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WIR TONI ROTH

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BIOGRAFIE

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14.10.2022:

Offenes Atelier – Besuch im Pfarrhaus

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Es ist 15:58 Uhr, als sich das mittlere Fenster im oberen Stockwerk des Pfarrhauses an der Hauptstraße öffnet und die rote Fahne an einem großen Ast an der Halterung angebracht wird.

Andere Kinder, die das Mädchen aus der Schule kennt, kommen angerannt. Sie sind eine Klasse über ihr. Ein bärtiger Mann mit langem Haar öffnet die Tür und die älteren Kinder huschen an ihm vorbei. Sie ist ein bisschen zögerlicher, bevor sie das Haus betritt.

Sie folgt den Stimmen in einen Raum, in dem haufenweise rote Sitzsäcke, Teppiche und rote Wollknäuel verteilt sind. Auf einem Bildschirm erzählt eine Frau etwas – sie hat sie schon öfter in Elmstein gesehen. Sie sieht wichtig aus und spricht ernst. Sie erzählt von Toni und Paris. Der Ton aus dem Lautsprecher kommt gegen die aufgeregten Stimmen der anderen Kinder jedoch nicht an. Ein Junge begrüßt sie und fragt, ob sie Fingerstricken lernen will. Sie nickt, holt sich ein schönes Knäuel der dunkelroten Wolle und setzt sich neben ihn auf den Boden. Fingerstricken ist gar nicht so schwer.

Sie läuft einen Raum weiter. Dort ist es etwas ruhiger. Ganz viele Scherben liegen auf einem Tuch auf dem Boden. Sie soll sich selbst eine Scherbe nehmen und mit einem Nagel ihren Namen in sie ritzen.

Außerdem braucht es viel Kraft, bis ihr Name wirklich eingraviert ist und nicht beim Darüberwischen mit der Hand direkt ganz verblasst. Sie umwickelt die Scherbe mit einem roten Faden. Ihren Namen erkennt man jetzt nur noch bruchstückhaft, genauso wie auf der Fahne im Wind vor dem Pfarrhaus. Ihre Namensscherbe soll gleich im Garten zu den anderen an einen Baum gehängt werden.

Davor will sie sich noch ein bisschen umschauen.

Der Wind verfängt sich in der Fahne und lässt ihre blau­weiße Aufschrift nur unvollständig von unten erkennen. Irgendwas mit ICH und N und TH. Das Mädchen, das schon gespannt vor der Tür wartet, ist nicht auf einen Moment der Windstille angewiesen, sie weiß schon so was dort geschrieben steht: ICH TONI ROTH

Eigentlich wollte sie schon gestern hereinschauen, nachdem sie in ihrer Grundschule Besuch bekam und ihren ersten roten Pulli malte. Da musste sie allerdings zu Hause bleiben, weil ihre Oma vorbeigekommen war. Jetzt ist sie noch aufgeregter, mehr über die Frau zu erfahren, deren Namen sie gestern zwar zum ersten Mal hörte, der ihr aber irgendwie doch so bekannt vorkam.

Die Scherben sind wohl aus dem Speyerbach, in den sie an heißen Sommertagen auch ab und zu ihre Beine taucht. Inzwischen ist er aber viel zu kalt und das Gras am Ufer ist matschig. Die Scherbe, die sie sich aussucht, ist glatt und sieht ein bisschen aus wie eine eckige Wolke. Sie setzt den Nagel an und zuckt kurz zusammen, das Geräusch erinnert sie an abrutschende Kreide auf einer Tafel.

In einem großen Raum mit grünen Wänden sind Tische in der Mitte aufgestellt. Sie sind voll mit alten Fotos, Stiften, verschiedenen Papieren, Scheren, Kleber, Zweigen, Schneckenhäusern, Stoffresten und vielen weiteren Dingen. Sie setzt sich auf einen der Stühle am Tisch und schaut, was die Frau neben ihr macht: Durch ein transparentes Papier paust sie ein schwarz­weißes Foto von einer Blume ab und gibt ihr mit den Wachsmalstiften wieder ihre Farbe zurück. Daneben malt sie Blumen in anderen Farbtönen, bis eine ganze Wiese entsteht. Das Mädchen nimmt ein Bild von der Mitte des Tisches, auf dem eine Gruppe fein säuberlich aufgereihter Personen zu sehen ist. Es erinnert sie an Familienfotos, die sie an Weihnachten immer machen. Sie malt die Umrisse der Personen mit roten Filzstiften nach und rahmt das Foto mit einem Wollfaden. Dann legt sie das Foto wieder zurück in die Mitte. Vielleicht will es jemand anderes noch vervollständigen.

Sie geht durch die offene Tür in einen weiteren Raum, der ganz weiß und hell ist. Durch die großen Fenster kann man in den Garten schauen. Es sitzen Menschen an einem Tisch mit rotem Tuch vor einem großen Berg weiß­schwarzer Vierecke. Man kann sie in ein kleines Gerät stecken und wenn man durchschaut, sieht man plötzlich ein Foto. Dias heißen sie. Das Mädchen nimmt sich eines vom Tisch. Wenn sie da so liegen, sehen sie alle gleich aus.

Sie macht sich auf die Suche nach Spuren von Toni, nach roten Details, nach Mädchen und Frauen und einem roten Pullover. So einen, wie sie ihn gemalt hat. Sie findet Fotos von Bäumen mit roten Blättern, von Kindern, die mit einem roten Ball spielen und sogar eines, auf dem im Hintergrund ein rotes Auto zu sehen ist. Nur eine Person in rotem Pullover sucht sie vergeblich. So gerne hätte sie Toni in ihrem Pulli gefunden. In dem Pulli, der etwas zu groß und schon ein wenig ausgebeult ist, der sein leuchtendes Rot aber nie verloren hat. In dem Pulli, den sie in der Schule gemalt hat. Gestern in der Schule haben sie erzählt, dass der rote Pullover Toni an ihre Mutter erinnerte. Das Mädchen kann das nachvollziehen. Zwar ist es kein Pulli, sondern ein Schal und auch nicht ihre Mutter, sondern ihr Opa, an den er sie erinnert. Nachdem er gestorben ist, hat sie den grün­braunen Seidenschal aus seinem

Schrank genommen und ihn seither immer wieder angezogen. Ihn zu tragen, stimmt sie traurig, aber holt gleichzeitig die schönen Erinnerungen hervor. Es tut weh, weil sie ihren Opa durch das Tragen des Schals mehr vermisst, ihn aber auch irgendwie wieder ein wenig näher bei sich hat. Es ist eine andere Art der Traurigkeit: keine, die stumpf und kalt einfach da ist, sondern eine die leuchtet und Platz für Hoffnung lässt.

Ihr Blick schweift immer öfter nach unten in den Garten. Ein paar der anderen Kinder spielen dort bereits Fangen und ihr Gelächter klingt bis in das Haus. Sie legt die Dias zur Seite und macht sich auf den Weg. Die eckigen Kanten ihrer Scherbe, die bereits neben den anderen am Baum hängt, erkennt sie auf den ersten Blick.

Vielleicht sucht sie morgen weiter nach Toni. Nach Toni Roth in ihrem Pulli.

16.10.2022:

Filmdreh „Rote Beine“

Es ist noch ziemlich früh, als ich meinen Wecker ausstelle, mich aus dem Bett schäle und die rote Wollstrumpfhose aus der Schublade hole. Sie fühlt sich weich an und es ist inzwischen schon so kalt draußen, dass ich mich freue, sie unter meine Jeans zu ziehen.

Wir treffen uns im Pfarrhaus. Alle ziehen ihre Wollpullis an und ihre Hosen über den Strumpfhosen aus. Wir lachen, das Bild unserer roten Beine gefällt uns jetzt schon. Nachdem uns erzählt wurde, an welchen Orten wir filmen werden, ziehen wir die Gummistiefel über unsere roten Füße und laufen mit einem leeren Flechtkorb und einem Eimer mit Äpfeln zum Speyerbach. Wir suchen uns eine flache Stelle für den Einstieg. Die Gummistiefel halten erstaunlich warm, aber man muss aufpassen, dass kein Wasser von oben hineinläuft. Wir haben noch ein paar Stationen des Filmdrehs vor uns. Es braucht ein bisschen, bis die Kamera richtig eingestellt ist. Ich fange an, auf dem Grund des Baches nach Scherben zu suchen, sie den anderen zu zeigen, mit ihren Fundstücken zu vergleichen, zu überlegen, von welchem Ganzen sie einmal Teil waren, sie einzuritzen, in den Korb zu legen. Das Wasser wird von den anderen roten Beinen um mich herum aufgewühlt. Deswegen halte ich einen Stein für eine Scherbe, hole ihn aus dem kalten Wasser und werfe ihn wieder zurück. Das Rauschen des Wassers vermischt sich mit den Stimmen um mich herum und dem Quietschen der Nägel auf den Scherben. Eine Wandergruppe läuft vorbei und schaut fragend. Gebückte Körper und rote Beine, die staksend das Wasser durchqueren, suchende Hände, rot vom kalten Nass. Erst durch die Blicke der Wandernden fällt mir wieder auf, dass eine Kamera auf uns gerichtet ist.

Wir steigen aus dem Bach und laufen Richtung Rehfelsen, dem einäugigen Kater Rambo hinterher. An der Kamera vorbei, gehen wir den bunten Herbstwald hinauf. Der Weg ist steil und die Gummistiefel finden schlecht Halt auf den rot­orangenen Blättern. Simon und Moritz sind schnell, denn ihre Kinderbeine sind geübter im Gang auf unebenen Pfaden. „Heute habe ich auch rote Kinderbeine“, sag ich mir und beschleunige meine Schritte.

Wir tanzen und lachen, reißen unsere Arme hoch über Elmstein in die Lüfte, rennen aneinander vorbei, aufeinander zu, ineinander hinein. Ein Chaos, dessen einzige Ordnung die leuchtend roten Beine sind, die uns vereinen. Die Scherben aus dem Speyerbach legen wir als kleine Häufchen in das Gras. Gemeinsam schreiben wir mit ihnen in das Grün. Sie sind eckig, rund, groß, klein. Sie sind gebogen oder schief, manche bunt und andere ganz grau. Mal verschätzen wir uns und lassen zu viel Platz für die Buchstaben an denen die anderen arbeiten, mal legen wir sie dicht gedrängt aneinander. Dennoch sieht man deutlich, was da geschrieben steht: ICH TONI ROTH. Zufrieden betrachten wir unser Werk.

Wir setzen uns auf die Bank, auf der wir gerade noch getanzt haben. Äpfel werden geschnitten und verteilt. Das Geräusch vom Zerkauen der knackigen Äpfel vermengt sich mit Gesprächen darüber, was Glücklichsein für uns bedeutet.

Wir laufen zurück zum Pfarrhaus. Meine Zehen sind nass und ein bisschen kalt. Aus meiner roten Strumpfhose will ich dennoch nur ungern raus. In ihr bin ich Sammlerin, Wanderin, Tänzerin, Künstlerin, Filmemacherin, ein Bruchstück von etwas Ganzem, Kind, Toni Roth. Ich behalte die rote Strumpfhose noch für einen kurzen Moment an.

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