Die Geschichte eines Eis - ...über das Senftenberger Ei/Garten-Ei von Peter Ghyczy

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roman steiner

die geschichte eines eis.

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Die Geschichte des Garten-Eis von Peter Ghyczy. Die 1960er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Die Jugend begann gegen die traditionellen Wertevorstellungen und das Autoritätsverständnis Ihrer Eltern aufzubegehren. Proteste und Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze der großen Koalition oder den Vietnamkrieg spalteten die Gesellschaft. Damit einhergehend kam es auch zu neuen Freiheiten in Mode und Kultur jener Zeit. Neue Materialien, Formen und Farben bestimmten die Trends, auch bei der Einrichtung. Im niedersächsischen Lemförde entwickelte die Elastoplast GmbH unter Leitung von Gottfried Reuter, einem ehemaligen Bayer-Chemiker, Produkte aus dem Kunststoff „Polyurethan“. Kunststoffprodukte boomen zu dieser Zeit, in West wie auch in Ost. Die vielfältigen Möglichkeiten des damals neuen Materials begeisterten Designer und Kunden gleichermaßen. 1968 nimmt der damals 28-jährige Designer und Architekt Peter Ghyczy seine Tätigkeit in der Designabteilung von Elastoplast/Reuter auf. Im ersten Jahr seiner Arbeit entwickelt der gebürtige Ungar ein Gartenmöbel, das geschlossen Regen im Freien standhalten sollte. Erste Entwürfe erinnerten noch an einen Koffer mit Kissen im Inneren. Im weiteren Modellierungsprozess, Materialverbesserungen hatten die Dicke der Schalen um 2 cm verringert, formte Ghyczy dann jene markante Form des Garten-Eis, die bis heute bekannt ist. Der besondere Öffnungsmechanismus, der Deckel, der zugleich aufgeklappt die Lehne darstellt, schützt die Sitzauflage vor Nässe. Der Kunststoff war der Witterung gewachsen, das farbenfrohe Ei zudem nicht schwer. Es konnte wie ein Koffer getragen und mitgenommen werden. Ein ideales Zusammenspiel von genialem Design und passendem Werkstoff. Die Sitz-Eier wurden als Werbegeschenk von Elastoplast/Reuter verteilt. Ghyczy entwickelte bei Elastoplast/Reuter zahlreiche weitere innovative Entwürfe, so etwa 1970 das „Design-Center“, ein Gebäude komplett aus Polyurethan. In diesem entstanden, eng zwischen Technik und Produktgestaltung verzahnt, hauptsächlich Möbel, die an namhafte Firmen wie Drabert oder Vitra lizenziert wurden. Bereits 1972 wurde das „Design-Center“ geschlossen und später abgerissen. Peter Ghyczy gründete seine eigene Firma „Ghyczy + Co“ in Viersen. Gottfried Reuter verkaufte 1971 seine Firma an den Konzern BASF. Zudem verkauf-

te Reuter seine Polyurethan-Technik gen Osten, an die DDR, die ein ganzes Möbelprogramm mit diesem Kunststoff auflegte. Die westdeutsche Vertriebsfirma „Form und Life“ ließ die Designentwürfe aus dem Westen nun im Osten produzieren. Fortan wurde der Eierstuhl im VEB Synthesewerk in Schwarzheide, unweit von Senftenberg, für rund 1-2 Jahre produziert. Heute ist nicht mehr bekannt, wie viele Stühle dort produziert wurden. Es lässt sich aber eine niedrige vierstellige Menge annehmen. Die Produktion war aufwendig, der Preis für DDR-Bürger neben dem Export wurde auch ein kleiner Anteil des Sitzmöbels für den Binnenmarkt hergestellt - sehr hoch. In der DDR und auch nach deren Ende darüber hinaus erhielt das Ei den Spitznamen „Senftenberger Ei“, aufgrund des damaligen Produktionsortes. Dies führt häufig zu dem Glauben, das Sitz-Ei sei eine DDR-Entwicklung. Peter Ghyczy verlegte bereits 1974 seinen Firmensitz in die Niederlande, dort exisiert die Firma noch heute als „Ghyczy Selection“. Ghyczy legte das SitzEi 1998 selbst neu auf, nachdem das Ei spätestens in den 1990er Jahren in der Kunstszene Kult geworden war. Dabei wurde das Scharnier verbessert, das markante Design mit seiner Funktion beibehalten, wenn auch nun mit dem Kunststoff Polystyrol hergestellt und in RAL-Farbtönen erhältlich. 2018 erschien eine „Edition Black“ zu 50 Jahren Garten-Ei. Peter Ghyczys Sohn Felix, heute Chefdesigner des Familienunternehmens, gestaltete das Ei in schwarz mit bekannter Plastikhülle und exklusivem NubuckLeder, ebenfalls in schwarz. Laut Felix Ghyczy eine Hommage an seinen Porsche Targa, der ebenfalls 1968 gebaut wurde. Verkauft wird dieses JubiläumsEi für 3.300 EUR zzgl. Steuern nur im Jahr 2018. Das Original-Ei erzielt gebraucht mittlerweile auch Preise im vierstelligen Bereich. Peter Ghyczys Garten-Ei gilt heute als Pop-Ikone mit Kultstatus. Ein Objekt mit zeitlosem Design, stellvertretend für die Experimente mit Formen und Materialien in den 1960er Jahren. Es ist in ständigen Sammlungen renommierter Museen weltweit zu besichtigen, darunter das V & A Museum (London, GBR), das Wende Museum (Los Angeles, USA), das Design Museum Holon (Holon, ISR) oder das ADAMBrussels Design Museum (Brüssel, BEL).


Links: Peter Ghyczy Ende der 60er Jahre mit dem Garten-Ei, rechts mit Sohn Felix in 2015.


Der Erfinder des Garten-Eis. Ein Gespräch mit Peter Ghyczy. Herr Ghyczy, in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts veränderte sich die Gesellschaft als auch die Mode und Kultur radikal. Wie haben Sie diese Zeit als Designer erlebt?

1960 war ich 20, 1970 30 Jahre alt. Die radikalen Veränderungen kamen mir sehr entgegen, eine herrliche Zeit. Jede Periode ist interessant, wenn sie Veränderungen mit sich bringt. Gutes Produktdesign nutzt die neuen technischen Möglichkeiten und reagiert auch auf den Wandel der Gesellschaft. So gesehen waren die 60er sehr interessant, voller neuer Möglichkeiten, um Neues zu schaffen. Aber auch jetzt gibt es viele Veränderungen. LED Licht fordert die Designer heraus, jede Lampe neu zu entwerfen. Die Beweglichkeit der neuen Generation macht die schweren Möbel unverkäuflich, zwingt zu neuen leichten Produkten. Gleichzeitig sind diese leichten Produkte auch umweltfreundlich, sparsam im Material. Produktionstechniken wie Laser-Cutting und 3D-Druck machen neue Produkte möglich. Was macht gutes Produktdesign für Sie aus?

Gutes Produktdesign beantwortet den aktuellen Bedarf. Die Antithese: ein überflüssiges Produkt ist schlechtes Design. 1968 entstand das Sitz-Ei. Erinnern Sie sich noch an den Entstehungsprozess? Wie kamen Sie auf die Idee der Pillenform?

Das Sitzei ist nicht als Form, sondern als Idee entstanden. Ich wollte ein Gartenmöbel, dass zugeklappt geschützt vor Regen draußen bleiben kann. Die ersten Skizzen sahen eher aus wie ein Koffer. Später kam dann eine Muschel als Vorbild. 1970 haben Sie das Design-Center in Lemförde komplett aus Polyurethan entwickelt. Eine Innovation. Wie war die Arbeit mit dem Kunststoff als Werkstoff?

Meine Aufgabe bei Reuter war, Anwendungen für seinen Kunststoff Polyurethan zu suchen. Möbel ent-

warf ich nebenbei, grosse Erwartungen setzte man in die Baubranche. Das Designcenter war eine leichte Stahlkonstruktion mit gebogenen, isolierenden Sandwichpaneelen, sowohl für das Dach wie für die Wände, damals neu, heute Standart. Kunststoff stand in den 60er Jahren für Innovation, für Zukunft. Es war für mich ein Glücksfall, dass ich Dr. Reuter kennengelernt habe und er mir alle Möglichkeiten gab, mit seinem Kunststoff zu arbeiten. Er und die Firma Bayer besaßen die Patente für PU. Dr. Reuter hatte nie die Absicht das Sitzei zu produzieren. Die Kleinserie, die wir im Designcenter in Lemförde fertigten, wurde zu Werbezwecken verschenkt. Ungewöhnlich ist die Tatsache, dass das Sitz-Ei zunächst Anfang der 1970er Jahre in Westdeutschland und dann in der DDR produziert wurde. Hatten Sie Kontakt mit der ostdeutschen Fertigungsstätte?

1971 verkaufte Reuter seine Firma an die Firma BASF, gleichzeitig aber auch an die DDR. 1971 wurde die Vertriebsfirma ´Form und Life ´gegründet, um die Produkte, meine Entwürfe, in der DDR produzieren zu lassen. Mit der Lieferung sollte der Kaufpreis der Patente an Reuter abbezahlt werden. Ich habe die Genossen mehrmals in Ostberlin getroffen. 1998 haben Sie das Sitz-Ei überarbeitet und selbst produziert. Wie überarbeitet man ein Objekt, das mit seinem Kultstatus schon seine zeitlose Linie bewiesen hat?

Bei der Neuauflage des Gartenei habe ich mich an das Original gehalten, nur die Scharniere wurden verbessert, und als Material ist nun ABS Schaum statt Polyurethan. Herr Ghyczy, wie viele Sitz-Eier findet man bei Ihnen Zuhause?

Zu Hause habe ich 3 Eier, 2 im Garten und 1 im Haus, und unter dieses habe ich eine Kufe montiert, um daraus ein „Schaukelei“ zu machen. Vielen Dank für das Gespräch.


Links: Peter Ghyczy heute, rechts Bilder aus den 60er/70er Jahren, mittig Mitarbeiter arbeitet an einem Mรถbel.


Oben: Das Senftenberger Ei auf einem Messestand in der DDR, 1973. Rechts: Eier vor der Lackierung.



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