Heckel Reportage

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Er starb für Allah Deutsche Salafisten und der Terror in Syrien: Der Fall des bayerischen Gotteskriegers David G.

VON StEfANiE HEckEl © 2014 Allgäuer Zeitung


Inhalt David zieht in den Krieg 3

Ein ganz normaler Junge 4

Neue Freunde

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Eine Spur führt nach Ulm

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Was geschah in Dinslaken?

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Eine verzweifelte Familie

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Und dann ist er plötzlich weg

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Tod in Syrien

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Die Zeit danach 18

Eine Stadt sucht Antworten

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Die Zelle

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Und dann ist Syrien nahe: Das Geschäft der Schleuser mit dem Elend

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Die Trauer einer Familie

Links 24

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David zieht in den Krieg Als David in den Krieg zieht, ist er allein. Er schreibt noch einen Brief an seine Familie. Von Hand. Diesen legt er in seinem Zimmer auf das Bett. Durch die Scheiben der Terrassentür dringt Licht in den quadratischen Raum, dessen Wände in zitronengelb gestrichen sind. Draußen stehen Topfpflanzen dicht an dicht. Seitlich hängt ein schmaler Spiegel. Die beiden Bretter des niedrigen Regals daneben sind leer. David hat alles verkauft. Auf Flohmärkten und im Internet. Die Taschenbuchausgabe von Tolkiens „Herr der Ringe“. Todenhöfers „Warum tötest du, Zahid?“. Die Computerspiele. Seine Turnschuhe, Größe 46. Bis zur Zimmertür sind es nur ein wenige Schritte über einen dichten zotteligen Teppich in Schwarz-Weiß. David hat seit Monaten darauf geschlafen. Um sich abzuhärten. Nun lässt er alles zurück für das, worauf er sich vorbereitet hat. Wofür er wochenlang barfuß gelaufen ist. Stundenlang gebetet hat: den Krieg in Syrien. An diesem Tag im September 2013 schließt der 18-jährige Islamkonvertit die Haustür des Reihenhauses am Stadtrand von Kempten hinter sich. Dann geht er zum Bahnhof. Von dort blickt er zum letzten Mal auf die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Kempten liegt am südlichen Rand von Bayern, unweit der Grenzen zu Österreich und der Schweiz. David wird nicht zurückkommen. Im Januar darauf stirbt er in Syrien. Als islamistischer Gotteskrieger einer Terrororganisation: Isis, Islamischer Staat im Irak und Syrien. Im Jahr 2014 taucht sie die Region, deren Namen sie trägt, in Blut. David G., der Junge aus Bayern, ist nach offiziellen Schätzungen der 16. von 25 Islamisten aus Deutschland, die bis Anfang Juli 2014 im Terrorkrieg ums Leben kommen. Ein Fall, der Wellen bis ins Bundesjustizministerium schlägt. Dort sind im Jahr 2013 Ermittlungen nach dem Anti-Terrorparagrafen gegen den Jungen aus Bayern genehmigt worden. Ein gutes halbes Jahr nach Davids Tod allerdings werden die Akten geschlossen. Die Staatsanwaltschaften haben die Ermittlungen eingestellt. Es gibt keinen Leichnam. Kein Grab. Kaum Erklärungen von Seiten der Behörden. Dabei wirft das Leben und Sterben des bayerischen Gotteskriegers viele Fragen auf. Hunderte vor allem junge Muslime sind bis in den Sommer von Deutschland nach Syrien ausgereist. Warum kämpfen sie dort? Wie funktioniert das System des Terrors, dem sie sich anschließen? Wie soll man mit den Syrienrückkehrern umgehen, von denen es allein bis Juli 2014 schon 100 in Deutschland gibt? Und versuchen die Behörden tatsächlich, das Ausreisen der jungen Radikalen zu verhindern? Es ist die Geschichte hinter Davids Schicksal, die ein erschreckendes Bild zeichnet von einer radikal-muslimischen Parallelwelt, die den Frieden in Deutschland bedroht: dem Salafismus. Die von einem hilflos agierenden Staat erzählt. Vom Netzwerk der Gotteskrieger mitten in Deutschland, das verzweifelte Familien zurücklässt, für die es kaum Hilfe gibt. Von muslimischen Gemeinden, die nicht wissen, wie sie mit all dem umgehen sollen, sich vor den Scherben ihrer Integrationsbemühungen sehen. Und von einem nur scheinbar weit entfernten, mörderischen Konflikt in Syrien.

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Ein ganz normaler Junge Frühsommer 2011. David ist Schüler. Er besucht eine Realschule. Zwei gibt es in Kempten. Die Stadt mit 65000 Einwohnern gehört zu den ältesten in Deutschland. Auf einem Hügel nicht weit vom Zentrum liegt, großteils überbaut von Wohnblocks aus den 50er Jahren, die alte Römersiedlung. Die Iller, die durch Kempten fließt, mündet gute 80 Kilometer flussabwärts in Ulm in die Donau. Kempten floriert. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Der Stadtrat ist stolz auf die gute Kinderbetreuung im Ort. Im Herzen der Stadt thront die Basilika, ein wuchtiger Barockbau mit zwei mehr als 60 Meter hohen Zwiebeltürmen. Die meisten Einwohner Kemptens sind katholisch. Davids Eltern gehören zu denen, die evangelisch sind. Sie haben ihren drei Kindern biblische Namen gegeben. Besuchen mit ihnen viele Jahre die Kirche, die etwas außerhalb des Zentrums liegt. Nehmen an Familienfreizeiten ihrer Gemeinde teil. David ist der jüngste Sohn. Er hat eine Schwester und einen Bruder. In dem Jahr, das alles verändern wird, ist er 16. Ein ganz normaler Junge, der morgens eher widerwillig durch die schweren Flügeltüren aus dunklem Holz geht, die hinein führen in ein historisch-imposantes Schulgebäude mit klassischen Fassaden und einer Innenhalle, die von Säulen getragen wird. David ist kein guter Schüler. Er hat Schwierigkeiten in Deutsch. Viel lieber arbeitet er praktisch. Zum Beispiel in Hauswirtschaft. Mit Mädchen sehen ihn frühere Klassenkameraden „Er hat nach einem nicht. Er sei ihnen gegenüber zurückhaltend gewesen. Habe Sinn im Leben eher Hemmungen gehabt, heißt es. Die Klasse, die er besucht, gesucht“, sagt jemand, ist kein einfacher Fall. Und David, der Junge mit den blauen der ihm nahe stand. Augen, fällt auf. Auch, weil er sein Haar abrasiert. Bei den Abschlussprüfungen tut sich David schwer. In seiner Muttersprache fällt er beinahe durch. Eine Lehrstelle findet er zunächst nicht. Auch deshalb stellt sich der Jugendliche Fragen: „Er hat nach einem Sinn im Leben gesucht“, sagt jemand, der ihm in dieser Zeit sehr nahe steht. Damals spricht in Davids Heimatstadt kaum jemand über Salafisten. Jene radikalen Muslime, die zum Heiligen Krieg gegen Ungläubige aufrufen. Die den Koran besonders streng auslegen, Demokratie ablehnen und sich für das islamische Rechtssystem der Scharia aussprechen. 2011 gibt es in Bayern etwa 450 Salafisten, in ganz Deutschland 3800. Mitte 2014 werden es bundesweit 6000 sein. Als David sich den Salafisten anschließt, spricht in seiner Heimatstadt Kempten kaum jemand über diese radikal-muslimische Bewegung. Foto: Ralf Lienert

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David wird zu den Radikalen gehören. Doch 2011 sieht niemand die Gefahr. In seiner Freizeit treibt der Jugendliche


Sport. Er boxt. Die Trainingshalle liegt nur einige hundert Meter von seiner Schule entfernt. Neun graue Steinstufen führen im dunklen Treppenhaus hinab. Es riecht leicht muffig nach Keller. Hinter einer weißen Tür liegt ein rechteckiger Raum mit Sprossenwänden und Turnhallenbänken. Links oben tickt eine Wanduhr. Daneben geht es zu den Duschen und Umkleidekabinen. Gegenüber, an der knapp 25 Meter langen Längsseite, geben Fenster auf Straßenniveau den Blick zum Hof frei. In dieser Halle treffen sich die Boxer des größten Sportvereins der Stadt. Auch viele Jugendliche mit ausländischen Wurzeln kommen dort zusammen. Junge Russen, Italiener, Türken, die zur größten Einwanderergruppe der Stadt gehören. Trainer 2011 ziehen die Reinhold Gruschwitz kümmert sich um sie. Ein Mittsechziger ersten deutschen mit festem Händedruck, der offen und unverkrampft spricht. Gotteskrieger Er mag David. Der Jugendliche ist einer „meiner Liebsten“. nach Syrien Das sagt der Trainer Tage nach der Todesnachricht. Als ihm der Schock noch in den Knochen sitzt darüber, dass er David auf einem Foto im Internet erkannt hat. Ein Foto, das sein blutverschmiertes Gesicht zeigt und geschlossene Augen. Das danach in Zeitungen erscheint, im Fernsehen und in Nachrichtensendungen gezeigt wird. Jahrelang setzt der Trainer auf den Jugendlichen, der ehrgeizig übt und innerhalb kurzer Zeit 15 Kilo Gewicht verliert. David kann sich voll auf den Kampf konzentrieren, sagen andere aus dem Verein. Er blendet alles andere aus, wenn er im Ring steht. Lässt sich nicht ablenken. Dieser Ehrgeiz gefällt dem Trainer, wenngleich er Davids kahl rasierten Schädel nicht gutheißt. Während sich David mehrmals in der Woche beim Boxtraining abmüht, bricht fast 3000 Kilometer entfernt der Bürgerkrieg in Syrien aus. Das, was im Zuge des Arabischen Frühlings als friedlicher Protest gegen Präsident Baschar al-Assad beginnt, schlägt in Gewalt um. Ausländische Kämpfer strömen ins Land und verschärfen die Situation. Sie streben nicht nach Demokratie. Sondern nach einem islamischen Gottesstaat. Auch Muslime aus Deutschland greifen nun zur Waffe. Direkt nach dem Ausbruch des Konflikts 2011 ziehen die ersten deutschen Gotteskrieger nach Syrien. Sie stammen aus Baden-Württemberg. David geht erst einmal ins Praktikum. Weil er noch immer keine Lehrstelle hat, wird er an eine Elektrotechnikfirma im Nachbarort vermittelt. Es ist ein mittelständischer Betrieb, der auf junge Leute setzt. Weil sie die Fachkräfte von morgen sind, sagt Davids früherer Chef. In der Firma blüht David auf. Ihm liegt die Arbeit. Und seine Vorgesetzten schätzen ihn. Sie geben ihm einen Vertrag.

In einer Hinterhofmoschee in Solingen finden sich 2011 radikale Muslime zusammen. „Millatu Ibrahim“, die „Gemeinschaft Abrahams“, predigt Hass und Abgrenzung und wird 2012 vom Bundesinnenministerium verboten.

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David ist nun Elektrikerlehrling. Sein Arbeitsplatz liegt in einem rechteckigen Industriebau mit hellem Anstrich unweit der Hauptverbindungsstraße nach Kempten. Vor der Tür reihen sich Parkplätze an einander. Durch einen hellen Eingangsbereich mit viel Glas sind es nur wenige Schritte bis zur Treppe, die in den ersten Stock hinauf führt. In der Werkshalle steht der 16-Jährige nun tagsüber zwischen Kabeln, Maschinen und Schaltschränken. Beschäftigt er sich in Gedanken bereits mit dem Islam? Es ist inzwischen fast Winter. Irgendwann Ende 2011 konvertiert David. Wie genau es dazu kommt, bleibt im Dunkeln. In den Kemptener Moscheen wissen sie es nicht. Ebenso wie beim Boxverein und zu Hause bei den Eltern. Eines Tages teilt er daheim seine Entscheidung mit. Er habe sich informiert. Über das Internet. Der Islam habe ihn überzeugt. Er habe jetzt einen Sinn im Leben gefunden. David liest den Koran. Dass ihn diese Sinnsuche schließlich nach Nordrhein-Westfalen führen wird, mitten hinein in ein salafistisches Netzwerk, ahnt zu diesem Zeitpunkt niemand. In Solingen, 500 Kilometer von Davids Heimatstadt im Allgäu entfernt, wird gerade einer der Grundsteine dafür gelegt. In einer Hinterhofmoschee finden sich radikale junge Muslime zusammen. Sie nennen sich „Millatu Ibrahim“, die Gemeinschaft Abrahams. Sie predigen Hass. Abgrenzung. Ein Leben, das sich ganz nach einer strengen Ausrichtung des Korans richtet, Gleichberechtigung verneint und die Verhüllung der Frau zum Gesetz erhebt.

Das Foto von früher „widert mich an“, sagt Salafist Erhan A.

David wird unterdessen 17 Jahre alt. Das Jahr 2012 beginnt für den Jugendlichen mit vielen Bekanntschaften. Der Konvertit findet Anschluss bei anderen Muslimen. Er wird häufig eingeladen, besucht muslimische Familien aus der Stadt, darf dort zum Essen bleiben. David ist anerkannt und beliebt. Gerade, weil er sich als Konvertit so intensiv mit dem Islam beschäftigt.

David wird nun mit neuen Freunden gesehen. Darunter Erhan A. Der junge Türke, der sich im Internet Abdul Aziz at-Turki nennt, ist drei Jahre älter und betreibt schon damals eine Internetseite, die für einen strengen Islam wirbt. Er kennt David noch aus der Schulzeit. Freundet sich aber erst nach seiner Konversion mit ihm an, wie er sagt. Ein Foto aus dem Jahr 2010 zeigt ihn als schlanken Jugendlichen im grauen Nadelstreifenanzug mit blauer Krawatte und Gel im kurzen dunklen Haar. Nur einige Jahre später trägt er Bart - weil der Koran es vorschreibe. Das Bild aus der Zeit davor „widert mich an“, sagt er heute. Dieser Mensch sei er nicht mehr. Bekannte der Familie formulieren es anders. Ihnen tun die Eltern leid. Ganz normale Leute seien das. Integriert, freundlich und bemüht um ihre Kinder. Wer wolle das schon erleben: der eigene Sohn, Salafist geworden. Unterdessen fällt Außenstehenden bei David noch nichts auf. In der Arbeit macht er seine Sache gut. Auch dort fällt sein Ehrgeiz auf. Seine Strebsamkeit. Und: seine Höflichkeit. Der Seniorchef der Firma kann sich gut daran erinnern. Außergewöhnlich sei das gewesen: „Er hat nie Kollegen belästigt und wollte auch niemanden bekehren.“ Zur selben Zeit führt in Nordrhein-Westfalen der Hass von Millatu Ibrahim zu roher Gewalt. Im Mai 2012 sticht Salafist Murat K. mit einem Messer auf einen Polizisten ein. Im Juni verbietet das Bundesinnenministerium den Verein. 50 Menschen gehören ihm zu dieser Zeit an.

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Der Kopf der Gruppe, Mohamed Mahmoud, taucht unter. Der in Österreich geborene Sohn ägyptischer Eltern hat in Österreich eine Haftstrafe verbüßt. Danach ist er in Solingen Imam. 2013 wird er im türkischen Ort Hatay verhaftet, als er nach Syrien einreisen will. Im Sommer 2014 sitzt er noch in türkischer Haft. Nicht nur Mahmoud reist nach dem Vereinsverbot aus Deutschland aus, sondern auch viele seiner Glaubensbrüder und -schwestern. Die meisten zieht es nach Ägypten. Dort erstarken nach dem Arabischen Frühling die Islamisten. Im Juni 2012 wird Mohammed Mursi zum Staatspräsidenten gewählt. Er ist zuvor Vorsitzender der von den Muslimbrüdern gegründeten Freiheits- und Gerechtigkeitspartei. Hassan Sadek hat die Tage des Umsturzes 2011 in seiner Heimatstadt Kairo miterlebt – und in den Jahren darauf auch die Folgen. Der pensionierte Maschinenbau-Ingenieur ist Mitte 70 und einer von wenigen Ägyptern, die in Kempten wohnen. Als er 19 Jahre alt ist, kommt er als junger Student zum ersten Mal dorthin. Verliebt sich in eine 18-jährige Deutsche. Heiratet sie und ist mit ihr auch fünf Jahrzehnte später noch glücklich. Er sitzt nachdenklich in seinem Wohnzimmer. Seitlich steht eine Schrankwand aus hellem Holz. Vom Balkon aus sieht man über die Dächer des Stadtteils, in dem es viele Traditionsvereine gibt, engagierte Ehrenamtliche und einen vergleichsweise hohen Ausländeranteil. In den Industriebetrieben in der Nachbarschaft haben in den 60er Jahren viele Gastarbeiter ihr Auskommen gefunden. Nebenan liegen die ehemalige Eisenbahner-Siedlung und ein großes Altenheim. Auf dem Tisch im Wohnzimmer von Hassan Sadek ist eine kleine Decke ausgebreitet. Der Ägypter zieht sie zurecht, während er spricht. „Früher war Ägypten toleranter und fortschrittlich. Frauen haben kein Kopftuch getragen. Sie sahen aus wie hier auch.“ Doch das habe sich geändert. Besonders, als nach dem Sturz von Hosni Mubarak die islamistische Muslimbruderschaft an Einfluss gewinnt. Zu dieser Bewegung pflegen die Islamisten aus Solingen eine besondere Beziehung. Der VaHassan Sadek: ter von Mohamed Mahmoud war Muslimbruder. Ende 2013 „Früher war Ägypten stuft ein ägyptisches Gericht die Muslimbrüder als Terrorortoleranter und ganisation ein. Auch im Fall David wird eine Spur in das Land am Nil führen. Noch aber ist es nicht so weit. Es ist November 2012. Nun beginnt sich der Jugendliche zu verändern.

fortschrittlich. Frauen haben kein Kopftuch getragen. Sie sahen aus wie hier auch.“

David bestreitet einen Boxkampf. Er verliert. Beim zweiten Kampf kurz darauf in Baden-Württemberg hat er mehr Erfolg. Sein Trainer schenkt ihm zum Sieg einen Kopfschutz. Doch David gibt das Geschenk bald zurück. Er werde nicht mehr gegen einen Menschen boxen, sagt er. Nicht, weil er Gewalt ablehnt. Sondern, weil er inzwischen davon überzeugt ist, dass das Gesicht von Allah gemacht ist und dass es deshalb kein Mensch schlagen darf. Reinhold Gruschwitz ist irritiert. Doch er bietet dem knapp 18-Jährigen an, weiterhin ins Training zu kommen – auch ohne den Kampf gegen andere. David nimmt an. In diesen Tagen gehen der junge Mann und seine Freunde zum Gebet noch immer in die Moscheen Kemptens. In einer der drei wird er besonders häufig gesehen. Die Männer, die davor

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auf Plastikstühlen in der Sonne sitzen, haben David nicht vergessen. „Er ist eine Weile hierhergekommen“, sagt einer der Türken. Er steht auf, geht ein paar Schritte und öffnet die grüne Eingangstür zur Moschee. Die Schuhe kommen in ein Wandregal, auf Strumpfsocken geht es rechts hinein in den Gemeinschaftsraum mit Küche, in dem sich die Männer der Moscheegemeinde gerne zum Fußballschauen treffen. Auf der anderen Seite liegt der Gebetsraum mit dem dicken Teppich. Ein Vorhang in der Mitte trennt beim Gebet Männer und Frauen. Einige Stufen treppaufwärts liegen die Räume, in denen während der Ferien die Mädchen wohnen, die in der Moschee den Koranunterricht besuchen. David ist anfangs willkommen, sagt der Mann. Doch irgendwann gibt es Diskussionen. David provoziert die anderen. Beschäftigt sich demonstrativ mit dem Handy, während die anderen beten. Und fordert gleichzeitig eine strengere Auslegung des Korans ein. Er schwärmt für die El Kaida und Osama bin Laden. David und seine Freunde sichern sich in der Moschee stets die vorderen Plätze, sagt er. Und beten dann nach ihren eigenen Regeln. Am Ende eskaliert die Situation. David und seine Freunde werden hinausgeworfen. Im Sommer 2013 ist das. Die Moscheegemeinde alarmiert die Polizei. Für Ilknur Altan sind diese Ereignisse ein Jahr später noch immer unbegreiflich: „Was fehlt diesen Jugendlichen? Warum werden sie so?“ In der Stimme der Sprecherin des Dachverbands der örtlichen türkischen Vereine liegt Hilflosigkeit. „Wir haben mehrfach mit ihnen geredet. Aber sie nehmen uns nicht ernst, sie nehmen nichts an. Sind respektlos und beschimpfen uns als Ungläubige.“ Die Radikalen, sagt die Türkin dann, machten ihr Angst. Weil sie sich ihre eigene Realität schafften, für sie alles nur schwarz und weiß sei: gut und böse, gläubig und ungläubig. Junge Leute, die sich nach Regeln sehnen „wie in der Steinzeit“. Was soll man da noch sagen?

„Wir haben mehrfach mit ihnen geredet. Aber sie nehmen uns nicht ernst, sie nehmen nichts an. Sind respektlos und beschimpfen uns als Ungläubige.“ Ilknur Altan, Sprecherin der türkischen Vereine.

Seit Jahren bemühten sich die Moscheegemeinden in Kempten doch um Integration. Führten Schulklassen durch die Gebetshäuser, träfen sich mit den Katholiken der benachbarten Kirchengemeinde, veranstalten Tage der offenen Gebetshäuser. Die Salafisten, sagt Altan, gefährden all das. Nicht nur, weil der Integrationsgedanke bei ihnen völlig ins Leere laufe. Sondern auch, weil sie die Stimmung gegen den Islam insgesamt schürten, in der Öffentlichkeit ein völlig falsches Bild zeichneten. „Wir haben doch so schon genügend Schwierigkeiten bei unserer Religion.“ In der Tat seien die Salafisten ein „Riesenproblem“ für die muslimischen Gemeinden in Deutschland, bestätigt Prof. Gudrun Krämer. Die Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin sagt: „Sie verkörpern alles, was man negativ mit dem Islam verbindet.“ Innerhalb der muslimischen Gemeinden würden sie sich selbst isolieren, die anderen als „Ungläubige“ ablehnen. „Schlimmer kann es eigentlich kaum kommen für Muslime, die sich als ganz normalen Teil der deutschen Gesellschaft verstehen“, sagt die Wissenschaftlerin. Generell müsse man aber auch innerhalb der salafistischen Szene unterscheiden. Ein Teil der Salafisten sei bewusst unpolitisch, lehne Politik als „schmutziges Geschäft“ ab. Ein wei-

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Die deutsche Salafistenszene pflegt weltweite Verbindungen, speziell zu ägyptischen Glaubensbrüdern. Das Land am Nil spielt auch im Fall David G. eine Rolle. Im Jahr 2013 lernt er mithilfe eines ägyptischen Studenten Arabisch.

terer sei politisch motiviert. Und dann gebe es noch die militanten Islamisten, die zum Heiligen Krieg und zur Gewalt aufrufen. Letzeren könne man nur mit den Mitteln des Rechtsstaats entgegentreten, ist Krämer überzeugt. „Es wird nicht reichen, wenn die Eltern auf sie einreden. Das ist vergleichbar mit der RAF oder Neonazis – da kann man nicht nur auf Gespräche setzen.“

Zumal sich die Salafisten ohnehin abschotten. Sich vor allem in ihren Kreisen bewegen. So wie David. Von Kempten aus sucht er Anschluss an andere Glaubensbrüder. Er findet sie zunächst in Ulm und Neu-Ulm, erzählen sie in der Kemptener Moschee. Die Doppelstadt an der Donau spielt zu diesem Zeitpunkt schon lange eine Rolle in der salafistisch-dschihadistischen Szene Deutschlands und im internationalen Terrorismus. Von dort stammen mehrere Mitglieder der Sauerlandgruppe. Die Terrorzelle plant bis 2007 Anschläge auf deutsche Diskotheken und US-Einrichtungen. Das Multikulturhaus und das Islamische Informationszentrum im Raum Neu-Ulm/Ulm sind Brutstätten des Islamismus und Terrorismus. 2005 und 2006 lösen die Behörden die beiden Einrichtungen auf. Ulm und Neu-Ulm bleiben im Blick von Polizei und Verfassungsschutz. David wird dort jedoch nicht auffallen. In Kempten beginnen sich die Menschen in Davids engstem Umfeld derweil Sorgen zu machen. Der junge Mann gleitet immer weiter ab. Er liest stundenlang im Koran, betet viel und hört die Predigten von Radikalen. Eines seiner Vorbilder ist Pierre Vogel, früher Mitglied in der früher vom Verfassungsschutz beobachteten und inzwischen aufgelösten Organisation „Einladung zum Paradies“. Was David anzieht, ist die Parallele. Auch Vogel boxt, bevor er die Handschuhe für die Religion an den Nagel hängt. Mit Prediger Ibrahim Abou Nagie, der als eine der Führungsfiguren der deutschen Salafistenszene gilt, trifft David sogar einmal „Ich wünsche, persönlich zusammen, heißt es aus Sicherheitskreisen. Der dass die Scharia Fundamentalist Abou Nagie predigt seit Jahren für einen islaweltweit herrscht“. mischen Gottesstaat. „Ich wünsche, dass die Scharia weltweit Salafisten-Prediger herrscht“. Dieser Satz stammt von ihm. Bei David fallen die gefährlichen Lehren auf fruchtbaren Boden. Der bayerische Junge, der in der Schule den Deutschunterricht nicht leiden kann, beginnt Arabisch zu lernen.

Abou Nagie

Hilfe holt sich David in Ägypten. In Kairo. Über das Internet nimmt er Kontakt zu einem

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Studenten auf. Dessen Freundesliste zeigt: Er unterhält zahlreiche Verbindungen in deutsche Salafistenkreise. David und der ägyptische Student schreiben einander regelmäßig. Selbst dann noch, als David im September 2013 bereits auf dem Weg in den Terrorkrieg ist. Aber: Wann kommt der Jugendliche eigentlich auf die Idee, nach Syrien zu gehen? Möglicherweise bereits Anfang des Jahres 2013. Darauf deutet eine Begegnung hin. Ein 33-jähriger Kemptener trifft David zufällig. Bei einem Flohmarkt in einer ehemaligen Viehzuchthalle in der Kemptener Innenstadt. David sitzt auf einer Decke auf dem Fußboden. Zu seinen Füßen hat er Bücher und PC-Spiele ausgelegt. Er liest in einem Koran in deutscher Sprache. Der Mann spricht David an, kauft ihm ein paar Bände ab. „Er war ganz ruhig. Bübchenhaft. Überhaupt nicht das, was man sich als gewalttätig vorstellt“, erinnert er sich. Die beiden unterhalten sich über den Koran in Davids Hand. „Er hat mir gesagt, dass er auch Korane verschenkt.“ Dann erzählt der 18-Jährige, dass er ins Ausland gehen will. Weg aus Deutschland. Deshalb verkaufe er seine Habseligkeiten. Die Antwort kommt dem 33-Jährigen spontan über die Lippen: „So lange du nur kein Terrorist wirst und Leute umbringst.“

„Sind Sie etwa Da wird der friedliche junge Mann von einem Augenblick von der Polizei?“ auf den anderen wütend. Er ist wie ausgewechselt. „Sind David G. , Sie etwa von der Polizei?“, fragt er zornig. Sein Gegenüber Anfang 2013 wundert sich über die Reaktion. Und versucht die Wogen zu glätten. „Ich habe es ja einfach nur so dahingesagt.“ David wird schnell wieder ruhig. Dem Kemptener steht diese Szene auch eineinhalb Jahre später noch deutlich vor Augen. Es ist inzwischen Mai 2013. Vor einem Einkaufszentrum in der Kemptener Innenstadt entsteht ein Foto. Es zeigt David, Erhan A. und drei weitere Freunde aus Kempten. Alle haben die Zeigefinger zum Himmel erhoben. Das Erkennungszeichen der Salafisten: ein Gott, ein Staat. Erhan A. veröffentlicht das Bild im Internet.

David G. ist nicht der einzige junge Mann in Kempten, der mit dem Gedankengut der Salafisten sympathisiert. Im Mai 2013 entsteht vor einem Einkaufszentrum ein Foto mit vier Freunden.

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Zu dieser Zeit ist David möglicherweise bereits über soziale Netzwerke in Kontakt mit Salafisten aus Nordrhein-Westfalen. Sie leben in Dinslaken. Einer ehemaligen Zechenstadt mit 71000 Einwohnern in der Nähe von Duisburg. Dort ist eine islamistische Zelle aktiv. Insgesamt 14 junge Muslime ziehen von Dinslaken aus nach Syrien. Eine Aufnahme zeigt bald darauf eine „Lohberger Brigade“, benannt nach einem der Stadtteile. Die sechs jungen Männer im Bild tragen Kriegswaffen, kämpfen in Syrien.


In der nordrhein-westfälischen Stadt gibt es mehrere, die in Verbindung stehen mit dem Netzwerk von Millatu Ibrahim. Auch lange nach dem Vereinsverbot. Ein Foto zeigt einen von ihnen, der befreundet ist mit David - und mindestens einem weiteren Kemptener. Der junge Mann posiert mit einem T-Shirt. Der Schriftzug darauf: „Millatu Ibrahim“. Im Frühjahr 2014, zwei Monate nach Davids Tod, zieht auch er nach Syrien. Für Isis. Die Kontakte nach Bayern reißen deshalb nicht ab. Durch soziale Netzwerke und Smartphones sind die „Helden“ der Gotteskriegerszene nur eine Wischbewegung auf dem Display von den Salafisten in der Heimat entfernt. In Dinslaken schließt sich aber noch ein weiterer Kreis. Im Hintergrund der örtlichen Szene nämlich soll ein Mann stehen, der laut den Sicherheitsbehörden beste Kontakte zur älteren deutschen Dschihadisten-Ge„Vielleicht hat er neration pflegt. Zum Beispiel zu Attila Selek. Der gebürtige eine Gemeinschaft Ulmer und verurteilte Terrorhelfer der Sauerlandgruppe vergesucht, die ihn kehrt vor Jahren im Multikulturhaus Neu-Ulm und dem Isaufnimmt“, lamischen Informationszentrum Ulm. Dort trifft er auf den Ulmer Konvertiten Fritz Gelowicz, den Kopf der Sauerlandsagt ein Pädagoge, gruppe. Der Mann aus Dinslaken und Selek, heißt es aus der David von Behördenkreisen, sollen 2013 mit dem Auto gemeinsam zu früher kennt. einem Anwaltstermin gefahren sein. Spielt der Mann im Hintergrund eine Rolle bei Davids Rekrutierung für Syrien? Vermutlich. Und David ist nicht der einzige Fanatiker aus dem Süden Deutschlands, der in Dinslaken Anschluss findet. Anwohner beobachten Autos mit Kennzeichen aus mehreren bayerischen Städten, darunter München und Augsburg. Während Behörden – wie im Fall David – über Zuständigkeiten diskutieren, hat sich die Salafistenszene längst hervorragend überörtlich vernetzt. David wird in Dinslaken Freundschaften schließen. Aber wieso zieht ihn das Radikale überhaupt an? Welche Antworten geben ihm die Salafisten? „Vielleicht hat er eine Gemeinschaft gesucht, die ihn aufnimmt“, sagt ein Pädagoge aus Kempten, der David von früher kennt. Möglicherweise füllt sie eine Leere in dem Jugendlichen. Gibt ihm Halt und das Gefühl, anerkannt zu sein. Eine Aufgabe zu haben, in der er erfolgreich ist. „Ähnlich wie bei Jugendlichen, die ins rechte Spektrum abrutschen“, sagt der Pädagoge. Vielleicht sei es die Mischung aus Kameradschaft, Abenteuerlust und Auflehnung gegen die Gesellschaft, die anziehend wirke auf junge Männer wie David. Besonders eng verbunden fühlt sich der

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In Nordrhein-Westfalen schließt sich David einer Salafistenzelle an. Sein bester Freund wird Mustafa K. (rechts). Das Bild zeigt ihn mit dem Ex-Rapper Denis Cuspert, vor dem Vereinsverbot einer der führenden Köpfe des Salafistenvereins „Millatu Ibrahim“ aus Solingen.


Kemptener mit einem jungen Mann, der Mustafa heißt. Der frühere Drogendealer ist Vorbeter, Imam, der Dinslakener Salafistengruppe. Er hat Frau und Kind. Dennoch reist auch er später nach Syrien – an der Seite seines neuen besten Freunds David. In der Stadt Azaz wird nur Wochen nach Davids Tod ein erschreckendes Foto entstehen. Es zeigt Mustafa. In seiner Hand: der abgeschlagene Kopf eines Kriegsgegners. Auch auf der Facebookseite von Davids Freund Erhan A. aus Kempten ist das Bild einige Zeit lang veröffentlicht. Warum? Was denkt der junge Mann dabei? Die Antwort fällt knapp aus: „Dazu sag ich nichts.“ Viel lieber spricht der junge Mann darüber, was nach dem Koran verboten sei. Rauchen zum Beispiel. Stehlen. Töten. Und was ist mit dem Morden in Syrien? „Die gehen doch nicht zum Töten dorthin, da geht es um Verteidigung“, sagt der Kemptener. Da würden Muslime angegriffen. Das sei etwas anderes. Wer sich in der Salafisten- und Gotteskriegerszene tummelt, legt seinen alten Namen ab. David ist da keine Ausnahme. Unter Gleichgesinnten heißt er inzwischen Abdullah Dawud al Almani. Abdullah Dawud, der Deutsche. Unter diesem Namen legt der 18-Jährige auch ein neues Facebookprofil an. Es ist Juli 2013. Ab jetzt wird alles schnell gehen. Einen ersten Schritt in Richtung Dschihad hat David bereits vollzogen. Er wird Teil der medialen Schlacht der Salafisten. Viele von ihnen sind unter 30, gehören der Generation Internet an. Sind aufgewachsen mit modernen Medien und beherrschen den Umgang damit perfekt. Es ist ein Schwarm in der grünen Farbe des Islam, der längst einen Krieg der Bilder und Emotionen über das weltweite Datennetz führt. Fotos aus Syrien veröffentlicht, den Terrorismus verherrlicht und die Gräueltaten der Gotteskrieger medial in Szene setzt. Es ist der Dschihad 2.0, der über das Internet bis in deutsche Jugendzimmer dringt. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, werden fast in Echtzeit Horrorbilder gezeigt von geköpften Kriegsgeg-

Im Sommer 2013 wird David Teil der medialen Schlacht der Salafisten. Er ist Manager einer Seite, die Hass und Abgrenzung predigt.

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nern und Märtyern des Heiligen Krieges. Aber auch vom jungen Liebesglück, das deutsche Gotteskrieger angeblich in Syrien finden können. Bilder, die zur Nachahmung anstiften. Auch jene, die nicht selbst zur Waffe greifen. Köche, Fahrer, und Geldbeschaffer werden gesucht für das System, das den Terror befeuert. Arabische Texte übersetzen, Logos designen, Filme drehen, Fotos und TexDas Internet ist Tummelplatz radikaler Muslime, die eine Abkehr von te posten. Das gehört zu den Aufgaben der Gesellschaft propagieren und soziale Netzwerke für Kriegspropaderer, die in Deutschland den medialen ganda nutzen. Heiligen Krieg anheizen. Ihre Waffen: soziale Netzwerke, Facebook, Youtube, Twitter, Whatsapp. Über Verschlüsselungsdienste und Computerserver im Ausland wissen sie ihre Spuren zu verwischen. Und die Polizei? Ist weder personell noch rechtlich in der Lage, die unglaubliche Menge an Daten, Bildern und Videos von tausenden radikalen Muslimen wirksam zu kontrollieren. Sagt einer, der sich bei den Sicherheitsbehörden auskennt. Ein Teil des Problems sei es, dass die Betreiber von Plattformen wie Facebook oder Whatsapp im Ausland sitzen, vor allem in den USA. An ihre Daten komme die deutsche Polizei kaum heran. Nicht nur in Deutschland bereitet die Online-Propaganda der Salafisten Probleme. Sondern in ganz Europa. Die Zusammenarbeit soll besser werden, heißt es dazu von der Europäischen Union. Eine Datenbank ist in Planung. Im Oktober 2014 ist ein Treffen mit der Wirtschaft geplant. Die deutsche Polizei plagt bei der Bekämpfung des Salafismus derweil noch ein ganz anderes Problem: Die klassischen Telefonüberwachungen seien immer weniger wirksam. Wichtige Gespräche liefen in der Szene persönlich - zum Beispiel in einschlägigen Moscheen. Auch David wird in solchen Moscheen gesehen. Zum Beispiel in der Abu-Bakr-Moschee in Essen, einem bekannten Treffpunkt der dortigen Salafistenszene. Bei seinen Besuchen im Ruhrgebiet bekommt der Allgäuer Nachrichten zugesteckt. Daheim im Allgäu verbrennt er sie. Dort spricht er mit seinem Umfeld viel über Religion. Ist aber nicht offen für die Seite der anderen. Er hat nun fest vor, in den Krieg zu ziehen. Ist voll des Eifers und der Überzeugung, dort kämpfen zu müssen. Gegen Unrecht, das der Bevölkerung geschehe – sagt er selbst einmal. Davids Familie? Kommt nun überhaupt nicht mehr an ihn heran. „Wir haben es versucht“, sagt seine Schwester. David kündigt seine Ausbildungsstelle. Seine Chefs reagieren entgeistert. Sie wollen den Jungen halten, haben ihn schon eingeplant für die spätere Übernahme. Doch David, der sich bei der Arbeit schon seit dem Frühjahr regelmäßig zum Gebet zurückzieht, lässt sich nicht umstimmen. Entsetzt gehen Davids Eltern nun einen Schritt weiter, um den Sohn aufzuhalten: Sie melden David beim bayerischen Verfassungsschutz und der Polizei. Damit lösen sie Ermittlungen gegen David aus. Der Anti-Terror-Paragraf 89a des Strafgesetzbuchs bietet die Grundlage dafür. Erst einige Jahr zuvor ist er eingeführt worden, als Reaktion auf deutsche Dschihad-Kämpfer, Reisen in Terrorcamps und die Finanzierung von Terrorgruppen. Ist er das richtige Mittel? Oder ein stumpfes Schwert? Bis ins Frühjahr 2014 jedenfalls ist in Deutschland noch kei-

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ne Haftstrafe für die „Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ verhängt worden. Inzwischen sind hohe ministerielle Ebenen in Davids Fall eingeweiht. Denn der 18-Jährige ist Deutscher. Das Bundesjustizministerium muss deshalb die Ermittlungen genehmigen. In Bayern zuständig wird eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft für solche Fälle: die Staatsanwaltschaft München I. Die Polizei nimmt die Überwachung auf. Die Ermittler kommen aus Neu-Ulm. Dort sitzen die Experten für die Organisierte Kriminalität in der Gegend. Mafia, Rockerbanden und Menschenhändler gehören zum Klientel. Und Islamisten. Davids Telefongespräche werden nun abgehört, seine Schritte beobachtet. Die Erkenntnisse gelangen ins Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin. Dort arbeiten im Kampf gegen den islamischen Terrorismus seit zehn Jahren Beamte der deutschen Sicherheitsbehörden zusammen. Auch aus Dinslaken, wo die Polizei und die Staatsanwaltschaft Duisburg zuständig sind, werden Informationen ans GTAZ weitergegeben. Aus Sicherheitskreisen heißt es, dass die Aufgaben verteilt worden seien. Die Bayern sollen David – und seine Freunde – daheim in Kempten im Auge behalten und verhindern, dass sie direkt von dort ins Ausland reisen. In Nordrhein-Westfalen sollen demnach die Ermittlungen im Zusammenhang mit der dortigen Salafistenzelle gebündelt werden. Die Polizei empfiehlt der Familie, sich an die „Beratungsstelle Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zu wenden. Im Januar 2012 hat diese ihre Arbeit aufgenommen, als Antwort auf die Vorfälle in Solingen. Zuständig ist sie für das gesamte Bundesgebiet. Ist sie personell überhaupt ausreichend für diese Aufgabe ausgestattet? Fakt ist: Selbst im Frühjahr 2014, als längst die große Ausreisewelle der Gotteskrieger nach Syrien rollt, ist sie nur mit sieben bis neun Mitarbeitern besetzt. Dazu kommen zwei Mitarbeiter einer Telefonhotline - von 9 bis 15 Uhr. Und welche Hilfe bekommen Eltern, deren Kinder radikal geworden ist? Im Fall David lautet die Antwort: ein Merkblatt mit Verhaltensregeln und Hinweisen.

Erhan A.: „Er hat immer nur gesagt, er fährt nach NRW zum Chillen.“

Das Merkblatt wird David nicht aufhalten. Er ist fest entschlossen. Am 23. Juli kommt er zum letzten Mal zur Arbeit. Im Ramadan kurz darauf fährt er mehrere Wochen am Stück nach Nordrhein-Westfalen. Verkehrt mit seinen Freunden aus Dinslaken in radikalen Moscheen. Was sagt er seinen muslimischen Freunden daheim in Kempten? Erhan A. erzählt: „Er hat immer nur gesagt, er fährt nach NRW zum Chillen.“ Zu den Dinslakenern habe er selbst zu diesem Zeitpunkt keinen direkten Kontakt gehabt, sagt er dann. Erst später. Erst jetzt. Wer sind seine Freunde? „Das sage ich nicht. Die haben gerade alle Stress da oben mit der Polizei.“ David kehrt noch einmal ins Allgäu zurück. Vorübergehend. Am 13. August verabschiedet er sich bei seinem Boxtrainer. Dieser gibt ihm besorgt noch einen Satz mit auf den Weg: „Pass auf dich auf.“

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Keine Woche später ist es soweit. David packt. Er hat ein Flugticket von München in die Türkei besorgt, will von dort aus weiter nach Syrien. Gemeinsam mit einem seiner Allgäuer Freunde, einem 17-Jährigen. Er geht zum Bahnhof und steigt in den Zug in Richtung bayerische Landeshauptstadt. Doch am Flughafen endet die Reise. Um 5 Uhr morgens des 20. August werden die beiden jungen Männer von den Behörden aufgehalten. Man nimmt ihnen die Personalausweise ab. David fährt wieder nach Hause. Äußerlich ist er ruhig. Als hätte er bereits andere Pläne. Haben sie mit seinen Freunden in Dinslaken zu tun? Am 23. August erhält er von dort eine Mitteilung per SMS: „Ruf an! Sonst hat das Konsequenzen fuer dich.“ Ist David eine Gefahr für die dortige Zelle? Wird er unter Druck gesetzt? Aus Sicherheitskreisen heißt es, dass die Dinslakener ihn erst einmal auf Abstand halten wollen. Weil klar ist, dass ihn die Polizei überwacht. David geht nun zur Kemptener Stadtverwaltung, die seinen Personalausweis seit dem Vorfall am Flughafen verwahrt. Das Meldeamt ist in einem Gebäude direkt gegenüber des historischen Rathauses von Kempten untergebracht. Wer ein Anliegen hat, zieht im Wartebereich eine Nummer. David hat ein Anliegen. Er will seinen Ausweis zurück. Er bekommt ihn auch. Nicht allerdings ohne einen aufgeklebten Vermerk. Der Ausweis ist nicht mehr gültig außerhalb der Bundesrepublik. Die Stadtverwaltung Kempten hat ein Ausreiseverbot verhängt. Es handelt sich um einen kleinen Verwaltungsvorgang, der auch gegen gewaltbereite FußballHooligans eingesetzt wird. Wer „erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland“ gefährdet, darf nicht ausreisen. So sieht es das Personalausweisgesetz vor. Auch bei Migranten ist das möglich, dann allerdings über das Ausländergesetz. David lässt sich von dem Aufkleber auf seinem Ausweis jedoch nicht beirren. Er versucht nun, einen Reisepass zu beantragen. Das Meldeamt lehnt mit Verweis auf das Personalausweisgesetz wiederum ab. Was in der bayerischen Stadt praktiziert wird, ist zeitgleich kaum ein Thema in der restlichen Bundesrepublik. Obwohl Experten darin ein Mittel sehen, um den ungebremsten Zustrom der deutschen Gotteskrieger ins Kriegsgebiet zumindest abzuschwächen. Anfang Februar 2014 wird es in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken heißen: Ausreisen tatsächlich zu verhindern, sei nur im „niedrigen zweistelligen Bereich“ gelungen. Ende April 2014, als nach offiziellen Schätzungen längst 320 Salafisten in den Terrorkrieg ausgereist sind, bestehen gerade einmal 50 bis 60 Ausreiseverbote bundesweit. Das Netzwerk Terrorismusforschung geht da bereits von weit höheren Ausreisezahlen aus. Der Berliner Verein, in dem sich gut 800 Wissenschaftler, Behörden und Medienleute vernetzen, spricht von etwa 750 deutschen Extremisten, die nach Syrien aufgebrochen sind. Das Problem mit den Rückkehrern werde Deutschland noch Jahre beschäftigen. Spätestens dann, wenn hunderte ehemalige Gotteskrieger zurückkommen in die Bundesrepublik. Deren Netzwerke, so die Einschätzung, werden nicht von selbst wieder verschwinden. Wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als Zirkel und Kameradschaften im Verborgenen aktiv blieben. In Kempten plant David weiter für seine Flucht aus Deutschland. Er verschickt noch einige Pakete in die Türkei. Wechselt mehrfach die Handys, um sich vor Überwachung durch die Polizei zu schützen. Dann, nur Wochen nach dem ersten Ausreiseversuch, ist er Anfang September endgültig weg. David fährt zunächst nach Dinslaken. Dort bleibt er etwa eine Woche, bekommt falsche PaSeite 15


piere und eine sichere Route in die Türkei. Diesmal hält ihn niemand auf, als er die Bundesrepublik am 12. September mit einem Zug verlässt. Die Information darüber versackt vermutlich bei den Behörden. Über Ungarn gelangt der 18-Jährige nach Serbien. Höchstwahrscheinlich überquert er die Grenze nach Bulgarien zu Fuß. Von dort reist er in die Türkei ein. Seine erste Station ist Istanbul. Warum fällt er an keiner Grenze auf? Sein Freund Erhan A. hat dafür eine eigene Erklärung: „Er war Deutscher, sah auch so aus. Als ich in die Türkei gefahren bin, haben sie mich ständig kontrolliert, meinen Aufenthaltstitel in Lesegeräte gesteckt. Bei denen, die deutsch aussahen, haben sie das oft gar nicht gemacht und nur kurz draufgeschaut.“ Noch während David in Istanbul ist, klingelt am Kemptener Stadtrand das Telefon im Haus seiner Familie. Am Apparat ist die Polizei. Sie teilt mit, dass sich David in der Türkei aufhält. Sein Freund Erhan A. sagt: „Auch uns hat er es vorher nicht erzählt. Er hat alles geheim gehalten. Ich dachte, er fährt nur nach Dinslaken.“ Am 17. September stellt der David von der Türkei aus ein neues Bild bei Facebook ein. Es zeigt ihn zusammen mit seinem Freund Mustafa und einem dritten Islamisten. Alle drei tragen schwarze T-Shirts mit Schriftzügen: „Alqaida“ und „Millatu Ibrahim“. Wiederum eine Woche später schreibt er seiner Familie eine E-Mail. Es ist das erste Mal nach seiner Flucht, dass sich David daheim meldet. „Ja, alles gut“, schreibt er. „Ich werde so schnell nicht mehr erscheinen. Ich hab grad ‚nen leckeren Bananencocktail getrunken, der umgerechnet ca. 70 Cent gekostet hat (0,5l) haha. Und vielleicht zieh ich bald in eine Villa ein....sowas habt ihr noch nie gesehen. Sag Mama, sie soll sich keine Sorgen machen. Ich schau, dass ich mit Gottes Erlaubnis demnächst mal wieder schreiben kann. Bis daaaaaaannnn“ Ist David da bereits unterwegs in ein Terrorcamp? Möglich. Die Nachricht an seine Familie tippt er auf einer arabischen Computertastatur. Wie genau ist sein Weg durch die Türkei verlaufen? Das bleibt ungeklärt. Möglicherweise reist David über Bursa in die türkische Provinz Hatay. Vermutlich öffnet ihm ein Empfehlungsschreiben die Tür zur Terrororganisation Isis.

Eine engagierte frühere Stadtteilmanagerin, erzählt: „Man sieht mehr und mehr von diesen El-Kaida-Leuten in meiner Heimatstadt.“

Eine Einschätzung, die ein Experte des Vereins Netzwerk Terrorismusforschung teilt: „Es ist eine Illusion, dass die da einfach hinfahren wie in einen Campingurlaub.“ Wer bei Isis kämpfe, habe in der Regel eine Empfehlung: „Dort landet niemand, der sich nicht in eine Militärstruktur einfügt, der Teams gefährdet.“ Auch der Kemptener Erhan A. sagt: Einfach so komme man nicht zu Isis. Da brauche man schon „das richtige Verständnis“.

Dort, wo David nach Syrien gelangen wird, in der Gegend von Hatay, ist die Grenze löchrig. In der als multikulturell geltenden türkischen Provinz, in der 1,4 Millionen Menschen leben, spüren die Einwohner seit Jahren die Auswirkungen des Krieges im Nachbarland. In Kempten wohnen viele, die von dort stammen. Eine von ihnen, eine engagierte frühere

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Stadtteilmanagerin, erzählt: „Man sieht mehr und mehr von diesen El-Kaida-Leuten in meiner Heimatstadt.“ Schleuser machen die Gegend unsicher. Sie bringen Waffen auf die syrische Seite, ebenso wie Waren und Ausrüstung und Bargeld für die Terroristen. Das Geld fließt im Geheimen aus Europa. Auch aus Deutschland. Viele tausend Euro sollen es sein. Nicht nur für Isis, diese im Irak und in Syrien besonders grausam agierende Gruppe, spenden und sterben deutsche Islamisten. Sondern auch für Dschabhat al Nusra, eine weitere Gruppe mit El-Kaida-Nähe, die offiziell als Terrororganisation eingestuft ist. Verschoben wird das Geld unter anderem über Bargeldtransfer-Dienste und türkische Konten. Mittelsleute geben die „Spenden“ weiter, zu denen deutsche Dschihadisten im Internet aufrufen. „Wir brauchen aufrichtige und vertrauenswürdige Geschwister, die uns finanziell unterstützen“, heißt es, verbreitet in sozialen Netzwerken. Tarn-T-Shirts, Militärfahrzeuge, Ausrüstung, Verpflegung. So sehen Wunschlisten deutscher Gotteskrieger in Syrien aus. „Wir brauchen einiges“, schreibt eine Kämpferfrau im Internet. Eine Realität des syrischen Kriegsgebiets, die Propagandavideos ausblenden. Ebenso wie die Tatsache, dass viele Kurzzeit-Dschihadhelden aus Deutschland irgendwann als Verletzte in den Krankenhäusern auf türkischer Seite landen. „Es gibt Verträge für die Behandlung dieser Männer“, sagt die ehemalige Stadtteilmanagerin aus Kempten, deren Familie vor Ort nachgeforscht hat. Am Krieg in Syrien verdient die türkische Seite mit. Wer dabei sein will beim Foltern und Morden in Syrien, hat es in der Provinz Hatay nicht schwer. Es genügt, dort anzukommen. Fahrer bringen die ausländischen Kämpfer über die Grenze. „Manche kämpfen dort am Tag und kommen nachts zurück auf die sichere türkische Seite“, sagt die Türkin aus Kempten. Das vergifte das Klima in ihrer Heimat. „Die Bewohner von Hatay waren immer offen und tolerant.“ Der Krieg habe vieles verändert. Die Dschihadisten aus der ganzen Welt werden so schnell nicht wieder verschwinden aus der Region, befürchtet sie. „Sie kämpfen „Ja, ich wollte für ein eigenes Land. Um Religion geht es ihnen nicht. Diese nach Syrien.“ Leute wollen einen eigenen Lebensraum. Sie haben daheim Erhan A. alles aufgegeben.“ November 2013. Erhan A. will nun seinem Freund David nacheifern. „Ja, ich wollte nach Syrien“, sagt er später. Der 21-Jährige steigt in einen Zug, fährt damit über Österreich und alle folgenden Grenzen bis in die Türkei. In Istanbul nimmt er sich ein Hotelzimmer. Die Behörden haben ihn nicht aufgehalten, es ist kein Ausreiseverbot verhängt. Aber: Die Polizei hat Erhan A. überwacht. Nun ruft sie bei seinen Eltern an. Die reisen Hals über Kopf nach Istanbul, um ihn aufzuhalten. Was denkt der junge Mann, wie sich seine Eltern dabei gefühlt haben? „Die waren völlig am Boden.“ Mutter und Sohn fahren gemeinsam nach Kayseri, bleiben dort bei Verwandten der Familie. Aber: Wie hat sich der Kemptener das eigentlich vorgestellt? Wie wollte er von der Türkei weiter nach Syrien? „Einfach rübergehen, mit meinem Pass.“ Das sei nicht schwierig, solange man nicht vorbestraft ist. Ähnlich wie im Allgäu, an der Grenze zu Österreich. Und danach, in Syrien? Wie wäre es weitergegangen? Darüber will der junge Mann nicht sprechen. Erhan A. ist noch in Kayseri, als sein Freund David 19 Jahre alt wird. Es ist Dezember 2013. Per Internet hält der 19-Jährige noch immer Kontakt zu seiner Familie. Kurz vor Weihnachten geht per E-Mail das letzte Lebenszeichen aus dem Kriegsgebiet ein. „Wie geht’s Mama?“, fragt

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der 19-Jährige seine Schwester per E-Mail. „Ich wollte sie eigentlich anrufen. Will sie das überhaupt?“ Ein Telefonat findet nicht mehr statt. Davids Facebook-Einträge enden vor dem Jahreswechsel.

„Der Bruder Abu Dawud ist ein Löwe.“ Mustafa K. aus Dinslaken

Am 18. Januar 2014 stirbt David. Es ist ein Samstag. Möglicherweise wird er von Mitgliedern der Freien Syrischen Armee bei einer Gefangenenbefreiung erschossen. Vielleicht aber auch von Terroristen der Dschabhat al Nusra – so die Version der Bundesbehörden, die der Staatsanwaltschaft Kempten vorliegt. Trotz aller Ermittlungen im Vorfeld bleiben die genauen Umstände im Dunkeln. Eine iranische Nachrichtenagentur vermeldet Davids Tod noch am selben Tag. Sie zeigt das Foto eines blutüberströmten Gesichts mit geschlossenen Augen. Mustafa, Davids Freund aus Dinslaken, kommentiert im Internet: „Der Bruder Abu Dawud ist ein Löwe.“ Bei Davids Familie meldet sich noch einmal die Polizei. Diesmal überbringt sie die Todesnachricht.

Die Zeit danach In Kempten geht das Leben in der Zeit danach seinen gewohnten Gang. Erst nach und nach werden der Salafismus und der Krieg in Syrien ihren Schatten auch auf die bayerische Provinzstadt werfen. In Form einer radikal-islamischen Zelle, zu der sich Davids frühere Freunde formieren. Und durch die Flüchtlingswelle, die ab dem Frühjahr aus Syrien hereinschwappt. Mit der kriminelle Schleuserbanden gute Geschäfte machen, Polizei und Justiz alle Hände voll zu tun bekommen. Doch zunächst ist einmal ist da vor allem das Mitgefühl mit Davids Familie. Ein Leser der Allgäuer Zeitung, der David einmal getroffen hat, gießt es in eine E-Mail: „Ich bin sehr betroffen und schockiert und werde Gespräche mit anderen Menschen suchen, um damit klarzukommen. So betroffen und voller Anteilnahme war ich noch nie wegen des Schicksals eines anderen.“ Auch in den Sportvereinen beginnt die Diskussion. „Mir tun die Eltern leid“, sagt einer, der den Fußballnachwuchs trainiert. Vor einem Jugendhaus in der Innenstadt unterhalten sich Jugendliche über David, den sie noch aus der Schule kennen. „Keine Ahnung, warum man so etwas macht“, sagt ein 17-Jähriger und schüttelt den Kopf. „Also ich würde nicht nach Syrien gehen.“ Thomas Baier-Regnery ist Leiter des Amts für Jugendarbeit in der Stadt. „Davids Geschichte hat viele erschüttert“, sagt er einige Monate später. Man müsse das Thema Salafismus aufgreifen – gerade wegen der „emotionalen Betroffenheit“ vieler Kemptener. „Was steckt dahinter, wenn ein junger Mensch alles zurücklässt?“ Unter anderem diese Frage müsse man stellen. In der Jugendarbeit. In den Schulen. Den Familien. Bei den Sicherheitsbehörden. „Das ist ein Auftrag an die Gesellschaft insgesamt.“ Es sei nötig, mehr über Islamismus und Salafismus zu lernen. In den Jugendzentren Kempten hätten die Pädagogen das Thema bereits diskutiert.

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Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück beschäftigt sich seit Jahren mit Salafismus und Prävention. Er sagt: „Wir müssen eine Atmosphäre der Achtsamkeit entwickeln.“ In Schulen, bei Lehrern, bei den Familien und Freunden. Bevor Jugendliche tatsächlich ausreisen, gebe es in der Regel eine Phase der Verunsicherung bei ihnen und Bedenken. An diesem Punkt gebe es die Möglichkeit, etwas zu tun. Fällt zum Beispiel in der Schule auf, dass sich ein Dr. Michael Kiefer Jugendlicher verändert, sollten Lehrer und Schulsozialarbeivon der Universität ter an einen Tisch – zur „Fallkonferenz“. Dort müsse geklärt Osnabrück sagt: werden, was wirklich dran ist an Äußerungen, ob weitere „Wir müssen eine Informationen eingeholt werden müssen, wie es weitergeht. „Man sollte so etwas nie einem Einzelnen überlassen.“ Atmosphäre

der Achtsamkeit entwickeln.“

Beim Salafismus sei die Prävention nicht ausreichend, langfristige Projekte seien nötig – „mal ein halbes Jahr reicht da nicht“. Man müsse damit rechnen, dass Jugendliche zwei, drei oder mehr Jahre betreut werden müssten. Es seien speziell Jugendliche ohne Perspektive, bei denen die Parolen der Salafisten verfangen. „Sie gehören auf einmal einer Gemeinschaft an, die vermeintlich alles richtig macht. Das ist natürlich einfach.“ Zurück nach Kempten. Am Rand der Innenstadt liegt die Hochschule Kemptens. Informatik, Maschinenbau, Elektrotechnik: Es sind die Ingenieure von morgen, die dort lernen. Auch Tourismus, der im südlichen Bayern eine wirtschaftlich große Rolle spielt, wird gelehrt. Der Gesundheitszweig bildet Führungskräfte für das Sozialwesen aus. Viele der mehr als 5000 Studenten kommen aus der Umgebung. Es ist März 2014. In den kreisförmig angeordneten Hochschulgebäuden, die umgeben sind von Studentenwohnungen und klotzigen Erweiterungsbauten, beginnt das Sommersemester. In einem der Hörsäle sitzt Erhan A. Er ist gerade aus der Türkei zurückgekehrt. Im Internet veröffentlicht er brutale Bilder, preist den Dschihad als „höchste Pflicht“. Verherrlicht Davids Märtyrertod. Trifft sich mit Akteuren der bayerischen Salafistenszene. In Kempten geht er bis in späte Frühjahr hinein studieren. Seit Herbst 2013 ist er an der selben Hochschule eingeschrieben wie Davids ältere Schwester. Einige der Studenten kennen ihn. „Er hat von Anfang an gesagt, dass er eigentlich keine Lust hat aufs Studium. Dass er das nur macht, weil es seine Eltern wollen“, erzählt einer aus dem zweiten Semester. Hat der junge Mann seinen Kommilitonen etwas erzählt über seinen Aufenthalt in der Türkei? „Ja. Er sagt, er hat dort nur seine Verwandten besucht. Dann hat er damit angegeben, dass er Terrorverdächtiger ist. Und hat gesagt, dass die deutschen Behörden idiotisch sind“, sagt der Student. Wie geht eine Hochschule mit Radikalen in ihrer Mitte um? Einfach, heißt es, ist das Thema nicht. Eine Exmatrikulation wegen der Gesinnung ist nicht möglich. Erst nach einer strafrechtlichen Verurteilung ab einem Jahr Freiheitsstrafe könne man dazu greifen. Bis das geschieht, seien Aufmerksamkeit und Sozialkontrolle praktisch die einzigen Mittel. Und was tun die Sicherheitsbehörden im Allgäu? Als Erhan A. aus der Türkei zurückkehrt, spricht die Polizei ihn an. Die „Gefährderansprachen“, die auch bei anderen extremistischen Strömungen zum Einsatz kommen, sollen zeigen, dass der Staat die Radikalen im Auge hat. Es geht darum, Verhaltensregeln und Grenzen aufzuzeigen, gerade junge Leute zurück auf den richtigen Weg zu bringen.

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Doch wirken Gefährderansprachen bei Salafisten, die sich in ihrer verschworenen Gemeinschaft vom Rest der Gesellschaft bewusst abgrenzen? Ein Kemptener Pädagoge, der viel Erfahrung mit Jugendlichen hat, bezweifelt es. Er hält es für wahrscheinlicher, dass die Gespräche die Kluft zwischen den radikalen Muslimen und der Polizei noch verstärken. „Es bestätigt den jungen Leuten vor allem, dass das System sie ablehnt“, sagt er. Mai 2014. Ein sonniger Tag in Kempten. In einem Park treffen sich junge Männer. Es sind Davids ehemalige Freunde. Einige von ihnen sitzen auf einer steinernen Bank im Schatten, die anderen stehen davor. Sie haben Softgetränke dabei. Die Männer, die im sozialen Netzwerk den Koran zitieren und über Ungläubige und den Staat wettern, gelten bei der Polizei als islamistische Zelle. Zehn Islamisten umfasst die Szene in Kempten mittlerweile. Die Polizei ist gewarnt. Nun ist in der Stadt das entstanden, wofür es während Davids Radikalisierung nur erste Anhaltspunkte gab. Was sagt Erhan A.? „Wir sind friedlich. Wir wollen nur in Ruhe unsere Religion ausüben.“ Ist er ein Radikaler? Der junge Mann lacht nur. Das Wort Salafisten hätten doch die Medien erfunden. Bekannte der betroffenen Familien sagen etwas anderes. Ein „Kein Mensch Drama sei das Ganze. Die jungen Männer seien doch früher versteht, was da ganz normal gewesen. Zum Beispiel der, den sie noch vom passiert ist.“ Fußballverein kennen. Der später ohne Abschluss von der Schule abgegangen, in einem Förderprojekt unterkommen ist. Oder der andere, der immer so ordentlich angezogen war bei Feiern. Beim nächsten komme der Vater immer in die Moschee, ein netter Mann sei das. Problemfamilien? „Nein“, sagen die Kemptener. Sozialfälle oder Bildungsverlierer seien das nicht. „Kein Mensch versteht, was da passiert ist. Was ist nur mit den Kindern los?“ Aber nicht nur bei Bekannten und der Polizei sind die Salafisten aufgefallen. Anwohner beobachten in diesen Tagen mit Unbehagen, wie die jungen, bärtigen Männer in der Nähe des Parks öffentlich ihre Gebete verrichten. Muss man sich Sorgen machen? Beten dort die Gotteskrieger von morgen? Werden sie irgendwann einen von ihnen in den Nachrichten wiedersehen? So wie Monate zuvor David? Die Stadtverwaltung hat bereits reagiert. Erhan A. darf in der nächsten Zeit nicht ausreisen. „Ich will ja auch gar nicht mehr nach Syrien.“ Warum? „Das hat persönliche Gründe, darüber will ich nicht sprechen.“ Und seine Eltern? „Glauben mir das nicht. Aber ich will jetzt erst einmal Korane verschenken.“ Was ist von solchen Ankündigungen zu halten? In einer der Kemptener Moscheen sagen sie: Versprechen allein reichen nicht. Man könne nicht riskieren, dass sich die jungen Männer vielleicht doch noch nach Syrien absetzen. Soweit sie wissen, sei deshalb bereits das Türkische Konsulat über die Szene in Kempten informiert. Aus der Botschaft der Türkei in Berlin heißt es: „Einige deutsche Bürger türkischer Herkunft haben sich in den vergangenen Monaten an die Generalkonsulate der Republik Türkei in Deutschland gewandt, um die Ausreise ihrer volljährigen Kinder aus Deutschland in die Türkei (aufgrund der Gefahr der Weiterreise nach Syrien) zu verhindern.“ Man habe ihnen geraten, sich auch an die deutschen Stellen zu wenden. Die Generalkonsulate hätten die Sicherheitsbehörden auf Landes- und Bundesebene informiert, Vorschläge zur Zusammenarbeit gemacht. Vorrangig gehe es darum, dass die jungen Männer gar nicht ausreisen. Andernfalls „ist dann ihre Festnahme bei der Einreise in die Türkei von großer Bedeutung“.

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In Kempten ist es unterdessen bei mindestens einem jungen Mann nicht bei einem Fluchtversuch in die Türkei geblieben. Davids minderjähriger früherer Freund soll es noch einmal probiert haben. Im Mai 2014 findet vor dem Kemptener Amtsgericht angeblich eine Verhandlung statt – wegen des Verstoßes gegen das Ausreiseverbot. Eine offizielle Bestätigung dafür gibt es mit Verweis auf den Persönlichkeitsschutz nicht. Die jungen Salafisten aus Davids früherem Umfeld sind außerdem in einschlägigen Moscheen gesehen worden. In Ulm und in München versuchten sie Kontakt zu knüpfen zu radikalen Netzwerken. Besuchen Spendenveranstaltungen für Syrien. Fotos zeigen Erhan A. mit einem schwarzen Pullover, auf dem in weiß ein arabischer Schriftzug aufgedruckt ist. Es ist das islamische Glaubensbekenntnis, das in diesem Fall für ihren rückwärtsgewandten Islam steht und den Kampf um einen Gottesstaat. Die Kontakte aus Bayern nach Syrien sind nicht abgerissen. Über das Internet vernetzen sich die Allgäuer nicht nur mit Salafisten aus ganz Deutschland, sondern auch mit Kämpfern aus Davids früherem Freundeskreis in Nordrhein-Westfalen. Sie gehören Isis an und damit dem internationalen Terror. In den sozialen Netzwerken halten die Salafisten die Erinnerung an ihren toten Freund David am Leben. Sie feiern ihn als Märtyrer. Noch Monate nach Davids Tod tauchen seine Bilder im Internet auf. Eines zeigt ihn lächelnd an der Seite eines jungen, französischsprachigen Kämpfers, der auf einem anderen Bild mitten im Kriegsgebiet den Schriftzug Isis als Graffiti an eine Wand sprüht. Bei einer anderen Plattform ist das Video eines Begräbnisses in Syrien zu sehen, das ein Foto des toten Jungen enthält. Ein Scheich sagt auf Arabisch: Der „Kämpfer“ sei zum „Märtyrer“ geworden. Ungläubige und Verbrecher hätten ihn getötet.

Über das Internet halten Allgäuer Salafisten Kontakt zu Kämpfern in Syrien.

Währenddessen, nur einige hundert Meter entfernt von dem Park, in dem sich die Kemptener Salafisten treffen: Polizisten bringen einen Mann mit schulterlangem braunen Haar in einen Saal des Amtsgerichts. Er nimmt neben dem Dolmetscher auf der Anklagebank Platz. Der 33-Jährige aus Saudi-Arabien ist Schleuser. Einer von 13, die zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis in Kempten sitzen. Beinahe täglich kommt nun die andere Seite des Krieges in der Stadt an. Es sind die Menschen, die vor Gewalt und Elend in Syrien flüchten. Bis zum Sommer 2014 gabelt die Polizei 112 illegale syrische Flüchtlinge in der Gegend auf – doppelt so viele wie insgesamt im Jahr davor. In ganz Deutschland zählt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge von Januar bis Mai 2014 mehr als 10000 Syrer, die einen Asylantrag stellen – es sind fast dreimal mehr als im gesamten Jahr des Kriegsausbruchs 2011. Mit der Not machen internationale Schleuserringe gute Geschäfte. Über Italien, Österreich und Deutschland bringen sie die illegalen Einwanderer nach Nordeuropa. Die A7 liegt auf ihrer Strecke. Die Autobahn führt direkt an Kempten vorbei, der Grenztunnel nach Österreich ist nicht weit entfernt. Wer sich, mit anderen in Autos und Lieferwagen eingepfercht, in Richtung Hoffnung bringen lässt, zahlt dafür. Zwischen Seite 21


3500 und 5000 Euro nehmen die Schleuser den Flüchtlingen für die Fahrt nach Deutschland ab. Der Mann, dem gerade der Prozess gemacht wird, ist Fahrer. Das kleinste Rädchen im großen Spiel der organisierten Kriminalität. Wer den Kontakt vermittelt hat? Der 33-Jährige wird es nicht verraten. So wie die anderen, die der Polizei in und um die Stadt ins Netz gegangen sind. Die Hintermänner bleiben verborgen, die großen Fische sitzen anderswo. Der Amtsrichter schickt den Fahrer für ein Jahr hinter Gitter. „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir alle ins Gefängnis sperren müssen, die wir von der Organisation erwischen“, sagt der Richter in der Urteilsbegründung. „Wir müssen ansetzen, wo es nur geht.“ Für die Flüchtlinge enden die verbotenen Grenzgänge zunächst bei der Kriminalpolizei. Dort müssen sie ihre Fingerabdrücke abgeben, bevor es weitergeht in eine Asylaufnahmestelle. Das Jugendamt kümmert sich um die, die unter 18 sind und unbegleitet.

„Ich kapiere einfach nicht, wie so etwas mit jungen Leuten geschehen kann. Da betreibt doch jemand Gehirnwäsche mit ihnen“, sagt Nafis Osmanoski.

Die Krise in Syrien ist nah an Davids Heimatstadt Kempten herangerückt.

Juni 2014. Auch Nafis Osmanoski ist ratlos. „Ich kapiere einfach nicht, wie so etwas mit jungen Leuten geschehen kann. Da betreibt doch jemand Gehirnwäsche mit ihnen“, sagt der 36-Jährige. Er spricht von den Salafisten. Das Mittagsgebet ist gerade vorüber. Auf dem Tisch in dem kleinen Raum stehen Kaffeebecher aus gewelltem Kunststoff. Das Zimmer liegt ganz hinten im Moscheegebäude des türkischislamischen Kulturvereins Kempten. Mehmet Sözen und Hasan Ovali nicken. Sie sitzen mit dem Rücken zu den grauen Metallschränken, die eine Seite des Raumes ganz einnehmen. An einer der Schranktüren hängt der Jahresplaner der Moscheegemeinde. Bald ist Ramadan, der islamische Fastenmonat. Sie haben ihn mit dickem Strich im Kalender eingezeichnet. Gegenüber ist die türkische Flagge befestigt. Auf einem Tisch an der Stirnseite steht ein Computer. Auch diese drei Männer kennen die jungen Kemptener, die in die Salafistenszene abgeglitten sind. Ein paar Monate zuvor hat es mit ihnen Streit gegeben in der Moschee, sagen sie. Über den Weg der Radikalen und darüber, was er für die anderen Muslime bedeutet. „Wir sind offen. Diese Leute machen den Islam kaputt“, sagt Nafis Osmanoski. Doch Worte wie diese, sagt er, stoßen auf taube Ohren bei Salafisten. Dabei erinnert er sich noch gut daran, wie sie als Kinder und Jugendliche im Fußballverein kickten. Spaß hatten mit anderen. Doch nun? Tragen die Kinder von einst Bärte, sondern sich ab, sagt der 36-Jährige und zuckt hilflos mit den Schultern. Die jungen Männer seien nach dem Streit nicht mehr in die Moschee gekommen. Man habe sie weggeschickt. Doch kann das die Lösung sein? Die Männer sind nicht sicher. Denn sie wissen, wohin sich die Salafisten seither gewandt haben: an salafistische Moscheen. Was also können die Muslime vor Ort tun? Nafis Osmanoski sagt: „Wir wollen eine Konferenz einberufen.“ Möglichst viele aus der Stadt sollen an einen Tisch. Um zu besprechen, wie Seite 22

Salafisten grenzen sich bewusst von der Gesellschaft ab.


sie umgehen wollen mit den Radikalen. Im Spätherbst soll es soweit sein. Auch einen Vertreter des Dachverbands der Türkisch-Islamischen Union aus Köln haben sie eingeladen. Man müsse verhindern, dass weitere junge Männer aus der Gegend in die Hände der Terrororganisation Isis fallen, sagen die Männer. Aber was, fragen sie dann, tut eigentlich der Staat? Das Bayerische Innenministerium gibt Antwort. Die Innenministerkonferenz der Länder beschäftige sich mit dem Thema Prävention. Außerdem erscheine in diesem Jahr in Bayern eine neue Broschüre zum Salafismus. Aussteigerprogramme: fast überall Fehlanzeige. Nur in Nordrhein-Westfalen gibt es eines. Es ist gerade erst gestartet. Kann das die Lösung des Staates sein? Die Hilfe für hunderte leidende Familien? Inzwischen ist es Sommer. Davids Tod liegt ein halbes Jahr zurück. Welche Spuren hat sein Schicksal hinterlassen im Leben der Menschen, die ihn am besten kannten? „Es hat mich mitgenommen, es war ein Schock damals“, sagt Reinhold Gruschwitz. Es ist ein schwülheißer Juliabend. In der Boxhalle im Kellergeschoss ist es kühl. Gleich beginnt das Training. Gruschwitz hat seine Sportkleidung schon angezogen. Davids Geschichte, sagt er, hat ihn sensibler gemacht. „Ich habe heute offenere Ohren und hellere Augen für so etwas“. Er habe viel darüber gesprochen mit den anderen im Verein. Mit den Jugendlichen, die auch traurig gewesen seien. Mit den Trainern. Was würde er heute tun, wenn einer seiner Schützlinge auffällig würde wie David damals? Die Polizei alarmieren, sagt Gruschwitz. Sich Rat und Unterstützung holen, beim Sportamt der Stadt wahrscheinlich. Mit keiner Religion seien die Taten der Salafisten zu rechtfertigen. Was in Syrien geschehe, sei Mord. Das habe er auch den Jugendlichen im Verein gesagt.

„Ich habe heute offenere Ohren und hellere Augen für so etwas“, sagt Boxtrainer Reinhold Gruschwitz.

Aber: Kann er jungen Leuten überhaupt noch vertrauen, nach all dem, was er inzwischen über Davids Werdegang und die radikalen Muslime weiß? „Doch“, sagt Gruschwitz, das könne er. „Jugendliche enttäuschen mich nicht.“ Trainer zu sein, mache ihm Spaß. Das Leben gehe weiter. Trotz allem. Auch für die, die David am meisten geliebt haben: seine Eltern und Geschwister. Wie haben sie nach all dem angeknüpft ans Leben? Wie gelingt es, danach weiterzumachen? Wie haben sie weitergemacht? Eine Treppe in Kempten. Links und rechts davon stehen auf dem sanften Abhang schlanke Laubbäume. Das Kopfsteinpflaster ist voller Ameisen. Auf einer der Stufen sitzt eine Frau mit langem, hellbraunen Haar. Sie ist 21 Jahre alt. Es ist Davids Schwester. Sie hat die Hände auf ihrem Schoß ineinander gelegt. Neben ihr steht die Tasche mit den Büchern und Unterlagen. Die 21-Jährige kommt gerade aus der Vorlesung. Von der Treppe aus sieht man auf den Campus der Kemptener Hochschule. Links liegt die Mensa. Studenten stehen in kleinen Gruppen davor. Hätte man etwas anders machen müssen im Fall ihres Bruders? Davids Schwester denkt eine Weile nach, bevor sie antwortet. „Ich glaube, man hätte ihn nicht aufhalten können.“ David habe das getan, was er sich vorgenommen hatte. Sie dagegen fühle sich noch immer hilflos. Auch, weil sie Monate später noch nicht mehr über die Todesumstände wisse. Weil es kein

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Grab gebe und keinen Leichnam. Intensiver Kontakt zu Behörden? „Nein, hatten wir nicht nach Davids Tod“, sagt die 21-Jährige. Es ist eine Feststellung. Kein Vorwurf. „Eigentlich wissen wir nicht mehr als damals, als es passiert ist.“ Nicht ein Tag sei seither vergangen, an dem sie nicht an ihren Bruder gedacht hat. „Es war, als hätte er einmal die Wohnung erfüllt. Jetzt ist er weg.“ Bei der Staatsanwaltschaft München I sind die Ermittlungen nach dem Terrorparagrafen gegen David eingestellt. Die Ermittler gehen davon aus, dass der junge Mann tot ist. Einzelheiten aus dem Verfahren werden nicht veröffentlicht. Was mit den Akten im Fall David geschehen wird? Dazu macht Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch keine Angaben. Auch in Kempten sind die Akten geschlossen. Im Justizgebäude in der Innenstadt haben sie gegen Unbekannt ermittelt. Wer hat David getötet? Kann dafür jemand zur Verantwortung gezogen werden? Was ist genau geschehen? Die Untersuchungen sind ergebnislos geblieben. „Wir haben das Verfahren eingestellt“, sagt der Kemptener Oberstaatsanwalt Gunther Schatz. Einzig beim Bundesnachrichtendienst liefen noch Untersuchungen, wie der deutsche Gotteskrieger ums Leben kam. Bei der Stadtverwaltung Kempten ist David abgemeldet. In den Unterlagen wird er als verstorben geführt - „von amtswegen“. Einen Totenschein gibt es nicht. „Wer sollte ihn auch ausstellen?“, fragt ein Mitarbeiter. Am Kemptener Stadtrand ist das Zimmer von David noch unverändert. So wie es der Gotteskrieger aus Bayern zurückgelassen hat. Damals, als er aufbrach. Fast ein Jahr zuvor. Ein Raum mit zitronengelb gestrichenen Wänden, in dem ein Bett steht und ein niedriges Regal ohne Inhalt. Durch die Scheiben der Terrassentür fällt Tageslicht herein.

Links www.verfassungsschutz.bayern.de/kontakt/hinweistelefone www.bamf.de/DE/DasBAMF/Beratung/beratung-node.html www.polizei.bayern.de/schwaben_sw www.netzwerk-terrorismusforschung.org www.hochschule-kempten.de www.geschkult.fu-berlin.de/e/islamwiss www.islamische-theologie.uni-osnabrueck.de

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Nicht ein Tag ist seit Davids Tod vergangen, an dem seine Schwester nicht an ihn gedacht hat. „Es war, als hätte er einmal die Wohnung erfüllt. Jetzt ist er weg.“


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