-Mehrfach’-Initiative der Stadt Wien. Ihr Aufgabenbereich beinhaltet die ­Ent­­wicklung von Prinzipien zur Erweiterung von „Spielräumen“ in der Stadt. Mittels Mehr­fach­ nutzungen (überwiegend stadteigene Areale) oder durch Zwischennutzungen (oft auch private Grundeigentümer) werden Lösungen für ­lokale oder temporäre Engpässe in der freizeitorientierten Infrastrukturversorgung erarbeitet. Das strategische ‚Einfach-Mehrfach’-Projekt agiert weder mit großen Fördertöpfen noch mit Weisungsrechten, sondern alleine mit partizipativen Ansätzen und anwaltlicher Ver­ netz­ungskompetenz.

„Im Angebot von Freizeit und Sport ist es wichtig, Indoor- und Outdoor-Aktivitäten miteinander zu kombinieren. Ein Innen­­ raum kann alles Mögliche sein, er kann sehr provisorisch sein, aber irgendeine Art von Innenraum muss es geben.“

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DI Dr. Michael Klees M.A.L.D, Rektor der FH Joanneum

Mag. Christian Krainer, Geschäftsführer der ÖWGES

Michael Klees arbeitet seit 1. Juli 2007 als Rektor der FH JOANNEUM in unmittelbarer Nach­barschaft von Graz-Reininghaus. Der gebürtige Saarbrückener verbrachte 17 Jahre im außereuropäischen Ausland und blickt auf eine internationale wissenschaftliche Karriere zurück. Nach Abschluss seines Studiums der Agrarökonomie an der Universität Bonn absolvierte er an der Fletcher School of Law and Diplomacy der Tufts University in Boston (USA) das Studium der Internationalen Beziehungen (M.A.L.D.). Seit 2005 ist er auch Vizedekan der FH Kufstein.

Christian Krainer ist gemeinsam mit Gerhard Königsberger Geschäftsführer der 1974 gegründeten ÖWGES – Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft mbH. Er übt diese Funktion in Personalunion mit der Geschäftsführung der 1950 gegründeten ÖWG – Österreichische Wohnbaugenossenschaft gemeinnützige registrierte Genossenschaft mbH aus. ÖWG und ÖWGES haben in den vergangenen fünf Jahrzehnten mehr als 27.000 Wohnungen errichtet. Die beiden Gesellschaften sind dabei in über 180 steirischen Gemeinden tätig ­geworden und haben darüber hinaus Kindergärten, Schulen, Studentenheime, Universitätsinstitute und Seniorenwohnhäuser gebaut.

„Urbanes Umfeld bedeutet nicht unbedingt Masse. Auf den ehemaligen ­Reininghaus-Gründen sehe ich Raum für junge Leute, die sich hier entfalten können. Es gibt alle Voraussetzungen für einen Universitäts- oder FH-Campus. Denn meistens fehlen in universitären Einrichtungen Flächen zum Austoben. Hier wäre das möglich.“

Die Teilnehmer von links nach rechts: Helmut Koch, Jutta Kleedorfer, Bernhard Krusche, Roland Koppensteiner

Roland Koppensteiner, Michael Klees

„Wenn es den Kindern hier gefällt, ­dann kommt alles andere von allein. Kinder machen Stimmung, sie sind der wichtigste Faktor, wenn es um Wohlfühlen und Zufriedenheit geht.“ Christian Krainer, Andreas Kleboth, Helmut Koch

Die Konsulenten

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Aspekte der Nutzungsvielfalt >>


Nutzungsvielfalt im urbanen Raum Text: Wojciech Czaja, DER STANDARD

Immer wieder scheiterten große Vordenker an ihren städtebaulichen Visionen. Das öffentliche Leben, so scheint es, lässt sich nicht in einen Rahmen pressen, der in wenigen Monaten geplant und in wenigen Jahren gebaut wird. Diese Erfahrung machte der französische Revolutionsarchitekt Claude Nicolas Ledoux in der Salinenstadt Chaux genau so wie Le Corbusier in Chandigarrh, Oscar Niemeyer und Lucio Costa in Brasilia und Meinhard von Gerkan in Lingang bei Shanghai. Geplante Musterstädte wie diese reiht Wolfgang Amann, Leiter des Instituts für Immobilien, Bauen und Wohnen, unter die so genannten zwangsmonotonen Städte. Sobald hier die Direktive nachlässt, werden diese Städte vom Chaos und vom ganz normalen Alltag überwuchert. Dass das indische Chandigarrh und die brasilianische Hauptstadt bis heute überlebt haben, sei genau diesem Um­­­­stand zu verdanken. Noch viel fataler sind aber die Folgen des strukturmonotonen Städtebaus, wie er in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt mit zahllosen Schlaf- und Wohnstädten praktiziert wird. Um diesem Schicksal zu entgehen, rollt der Immobilienentwickler Asset One die

Was eine Stadt in erster Linie benötigt, um zur Stadt zu werden, das ist Zeit.

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Stadtplanung für die Reininghaus-Gründe in Graz von einer ganz anderen Seite auf: Anstatt einen Masterplaner zu bemühen, initiiert Asset One einen Denkprozess, bei dem nicht das Was, sondern das Wie und das Warum im Vordergrund stehen. Einhelliger Konsens aller Diskutanten eines Symposions zur Nutzungsvielfalt in Graz-Reininghaus: Belebung kann man weder planen noch erzwingen – man kann nur rechtzeitig die nötige Infrastruktur schaffen, um möglichst spontan und flexibel auf die Bedürfnisse der Menschen reagieren zu können. „Wichtig ist die Widmung in Zeitabschnitten. Die Vorsorge für spätere Nischenprodukte und Interessenten muss allerdings schon jetzt getroffen werden“, erklärt Amann. Dem Beispiel der Hafen-City Hamburg folgend, liegt das größte Potenzial für Graz-Reininghaus in der Erdgeschoßzone. Im Falle der HafenCity verpflichteten sich die Investoren dazu, sämtliche Baukörper über einem fünf Meter hohen Erdgeschoß aufzubauen. Diese Maß­­ nahme ermöglicht höchste Flexibilität für alle Zeiten. Genau das sei der wunde Punkt in Österreich, stellt der Grün-Abgeordnete Christoph Chorherr fest. „Wohnbauträger mögen das Erdgeschoß nicht, denn sie können sich keinen guten, innovativen Umgang damit ­vor­­stellen. So wie bisher praktiziert, geht es jeden­­­­falls nicht. Denn 2,20 Meter hohe Erdgeschoße sind eher good places to run through denn good places to stay there.“ Chorherrs Forderung lautet daher: „Die ebenerdigen Zonen müssen höher, voll nutzbar und flexibler werden. Man muss die Bauträger dazu ver­­ pflichten, Erdgeschoße zu bauen, die unter allen Aspekten funktionstüchtig sind.“ Ein Anreiz dafür könnte sein, ihnen als Gegen­leis­ tung Bonuskubaturen anzubieten. Eine Möglichkeit, zur Erdgeschoß­ nutzung anzuregen, bestünde darin, hier Ge­schäfts­­lokale so billig wie möglich zur


­ erfügung zu stellen. Vor allem in der StartV phase eines Projekts sei dies die einzige Möglichkeit, Benutzung und Bespielung zu erreichen. Chorherr: „Und wenn es ein Nagelstudio ist, das da einzieht! Das Wichtigste ist, die Fläche zu nutzen. Wenn das Erdgeschoß funktioniert, ist ein Drittel des Projekts schon geglückt.“ Unterstützen ließe sich die Belebung dieser Zonen mittels Förderungen. Allerding müssten diese zeitlich beschränkt sein. „Man muss zukunftsfähige Rechtsverhältnisse konstruieren, damit spätere Änderungen ohne große Probleme möglich sind – auch wenn das den derzeitigen Vorstellungen des Mieterschutzes zuwiderläuft.“ Denkbar sei, zu diesem Zweck eigene Gesellschaften zu gründen, die sich einzig und allein um die Sockelzone kümmern. „An deren Spitze muss jedenfalls eine Person stehen, die Know-how hat und die kompetent ist. Ich denke da bei­­spiels­ weise an eine Art Erdgeschoß-Inten­danten.“ Doch nicht nur im Erdgeschoß, ­son­­dern auch innerhalb der gesamten horizontalen und vertikalen Flächenbebauung müsse für Durchmischung gesorgt werden. „GrazReininghaus kann unmöglich ein reines Wohngebiet werden“, erklärt Wolfgang Amann, „es ­­ müssen gewerbliche Nutzungen zugeführt werden. Ich kann mir durchaus auch ein Technologiezentrum in Koppelung mit der FH ­vor­­stellen.“ Michael Klees, Rektor der FH Joanneum, kann dem nur beipflichten: „Auf den ehemaligen Reininghaus-Gründen sehe ich Raum für junge Leute, die sich hier ent­­ falten können. Es gibt alle Voraussetzungen ­­ für einen Universitäts- oder FH-Campus. Denn meistens fehlen in universitären Einrichtungen Flächen zum Austoben. Hier wäre das mög­­lich.“ Zu berücksichtigen ist auch, dass die Grenzen zwischen Wohnen und Arbeiten zunehmend verschwimmen. Viele Menschen arbeiten heute bereits ohne fixes Büro – sie halten sich vorzugsweise an so genannten Third Places (nach Ray Oldenburg) auf, also an

Orten außerhalb ihres Wohn- und Arbeits­ bereichs. „Man hatte gedacht, dass das ver­­ netzte Arbeiten die Leute unabhängig macht und dass sie von jedem Ort der Welt aus ihre Arbeit erledigen können. Doch gerade diese internetaffine Branche braucht die persönlichen Kontakte, um überhaupt Aufträge zu lukrieren.“ Das Einzige, das man für diese Form der Arbeit benötige, sei Wireless LAN, erklärt Chorherr und gibt zu bedenken: „Alle wol­­len die New Economy, but the New Economy wants old buildings. Das liegt daran, dass die alten Häu­ser flexibler und nutzungs­neutraler sind.“ Die­sen positiven Um­stand müsse man auch in die Planung von Graz-Reininghaus einfließen lassen. Ein großes Augenmerk gilt der Freizeit, hier vernehmlich der Weiterbildung und dem Sport. „Bildung boomt wie wild. Hier muss man ein großes Programm anbieten können.“ Die Vorschläge reichen von Volkshochschule über WIFI bis hin zu Fort­bild­ungs­kursen im Nischensegment. „Die Bildungsein­richtungen, die sich hier in zehn Jahren einmieten ­werden wollen, kennen wir heute noch nicht“, so ­Chor­­­herr, „vielleicht muss diese Form der Bildung erst entwickelt werden!“

„Seit es die New Economy gibt, lässt sich diese geballt in der Stadt nieder“, erklärt Chorherr.

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Die junge Generation zeichnet sich nach Beobachtung von Fachleuten vor allem durch die Ausübung von Sport aus. Mit einem breiten Angebot an Sportmöglichkeiten könnte sich Graz-Reininghaus also nachhaltig profilieren. „Es gibt einen riesigen Trend – die Freizeit der Menschen nimmt kontinuierlich zu. Im Bildungsbürgertum wird Freizeit vor allem in Form von Sport gelebt. In Reininghaus ist dies möglich, denn dazu ist das Areal groß genug.“ Jutta Kleedorfer von der Projektstelle für Mehrfachnutzung der Stadt Wien greift auf ihre Erfahrungen zurück: ­­ „Im Angebot von Freizeit und Sport ist es wichtig, Indoor- und Outdoor-Aktivitäten zu kombinieren.“ Unabhängig davon, um welche Art der Sportausübung es sich handelt oder wie die OutdoorPräferenzen sonst gelagert sind – bis ins letzte Detail darf auch dieser Bereich nicht geplant werden. Kleedorfer: „Ich stehe zum Unvorhergesehenen und zum Chaos. Man darf nicht das gesamte Areal vorausplanen und alles zu Ende bringen, man muss unbedingt Brachen übriglassen. Brachflächen sind interessant. Die Leute sollen eingeladen werden, diese Brachflächen zu nutzen.“ Einstimmig plädiert man für ein Beibehalten der sprichwörtlichen Gstättn. „Die Aneignung von Flächen ist allgegenwärtig“, ergänzt Amann. Nicht zuletzt dienen Brachflächen einem etwaigen späteren Ausbau. Der Stadtteil darf zu keinem Zeitpunkt einen baulichen Stopp erfahren, Wachstumsmöglichkeiten und Nachverdichtung müssen sichergestellt werden.

Der öffentliche Raum ist offen und muss von der Bevölkerung bespielt werden.

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Wie lässt sich die hohe Qualität im laufenden Betrieb des neuen Stadtviertels nachhaltig sichern? Und wie animiert man die Bevölkerung dazu, dem öffentlichen Raum Sinn zu geben und den Verantwortungsbereich aus den eigenen vier Wänden nach außen zu tragen und zu vergrößern? Christoph Chorherrs Antwort fällt unmissverständlich aus: „Wir müssen es schaffen, Menschen zu er­reichen, die mehr wollen als nur die Fliesen für ihr Badezimmer auszusuchen. Wir müssen für die Besiedelung dieses Areals interessante und interessierte Menschen ansprechen.“ Mit Wille allein kommt man jedoch nicht weit. Zum Zwecke der nachhaltigen Qualitätssicherung könne in Zukunft auf bestimmte Druckmittel, die letzten Endes finanziell verankert sind, nicht verzichtet werden. „Wir brauchen exekutierbare Dinge, gewisse Druckmittel muss es einfach geben. Eine Möglichkeit wäre, die Wohnbauförderung dafür einzusetzen. Man könnte die Förderung beispielsweise erst ein halbes Jahr nach der Besiedelung auszahlen. Und wer sich nicht an die Vorgaben gehalten hat, der erhält keine finanziellen Mittel.“ Auf diese Weise könne erreicht werden, dass die städtebaulichen Konzeptionen auf Seiten der Architekten und Bauträger wirklich Fuß fassen und nicht gleich von Anfang an – Stichwort Mietergarten, Zaun und Thujenhecke – ignoriert werden. Raimund Gutmann, freiberuflicher Sozialwissenschafter und Leiter des Instituts wohnbund:consult, spricht sich für mehr „Konzepttreue“ aus: „Zu oft wird von Investoren ohne weitere Auseinandersetzung auf oberflächliche Trends und Wünsche von Kunden reagiert, was zu oft banale Ergebnisse zeitigt.“


Von noch lang anhaltenderer Wirkung ist die Betreuung der Bewohner über möglichst viele Jahre hinweg, zumindest aber zu Beginn sowie in Krisenzeiten. „Oft kommt ein neues Stadtviertel ohne Quartiersmanagement nicht mehr aus“, weiß Gutmann aus Erfahrung, „das ist ein spezifisches Aufgabenfeld, um sozialräumliche Qualitäten zu entwickeln und die künftigen Bewohner anzusprechen. Die Betreuungsarten reichen hier von QuartiersCoaching über Gebietsbetreuung bis hin zu Sozialarbeit und Bewohnerservice.“ Ohne diese Maßnahmen könnte eine Durchmischung schwierig werden, denn die Gesellschaft wird immer differenzierter und auch immer anspruchsvoller. „Die tradierten Formen der Zugehörigkeit lösen sich allmählich auf. Wir werden in zunehmendem Maße eine Multioptions-Gesellschaft. Auf diese neuen Milieus und Lebensstile muss reagiert werden.“ Wie geht es in den nächsten Monaten in Graz-Reininghaus weiter? „Leicht wird es nicht werden“, warnt Christian Krainer, Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft ÖWGES, „bis heute ist Graz nämlich nicht besonders offen für innovative Projekte.“ Graz zeichne sich vor allem durch die soziale Zweiteilung in eine Studenten- und in eine Pensionistenstadt aus. Man brauche schon einen langen Atem, um allen Bedürfnissen in Bezug auf Wohnen und Lebensraum gleichermaßen gerecht zu werden. Auch wenn einige Diskutanten der Meinung sind, dass es wichtig sei, „möglichst lange nichts zu zeichnen, sondern nur zu diskutieren, wie man die Vorteile der europäischen Stadt retten und welche Aspekte man als Vorbild heranziehen kann“, müsse allmählich gehandelt werden. Krainer: „Es wird nötig sein, endlich erste Schritte zu setzen. Noch länger dürfen Sie nicht warten.

Die Leute werden ungeduldig.“ Dafür sei es aber zunächst ausreichend, einen ersten bau­lichen Impuls zu setzen. In den kommenden Wochen werden die Diskussionen geschärft. Erst wenn Asset One die stadtplanerische Aufgabe im sozialen und urbanen Zusammenhang gelöst haben wird, kann die städtebauliche Planung in Angriff genommen werden. In diesem konkreten Stadium werde die Zeit reif sein, um öffentlich-private Partnerschaften einzugehen. Wolfgang Amann: „Ein möglicher Ansatz wäre es, dass Asset One mit der Stadt Graz eine Gesellschaft gründet. Eine Verflechtung von privat und öffentlich ist unverzichtbar. Es führt kein Weg an Public Private Partnerships vorbei.“ Die Stadt allzu früh einzubeziehen, wäre jedoch eine vertane Chance. Schlusswort von Christoph Chorherr: „In Graz-Reininghaus müssen Dinge passieren, die noch nie so gemacht worden sind. Selbstverständlich ist das mit einem gewissen Risiko verbunden. Können wir dieses Risiko ausschließen? Nein, das können wir nicht. Gehen wir es trotzdem ein? Ich sehe, dass das in diesem Projekt möglich und gewünscht ist.“

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Was versteht man unter Nutzungsvielfalt?

Zunächst befanden sich alle Nutzungen innerhalb der Stadtmauern (oben links), später wurden Gewerbe- und Industriebetriebe gemeinsam mit den Arbeiterunterkünften am Stadtrand angesiedelt (oben rechts). Heute geht die städtische Siedlungsstruktur mit unterschiedlichen Dichten und Funktionen oft nahtlos in die der Nachbargemeinden über (unten)

Entwicklung der Nutzungsvielfalt Nutzungsmischung ist heute durch das Bemühen um eine nachhaltige Stadt­ entwicklung, um eine kompakte Stadt und um eine Stadt der kurzen Wege ­wieder eine erstrebenswerte städte­ bauliche ­Eigenschaft. Während vieler J­ahrzehnte des 20. Jahrhunderts war ­­ dies gänzlich anders – obwohl die Stadt in der Geschich­­te immer durch das ­unmittelbare Nebeneinander von Funk­ tionen, ­Kulturen, Ethnien und Gesell­ schaftsschichten ausgezeichnet war.

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In der europäischen Stadt hat sich Nutzungsmischung häufig aus der Kombination von wirtschaftlichen Einzelinteressen, kollektivem Sicherheitsbedürfnis und notwendigen Versorgungseinrichtungen entwickelt. Die Flächen wurden mit unterschiedlichen Nutzungen ­belegt und bespielt, in Folge entstand daraus – meist auf engstem Raum innerhalb der Stadtmauer – die dicht bebaute, gemischt genutzte Stadt. Die „Aneignung des öffentlichen Raums“ (Wolfgang Amann) hat somit zur ­Nutzungsvielfalt geführt. Geprägt war der ­urbane Raum von der typischen Struktureinheit der f­ amiliären Handwerks- und Handelsbetriebe. Wohnen, Arbeiten und Kommunikation fanden zumeist im gleichen Gebäude statt. Zu der heute starken Funktionstrennung in den

Städten kam es erst im Zuge der Industrialisierung im 19. Jhdt. Hier gab es ­erhöhten Platzbedarf durch die Vergrößerung der Produktions- und Nutzungseinheiten und durch die Trennung von Kapital und Arbeitskraft. Verstärkt wurde diese Tendenz im 20. Jahrhundert durch die Versuche der Moderne, die tristen Lebensverhältnisse in den Städten

– schlechte hygienische Bedingungen, wenig Licht und Freiraum, Gefahr der Ausbreitung von Feuer und Seuchen – mittels Funktions­ trennung zu überwinden. Aus dieser Idealvorstellung von Licht, Luft, Sonne und Aussicht für alle entstanden die Leitlinien der Moderne („Charta von Athen“). Sie prägten vor allem die Wiederaufbauphase nach dem zweiten Weltkrieg und ­bestimmen noch heute das Bild der Städte.

Verschiedene Angebote gleichzeitig Unter Nutzungsvielfalt wird zunächst das ­Nebeneinander verschiedener Nutzungen ­verstanden – wie öffentliche Nutzungen, ­Freizeitangebote, Dienstleistungen, Geschäfte und Wohnen. Diese Angebote sind zu unterschiedlichen Zeiten des Tages verfügbar: Verwaltung und Lebensmittelhandel starten teilweise früh in den Tag, manche Restaurants öffnen erst zu Mittag oder abends – andere Branchen sind am Vormittag und dann erst wieder am späteren Nachmittag für ihre Kunden da. Im Hinblick auf die Nutzungsvielfalt heißt das: ­­ Sie vermeidet unbelebte Zonen, insbesondere ­außer­­­halb der zur Zeit noch gängigen Ladenschlusszeiten. Umgekehrt bedeutet es für die an­ sässigen Betriebe, dass sie kontinuierliche Nachfrage aus der Nachbarschaft generieren, aus dem privaten Bedarf genau so wie aus dem der anderen Unternehmen. Bei genauer Betrachtung ist die Nutzungsvielfalt also nur die konsequent zu Ende gedachte arbeitsteilige Wirtschaft: Zum Frühstück wird frisches Brot vom Bäcker geholt, am Weg ins Büro die Schuhe zum Schuhmacher gebracht, den ­Espresso für die Besprechung im Büro liefert der Coffee Shop im Parterre, entspanntes Einkaufen mit der Familie folgt nach Büroschluss …

Charta von Athen Die Charta von Athen wurde auf dem IV. Kongress der CIAM (Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne) 1933 in Athen verabschiedet. Unter Federführung von Le Corbusier entwickelt, stand sie für die Entflechtung der städtischen Funktionsbereiche Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen und für die Schaffung von lebenswerten Wohnverhältnissen und Arbeitsbedingungen in der Zukunft. Die Charta von Athen ­gewann in der Nachkriegszeit große Bedeutung und beeinflusste den Städtebau nachdrücklich. Insbesondere die städtebaulichen Leitbilder der 1950er („Die ­gegliederte und aufgelockerte Stadt“) und der 1960er Jahre („Die autogerechte Stadt“, Flächensanierungen) wurden zu großen Teilen aus der Charta von Athen entwickelt. Erst Mitte der 1980er Jahre begann, angesichts der negativen Folgen der Funktionstrennung, eine Abkehr von den Idealen der Charta. Insbesondere die Agenda von Rio 1992, die in die ­lokalen Agenden vieler Städte übergeführt wurde, sah es für eine nachhaltige Stadtentwicklung als Voraussetzung an, die Städte wieder zu durchmischen und zu verdichten. Begriffe wie die ‚Stadt der kurzen Wege’, ‚Stadtrecycling’, ‚Nachverdichtung’ und ‚kompakte Stadt’ wurden kreiert.

Le Corbusier: „Plan Voisin“ von Paris, 1922

Aspekte der Nutzungsvielfalt

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>> Was versteht man unter Nutzungsvielfalt?

Merkmale der gemischt genutzten Altstädte in Europa: • Straßen- und Wegenetze • Plätze und öffentliche Räume • Historische Bauten älterer Stadtentwicklungsphasen • Hohe Nutzungs- und Funktionsdichte • Gut ausgebaute Infrastruktur • Wirtschaftliche Dominanz des Stadtkerns • Relativ starke Steuerung der Sied­lungsentwicklung durch Politik und Planung • Starker Individualverkehr und hoher Anteil des öffentlichen Verkehrs

Hinzu kommen die spontanen Entscheidungen des Laufpublikums: Nach der A ­ rbeit schnell einkaufen und in die Yogastunde gehen, ein kleiner Café unterwegs, dann wird der Sohn vom Ballett abgeholt oder der neue Meldezettel beim Magistrat abgegeben. Die Verführung zu mehr Frequenz, das Prinzip erfolgreicher Einkaufszentren, gilt bei richtiger Anwendung auch für Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe eines Stadtteils: Sie müssen nur ein attraktives Angebot und eine – durch individuelle und gesamthafte Atmosphäre geschaffene – Aufenthaltsqualität sicherstellen. Durch die kontinuierliche Nachfrage aus der Nachbarschaft werden die Betriebe auch ihre Öffnungszeiten den Bedürfnissen ihrer Stammkunden anpassen – vom Einkaufen am Abend bis zum rund um die Uhr geöffneten Internet-Café. Das bedeutet wiederum Attrak­ tivität in der Außenwirkung und zusätzliche Chancen, wenn in diesem Stadtteil die Geschäfte länger offen haben und sie damit ihr Einzugsgebiet auf jene Quartiere ausdehnen, in denen um 18:00 allgemeine Sperrstunde ist.

Verflechtungen der Nutzungen

Die Prinzipien von Nutzungsvielfalt und Nutzungstrennung oben „Sowohl als auch“ an einem Ort

unten „Entweder – oder“ an allen Orten

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Nutzungsvielfalt schließt aber auch die funktionale Verflechtung verschiedener Nutzungen an ein und derselben Stelle mit ein – wie etwa die Kombination von Wohnen und Arbeiten als neu entdeckte Lebensform, die in Folge gesellschaft­ licher Umbrüche und technischer Entwicklungen entstanden ist. Als klassisches Beispiel wäre hier das Loft zu nennen, das sich ab den 1940er Jahren in New York und London durch die Umnutzung leerstehender Hallen zu Wohnungen entwickelt hat. Lofts wurden schnell zu den begehrten Wohnungen für Freiberufler und Künstler, die damit Wohn- und Arbeitsraum integrierten und so oft zu günstigen Bedingungen eine Bleibe fanden.

Das Thema Umnutzung wird auch im Kapitel „Nutzungsvielfalt und Umnutzung“ behandelt.

Vermischung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen Nutzungsvielfalt meint aber auch die Vermischung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, wie Jung und Alt, Reich und Arm oder jene von Menschen verschiedener Herkunft. Denn in der Stadt ist jeder frei, sich seinen Mittelpunkt zu wählen. Gleichzeitig führt dieser Umstand dazu, dass sich die Kreise der Einzelnen gegenseitig beeinflussen, was prinzipiell und tendenziell zu einer Stärkung und Qualitätssteigerung des Ganzen führt. Ein Beispiel dafür ist die generell höhere Qualität des Angebots in Städten, wo der Konkurrenzdruck die Anbieter zu Innovationen zwingt und dadurch die Grundlage für die ständige Verbesserung des Angebots schafft. In Graz-Reininghaus ergibt sich durch den seltenen Glücksfall, dass die Liegenschaft im Eigentum eines Entwicklers liegt, die Möglichkeit, unterschiedliche Zonen mit individuellen Qualitäten und dadurch mit variierenden Nutzungen anzubieten – so etwa die Zone ­­­­­entlang


der Eisenbahn, jene im Bereich des Altbestands oder eine Zone rund um den Brunnen (siehe auch die Publikation zum Grün- und Freiraum in Graz-Reininghaus). So können in Graz-Reininghaus unterschiedliche Lebensstile ­möglich werden, die sich zwar gegenseitig ­beeinflussen, aber doch gut voneinander getrennt sind. Wie das Beispiel von der perfekt funktionierenden VogelGesellschaft in einem Baum zeigt: „Von außen betrachtet hat man den Eindruck, dass die Spatzen, Amseln und E ­ ichelhäher rauf und runter fliegen. Der Biologe aber weiß, dass jede Vogelart ihren eigenen Bereich auf einer bestimmten Höhe des Baumes hat – und alle Vogelarten halten sich erstaun­licherweise daran. Der Habitus des Baumes ­bietet ein ÖkoSystem, in dem die Nischen präzise überund nebeneinander angeordnet sind.“ so Dirk Baecker im Interview zu den Stadtszenarien. Genauso funktionieren auch l­ebendige Städte. Gleichzeitig ist Nutzungsvielfalt auch ein Netz von nachbarschaftlichen Beziehungen, in dem die einzelnen Teilnehmer je nach in­ dividuellen Wünschen und Möglichkeiten mit­ einander kommunizieren und interagieren.

Stadt als Mikrokosmos Nutzungsmischung meint, die Stadt als Mikrokosmos zu denken, in dem eine Vielzahl an ­Tätigkeiten in enger zeitlicher und räumlicher Abfolge stattfindet. Man ordnet also Stadtteilen nicht einzelne Tätigkeitsbereiche zu, wie Wohnen, Einkaufen, Arbeiten, Freizeit u.a.m. – vielmehr finden diese Tätigkeiten innerhalb desselben Stadtraums statt. Für Graz-Reininghaus bedeutet das etwa, bestehende Betriebe nicht zu vertreiben, sondern sie in eine zukünftige Nutzung symbiotisch mit einzubeziehen. Nur im Nebeneinander verschiedenster Nutzungsarten und gesellschaftlicher Nutzergruppen lässt sich eine optimale Symbiose er­reichen – und damit der größtmögliche Erfolg ­­für alle Nutzungsbereiche und Nutzer.

Nutzungsmischung konkret – Beispiel 1 Ein Tag mit unmittelbarer Nähe zu Arbeitsplatz, Kinderbetreuung und Einkaufen Vater verlässt um 12.15 Uhr seinen Arbeitsplatz – holt seine Tochter vom Kindergarten ­ ab – geht mir ihr gemeinsam einkaufen – anschließend bereitet er in der Büroküche für beide ­­­ein Mittagessen – am Nachmittag spielt die Tochter am Kinderspielplatz mit den Kindern, die über Vaters Büro wohnen. Nutzungsmischung konkret – Beispiel 2 Ein Tag am öffentlichen Platz In der Früh ist der Platz autofrei – ohne Gefährdung durch den Straßenverkehr gehen die ­Kinder zur Schule – am Vormittag ist der Platz zwei Stunden für den Anlieferverkehr offen – zu Mittag essen hier die Berufstätigen in der Sonne ungestört ihr Mittagessen – am Nachmittag spielen Kinder – am Abend sorgen die Gastgärten für Leben am Platz – am Wochenende herrscht buntes Treiben auf einem Floh­markt.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

Das Stadtquartier als Mikrokosmos mit vielfältigem Angebot

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Welche Chancen entstehen durch Nutzungsvielfalt?

Der verstärkte Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen an einem Ort oder in einem überschauba­ ren Stadtteil ist kein Nullsummenspiel: Nutzungsvielfalt hat sowohl für Bevöl­ kerung und Kommune als auch für den Investor große Vorteile.

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Bevölkerung In einer Stadt mit ausgewogener Nutzungsmischung liegen die für den Nutzer wichtigen Ziele des Tagesablaufes in fußläufiger ­Entfernung von seinem Wohnort – Versorgungseinrichtungen für den täglichen Bedarf, der Arbeitsplatz, aber auch kulturelle ­Einrichtungen, soziale Treffpunkte und vieles mehr. Die Notwendigkeit, für die Erreichung dieser Orte lange Strecken mit dem Auto ­zurück legen zu müssen, fällt weg. Das spart nicht nur Zeit sondern auch Fahrtkosten und bringt zudem ökologische Vorteile. Für die Bewohner von Graz-Reininghaus bedeutet das, dass ein breites und ­bedarfsgerechtes Angebot in unmittelbarer Nachbarschaft vorhanden ist. Die Bewohner können viele ihrer Bedarfsdeckungen und ­Bedürfnisbefriedigungen auslagern, ohne ­ bei der privaten Lebensqualität und bei der Professionalität im Beruf Abstriche machen ­ zu müssen. Nach dem Prinzip ‚Nutzen statt ­besitzen’ kann sich jeder individuell vernetzen und zum Beispiel über Car Sharing Anbieter gezielt dann ein Auto ausleihen, wenn es gebraucht wird. Vorstellbar – und in bestimmten Branchen absehbar bzw. bereits Praxis – ist auch, dass die Grenze ­zwischen Wohnen und Arbeiten verschwimmt und man dadurch nicht mehr an einen Arbeitsort abseits des Wohnorts gebunden ist. Ergänzend dazu sollte es in Graz-­ Reininghaus „third places“*) geben. Dabei handelt es sich um einen speziellen T ­ ypus des ­öffentlichen Raums: Third places sind soziale Räume, in denen Kommunikation und Inter­ aktion im Vordergrund stehen. ­

*) Ray Oldenburg prägte diesen Begriff 1989 in seiner Studie „The Great Good Place“.

Beispiele sind das Wiener Caféhaus, das ­irische Pub und das amerikanische Diner. Diese „dritten Orte“ werden als ebenso wichtig wie das Zuhause (“erste Orte”) und der Arbeitsplatz (“zweite Orte”) angesehen: Jeder ist ­will­kom­men, man trifft sich oder lernt sich kennen, es wird Zusammenhalt gestiftet und man findet Ausgleich zum Alltag. „Gerade die New Economy lässt sich geballt in der Stadt nieder“, erklärt Christoph Chorherr. „Man hatte gedacht, dass das ­vernetzte Arbeiten die Leute unabhängig macht und dass sie von jedem Ort der Welt ihre Arbeit erledigen können. Doch gerade ­diese internetaffine Branche braucht die ­persönlichen Kontakte, um überhaupt Aufträge zu lukrieren. Das Einzige, das man für diese Form der Arbeit benötigt, ist Wireless LAN“.

Das Thema Services wird auch im Kapitel „Katalysatoren“ behandelt.

Belebter Straßenraum in Korea

Linke Seite: Las Ramblas in Barcelona

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>> Welche Chancen entstehen durch Nutzungsvielfalt?

Kommune

Die Grazer Herrengasse mit Stadtpfarrkirche, um 1900 und aus heutiger Sicht

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Aus dem Blickwinkel der Stadt bedeutet Nutzungsvielfalt zunächst deutlich höhere Flexibilität: Anpassungsfähige Stadtteile haben weniger Probleme, auslaufende Nutzungen durch neue zu ersetzen. Das verringert Leerstände, vermeidet e ­ ntsprechende Folgewirkungen und sorgt so übergeordnet für Kontinuität als Grundlage ­ei­­­ner nachhaltigen Stadtentwicklung. So leistet Nutzungsvielfalt einen unmittelbaren Beitrag zur Stadt als einem Prozess der ständigen V ­ eränderung – und damit zum Wesen der Stadt ganz grundsätzlich. Die Fähigkeit zur Flexibilität auf Basis der zugrunde liegenden Nutzungsmischung bedeutet für die Stadt aber auch, dass sie sich beim Implementieren neuer Nutzungen ein weitreichendes Anpassen der Stadtstruktur einschließlich der dafür entstehenden Folgekosten erspart. Durch die Nähe der verschiedenen Nutzungen zueinander muss etwa die Kommune für Graz-Reininghaus weniger finanzielle Mittel für Herstellung und Instandhaltung von Infrastruktur aufwenden. Denn bei weit aus­ einander liegenden Nutzungen ist rund um ­diese Nutzungen jeweils eine vollständige ­Infrastruktur erforderlich – vom Parkplatz bis zum Anschluss an das öffentliche Verkehrsnetz. Das entfällt in der gemischten Nutzung, da z.B. ein Parkplatz während des Tages von verschiedenen Nutzern verwendet wird. ­Gleiches gilt auch für den öffentlichen Verkehr, der bei gemischten Nutzungen insgesamt deutlich gleichmäßiger und besser ausgelastet ist: In der Früh mit Schulkindern, dann mit Menschen, die ins Büro fahren, es folgen jene, die zum Einkaufen unterwegs sind etc.


Investoren Für den Investor bedeutet das unmittelbare Nebeneinander von Nutzungen die Streuung des Risikos, da seine Rendite nicht nur von ­einer Nutzung abhängig ist (z.B. Büroflächen). „Nutzungsvielfalt ist von geringem Interesse, wenn es um kurzfristige Ziele wie maximale Rendite geht“, so Wolfgang Amann. „Sie ist hingegen von vorrangiger ­Bedeutung, wenn es um die nachhaltige Schaffung von Werten und von langfristig ­lebensfähigen Stadträumen geht.“ Für Graz-Reininghaus wäre eine ­prozentuale Widmung nach Nutzungen statt nach Nutzungseinheiten denkbar. Bei einer flexiblen Gebäudestruktur könnte ein Investor dann Flächen entsprechend der Nachfrage vermieten, etwa bisherige Büroflächen als Wohnungen oder bestehende Wohnungen für neue Dienstleistungsangebote. Dabei sorgt die prozentuale Widmung dafür, dass sich die ver­schie­­denen Nutzungen die Waage halten. Das Nebeneinander von verschiedensten Nutzungen führt auch zur Belebung der Stadt – ­nahe­­zu rund um die Uhr: Am Morgen wird ein Platz etwa durch spielende Kindergruppen

Das Thema der Investoren wird auch im Kapitel „Was sind die Bedingungen für Nutzungsvielfalt“ behandelt.

be­lebt, nachmittags kommen Kunden der anliegenden Geschäfte und Cafés hinzu und am Abend wird der öffentliche Raum durch Spaziergänger, Restaurantbesucher etc. frequentiert. Die Nutzergruppen wechseln sich ab, eine Eigenschaft, die einzelne Stadtviertel weit über die Grenzen ihrer Städte hinaus bekannt und attraktiv machen, sei es Notting Hill in London oder der VII. ­Bezirk in Wien. Graz-Reininghaus kann sich so zu ­einem attraktiven Stadtteil entwickeln, in dem insgesamt weniger Flächen leer stehen und der öffentliche Raum intensiver genutzt wird. Jenseits von Nachfragezyklen sind beide Aspekte wichtige Elemente der Stabilität und der Vorsorge gegen einen Dominoeffekt, bei dem am Anfang ein leerstehendes Geschäftslokal steht, dann eine uninteressante Einkaufsstraße und am Schluss ein unattraktiver Stadtteil. Auf diese Weise kann Nutzungsvielfalt zur Wertsicherung und zur Wertsteigerung der ­Immobilie führen. Gleichzeitig sind das positive Image und der hohe Wiedererkennungswert eines Stadtteils unverzichtbare Grundlagen für eine deutlich bessere Vermarktbarkeit.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

Straßenmarkt in London und in Mexico City

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Was sind die Bedingungen für Nutzungsvielfalt?

oben: Plätze in Barcelona

Der öffentliche Raum als Schauplatz von Nutzungsvielfalt

rechts: Ceausescu Palast in Bukarest

Der öffentliche Raum als Medium z­ wischen den einzelnen Nutzern ist Schauplatz und Schmelztiegel der ­Nutzungsvielfalt. Er bildet Gliederungs­ punkte, Switching-Points, an denen ­ der Nutzer aus einem Milieu herausund in ein ­anderes hineinkommen kann, so Dirk Baecker. Mit ihm führten Andreas ­Kleboth und Max Rieder im Zuge des Prozesses „Stadtszenarien für Graz-­ Reininghaus“ ein Interview in Friedrichs­

hafen. Der öffentliche Raum, so Baecker weiter, ist nichts anderes als die Mög­ lichkeit, verschiedene private Häuser aufzusuchen. Er muss Verlinkungs- und Vergemeinschaftungsqualität haben – er muss so beschaffen sein, dass er als Kristallisationspunkt für die Gesellschaft dienen kann und gleichermaßen Indivi­ dualisierung wie Sozialisierung ermöglicht. Gesucht sind Räume der Gleich­zeitigkeit: Einerseits Ruhe und Gelassenheit und andererseits die Möglichkeit, sich jeder­ zeit vernetzen zu können.

Der öffentliche Raum wird auch in der Publikation zum Thema „Stadtszenarien“ näher behandelt.


Lebendigkeit entsteht nur dort, wo sich Menschen begegnen und wo diese Begegnung ­gefördert wird. Dieser soziale und gedankliche Austausch zwischen Menschen ist auch die Grundlage für gesellschaftliche, wirtschaftliche, technologische und künstlerische Entwicklung. Das heißt, die Nutzung des urbanen Raums ist immer auch vom Aufbau und von der Funktion der Gesellschaft abhängig. So sind Plätze in Ländern mit totalitären Regimes allein durch ihre Größe und Leere Ausdruck der Macht der Machthaber, in den Ländern Südeuropas sind sie hingegen Treffpunkt für alle. Nicht zuletzt hat sich mit gesellschaftlichen Veränderungen immer auch das urbane Leben weiterent­wickelt.

Ausgangspunkt der Planungen Obwohl der öffentliche Raum bestimmendes Element in der Stadt ist, beginnt der normale städtebauliche Entwurfsprozess in der Regel mit dem Festlegen der Gebäudekubaturen. Der öffentliche Raum wird häufig zuletzt betrachtet. Um Lebendigkeit, Öffentlichkeit und Nutzungsvielfalt für Graz-Reininghaus zu er­ zielen, sollte allerdings großes Augenmerk auf

Form und Gestaltung des öffentlichen Raums gelegt werden. Tatsächlich sollte der Entwurfsprozess umgedreht werden: die Überlegungen zum Stadtteil beginnen so mit dem Raum der gesellschaftlichen Interaktion, dieser ist als Ge­­rüst der Stadt so gut zu durchdenken und zu gestalten, dass er in Folge permanent ist. Zu diesem Gerüst der Stadt gehören nicht nur Lage und Größe der Plätze, sondern auch die diese Plätze begrenzenden und damit definierenden Ränder. Auf diese Weise könnten auch in Graz-Reininghaus Gestaltungsparameter für öffentliche Räume festgelegt werden, mit ­detaillierten Angaben und Spielregeln zur ­Fassadengestaltung und zum Umgang mit ­halböffentlichen Räumen. Diese Rahmenbedingungen der Gestaltung können durch den Bebauungsplan oder – bei einer Zonierung – in den Bebauungsrichtlinien festgelegt werden. Für Räume mit geringerer Frequenz könnten beispielsweise Gestaltungsmöglichkeiten ­gesucht werden, die eingeschränkte Öffentlichkeit vermitteln. Wohnstraßen mit Mietergärten schaffen eine Atmosphäre von Intimität, wodurch hier auf Zäune und Zugangskontrollen ohne weiteres verzichtet werden kann.

Chancen auf funktion­ieren­ den öffentlichen Raum sind in dicht verbautem Gefüge (links) leichter erzielbar als in städtischen Randzonen (rechts)

öffentlicher Raum bebauter Raum

Aspekte der Nutzungsvielfalt

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3

>> Was sind die Bedingungen für Nutzungsvielfalt?

Frequentierung des öffentlichen Raums

Festival für Straßen- und Figurentheater La Strada in Graz

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Für einen funktionierenden öffentlichen Raum spielt darüber hinaus seine Benutzung eine wichtige Rolle. Sie ist wesentlich bestimmt von der Menge des angebotenen Raums, a­ ber auch von seiner Erreichbarkeit und Nutzungs­ belegung. Lebendiger öffentlicher Raum mit ­einer hohen Nutzungsfrequenz kann nur in wenigen Bereichen einer Stadt entstehen. In­sofern ist es für die Belebung von Graz-­ Reininghaus empfehlenswert, hoch frequentierten und stark belebten öffentlichen Raum auf zentrale Bereiche zu konzentrieren. So ­können die hier gelegenen öffentlichen Nutzungen, Geschäfte und sonstigen Angebote durch Dichte und Frequenz stärker belebt werden. Darüber hinaus kann das Ausmaß des zur Verfügung stehenden öffentlichen Raums auch entsprechend den Nutzungszeiten ­gesteuert werden. So besteht die Möglichkeit, ihn zu begrenzen oder zu erweitern, etwa, indem ein Park nachts geschlossen wird oder eine Straße zu bestimmten Zeiten exklusiv den Fußgängern zur Verfügung steht. Damit Graz-Reininghaus im Sinne des öffentlichen Raums funktioniert und somit eine entsprechend hohe Frequentierung sicher gestellt ist, ist die Erschließung mit öffentlichen Verkehrsmitteln (Straßenbahn) unverzichtbar. Auf diese Weise können die Ange­bote in GrazReininghaus auch für Nutzer aus anderen Gebieten von Graz zugänglich g ­ emacht werden, gleichzeitig wird Nutzungsvielfalt so auch im Kontext der gesamten Stadt realisierbar.

Das Thema öffentlicher Raum wird auch in der Publikation „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“ behandelt.


Nutzungsbelegung

Die Nutzung von Gebäuden

Ein weiterer wichtiger Faktor für Nutzungsvielfalt ist die Belegung des öffentlichen Raums mit positiven Nutzungen bzw. seine Ausrichtung auf wichtige städtebauliche Merkmale. Eine positive Nutzungsbelegung entsteht dann, wenn Menschen einen Ort wegen seines Grundnutzens aufsuchen (z.B. Kaffee trinken), sie aber dort zusätzlich einen additiven Nutzen erleben (z.B. Aufenthaltsqualität) und diesen dann mit dem Ort verbinden. Als Folge steht der angrenzende öffentliche Raum unter ­begrenzter sozialer Kontrolle. Er wird als sicher empfunden. Eine solche geschützte Öffentlichkeit muss mit den dafür geeigneten Mitteln ­geschaffen werden – etwa mit der positiven Besetzung von Räumen. Besondere Eignung dafür haben u.a. Gastronomiebetriebe von ­herausragendem Format. „Ich denke an das Chocolate Café am Franziskaner Platz in Bratislava, an das Café Blaustern am Nußdorfer ­Gürtel in Wien oder an das Hotel Daniel am Grazer Bahnhofsplatz.“, so Wolfgang Amann. Durch geeignete Bespielung oder mit Kunstinterventionen lassen sich öffentliche Räume ebenfalls positiv prägen. Als Kulturhauptstadt lieferte Graz diesbezüglich hervor­ ragende Beispiele: das gesamte rechte Murufer zwischen Südtirolerplatz und Lendplatz (Kunsthaus, Mariahilferstraße) wurde durch gezielte Interventionen attraktiviert. Es verfügt heute über eine lebendige Beisl- und Shopszene, ­teil­weise ergeben sich durch weiter reichende ­Innovationen und durch Kreativität sogar interessante Alternativen zum Geschäftsangebot östlich der Mur.

Auch Gebäudestrukturen liefern wichtige ­Voraussetzungen für Nutzungsvielfalt, das ­zeigen etwa die gründerzeitlichen Altbauquartiere. Durch Grundrissform und Raumhöhen ist ­dieser Gebäudebestand für eine Vielzahl unterschiedlichster Nutzungen einsetzbar. Vor allem in der Sockelzone lassen sich oft ­verschiedene Nutzungen finden, die auch auf den öffentlichen Außenraum ausgerichtet sind. Die ­Kleinteiligkeit in der städtebaulichen ­Struktur unterstützt den Abwechslungsreichtum in den ­Nutzungen. Diese Eigenschaften gilt es aufzunehmen und auf Graz-Reininghaus zu übertragen.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

57


3

>> Was sind Bedingungen für Nutzungsvielfalt

Sockelzonen Die Sockelzone nimmt durch ihre Ausrichtung auf den öffentlichen Raum und durch ihre gute Erreichbarkeit (kein bis geringer NiveauUnterschied zum Außenraum) eine wichtige Rolle für die Nutzungsvielfalt und für die Belebung des Gebietes ein. Um eine gemischte Nutzungsstruktur in Graz-Reininghaus zu erreichen, muss man der Sockelzone besonderes Gewicht verleihen. Dies kann etwa durch die vertikale Widmung der Gebäude erreicht werden. Dabei werden den Sockelzonen alle Nutzungen außer Wohnen und Büros vorbehalten, diese dürften erst in den darüber liegenden Geschoßen zugelassen werden. Darüber hinaus spielt die Raumhöhe im Sockelbereich eine zentrale Rolle. Denn die gängigen 2,50 m führen nur dazu, dass diese wichtigen Zonen „good places to run through statt good places to stay there“ sind (Christoph Chorherr). Die Erdgeschoße müssen höher gebaut, für jede Nutzung ein­setzbar und in der Raumaufteilung flexibler werden. Gleichzeitig müssen jedoch Geschoßhöhen von drei bis vier Metern auch ökonomisch ­dar­­stellbar sein. Weiters muss die Sockelzone die Voraussetzungen dafür liefern, dass kleinteilige Nutzungen untergebracht werden können. Dies erfordert zunächst die entsprechend flexi­ble bauliche Struktur. Zusätzlich könnten in Graz-Reininghaus die Sockelzonen gemeinsam vermarktet werden, um so – ähnlich wie bei Einkaufszentren – im Marketing der Angebote effizient und wirksam auftreten zu können. Nicht zuletzt werden so auch weniger attraktive ­Ge­­­schäftsflächen vermarktbar und einer höher­wertigen Nutzung zugänglich, wodurch in Summe wieder ein klarer Standortvorteil für Graz-Reininghaus entsteht. Gleichzeitig kann sich damit das Angebot vor Ort stärker ausdifferenzieren, er­­­gänzen und gegenseitig beleben.

Sockelzone in Berlin (oben) und Barcelona (rechte Seite)

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Mit dem Thema der Durchlässigkeit eines Stadtteils beschäftigt sich auch die Publikation „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“.


Über die gemeinsame Vermarktung könnte für Investoren auch der Anreiz geschaffen werden, die Erdgeschoße zu Beginn der Entwicklung von Graz-Reining­­­­­haus günstiger zur Verfügung zu stellen. Verbunden mit einer Aufsplittung der Miete in Basis­­miete und Umsatzbetei­ligung (ebenfalls gängige Praxis in Einkaufs­zentren), könnten so von Anfang an Nutzer ­ge­­­wonnen und dadurch die Erdgeschoße belebt werden. Christoph Chorherr ist überzeugt, dass es am Anfang unerheblich ist, welche Nutzung ins Erdgeschoß einzieht. Wichtig ist nur, dass die Fläche überhaupt genutzt wird, denn „wenn das Erdgeschoß funktioniert, ist ein Drittel des Projekts schon geglückt“. Mit zunehmender Nach­­­frage können sich dann hochwertigere Nutzungen ansiedeln. Neben der Nutzung der Sockel­­­zone spielt auch ihre Durchlässigkeit eine große Rolle, denn sie ist wiederum für die Zugäng­ lich­keit und fußläufige Erreichbarkeit des Stadt­ teils wesentlich verantwortlich. Dabei ist Durch­­ lässigkeit nicht zwangsläufig eine Frage der baulichen Struktur. Um sie zu gewährleisten, eignen sich auch privatrechtliche Regelungen wie Servitute. Mit ihnen werden (halb)öffentliche Durchgangsrechte im Grundbuch fest­ gelegt, etwa das Gehen oder Befahren eines fremden Grundstücks.

Das Thema der Sockelzonen und ihrer Durchlässigkeit wird auch im Kapitel „Welche Chancen bringt Nutzungsvielfalt“ behandelt.

Nutzungsflexibilität Die Nutzungsflexibilität eines Gebäudes wird über höhere Räume und große, zusammenhängende Flächen erreicht. Die Voraussetzungen hierfür können über den Bebauungsplan geregelt werden. Ein ebenso innovativer wie wirkungsvoller Ansatz für Graz-Reininghaus wäre es, die Gebäudehöhe über die Festlegung der ­Geschoßzahl und Geschoßhöhen zu regeln – und nicht, wie zur Zeit üblich, mittels Fest­ legung der Trauflinie. Ein Investor wäre dann nicht gezwungen, möglichst viel Nutzfläche in einer bestimmten Gebäudehöhe unterzubringen, vielmehr könnte er die gleichen Flächen mit ­einer größeren Raumhöhe anbieten. Ähnliche Regelungen haben schon in den gründerzeitlichen Städten zu einer Bebauung mit überwiegend hohen Geschoßen geführt. Einen ver­ gleich­baren Effekt könnte man im Zuge einer Dichtefestlegung erreichen, mit der maximalen Bruttogeschoßfläche als Regelgröße – anstatt, wie bisher, ausschließlich Fluchtlinien und Bauhöhen zu definieren. Nutzungsflexibilität kann aber auch durch nutzungsfreie Grundrisse gewährleistet werden, so dass rasch und ohne allzu aufwändige Verfahren auf Änderungen in der Nutzung reagiert werden kann. Ein Anreiz dazu könnte über Widmungen geschaffen werden, die ­bestimmte Nutzungen nicht auf einzelne Bereiche festlegen, sondern sie als prozentuellen Anteil am gesamten Gebiet ausweisen.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

Sockelzonen Wirtschaftlich betrachtet, sind Sockelzonen widersprüchlich: In bestehenden, hochfrequenten Lagen erzielen Geschäftsflächen in den Sockelzonen mit Abstand die höchsten Mieterträge. In Neubauten hingegen sind sie häufig kaum zu verwerten, denn niemand möchte in ihnen wohnen, arbeiten oder ein Geschäft betreiben. Der Mietertrag ist entsprechend gering. Daher scheuen sich Investoren bei Neubauprojekten häufig, Geschäftsflächen in den Sockelzonen ­zu errichten, sie werden vielmehr von Beginn an ausschließlich als Wohnungen geplant und verwertet. Bei einer späteren Nachfrage nach Flächen für Handel und Gewerbe können sie dadurch nicht mehr umgenutzt werden.

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Wie wirkt sich Nutzungsvielfalt aus?

Strukturmonotonie in Brasilia, geplant von Oskar Niemeyer 1957-1964

Das Gegenteil von Nutzungsvielfalt: Zwangsund Strukturmonotonie Zwangsmonotone Städte sind antike Tempelstädte wie Babylon, Verwaltungsstädte wie Brasilia oder Vergnügungsstädte wie Las Vegas. Sie sind geprägt von einer übermächtigen Leitidee sowie von einer zen­ tralistischen Verwaltung, von der Beschränkung des Privatlebens auf eine enge Sphäre und von der starken Limitierung des Austauschs im Inneren wie nach außen. Bei Nachlassen des Zentralismus werden sie schon nach wenigen Generationen vom Leben überwuchert und dem vitalen Lebens­kreis­ lauf einer Stadt zugeführt. Die Dimensionen und baulichen Strukturen von modernen Schlaf- und Bürostandorten lassen wiederum keine anderen als die ursprünglich geplanten Nutzungen zu (Strukturmonotonie). Die wenigen Inseln der Nutzungsvielfalt wie Einkaufszentren, Jugendzentren oder Kindergärten verkümmern, sobald die Steuerung nach­ lässt.

Die Interaktion zwischen den Funktionseinheiten des täglichen Lebens ist heute ohne Auto nicht mehr zu bewältigen, sie führt zu immer größerem Verkehrsauf­ kommen. So bleibt zwar die Nutzungs­ vielfalt der Stadt insgesamt erhalten, sie wird aber auf ein Maß gedehnt, so dass sie nur unter Einsatz von technischen Trans­­­portmitteln erlebbar wird. Mit der Folgewirkung, dass die Stadt unter Ver­ weis auf den Verkehr einen neuerlichen Schub der Entmischung erfährt. Ein un­ verändert aktueller Trend, der aber dem, was die Stadt auszeichnet, diametral entgegenläuft. Denn Urbanität lebt von der unmittelbaren Gleichzeitigkeit der Aktionen, Geschehnisse und Situationen.


Angesichts der enormen Haltbarkeit von bau­ lichen Strukturen hat auch die Nachhaltigkeit – die langfristige strukturelle Entwicklung – im Städtebau einen besonderen Rang. Nutzungs­ vielfalt erleichtert hier die fortwährende Selbst­­ erneuerung der Stadt, da entsprechend ge­­­­plante Gebäude kontinuierlich an geänderte funktionale Anforderungen angepasst werden können.* Nutzungsvielfalt ist ­damit das klare Gegenteil einer städtischen Zwangs- und Strukturmono­ tonie und positioniert sich somit als wichtiges Prinzip nachhaltiger Stadtentwicklung.

Verkehr und Erreichbarkeit Das dichte Nebeneinander verschiedener ­Nutzungen und Angebote des täglichen Bedarfs wirkt sich auch positiv auf die Mobilität aus. Das betrifft die Mobilität jedes Einzelnen ebenso wie das Gesamtsystem Verkehr und den modal split. Die Nutzungsvielfalt mit ihrem dichten Gefüge an Funktionen trägt wesentlich zur ­Reduzierung des fahrenden Autoverkehrs bei. Das senkt die Abgas- und Lärmbelastung, bremst den weiter steigenden Bedarf an hochrangigen Straßenbauten und begrenzt den ­entsprechend wachsendem Finanzbedarf der öffentlichen Hand für Errichtung und Erhaltung dieser Verkehrswege.

Wenn außerdem zu Fuß gehen oder mit der ­U-Bahn fahren dafür sorgt, dass die Strecke zwischen zwei Nutzungen einfacher, billiger und schneller zurückzulegen ist als mit dem Auto, entspricht das nicht nur dem ökonomischen Prinzip, sondern es ist auch im Sinne ­einer „Stadt der kurzen Wege“. Damit trägt der Ausbau von öffentlichen Verkehrssystemen wesentlich zur Etablierung von Nutzungsvielfalt bei. Für Graz-Reininghaus ist dies ­besonders wichtig, da das unmittelbare ­Umfeld des Areals bereits stark durch den ­Individualverkehr belastet ist.

Weganteile in % 100

Modal split Unter modal split versteht man die anteilige Zusammensetzung des Verkehrsaufkommens aus den Verkehrsträgern.

Modal split in Graz: Immer weniger zu Fuß, immer mehr mit dem Auto – ein Trend, dem Nutzungsvielfalt entgegen arbeitet

18,1

17,6

17,9

18,2

19,3

8,8

8,2

8,7

8,7

9,1

33,8

37,2

37,3

37,5

38,2

11,7

12,5

14,2

25,3

23,6

90 80 70 60 50 40 8,3 30

31,0

20

21,3

14,1

19,3

10 0 1982

1988

1991

1998

2004

mit Bus oder Tram mit dem Auto als Mitfahrer mit dem Auto als Fahrer mit dem Fahrrad zu Fuß

* Siehe dazu auch Kapitel 5 „Welche Katalysatoren gibt es für die Nutzungsvielfalt“. Das Thema Verkehr wird auch in der Publikation „Mobilität für Graz-Reininghaus“ behandelt.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

61


4

>> Wie wirkt sich Nutzungsvielfalt aus?

Stadtentwicklungsgebiet mit hoher Dichte im Jahr 2000

Die Stadt der kurzen Wege lebt von der Dichte und von der Frequenz

62

Stadtentwicklungsgebiet mit mittlerer Dichte im Jahr 2000

Stadtentwicklungsgebiet mit geringer Dichte im Jahr 2000

Flächenverbrauch Auch im Bereich des ruhenden Verkehrs können mit Nutzungsvielfalt signifikante Reduzierungen erreicht werden. Erkennbar wird dies am Beispiel Parkplatz: Während der Nacht braucht man einen Parkplatz bei der Wohnung, tagsüber einen beim Büro, zwischendurch ­einen weiteren beim Einkaufen und abends noch einen beim Fitnesscenter oder Kino. Wenn ­diese Nutzungen hingegen nahe beieinander ­liegen oder sich intelligent in einem ­Gebäude ergänzen wie z.B. Verwaltung (tagsüber) und Freizeit (Oper, Kino – abends und am Wochenende), dann kann ein und derselbe Parkplatz im Laufe des Tages den Benutzern unterschiedlicher Angebote zur Verfügung ­stehen. Nutzungsvielfalt führt damit zu reduziertem Flächenbedarf bei Parkplätzen und Straßenräumen und zu weniger Versiegelung der Ober­fläche. Gleichzeitig wird durch einen flexiblen, vielfach nutzbaren Stadtteil das kontinuierliche, quantitative und qualitative Wachsen der Stadt unterstützt. Das bedeutet zum einen, dass in dieser prozesshaft verstandenen Stadt ein fortwährendes Optimieren vorhandener Nutzung möglich ist. Dazu gehört zum anderen die ­Reduktion von Leerständen in Gebäuden und die aufgrund des begrenzten Angebots an ­bebaubaren Flächen für die Stadt so wichtige Nachverdichtung: Aufwerten von Standorten, Nutzen von Brachen, Anpassen des Bestands an heutige Lebensformen und Lebensstile.


Welche Katalysatoren gibt es für die Nutzungsvielfalt?

Auf dem Weg vom Konzept zur Realisie­ rung der Nutzungsvielfalt gibt es immer wieder Wegmarken, an denen man mit gezielten operativen Maßnahmen die Gesamtentwicklung in ihrer Richtung ­festigen und im Ablauf beschleunigen kann. Einige dieser Katalysatoren werden hier beschrieben.

Aspekte der Nutzungsvielfalt


5

>> Welche Katalysatoren gibt es für die Nutzungsvielfalt?

Quartiersmanagement Quartiersmanagement ist eine Möglichkeit, Nutzungsvielfalt im Stadtteil zu u ­ nterstützen. Unter Quartiersmanagement versteht man Interventionen im Sozialraum. Dazu gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden und Konzepte. Sie reichen vom Quartierscoaching über die Stadtteil- und Sozialarbeit bis zu Bewohnerservice, Gemeindeentwicklung und Services wie Conciergedienste und Mobilitätsmanagement. Der Sozialraum, in dem das Quartiersmanagement stationär vor Ort stattfindet, ist die Siedlung, die Wohnanlage oder das Quartier. Die Leistung bezieht sich auf sozialraumbezogene Lösungen und Fragen des sozialen Zusammenlebens. Sie kann aber auch Entwicklungs- und Erneuerungsmaßnahmen begleiten, die Nachbarschaft und das bürgerschaftliche Engagement aktivieren sowie vermitteln und vernetz­en. Quartiersmanagement lässt sich durchaus auch mit dem Management von Einkaufs­

Vielfalt in der Stadt – nicht nur für Nutzungen, sondern auch für Nutzer: Nutzungsvielfalt führt zur gesellschaftlichen Durchmischung

zentren vergleichen. In einem Urban Entertainment Center – und beim Zusammenschluss mehrerer: einem Urban Entertainment District – wird über die zentrale Vermarktung und das zentrale Flächenmanagement die perfekte Zusammensetzung und Verteilung der Nutzungen erreicht. An den ­Enden der Mall werden jeweils Ankernutzungen als destination attraction untergebracht, die die Kundenströme im Center zwischen sich aufspannen. Dazwischen gruppieren sich kleinere Geschäfte, die mit einem möglichst breiten Angebot alle Kundenbedürfnisse abdecken. Abgerundet wird das Angebot durch eingestreute, gestaltete Aufent­ halts­inseln (Cafés o.ä.) als ambient ­attraction, um die Kundenströme zu verlangsamen und um die entsprechende Atmosphäre für Spontan­ besuche in den angrenzenden ­Geschäften aufzubereiten. Mit event attraction, regelmäßig stattfindenden Aktionen oder ­Veranstaltungen, können zusätzlich Kunden ­angelockt, der Umsatz gesteigert und Lagerbestände abgebaut werden.

Einsatzgebiete für Quartiersmanagement 1

Etablierte

Moderne Performer

Sinus B1, 10%

Oberschicht 2

Konservative

Postmaterielle

Sinus A12, 6%

Sinus B12, 9%

Mittelschicht

Sinus C12 9%

Bürgerliche Mitte Sinus B2, 19%

Experimentalisten Sinus C2 5%

Soziale Lage

3

Unterschicht

Ländliche Sinus A23 7%

Traditionelle

Sinus BC3, 12%

Konsumierende Basis Sinus B3, 10%

A Traditionelle Werte

Grundorientierung

64

Hedonisten

Sinus A23, 13%

B Modernisierung

C Neuorientierung

Quartiersmanagement kann als Partizipationsund Kommunikationselement im Planungsprozess wirken. Es dient zur frühzeitigen Einbindung der Anrainer, aber auch zur frühen Identitätsbildung und zur Qualitätssicherung. Im Bereich von Infrastruktur und City Services dient Quartiersmanagement als Informationsdrehscheibe für Themen wie Gesundheit, Bildung und Soziale Dienste, aber auch als Organisationsservice für die Nutzung der Sockelzonen, für die Mehrfachnutzung von ­Flächen oder für die Unterstützung von Selbst­ or­ganisationen. Quartiersmanagement wird auch in der Landschaft und im öffentlichen Raum ­eingesetzt – wie bei der Zwischennutzung von


Brachflächen, bei der Bereitstellung von woh­ nungs­nahen Sportmöglichkeiten oder anderen Freizeitangeboten, die für Graz-Reininghaus als Standortfaktor Bedeutung haben. Ein anderes Einsatzgebiet besteht im Bereich der Wohnungs- und Sozialplanung. ­Dabei steht vor allem die Partizipation im ­Vordergrund, die Beratung von Wohn- und Baugruppen, der Aufbau von Gemeinwesen und Nachbarschaften sowie die Betreuung v­ on Sonder­wohn­formen. Im Bereich der Beschäftigung und des small business wird versucht, die Verbindung von Wohnen und Arbeiten zu fördern. Die Stadtteilökonomie soll dabei bewusst gefördert werden, beispielsweise durch die Unterstützung von start-ups oder durch den Aufbau von sozial­­­ ökonomischen Betrieben. Mit Quartiersmanagement kann auch die Soziokultur und die Identifikation mit GrazReininghaus gesteigert werden – indem Angebote für Kinder und Jugendliche bereitgestellt werden, Kulturprojekte organisiert und koordiniert werden und auch dadurch, dass die Aneignung von Raum ­unterstützt wird. Ein weiteres Betätigungsfeld für Quartiersmanagement ist Nachhaltigkeit und Ökologie. Das kann die bauökologische Beratung, aber auch den Aufbau eines Mobilitätsmanage­ ments beinhalten. Über Quartiersmanagement könnte die Nutzung von Graz-Reininghaus sowohl in der Bauphase als auch später, als fertig gestelltes Gebiet, auf vielfältige Weise aktiv geplant, ­gesteuert und unterstützt werden. Die Maßnahmen zielen darauf ab, das bürgerschaftliche Engagement der Bewohner zu fördern. Sie ­haben daher ein aktives Gemeinwesen, das Neben­­ einander verschiedenster Nutzungen und die Tolerierung dieser Nutzungen im Fokus. Quartiersmanagement kann somit einen wertvollen Beitrag für die Entstehung und den Erhalt der ­­­­­­ Nutzungsmischung in Graz-Reininghaus leisten.

Dienstleistungs- und Serviceangebote Raimund Gutmann sieht mit dem gesellschaftlichen Wandel hin zur flexiblen Wissensgesellschaft eine steigende Nachfrage nach innovativen Services und Dienstleistungen. Neu hierbei sei, dass auf Grund der zunehmenden Individualisierung weniger klassische Serienpro­­­dukte denn auf den Einzelnen zugeschnittene Wunscherfüllungen benötigt würden. Damit sind diese Business-to-me-/B2me-Angebote prädestiniert, bis in private Lebensbereiche vorzudringen (Freizeit, Lebensqualität, Familie u.a.m.), um hier etwa Rundum-sorglos-Services und persönliche Dienste anzubieten. Nach der Untersuchung „KUKO 2015“, eine Online-Befragung von 320 ausgewählten ­Zukunftsexperten zur Kundenkommunikation im Wohnbau, gibt es hier für den Dienst­ leistungssektor vier Hauptentwicklungs­stränge: · Bedeutungsgewinn der persönlichen Kundenbetreuung · Vermehrter Bedarf an Sozial- und Konfliktmanagement · Entstehen bzw. weiteres Wachsen neuer Dienstleistungs- und Serviceangebote nach dem Prinzip „B2me“ · Tendenz zum vermehrten Einsatz neuer Medien. Für neue Dienstleistungs- und Serviceangebote zeigt die Evaluierung, dass Familien- und Kommunikations-Services für besonders wichtig ­gehalten werden. Bei den Services rund ums Wohnen, die von Wohnungsunternehmen angeboten werden, wird das ­Geschäftsfeld „Betreutes Wohnen im Alter“, gefolgt von „Wohnumfeldverbesserungen“ für wichtig gehalten. Für die Nutzungsvielfalt in Graz-Reininghaus könnten sich derartige Tendenzen weitreichend nutzen lassen, so Raimund Gutmann. Als Beispiele seien hier die Nutzung der Erdgeschoß- oder Sockelzone genannt, die

Aspekte der Nutzungsvielfalt

65


5 Wohnhochhaus am Höchstädtplatz in Wien

>> Welche Katalysatoren gibt es für die Nutzungsvielfalt?

sich als Raum für „B2me“ Anbieter und persönliche Dienste b ­ esonders eignet. Vom Einkaufs-Service über Beratung und Umsetzung individueller Büro- und Wohnungseinrichtung bis zur Altenbetreuung ist hier Vieles denkbar. Dazu gehört auch der Concierge Service, den es wieder zu ­ent­decken und unter den Bedingungen der Nutzungsvielfalt neu zu definieren gilt. Damit kann die Sockelzone belebt und zu einem T ­ reffpunkt gemacht werden.

Gemischte Eigentümeroder Finanzierungsstruktur Im Wohnhochhaus am Höchstädtplatz in Wien wurden die unteren 10 Geschoße als soziale Mietwohnungen, die oberen 15 Geschoße hingegen als frei finanzierte Eigentumswohnungen in einem Gebäude realisiert. Sehr häufig gibt es in Wien auch unterschiedliche Förderungsmaßnahmen in einem einzigen Gebäude eines Eigentümers (ein Beispiel hierfür ist der Arwag Tower bei der Reichsbrücke): In den unteren Stockwerken geförderte Miete, darüber gefördertes Eigentum und die obersten Geschoße werden wieder frei finanziert.

Bauträger, Bauvereinigungen und Baugruppen Im Kapitel über die räumlichen Bedingungen für Nutzungsvielfalt* wurde es bereits angesprochen: Durch die Überwindung gängiger Schemata können auch bei den rechtlichen Festschreibungen substanzielle Fortschritte ­erzielt werden, ohne dass dabei das gesamte System in Frage gestellt wird. So hat sich etwa die Wohnbauförderung in vielfältiger Weise als Innovator im Wohnbau erwiesen. Im Hinblick auf die Nutzungsvielfalt sind die folgenden ­Ansätze auch für Graz-Reininghaus Erfolg ver­sprechend.

Bei Bauträgerwettbewerben mit Themen­ schwer­punkten (Familien, Wohnen und Arbeiten etc.) ist die gleichzeitige Einbeziehung von gemeinnützigen und gewerblichen Bau­trägern empfehlenswert, da sie jeweils unter­­schiedliche Zielgruppen haben und so verschiedene soziale Gruppen in einem Stadtteil integriert werden können. Die Zulässigkeit von Projekten mit gemischter Eigentümer- und Finanzierungsstruktur ist wünschenswert: So könnten einerseits die ­Sockelzonen von gewerblichen Bauträgern, ­andererseits die unteren Geschoße – auch ­liegenschaftsübergreifend – für mittlere und untere Einkommensschichten als geförderte

66

* Siehe Kapitel 3 „Was sind die Bedingungen für Nutzungsvielfalt“.

Mietwohnungen realisiert werden, während die oberen Geschoße – durchaus von anderen Bauträgern – frei finanziert realisiert werden. Derartige Modelle wurden beispielsweise in Wien angewandt.

Gemeinnützige Bauvereinigungen eignen sich als Partner auch für Nicht-Wohnbauten, insbesondere für soziale Infrastruktur oder etwa für öffentliche Einrichtungen. Die rechtlichen Grundlagen machen solche Aktivitäten von ­gemeinnützigen Bauvereinigungen bereits heute


möglich. Hinzu kommt, dass sie im Allgemeinen großes Vertrauen seitens ­­­der öffentlichen Hand genießen, wodurch die Akquisition öffentlicher Mittel zur Ko-Finanzierung erleichtert wird.

Bei wohnbaugeförderten Bauten lassen sich – entsprechende Rahmenbedingungen vorausgesetzt – Erdgeschoßräume dem kurzfristigen Verwertungsdruck entziehen, indem sie etwa als Nebenräume kalkuliert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass derartige Modelle aufgrund des Kostendeckungsprinzips letztlich von den Bewohnern finanziert werden. Diese Form der Vorhalteflächen ­leistet einen wichtigen Beitrag für langsam wachsende Nutzungsvielfalt, da manche gewerbliche Nutzungen erst nach Vollbesiedlung umsetzbar sind. Nicht-gewerbliche Nutzungen, etwa Kunstprojekte, aber auch Flächen für soziale Räume wie „Bewohnertreffs“, Fahrräder, Foyers etc. benötigen Räume mit geringem ökonomischem Druck. Diese können über Bonuskubaturen angeboten werden, wie es beispielsweise beim Kabelwerk in Wien und beim Stadtwerk Lehen in Salzburg gescheh­en ist. Die Nutzflächen, die einer Verwertung durch Wohnungen oder Büros zugeführt wurden, sind nach oben hin limitiert worden. Die gemein­ samen Flächen im Erdgeschoß wurden nicht in diese Dichteberechnung einbezogen. Neue Rechts- und Gesellschaftsformen für die Errichtungs- und Bauherren-Unternehmen sind ebenfalls förderlich für die Nutzungsvielfalt. Christoph Chorherr: „In Deutsch­land boomen die Baugruppen. Wir müssen es schaffen, auch hierzulande Menschen zu erreichen, die mehr wollen als nur die Fliesen in ihrem Badezimmer auszusuchen. Wir müssen interessante und interessierte Menschen ansprechen.“ Dieser Standpunkt wird auch von Wohn­ gruppen-Berater Gutmann vertreten.

Aspekte der Nutzungsvielfalt

Der Arwag Tower in Wien „Tröpferlbad“ der Einfachmehrfach-Initiative in Wien

Baugruppe Eine Baugruppe ist eine Zweckgemeinschaft von ­privaten Bauherren, die im Gegensatz zu einem Bau­ träger andere Organisations­ ziele als die finanzielle Gewinnerzielung hat. Zu ­diesen Alternativ-Zielen ­gehören u.a. die individuelle und kostengünstige Realisierung von Wohneigentum und von ­besonderen Wohnformen (Alt und Jung, Familien, ­Arbeiten und Wohnen etc.), weiters Nutzungs­ mischungen (z.B. Wohnen und Kindertagesstätte) und umwelt­freund­liches Bauen. Das Bauen in der Gruppe bietet folgende Vorteile: • gemeinsame Finanzierung und Durchführung • aktive Nachbarschaftshilfe schon während der ­Planungs- und Bauphase • Planung von Gemein­ schaftsbereichen • Arbeitsteilung beim Unterhalt des Baus (Pflege, ­In­standhaltung)

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5 Eisenbahnwaggons der Einfach-mehrfach-Initia­tive in Wien

Philipp Oswalt war zwischen 1988 und 1994 Redakteur der Zeitschrift Arch+. Nach seiner Tätigkeit für OMA/Rem Koolhaas und MVRDV gründete er 1998 ein eigenes Büro in Berlin. Zwischen 2001 und 2003 leitete er das Forschungsprojekt „Urban Catalyst“, zwischen 2002 und 2008 das Projekt „Schrumpfende Städte“. Seit 2006 ist er Professor für Architekturtheorie und Entwerfen an der Universität Kassel.

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>> Welche Katalysatoren gibt es für die Nutzungsvielfalt?

In Ergänzung zu den Baugruppen können Eigentümer auch bei der Konzeption von Townhouses die Gestaltung individuell und eigenständig bestimmen. Mit Townhouses, die auf der Idee des mehrgeschossigen Bürgerhauses basieren, lässt sich in innenstadtnahen Gebieten Belebung und eine hohe Baudichte er­zielen.

Zwischennutzung Der Entwicklungsansatz der Zwischennutzung zielt nicht auf die bauliche Struktur eines Geländes ab, sie soll vielmehr die Kontinuität eines Geländes und die Bindung seiner Nutzer sicherstellen.

Temporäre Nutzungen in Bestandsgebieten Temporäre Nutzungen können im Bestand eingesetzt werden, um infrastrukturelle Unter­ver­ sorgungen auszugleichen. Ein Beispiel hierfür ist die ‚Einfach-mehrfach’-Initiative in Wien: Sie organisiert im Auftrag des Magistrats die temporäre oder mehrfache Nutzung von Flächen, um so das Freizeitangebot in der Stadt zu erhöhen. Derartige Flächen können sein: Parkplätze, Brachen oder Restflächen.

Temporäre Nutzungen im Vorfeld einer städtebaulichen Entwicklung Zwischennutzungen können auch im Vorfeld bei der Entwicklung des Stadtteils eingesetzt werden und so zur Imageprägung eines Gebietes beitragen. Philipp Oswalt, er nahm als Konsulent beim Prozess „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“ teil, hält fest, dass ­Zwischennutzungen selten ursächlich für die Aufwertung eines Gebiets verantwortlich sind, wohl aber für die Profilbildung. Er spricht in diesem Zusammenhang von „Stadtentwicklung ohne Kapital“. Ein Beispiel ist das Projekt Kabelwerk in Wien. Das dezentral gelegene Areal des ­Kabel­­werks wurde nach Abwanderung der ­ursprünglichen industriellen Nutzung kulturell zwischengenutzt. Dadurch sollte das Image positiv geprägt werden. Darüber hinaus wurden auch soziale Ziele verfolgt, da die ehemaligen Betriebsangehörigen in der umliegenden Nachbarschaft wohnen. Mit der Entwicklung des Gebiets fielen die temporären Nutzungen wieder weg. Ein anderer Ansatz bezieht sich auf die Vorwegnahme einer Entwicklung durch Zwischennutzungen. Auf dem ehemaligen Werft­ gelände NDSM in Amsterdam Nord ­wurde das Gebiet ins Bewusstsein der Stadt gerückt, indem ein Wettbewerb für eine Zwischen­­­nutz­ ung mit einer Mindestdauer von 10 Jahren durchgeführt wurde. Das Projekt sollte als Identifikationsanker für den geplanten Stadtteil dienen. Eine dauerhafte Nutzung über den vorgegebenen Zeitraum hinaus wird dabei als möglich angesehen. Zwischennutzungen und Zwischen­nutzer können so permanente Aufgaben bekommen und Teil eines kontinuierlichen ­Prozesses werden.

Das Thema Zwischennutzung wird auch in der Publika­ tion „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“ behandelt.


Nutzungsvielfalt und Umnutzungen

Gebäude Umnutzungen funktionieren unabhängig vom Alter eines Gebäudes. Ausschlag­ gebend sind vielmehr die Lage des ­Gebäudes in Zusammenhang mit der neuen Nutzung, die Verwendbarkeit für die neue Nutzung und die Flächen­ effizienz. Wichtig sind weiters Bau- und Haustechnik (Bestand, erforderliche ­Adaptionen, Instandhaltungs- und ­Energiekosten etc.) und unter physiolo­ gischen und psychologischen Gesichts­ punkten der Faktor Mensch als Benützer.

Aspekte der Nutzungsvielfalt Aspekte

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Umnutzung des Gasometers in Wien

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>> Nutzungsvielfalt und Umnutzungen

Bei der Planung neuer Gebäude in Graz-Reininghaus sollten diese Faktoren berücksichtigt werden, um schon im Vorfeld spätere Um­ nutzungen zu berücksichtigen. Vittorio Magnano Lampugnani etwa meint im Rahmen des Interviews zu den Stadtszenarien in diesem Zusammenhang: „Die guten Stadtteile haben sich stark gewandelt. Sehr viele Stadtteile werden ganz anders genutzt als sie in der Bauphase angedacht wurden.“ Diese Erkenntnis lässt sich ­natürlich auch auf einzelne Gebäude übertragen. Ein Hauptaugenmerk sollte daher von

Anfang an auf die Qualität und auf die Flexibilität eines Gebäudes gelegt werden. Nutzungsneutralität bedeutet unweigerlich größere Raumhöhen und ein ­größeres Flächenangebot. Die dadurch entstehenden Mehrkosten in der Errichtung rechnen sich unter Umständen erst nach 20 bis 30 Jahren und schaffen somit nur einen Anreiz bei langfristiger Investition. Das Problem dabei ist, dass es nicht viele Investoren gibt, die in diesen Zeitkategorien denken wollen und können. So ist es heute gängige Praxis, dass Wohnungen mit Räumen von nur 10 m² ­errichtet werden. Diese ‚Zimmer’ (früher sagte man dazu noch ‚Kabinett’ oder ‚Kammer’) sind bereits für die Umnutzung innerhalb der Wohnung nicht verwendbar, weil das kleine Kinderzimmer nicht als Elternschlafzimmer tauglich ist. Gebäude mit derartig kleinteiligen Grundrissstrukturen lassen sich daher in keiner Weise für andere Nutzungen – wie z. B. für Büros oder Gewerbe – adaptieren. Eine flexible Raumstruktur schlägt sich also positiv auf die Adaptionskosten nieder, da auch bei gleichbleibender Nutzung (z.B. Schule) die Ansprüche an Raum und Gebäude veränderlich sind. Bei umgenutzten Gebäuden ist es für Nutzer und Besucher ausschlaggebend, dass sie die Qualität der Architektur als Mehrwert erleben und sich mit ihr identifizieren können. So bieten Räume, die für industrielle oder ­ge­werbliche Nutzungen gebaut wurden, durch ihre hohen Räume eine einzigartige Qualität ­­ ­­– die zudem aus Gründen der effizienten Raumnutzung und der Kosten in Neubauten nicht realisiert werden würde. Der Reiz der Umnutzung besteht hier im Nicht-Rationalen, im Ungewohnten und im Nicht-Angepasstsein. Aus diesem Blickwinkel bietet sich in GrazReininghaus die Möglichkeit, die ehemaligen Brauereigebäude mit überaus kreativer (Aus-) Nutzung des vorhandenen Raums neu zu


Städtebau

bespielen: Neue/Zusätzliche Nutzungen, Funktionen und großzügige Raumerlebnisse werden realisierbar, die auf heutigen Grundrissen nur schwer möglich sind – ein Mehr an Lebensqualität bis hin zum luxuriösen Unikat. Diese Qualitäten alter, vielfach ­in­du­strieller Gebäude ziehen eine Vielzahl unterschiedlicher, oft auch gewinnbringender Nutzungen an. „Alle wollen die New Economy, but the New Economy wants old buildings. Denn die alten Häuser sind flexibler und ­nutzungsneutraler.” so Christoph Chorherr.

Umnutzung der „Sargfabrik“ in Wien

Mit der Tertiärisierung und dem damit verbundenem Wegfall innerstädtischer oder innenstadtnaher industrieller Nutzungen ist in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl spannender Umnutzungsprojekte entstanden. Historische Gebäude bringen verschie­ dene Vorteile mit sich. So überragt ihr ­Geschichts- und Imagewert den eines Neubaus bei Atmosphäre und Landmark-Charakter oftmals deutlich. Alte Gebäudesubstanz bietet einen hohen Wiedererkennungswert und prägt damit den Gebietscharakter. Durch die Um­ nutzung alter Gebäudestrukturen können Ankerpunkte für die Bevölkerung und damit Kontinuität in der Stadtteilstruktur erreicht werden. Außerdem kommt es bei der Änderung einer Nutzung vor Ort zu weniger Brüchen und die neue Nutzung ist leichter in das alte Umfeld zu integrieren. Berechtigung bekommt die Umnutzung durch die Tatsache, dass sich die Art der Nutzung des öffentlichen Raums in den letzten 50 Jahren komplett verändert hat. Deswegen sollten, so meint Joan Busquets aus Barcelona

Aspekte der Nutzungsvielfalt

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6 Gewerbehof in Hamburg mit neuer Nutzung

Gewerbehöfe Bei Gewerbehöfen handelt es sich um kleinräumliche Gewerbestandorte in innerstädtischen bzw. innenstadtnahen Zentren. Entstanden sind sie im 19. Jahrhundert, als durch die Industrialisierung neue Fabrikationsanlagen gebraucht werden. Aufgrund des Mangels an verfügbarer Gewerbefläche siedeln sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den Gewerbehöfen kleinteilige Nachnutzungen an. Damit etablieren sich Kleinbetriebe in diesen Stadtvierteln.

>> Nutzungsvielfalt und Umnutzungen

im Interview* mit Andreas Kleboth und Max Rieder, auch Veränderungen im Design berück­ sichtigt werden. „Der öffentliche Raum ist immer dazu designt, sich zu verändern.“ Am Beispiel der innerstädtischen ­Gewerbehöfe in Hamburg lässt sich gut ab­ lesen, was die Umnutzung alter Gebäudestrukturen für die Entwicklung eines Gebietes und für die Vielfalt an Nutzungen leisten kann. Seit den 70er Jahren spielen die mehrgeschoßigen Gewerbehöfe im Rahmen der Strategien zur Stadterneuerung eine wichtige Rolle. Hauptziele im gewerblichen Bereich sind die Schaffung eines attraktiven Gewerbeflächenangebots zu günstigen Mietkonditionen und der Erhalt der Versorgung der Stadtteile mit Handwerks- und Dienstleistungsbetrieben. In den 80er Jahren und besonders mit den Stadtentwicklungsprogrammen der 90er Jahre verstärkte sich im Rahmen der integrierten Stadtteilentwicklung der Einsatz von Maßnahmen zur Unterstützung der lokalen Ökonomie. Heute reicht die Bandbreite der ­ansässigen Betriebe vom traditionellen Hand­ werk über Alternativbetriebe bis hin zur „New Economy“. Dadurch weisen diese Betriebe oftmals eine gemeinschaftliche bzw. partner­ schaftliche Struktur auf. Beide Betriebsformen suchen ihre Arbeits­kräfte häufig über Netz­

Umbau und Integration des „Siebengebirges“ in die Rheinauhalbinsel in Köln

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* Joan Busquets nahm als Konsulent am Prozess „Stadtszenarien für Graz-Reininghaus“ teil.

werke und über Nachbarschaften, nicht selten in Abhängigkeit von informellen Arrangements und kulturellen Normen. Durch die Integration der Arbeitskräfte und die Verbindungen ins Quartier bilden diese Betriebe einen wesentlichen Bestandteil des Viertels, durch wohnungsnahe Arbeits- und Ausbildungsplätze tragen sie zur sozialen Integration und Sozia­ lisation bei. Die Erfahrungen mit den Hamburger Gewerbehöfen zeigen aber auch, dass die ­Nutzungsmischung eine wesentliche Grundlage für die lokale Ökonomie ist – zusammen mit der Bevölkerungsdichte, der Attraktivität des Viertels und der damit verbundenen ­Einbindung in überlokale Zusammenhänge. Insgesamt stehen die Hamburger Ge­werbehöfe und ihr alter Gebäudebestand für Konstanz in ihrer städteräumlichen Ein­ bindung und in ihrer Bau- und Gebäudestruktur. Zudem sind sie vielfach stadtgestalterische und architektonische Dokumente vormaliger industrieller Produktionsweisen. Gleichzeitig sind sie in ihren kontinuierlichen Anpassungsprozessen aber auch Ausdruck des Wandels, der von unterschiedlicher Ausprägung und strategischer Schwerpunktsetzung ihrer Träger und Betreiber gekennzeichnet ist.


Aspekte – Kurzfassung

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Was ist Nutzungsvielfalt?

Dynamisches Wechselspiel zwischen Nutzungen und Nutzern Hohe Ereignisdichte und Ruhe, je nach Tageszeit Veränderung des Charakters im Laufe des Tages, bedingt durch zeitlich unterschiedliche Nutzung einzelner Gruppen (am Vormittag spielen Kinder, Berufstätige essen zu Mittag, abends gehen Bewohner zum Shopping, …) Durch öffentliche Nutzung auch Herausbildung von Orten verschiedener Zugänglichkeit (öffentlich – halböffentlich – privat) Anpassung an neue Nutzer und neue Nutzungsbedingungen leichter möglich Mehrere Nutzungen im gleichen Gebäude möglich (zeitgleich parallel und zeitlich gestaffelt) Ausrichtung der Stadt auf fußläufige Erreichbarkeit der Angebote, dadurch Belebung der Stadt Abwechslung statt Strukturmonotonie Soziale und ökonomische Stabilität für das Quartier

Welche Chancen entstehen durch Nutzungsvielfalt?

Welche Bedin­ gungen gibt es für Nutzungsvielfalt?

Für die Bevölkerung Fußläufige Erreichbarkeit von Versorgern des täglichen Bedarfs Fußgänger-verträgliche Geschwindigkeiten und Raumgestaltung Belebung der Stadt rund um die Uhr Integrationscharakter für Nutzer unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen

Strukturelle Voraussetzungen Fußgänger- und radfahrerfreundlicher öffentlicher Raum mit entsprechenden Straßenquerschnitten Planungen beginnen mit dem öffentlichen Raum Fußläufige Erreichbarkeit der verschiedenen Angebote Hohe Frequenz und gute Erreichbarkeit der Angebote Positive Nutzungsbelegung (Cafés, Kunstprojekte, …) Flexible und qualitativ hochwertige Gebäudestrukturen als Voraussetzung für Nutzungsflexibilität Für unterschiedliche Nutzungen geeignete Sockelzonen Unterbringung kleinteiliger Nutzungen

Für die Kommune Geringerer Flächenverbrauch durch dicht beieinander liegende Nutzungen, nachhaltige Stadtentwicklung wird gefördert Dichte bedingt geringere Herstellungsund Unterhaltskosten für Infrastruktur Durch Nutzungsflexibilität ist ein Anpassen der Stadtstruktur an geänderte Nutzungsbedingungen ohne große Kosten möglich Verbessertes Sicherheitsgefühl durch 24h Belebung des Raumes Langfristige Erträge Integration von Minderheiten und Mischung der Bevölkerungsschichten Strukturen sind in der Zukunft robuster und anpassungsfähiger Soziale Robustheit Für Investoren Mehrfachnutzung von Gebäuden – auch in zeitlicher Abfolge – möglich Streuung des Risikos durch verschiedene Nutzungen Bei prozentualer Widmung können Flächen entsprechend der Nachfrage vermietet werden

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Mögliche Rechtsinstrumente Widmung nach Geschoßen oder prozentuale Widmung Widmung nach Zeit Bonuskubatur: gemeinschaftlich genutzte Räume werden nicht in die Dichteberechnung einbezogen Festlegungen der Gebäudehöhen mittels Geschoßhöhen, Geschoßanzahl oder BGF Privatrechtliche Regelungen über Zugangsrechte Gemeinsame Vermarktung der Sockelzone


Wie wirkt sich Nutzungsvielfalt auf den Raum aus?

Welche Katalysatoren gibt es für Nutzungsvielfalt?

Welche Vorteile ergeben sich für Nutzungsvielfalt bei Umnutzung?

Für Verkehr und Erreichbarkeit Reduktion des MIV Höhere Akzeptanz des ÖPNV und dadurch Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems Stadt der kurzen Wege Reduktion der Parkplätze, da sie im Tagesverlauf mehrfach belegt werden können Lebendiger öffentlicher Raum Fußläufige Erreichbarkeit vieler Destinationen Nähe von Quelle und Ziel

Quartiersmanagement Sozialraumbezogene Lösungen, Bearbeitung von Fragen des sozialen Zusammenlebens Interventionen im Vorfeld der Entwicklung, während des Bauprozesses und im bestehenden Gebiet Förderung des bürgerschaftlichen Engagements der Bewohner

Gebäude Lage in Zusammenhang mit der neuen Nutzung Verwendbarkeit für die neue Nutzung und Flächeneffizienz Bau- und Haustechnik (Bestand, erforderliche Adaptionen, Instandhaltungsund Energiekosten etc.) Kreative (Aus-)Nutzung des vorhandenen Raums, dadurch neue/zusätzliche Nutzungen und oftmals großzügige Raumerlebnisse realisierbar, die in neuen Gebäuden nur schwer möglich sind

Flächenverbrauch Mehrfachnutzung von Flächen Durch kurze Wege weniger Flächen für Erschließung erforderlich Hohe Dichte

Services während des Bestehens „b2me“-Märkte bieten verschiedene Dienstleistungen und Services, vom Einkaufen über Beratung und Umsetzung individueller Büro- und Wohnungseinrichtung bis zur Altenbetreuung. Untergebracht in der Sockelzone, können sie diese beleben Bauträger, Bauvereinigungen und Baugruppen Gemischte Eigentümer- und Finanzierungsstruktur Baugruppen als neue Rechtsund Gesellschaftsformen Bauträgerwettbewerbe mit Themenschwerpunkten Gemeinnützige Bauvereinigungen als Partner auch für Nicht-Wohnbauten, soziale Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen

Städtebau Historische Gebäude überragen durch ihren Geschichts- und Imagewert den Wert eines Neubaus bei Atmosphäre und Attraktion deutlich Kontinuität in der Struktur des Stadtteils und weniger Brüche vor Ort Neue Nutzungen sind leichter in den Stadtteil zu integrieren Durch Nutzungsflexibilität können Gebäudebestände wichtige Nutzungen im Stadtteil attraktiv unterbringen

Zwischennutzung Kann infrastrukturelle Unterversorgung temporär ausgleichen Kann als Imageprägung bei der Entwicklung des Gebietes eingesetzt werden Flexibilität ist Voraussetzung für temporäre Entwicklungen und Zwischennutzungen

Aspekte – Kurzfassung

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Projektbeteiligte

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Auftraggeber

kleboth lindinger partners

Die Asset One Immobilienentwicklungs AG wurde 2005 von österreichischen Investoren gegründet, um die Flächen aus dem ehemaligen Besitz der Brau Union in Österreich zu entwickeln. Insgesamt werden Liegenschaften im Ausmaß von 1,2 Millionen Quadratmetern gehalten. Über 900.000 m2 davon sind gewidmetes Bauland in Salzburg, Linz, Schwechat und Graz. Die zentrale Strategie von Asset One ist es, für Bauland in städtischer Lage die optimale Nutzung zu finden und den Qualitäten und Besonderheiten jedes Standortes bestmöglich gerecht zu werden.

Die städtebauliche Intendanz von GrazReininghaus wurde von der Asset One AG an kleboth lindinger partners (KLP) übertragen. Auf der strategischen Ebene gehören dazu die Beratung des Auftraggebers in städtebaulichen Fragen und laufende Gespräche mit Experten der Stadt Graz. Auf der operativen Ebene entwickelte KLP die Methode für die Koordination der einzelnen Fachbereiche („städtebauliche Perspektiven“). Hier war KLP sowohl für Konzept und Programm als auch für die Realisierung verantwortlich, von der Erarbeitung der Themenfelder bis zur Organisation der Symposien. KLP sind Stadtplaner und Archi­tekten mit Standorten in Linz, Graz, Salzburg und Innsbruck.


Projektbeteiligte

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November 2008

Herausgeber Asset One AG www.asset-one.at www.graz-reininghaus.com St채dtebauliche Intendanz Gesamtkonzeption kleboth lindinger partners www.kleboth-lindinger.com Leitung des Symposiums Katharina Karoshi, kleboth lindinger partners Moderation Wojciech Czaja, Der Standard Konsulenten Wolfgang Amann Christoph Chorherr Raimund Gutmann Jutta Kleedorfer Michael Klees Christian Krainer

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Redaktion kleboth lindinger partners mit Unterst체tzung von Cyrus Asreahan, Barbara Gigler und Michael Sammer Autoren Wolfgang Amann Wojciech Czaja Ina Granzow Christian Hansen Katharina Karoshi Andreas Kleboth Grafische Gestaltung Gabi Peters, Art Direction filleins, Layout Textbearbeitung Christian Hansen


Abbildungsnachweis Benevolo, Leonardo, Die Geschichte der Stadt, 1983 (60); Freytag - Berndt (25 oben); cities, architecture and society, 10. Mostra internazionale di Architettura, Vol. 1 (53); eikongraphia.com (70); flickr.com, Uldo (66); Festival La Strada (56); Lisi Gradnitzer (U1, 6-9, 14-18, 20-21, 25 Abb. 3, 28-29, 32-33, 40-41); Lib.utexas.edu (46 rechts); kleboth lindinger partners (25 Abb. 5, 48-50, 52, 54, 55, 58, 59, 62); Magistratsabteilung 18 der Stadt Wien (67 unten, 68); Paul Kranzler (25 Abb. 1, 2, 4, 6); Gabi Peters (10-13, 23 unten, 61); picasaweb.com (72 unten, 51); RathConsulting (31, 34-38); Dr. Hans Ludwig Rosegger, Die Geschichte der Brüder Reininghaus (26); Colin Rowe und Fred Koetter „Collage City“ (47);

Sinus Sociovision und Microm (Hg.): Mosaic Milieus in Österreich, www.sinus-sociovision.de (64); Stadt Graz (23 oben, 46 unten); Stadt Wien (46 links); sargfabrik.at (71); schanze8.de (72 oben); slavonia.com (67 oben); Sokratis, Dimitriou, „Stadterweiterung von Graz: Gründerzeit“ (52); Vitra Design Stiftung gGmbH „Leben unter dem Halbmond Die Wohnkulturen der arabischen Welt“ (30); Wikipedia.de (69); wohnbund:consult (63)

Impressum

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www.graz-reininghaus.com


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