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Väterkram: Schlaft, Kinder, schlaft

Schlaft, Kinder, schlaft!

„Ok, wer war heute noch mal dran?“ Dass sich meine beiden jüngsten Kinder meistens ziemlich gut miteinander verstehen, merkt man spätestens, wenn sie abends in ihrem Doppelstockbett liegen und ich mich nicht mehr so ganz genau daran erinnern kann, wer sich heute ein Lied wünschen darf. Denn mein Sechsjähriger erinnert mich immer wieder großzügig daran, dass er doch schon gestern aussuchen durfte und heute seine kleine Schwester dran ist. So wie heute. „Eine Strophe deutsch, eine Strophe englisch“, sagt meine Vierjährige wie so oft in letzter Zeit und ich seufze ein bisschen. Anfangs hat es mir sogar Spaß gemacht, mir während der Strophe aus dem einen Lied das nächste zu überlegen und einen Übergang zu bauen. Mittlerweile ist es allerdings auch ein bisschen schade. So als würde man eine Geschichte halb vorlesen, dann zum nächsten Buch greifen und daraus dann den zweiten Teil vortragen. Das ist irgendwie unbefriedigend. Ich würde auch mal wieder gerne was zu Ende singen. Vielleicht nicht gleich alle vier Strophen von Leonard Cohens Hallelujah, aber irgendwas nicht ganz so langes am Stück, das wäre schon was. Aber nein: Heute wieder halbe-halbe. Und irgendwie bin ich ja auch selber schuld. Vor vielen Jahren, als meine große Tochter noch Purzelbäume im Bauch meiner Lebenskomplizin schlug, habe ich mir überlegt, dass ich meinen Kindern gerne Popsongs statt Kinderlieder zum Einschlafen vorsingen würde. Einfach, weil ich davon ausgehen musste, dass die immer gleichen drei Kinderlieder mich irgendwann wahnsinnig machen würde. Dazu stehe ich auch immer noch. Allerdings freue ich mich inzwischen über ein gelegentliches „Der Mond ist aufgegangen“. Immerhin darf ich das dann ausnahmsweise zu Ende singen. Also habe ich einige von den Liedern gelernt, die irgendwo ruinen- und schemenhaft in meinem Kopf herumstanden. Sie glauben gar nicht, wie viel Musik sich in unser aller Köpfe ansammelt. Und wie wenig davon vollständig ist. Hier mal ein Refrain, da mal eine halbe Strophe. Hier fehlt ein Satz, dort ein Liedeinstieg. Überhaupt Anfangszeilen. Ich musste sehr schnell lernen, dass mir an die 100 vollständige Lieder in meinem Kopf nicht viel bringen, wenn ich sie nicht über die Anfangszeilen aufrufen kann. Sonst weiß ich gar nicht, dass ich sie beherrsche. Titel helfen da kaum weiter, weil die erstens nicht unbedingt etwas mit dem Inhalt des Liedes zu tun haben müssen, und man zweitens ohne die Anfangszeile einfach nicht weiterkommt. In den Zimmern meiner Kinder kleben also Inhaltsverzeichnisse zu meinem Musikgedächtnis. Damit ich nicht vergesse, dass ich Schmetterlinge im Eis singen kann und Gravity schon längst gelernt habe. Wenn ich die Zeile „Hab dir viel aufgehalst, auf dir abgestellt“ lese, dann weiß ich ebenso, was ich tun muss, wie bei „Something always brings me back to you“. Der Rest geht von allein. Ich singe gerne. Beziehungsweise singe ich gerne vor. Dass das allerdings damit verbunden ist, kontinuierlich neue Songs zu lernen, hätte ich vor 15 Jahren auch nicht gedacht. „Ein Lied, das wir noch nicht kennen“ haben alle meine Kinder irgendwann gefordert. Gerade im deutschsprachigen Bereich ist das echt nicht einfach. Die Auswahl ist eher überschaubar und dann verstehen die Kleinen das auch noch. Da muss man mit so Sachen wie „Du trägst keine Liebe in dir“ oder dem „Walzer für Niemand“ vorsichtig sein. Andererseits machen sie sich sowieso ihren eigenen Reim auf das Ganze. Vor einigen Wochen musste ich „Leiser“ von der Sängerin Lea lernen, weil „Alle meine Freunde finden, dass ich leiser bin“ von meinen Jüngsten mitgegrölt wurde und ich das doch bitte abends vorsingen sollte. Also stehe ich in einem dunklen Kinderzimmer und singe davon, dass ich jetzt in seinem Arm liege und er wieder nur von sich redet. Den Kindern gefällt es. Manchmal hab ich auch Flugzeuge im Bauch oder freue mich auf das Gold von Morgen. Oder zumindest auf die Hälfte. In der anderen Hälfte sind dann all my troubles far away. Unter uns: Beim Vorsingen für meine Kinder sind sie das tatsächlich.

„Der Mond ist aufgegangen“ gehört noch zu den einfacheren Lieder, die unser Kolumnist Nils Pickert seinen Kindern zum Einschlafen vorsingt.

Foto: Jesus Fernandez / photocase.de

Nils Pickert ist vierfacher Vater, Journalist und Feminist. Jeden Monat lässt er uns an seiner Gedankenwelt teilhaben.

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