Sonntag Aktuell

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Sonntag Aktuell, 25. Oktober 2015

30 REISEN

Manhattan an der Maas Rotterdam hat sich neu erfunden. Europas größte Hafenstadt punktet als charmante Weltstadt mit innovativer Architektur, gewagter Kunst und einem spannenden Nachtleben.

Betörend: Die Skyline von Rotterdam im Licht der Abendsonne.

VON CHRISTIANE NEUBAUER AUS ROTTERDAM

A

ls die ersten Bomben fielen, fingen die Frauen und Kinder im Luftschutzkeller an zu weinen“, berichtet Nina Swaep. Sie ist erst 27 Jahre alt und weiß dennoch sehr viel über jenen Tag vor 75 Jahren, als deutsche Bomber die ge­ samte Rotterdamer Altstadt dem Erdboden gleichmachten. „Meine Oma hat mir erzählt, dass die Menschen laut gesungen haben, um die Einschläge der Bomben zu übertönen und den Kindern Mut zu machen“, sagt Nina Swaep. Ihre Großmutter Jopie Swaep­Kloots überstand den Feuersturm als Kind in einem Luftschutzkeller – zusammen mit deutschen Soldaten, die zuvor erfolglos versucht hatten, die Hafenstadt einzunehmen. Nur eine Viertelstunde dauert der Angriff am 14. Mai 1940. Mehr als 800 Rotterdamer verlieren ihr Leben, etwa 76 000 werden ob­ dachlos. Am folgenden Tag kapitulieren die Niederlande. Vier Tage lang brennt die Stadt. Die mittelalterlichen Straßenzüge – nur noch Schutt und Asche. „Noch heute erzählen wir Rotterdamer uns gern einen sarkastischen Witz“, sagt Swaep: „Kommt ein deutscher Tourist nach Rotterdam und fragt: Wo ist denn hier die Altstadt?“ Dass Rotterdam, das immer im Schatten seiner musealen Nachbarin Amsterdam stand, bei Städtereisenden dennoch gefragt ist wie nie, freut die Kunsthistorikerin, die vor kurzem einen handlichen Reiseführer vorge­ legt hat. „Rotterdam ist nicht so romantisch

Rotterdam pulsiert und erfindet sich ständig neu.“ NINA SWAEP KUNSTHISTORIKERIN

wie Amsterdam oder Utrecht. Es ist ganz an­ ders als alle anderen Städte der Niederlande, aber das macht ja gerade den besonderen Reiz aus.“ Wie alle Rotterdamer scheut Swaep den Vergleich mit Amsterdam nicht und kultiviert sogar die Konkurrenz. „Ams­ terdam ist ein Ort, der stagniert. Rotterdam pulsiert und erfindet sich als moderne, welt­ offene Metropole ständig neu.“ So sei Schö­ nes neben Hässlichem entstanden und Neues neben Altem. „Diese Gegensätze machen die Stadt so spannend.“ Nirgends wird dies so deutlich wie auf der aktuellen Spielwiese für Architekten und Städteplaner, dem Kop van Zuid, einer Halb­ insel am Südufer der Maas, wo sich Star­ Architekten wie der Italiener Renzo Piano (KPN Telecom Office Tower, 96,5 Meter) oder der Brite Norman Foster (World Port

Rotterdam NIEDERLANDE

Amsterdam Schiphol

Rotterdam

NIEDERLANDE 30 km

Anreise Es gibt Direktflüge von Stuttgart nach Amsterdam/ Schiphol z. B. mit KLM, www.klm.de. Vom Flughafen fahren regelmäßig Züge nach Rotterdam. Von Stutt­ gart aus dauert die Zugfahrt mit einer schnellen Ver­ bindung knapp sechs Stunden, www.bahn.de. Mit dem Auto sollten Sie für die etwas über 600 Kilome­ ter mit sechs bis sieben Stunden Fahrtzeit rechnen.

Unterkunft Das Hotel Nhow liegt am Wilhelmina­Pier direkt am Wasser, die Zimmer verfügen über raumhohe Fenster, so dass Gäste eine tolle Aussicht auf die Stadt, den Fluss und die Erasmusbrücke genießen können,

Center, 134 Meter) in der Vertikalen austoben konnten. Zwischen den Wolkenkratzern wirkt das altehrwürdige Hotel New York, einst Hauptquartier der Holland­Amerika­ Linie, fast verloren. „Die Assoziation mit New York ist durchaus gewollt. Hier am Wilhelmi­ na­Pier legten einst die Auswandererschiffe nach Amerika ab. Rotterdam ist die niederlän­ dische Stadt mit den meisten und den größten Hochhäusern und wird daher auch Manhat­ tan an der Maas genannt“, erklärt Swaep und führt ihre Gäste ein paar Hundert Meter wei­ ter zu einem spektakulär verschachtelten Turm aus Stahl und Glas. 150 Meter hoch ist das Gebäude und trägt den Namen De Rotter­ dam. Entworfen hat es der niederländische Architekt Rem Koolhaas. Zur Eröffnung des Giganten im Frühjahr 2014 pilgerten die Weltpresse und unzählige Liebhaber moder­ ner Architektur auf den Kop van Zuid. Und Koolhaas ist nicht der einzige renom­ mierte Vertreter zeitgenössischer Architek­ tur, der sich in Rotterdam ein Denkmal gesetzt hat. In den 80er Jahren erregte der Architekt Piet Blom mit seinen berühmten Kubus­Häusern internationale Aufmerksam­ keit und kreierte damit eins der Wahrzeichen Rotterdams. Mittlerweile kann man hier als Gast auch wohnen. Die Jugendherberge hat einige Räume in den auf der Spitze stehenden Wohnwürfeln angemietet. Einzigartig und absolutes Muss für jeden Rotterdam­Besu­ cher ist auch die ebenfalls im Jahr 2014 fertig­ gestellte „Markthal“: 120 Meter lang, 70 Me­ ter breit und elf Stockwerke hoch. „Hier könnte selbst ein Jumbo­Jet bequem einpar­ ken“, sagt Swaep augenzwinkernd. Doch nicht nur der schieren Dimensionen wegen staunen ihre Gäste aus Deutschland beim Bummel durch den hypermodernen Gour­ met­Tempel. Wände und Decke ziert eine Video­Installation von Arno Coenen. Erdbee­ ren und Äpfel kommen darauf so groß wie

DZ ab 129 Euro, www.nhow­hotels.com Wunderbar zentral und günstig sind Übernachtungen unter dem Dach von Ani&Haakien. Das Hostel der jungen Damen liegt nur fünf Gehminuten vom Haupt­ bahnhof entfernt, DZ ab 49 Euro, www.anihaakien.nl Wer Außergewöhnliches sucht, bucht ein Zimmer auf der „SS Rotterdam“. Das Passagierschiff beförderte zwischen 1958 und 1971 gut betuchte Gäste nach New York. Nach millionenschwerer Renovierung nun Hotel, Museum, Gastronomie­ und Partytempel, DZ ab 80 Euro ohne Frühstück, www.ssrotterdam.nl

Meisterwerke von Bosch, Bruegel, Rubens, Rem­ brandt, Van Gogh, Magritte und Dalí. Auch das Ge­ bäude selbst, das dem Bombardement von 1940 wi­ derstand, ist sehenswert. Dienstag bis Sonntag von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Eintritt 12,50 Euro, ermäßigt 6,50 Euro, www.boijmans.nl Probieren Sie mal die etwas andere Stadtrundfahrt – mit einem Amphibienbus. Das quietschgelbe Fahr­ zeug fährt an Land und auf dem Wasser, Tickets 24 Euro für Erwachsene, Kinder bis 12 Jahre 16,50 Euro, www.splashtours.nl

Essen und Trinken

Reiseliteratur

Katerfrühstück oder ein spätes Essen? Kein Problem im Nieuw Rotterdam Café (Witte De Withstraat 63): Geöffnet ist täglich ab 10 Uhr, geschlossen wird mon­ tags bis donnerstags und sonntags um 1 Uhr mor­ gens, Fr./Sa. um 2 Uhr, www.nieuwrotterdamscafe.nl Das Blender, Schiedamsevest 91, ist Cocktailbar, Res­ taurant und Club in einem und in Rotterdam derzeit ziemlich angesagt. Nach dem Essen – Küche ist exo­ tisch angehaucht – verwandelt sich das Restaurant in eine Disco mit zwei Tanzflächen, www.blenderrotter­ dam.nl

Nina Swaep: 100% Rotterdam, inkl. App, mo media, 11,99 Euro.

Sehenswürdigkeiten Für Liebhaber historischer Kunst ein Muss: ein Besuch im Boijmans Van Beuningen. Das Museum beherbergt

Allgemeine Informationen Niederländisches Büro für Tourismus, Postfach 27 05 80, 50511 Köln, www.rotterdam.info, www.hol­ land.com; Für Rotterdam­Besucher empfiehlt sich der Kauf einer Rotterdam Welcome Card. Es gibt sie für einen, zwei oder drei aufeinanderfolgende Tage (7,50 Euro/12,50 Euro/16,50 Euro). Damit gibt es mindestens 25 Prozent auf Eintrittstickets zu Museen und Sehenswürdigkeiten, aber auch in Restaurants, Cafés und Bars. Außerdem kann man mit der Chip­ karte die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt unein­ geschränkt nutzen.

Kleinwagen daher. „Mit 11 000 Quadratme­ tern, das entspricht in etwa der Fläche von zwei Fußballfeldern, ist es das größte Kunst­ werk der Niederlande“, weiß Nina Swaep. Nicht kleckern, sondern klotzen – das gilt auch für den nagelneuen Hauptbahnhof. Erst im März hat König Willem­Alexander das futuristische Gebäude in der Innenstadt feier­ lich eröffnet. Wie ein Keil ragt das silbrig glän­ zende Stahldach aus dem Boden. „Von uns Rotterdamern wird der Bahnhof Kapsalon genannt“, erklärt Nina Swaep, „nach einem Rotterdamer Snack, der in einer Aluminium­ schale serviert wird.“ Besonders stolz ist die 27­Jährige jedoch darauf, dass in der Archi­ tekturstadt auch Projekte mit einem kleinen Budget eine Chance haben, so wie der Lucht­ singel (Luftkanal). Die 390 Meter lange Holz­ konstruktion verbindet zwei ehemals durch eine Bahnlinie getrennte Stadtviertel mitei­ nander. Dank der Brücke ist Rotterdam Noord – ein aufstrebendes, dynamisches Viertel – nun einfach zu Fuß erreichbar. Der Plan dafür geht auf eine Stadtinitiative im Jahr 2011 zu­ rück und wurde nicht nur von der Stadt finan­ ziert, sondern auch von Unternehmen und Einwohnern von Rotterdam. „Jeder konnte Holzbretter für 25 Euro pro Stück kaufen“, sagt Swaep. „Für diese Summe wurde dann der Name des Spenders ins Brett eingraviert.“ Unter der Brücke ist außerdem ein Spielplatz entstanden, und der Luchtsingel erfüllte auch einen leer stehenden Bürokomplex aus den 70er Jahren mit neuem Leben. In den ehema­ ligen Büros haben Künstler und Designer ihre Ateliers eingerichtet. Und auf dem Dach des Gebäudes legten die Yuccies (Young Urban Creatives) Gemüse­ und Kräutergärten an.

Auch Nachtschwärmer kommen in Rotterdam auf ihre Kosten

Das Het Witte Huis wurde 1898 gebaut – als erster Wolkenkratzer Europas.

Die Fußgängerbrücke Luchtsingel konnte dank Spenden der Bürger realisiert werden.

Doch nicht nur bei Architekturfreunden und Design­Fans ist Rotterdam beliebt. Auch Nachtschwärmer und Partyfreunde kommen auf ihre Kosten. „Vor allem im Stadtteil Witte de Withstraat steppt abends der Bär“, verrät Swaep. In den 70er und 80er Jahren noch ein Problemviertel hat sich dieser Stadtteil inzwi­ schen zu einer der ersten Ausgeh­Adressen gemausert, voller gemütlicher Cafés, hipper Bars, Clubs und Restaurants. Von erstklassiger italienischer und französischer Küche bis hin zu exotischen Snacks aus Hawaii oder Wok­ gerichten aus Indonesien – es gibt quasi nichts, was es nicht gibt. „Das Café De Witte Aap (Weißer Affe) ist sehr beliebt bei Touris­ ten, von denen einige behaupten, es gäbe weltweit nichts Vergleichbares“, sagt Swaep nicht ohne Stolz. Und wer gern einkaufen geht, ist hier ebenfalls richtig. Nicht umsonst hat die „New York Times“ Rotterdam deshalb wohl 2014 zu einer der zehn wichtigsten Städ­ te der Welt gekürt, die man besuchen sollte. „Amsterdam“, sagt Nina Swaep und grinst, „war übrigens nicht darunter.“

Eine Bildergalerie mit weiteren Fotos zu diesem Artikel finden Sie unter www.fernweh­aktuell.com/rdw

Riesig, bunt und bewohnbar: Die Markthalle.

FOTOS: ROTTERDAM PARTNERS/NEUBAUER


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