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Architektur
Album A 8
Donnerstag, 24. Dezember 2015
Das radikale Rathaus Das Timmerhuis in Rotterdam ist ein Beispiel für intelligentes Bauen, ökologisches Wirtschaften und modernes Arbeiten. Damit hat die Stadtverwaltung ein Exempel statuiert. Vor wenigen Tagen wurde der Erweiterungsbau des Rathauses in Betrieb genommen. Wojciech Czaja
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onsieur Hulot steht oben auf der Galerie und blickt hinab in die bürokratischen Abgründe, hinunter auf die offenen Büroboxen, in denen die Angestellten wie im Akkord arbeiten. Das schwarz-weiß-graue Bild in Jacques Tatis Komödie Playtime hat sich ins kollektive Gedächtnis der Filmgeschichte eingebrannt. Während die visuellen Assoziationen wie im Filmprojektor mit 24 Bildern pro Sekunde durchs Gehirn rattern, breitet sich vor einem ein 14 mal 14 mal 14 Meter großer würfeliger Luftraum mit durchpfeifenden Stahlträgern und voyeuristisch verglasten Bürofassaden aus. Und man ist so verwirrt wie dereinst der lustige, huttragende Hulot. Doch es ist Rotterdam statt Paris, Wirklichkeit statt Utopie, administrativer Weitblick statt filmische Satire. Vor knapp zwei Wochen wurde das neue Timmerhuis im Rotterdamer Stadtzentrum in Betrieb genommen. Das sogenannte Zimmermannshaus – der Name orientiert sich am denkmalgeschützten Bestand aus dem Jahr 1953, der in den futuristischen Neubau quasi einverleibt wurde – ist ein bis zu 70 Meter hoher Würfelberg, der wie ein surreales, Wirklichkeit gewordenes Tetris-Spiel neben dem alten Rathaus pixelig in den Himmel wächst. Neben 84 Eigentumswohnungen, die in den oberen, terrassierten Etagen untergebracht sind, beherbergt es das Museum Rotterdam, das am 5. Februar eröffnet wird, sowie 25.000 Quadratmeter Bürofläche. „Das historische Rathaus war bereits seit vielen Jahren zu klein“, erzählt Reinier de Graaf, Partner und Projektleiter im Rotterdamer Office for Metropolitan Architecture, kurz OMA, dem der Pritzker-Preisträger Rem Koolhaas als Gründer und Chef vorsteht. „Die Abteilung für Stadtent-
Das neue Arbeiten: Die Arbeitskultur der Rotterdamer Behörden und die offene, transparente Architektur von Rem Koolhaas / OMA gehen im neuen Timmerhuis Hand in Hand. Foto: Wojciech Czaja
wicklung war die längste Zeit auf viele kleinere Standorte quer über die gesamte Innenstadt verteilt. Nun haben wir die Abteilung gebündelt und ins alte und neue Timmerhuis zurückübersiedelt.“ Das Timmerhuis, muss man wissen, ist eine geschichtsträchtige Adresse. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das kriegszerstörte Rotterdam, eine Folge des Bombenangriffs der deutschen Luftwaffe am 14. Mai 1940, von hier aus wiederaufgebaut. Nun soll in diesen Räumlichkeiten die weitere Geschichte der sich stets neu erfindenden Kulturmetropole geschrieben werden. Und die Stadtverwaltung nimmt ihre Aufgabe ernst. Sehr ernst sogar. Um das soziale Miteinander der Mitarbeiter, die viel im Außendienst arbeiten und somit oft einen
Kombination aus Alt und Neu: Neben dem denkmalgeschützten Timmerhuis ragt der neue, gläserne Pixelberg in den Himmel. Foto: Sebastian van Damme
leeren Arbeitsplatz hinterlassen, zu stärken und räumliche Lücken zu schließen, wurde im gesamten Büro für Stadtentwicklung auf fixe Arbeitsplätze verzichtet. Das Konzept folgt dem selbstauferlegten Motto „Het nieuwe werken“, das neue Arbeiten also.
Das gelbe Herz der Stadt Das heißt: Statt fixer Schreibtische gibt es unterschiedliche, nonterritoriale Bürolandschaften, die je nach Bedarf besetzt werden können. In den beleuchteten Schließfächern, die wie ein gelbes Herz aus der Mitte des Hauses zu pulsieren scheinen, können die persönlichen Arbeitsutensilien verstaut werden. Und wenn man sich einmal über die Maßen konzentrieren muss, kann man sich in einen der verglasten, schallisolierten Glaswürfel zurückziehen. Als Ausgleich für diese Askese gibt es viel Platz, viel Licht und riesige Besprechungszimmer sowie gemütlich gestaltete, mit Vorhängen abtrennbare Lounges. „Wir haben dieses städtische Bekenntnis zu einer neuen Arbeitskultur auch als Zeichen der Transparenz gesehen“, sagt Reinier de Graaf. „Die Bevölkerung soll, wenn sie auf die Behörde kommt, in den Verwaltungsapparat Einblick erhalten und ihn verstehen können. Für uns persönlich ist das ein großer administrativer Schritt in Richtung Zukunft. Und er passt sehr gut zu dieser Stadt.“
Möglich gemacht wird das durch eine sehr einfache, redundante Stahlkonstruktion, die wie ein Matador-Bausatzkasten vom Erdgeschoß bis ins 14. Obergeschoß reicht. Länge, Höhe, Dimensionierung und Schraubverbindungen der Stahlträger wurden so bemessen, dass sie mit möglichst wenig Material möglichst große Kräfte und Belastungen aufnehmen können. Der Rest ist Glas. „Stahlbau ist üblicherweise recht teuer, doch in diesem Fall ist es uns gelungen, den Baupreis auf ein Minimum zu reduzieren und das Haus um 1350 Euro pro Quadratmeter zu errichten.“ Zu verdanken sei das den niedrigen Baupreisen infolge der Finanzmarktkrise 2009, aber auch der seriellen Produktion. Das Gesamtinvestitionsvolumen beläuft sich auf 95 Millionen Euro. Reinier de Graaf: „Der gesamte Bau wurde von oben bis unten nach dem immergleichen Schema F aufgebaut.“
Luftraum mit Sinn und Zweck Das zentrale Atrium, in dem das dreidimensionale Stahlkonstrukt der Einfachheit halber fortgesetzt wurde, dient als Wärmepuffer und Luftspeicher für solare Einträge. Die Kühlung und Heizung des Wohn- und Bürohauses erfolgt zu einem großen Teil über Wärmerückgewinnung sowie über Kälteund Wärmespeicher, die tief in der Erde verstaut sind. Das Resultat dieser Bemühungen ist das derzeit grünste Gebäude der Nieder-
lande, ausgezeichnet mit dem Zertifikat BREEAM Excellent Sustainability. „Es ist der Blick hinter die Kulissen, der mich an diesem Haus beflügelt“, sagt Ossip van Duivenbode, ein Fotograf, der mit seiner Familie im zwölften Stock, Tür 1203, zu Hause ist. Hoch über den Büroräumen des erweiterten Rathauses blickt er hinaus auf die Stadt und zugleich hinunter auf den pixeligen Berg von OMA. „Ich kann mich noch daran erinnern, als der Rohbau abgeschlossen war. Damals hat das Haus ausgesehen wir eine riesige, netzartige Stahlskulptur. Im Atrium, das ich täglich betrete, wenn ich nach Hause komme oder mich auf den Weg zu meinem Arbeitsplatz mache, bekommt man einen Eindruck davon, wie das Haus während der Bauzeit ausgesehen haben muss. Die Stahlkonstruktion vermittelt noch immer einen Hauch von Baustelle. Ich finde das faszinierend.“ Monsieur Hulot kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im räumlichen Puzzlespiel der Stadt gibt es immer wieder neue Details zu entdecken. Zu Weihnachten, sagt man, darf man sich etwas wünschen. Monsieur Hulot wünscht sich, dass sich die Behörden und Verwaltungsapparate am Rotterdamer Timmerhuis ein Beispiel nehmen mögen. In der Transparenz wird vieles sichtbar. Der Autor hat an einer Pressereise von Rotterdam Partners teilgenommen.