Was zusammen gehört ...
Jahrestagung Stadtteilarbeit 2009 veranstaltet vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. vom 06. - 07. November 2009 im Bürgerhaus Am Schlaatz Schilfhof 28 14478 Potsdam
2 Inhaltsverzeichnis
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Anfangsplenum: Joachim Walther 20 Jahre Mauerfall eine Zwischenbilanz
11 - 22
Workshop: Frauen-Power
Ostfrauen begegnen Westfrauen 23 - 39
Workshop: Jugend – Herausforderungen
Jugendarbeit begegnet Nachbarschaftsarbeit 40 - 53
Workshop: Integrations-Perspektiven
„Eingeborene“ begegnen Migranten 54 - 65
Workshop: Ost/West-Begegnungen
Ossis begegnen Wessis 66 - 81
Workshop: Kultur-Botschaften
Sozial-Kultur begegnet Sozio-Kultur 82 - 98
Workshop: Stadtteil-Entdeckungen
Gemeinwesenarbeit begegnet Quartiersmanagement 99 - 115
Workshop: Organisations-Erfahrungen
Schnelles Wachstum begegnet langsamem Wachstum 116 - 131
Workshop: Gründungs-Impulse
Neue Initiativen begegnen „alten Hasen“ 132 - 146
Workshop: Berufs-Bilder
Ausbildung begegnet Praxis
147 - 152
153 154 - 155
Abschlussplenum Konrad Hummel Woher wir kommen und wohin wir gehen Herausforderungen, Problemlösungen, Chancen
‚Wendezeiten‘ Schwarz / Weiß Fotografien von Harald Hauswald Teilnehmerliste
Vorwort
Was zusammen gehört ... Vorwort zur Dokumentation
Unsere Jahrestagung hat wenige Tage vor dem 9. November 2009 stattgefunden, der 20 Jahre nach der Maueröffnung Anlass für vielfältige Rückerinnerungen war. Wir haben uns mit unserem Thema bewusst in diesen Zusammenhang gestellt, um uns dessen bewusst zu werden, was sich für uns und unsere Arbeit durch diesen historischen Umbruch, aber auch sonst in den letzten 20 Jahren bewegt und verändert hat. Wir haben dafür wieder eine Form gewählt, in der sich persönliche und fachliche Perspektiven überschneiden. Aus den individuellen Erinnerungen, die dabei im Vordergrund stehen, entfaltet sich wie bei einem Puzzle in der Summe ein buntes und facettenreiches Gemälde. Wir haben uns bei der Wiedergabe der Diskussionen in den Arbeitsgruppen eng an das gesprochene Wort und den originalen Gesprächsverlauf gehalten. Was dadurch an Stringenz mancher Argumentationslinie fehlt, wird u.E. mehr als aufgewogen durch die spürbare Nähe zum realen Geschehen, zum engagierten offenen und freimütigen Austausch, der – wie in den Vorjahren – den besonderen Charakter unserer Tagung ausgemacht hat. Dem/der Leser/in der Dokumentation wird das Gefühl vermittelt, dabei gewesen zu sein. Und allen, die dabei waren, wird die Chance gegeben, die Diskussionen auch in den Arbeitsgruppen quasi „live“ zu erleben, die parallel getagt haben. Es war eine spannende Tagung, nicht zuletzt, weil sie an vielen Stellen Einblicke in Sichtweisen und Befindlichkeiten ermöglicht hat, die uns in unserem Handeln und im Umgang miteinander beeinflussen, ohne dass wir uns dessen in der Regel im Alltagsgeschehen bewusst sind. Einmal innehalten, sich erinnern und daraus Kraft für die Bewältigung der zukünftigen Aufgaben schöpfen: das ist der tiefere Sinn einer solchen Tagung – und das will auch die Dokumentation ermöglichen. Wir wünschen uns und Ihnen, unseren Lesern, dass das gelingt! Herzlichen Dank allen, die uns bei der Planung und Durchführung der Tagung und bei der Aufbereitung der Materialien für die Dokumentation geholfen haben: Constanze Reder für die Mitwirkung bei der Vorbereitung, Gitty Czirr und Margot Weblus für die Bearbeitung der Tonaufzeichnungen, Gabriele Hulitschke für die grafische Gestaltung, den Kolleginnen und Kollegen aus dem Bürgerhaus am Schlaatz für die Logistik, allen Moderatorinnen und Moderatoren für die Leitung der Arbeitsgruppen, den Impulsgeber/innen für die Aufbereitung ihrer Erinnerungen und Harald Hauswald für die Wende-Fotos. Mit freundlichem Gruß Herbert Scherer Geschäftsführer
Anfangsplenum
20 Jahre Mauerfall eine Zwischenbilanz
Joachim Walther Schriftsteller Die Deutschen 20 Jahre nach dem Mauerfall: vereint und doch geteilt. Vereint als Volk, geteilt in ihrer Meinung über diese Vereinigung. Die einen sind enttäuscht. Die anderen zufrieden. Ein Drittel sieht für sich sowohl Gewinne als Verluste. Umfragen und statistische Erhebungen ergeben ein verwirrendes Bild. Besonders wirr ist es hier in Ostdeutschland. Da sagen 54 Prozent der Leute, die Lage in den neuen Bundesländern habe sich seit 1990 generell verbessert. Gleichzeitig beklagt jeder vierte Ostdeutsche, dass es ihm heute schlechter gehe als vor 1989. Im Westen schimpfen viele, für den Osten abkassiert zu werden. Im Osten wird gemurrt, vom Westen ausgenutzt zu sein. Die Emotionen branden hoch, die wechselseitigen Vorurteile stehen in schönster Blüte, das gefühlte Binnenklima ist kälter als das gemessene, der geäußerte Unmut lauter als Dankbarkeit und Freude. Manchmal will mir scheinen, ich lebte in einem anderen Land als viele der schmollenden Mitbewohner, und ich frage mich, wo bei dieser subjektiven Wahrnehmung und Bewertung das Faktische, das sichtbar Erreichte und die ökonomische Bilanz bleiben? Vor allem: Wie war vor 20 Jahren die zu berücksichtigende Ausgangslage?
Haben sich doch dazumal zwei extrem ungleiche Partner vereint. Der eine brachte vier Fünftel der Masse auf die Waage, war politisch stabil, ökonomisch effizient und finanziell vermögend. Der andere, wirtschaftlich ausgezehrt, technologisch 20 Jahre zurück und politisch in Auflösung, hatte naturgemäß die entsprechend längeren Wege: von der Diktatur zur Demokratie und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Für den einen blieb zunächst alles beim Alten, für den anderen änderte sich alles. Und das war nicht der Bosheit des Dickeren geschuldet, sondern war die logische Folge des Exposés, das die Geschichte höchst selbst geschrieben hatte. Und heute? Zwar ist die Ehe vollzogen, aber ein Abstand geblieben, der jedoch schrumpft. Lag der Anteil der ostdeutschen Wirtschaft an der gesamtdeutschen Industrieproduktion 1992 gerade mal bei 3,4 Prozent, so ist der heute auf knapp 10 Prozent gestiegen. Für notorische Nostalgiker nebenbei bemerkt: Damit ist die ostdeutsche Industrieproduktion höher als zu DDR-Zeiten. Und dennoch lebt Ostdeutschland über seine Verhältnisse, was heißt, der finanzielle Transfer aus dem Westen ist größer als das im Osten Erwirtschaftete. Oder anders: Bei der Wirtschaftsleistung liegt der Ostdeutsche pro Kopf bei 70 Prozent des Westdeutschen, beim verfügbaren Einkommen jedoch bei 80 Prozent des Westniveaus. Das will mir nicht unbedingt ungerecht erscheinen, obwohl die Angleichung auf 100 Prozent weiter auf der politischen Agenda steht. Und auch wenn das Folgende so gar nicht zur Stimmung zu passen scheint, so gibt es doch schon einige ostdeutsche Überholvorgänge. Beispielsweise besitzen 57 Prozent der Ostdeutschen ein Auto, im Westen sind es nur 51 Prozent. Oder nehmen wir Suhl und Flensburg: In Thüringen verfügen die Einwohner der Stadt im Schnitt jährlich über 16.879 Euro, in Schleswig-Holstein dagegen nur über 14.874 Euro. Ich weiß, Zahlen sind geduldig, deshalb genug davon und hin zur subjektiven Wahrnehmung und Bewertung des ganzen. Da gibt es das Drittel der Unzufriedenen, doch haben nicht alle die gleichen Gründe. An der Spitze die 1989 gestürzten Machteliten-Ost, denen mein Mitgefühl am wenigsten gilt, da sie in der Regel besser berentet sind als die meisten ihrer Opfer. Dann die nicht Wenigen, deren
Freude über die deutsche Einheit von der nachfolgenden Arbeitslosigkeit zermahlen wurde, zumal die Arbeit im Osten sozial höher bewertet war und also das Schicksal des erzwungenen Nichtstuns mental verschärft erlitten wird. Sie hat es wirklich hart getroffen, und es ist kein Trost für sie zu wissen, dass 1990 nur zwei Prozent der DDR-Industrie weltmarktfähig und also überlebensfähig war. Da gibt es auch die geschürte Unzufriedenheit der sozial Abgestiegenen und Alimentierten durch die Linken und die Rechten. Apropos Linke. Gestatten Sie mir dazu einen kleinen Exkurs, da wir uns hier gerade in der Landeshauptstadt Potsdam befinden. Wie Sie wissen, droht Rot-Rot im Lande Brandenburg. Vor zwanzig Jahren hielt ich es für völlig ausgeschlossen, jemals wieder von den Nachfahren der Einheitspartei regiert oder mitregiert zu werden. Für mich, für viele, die die SED und die, die sie geführt und getragen haben, nie wieder an der Macht sehen wollten, war und bleibt das der demokratische Lackmus-Test. Nun ist das Papier im Reagenzglas Brandenburg wieder rot, dunkelrot. Ministerpräsident Platzeck und die Brandenburger SPD sind wild entschlossen, die SED-Nachfolgepartei an die Teilhabe der Macht zu hieven. Der Teufel, der sie dabei reitet, ist der bundesweite Stimmen- und Bedeutungsverlust der SPD, den die sozialdemokratischen Linken stoppen möchten durch ein Kuschelvorspiel und eine schlussendliche Vereinigung mit der postkommunistischen Linken. Statt panisch die Flucht nach vorn anzutreten, sollten sich die Sozialdemokraten auf die inhaltlich wie historisch wohl begründete Differenz zu den Kommunisten besinnen, haben sie doch ihre Erfahrungen mit denen gemacht: in der Weimarer Republik, bei der Zwangsvereinigung, den Verfolgungen danach, der Demontage Willy Brandts, um nur einiges zu nennen. Alles vergessen und vergeben? Vergessen die Vorgänge nach der deutschen Einheit: das trickreiche Mauscheln mit dem SED-Vermögen, der hinhaltende Widerstand gegen die Aufarbeitung der zweiten deutschen Diktatur, der Stimmenfang mit populistischem Schalmeienspiel und all die andere unglaubwürdige Anpassungsakrobatik? Vergessen auch, wer da in Brandenburg zur Machtteilhabe drängt? Der taktische Verzicht der sin-
genden Prinzipalin auf ein Ministeramt ist so durchsichtig wie peinlich, wenngleich der Grund wenig überraschend ist: Auch sie diente der Staatssicherheit einst als Spitzel. Die anderen inoffiziellen Stasi-Mitarbeiter an der Linkenspitze scheinen da nicht mehr zu zählen, auch dass die Mehrheit der linken Landtagsfraktion selbstverständlich früher schon Genosse war, stört nicht. Jedenfalls nicht im Lande Brandenburg, das der vormalige Ministerpräsident und einst als IM „Sekretär“ geführte Manfred Stolpe launisch als „kleine DDR“ bezeichnete. So ganz daneben lag und liegt er dabei nicht. Nach 15 Jahren Brandenburg-Erfahrung habe ich den Eindruck, nirgendwo sonst in Deutschland geht es derart ideologisch zu, nirgendwo sonst ist die Stimmung so politisch polarisiert, nirgendwo sonst gefällt man sich so in Geschichtsvergessenheit und nostalgischer Rückwendung, nirgendwo sonst wird die Demokratie so massiv geschmäht und die gewonnene Freiheit verschmäht wie hier. Und nicht zufällig installierte Brandenburg als letztes neues Bundesland einen StasiBeauftragten. Neulich sagte eine Buchhändlerin eine vereinbarte Lesung mit der Begründung ab, sie wolle keinen Ärger bekommen mit ihrer Hauptkundschaft. So weit sind wir gekommen. Stolpes langer Schlagschatten liegt noch immer über dem Land. Der gegenwärtige und zukünftige Ministerpräsident ist dessen politischer Ziehsohn, hielt ihm die Hand in schweren Tagen und meint nun, auch der Linken die Hand reichen zu müssen. Die zwei Hände im Emblem, das kennen wir schon. Und falls es an einem Parteinamen für die finale Fusion mangelt, so habe ich einen politisch probaten Vorschlag parat. Wie wäre es denn mit: Sozialistische Einheitspartei Deutschland? Das Kürzel dafür lautet: SED. Doch weiter mit den Unzufriedenen. Da gibt es die ewigen Nostalgiker, die alle Vergangenheiten verklären und die prinzipiell früher alles besser fanden. Und da gibt es die enttäuschten illusionären Erwartungen, materiell wie ideell. Materiell war es eine märchenhafte Hoffnung, dass sich auf einen Schlag die Lebensverhältnisse im Osten auf das Westniveau heben würden, und das fatale Kanzlerwort von den blühenden Landschaften hat das seine dazu getan. Und ideell gibt es die, die das Ende der Revolution Was zusammen gehört ...
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bedauern, wobei die Forderung nach einer permanenten Revolution in etwa so gescheit ist wie das Verlangen nach dem permanenten Orgasmus. Ich für meinen Teil bin froh und dankbar, in meinem Leben eine friedliche und gelungene Revolution erlebt zu haben, dazu noch in Deutschland, wo der Revolutionär, bevor er den Bahnhof besetzt, bekanntlich vorher eine Bahnsteigkarte löst. Diese Revolution war ein einmaliger Glücksfall der Geschichte, denn wann bricht schon mal ein Staat zusammen, dazu ein derart hochgerüsteter? Andere sehen darin freilich eher einen Grund zur Trauer, und mitunter ist mir, als säßen die Unzufriedenen in einer rot beflaggten Wagenburg, an deren Lagerfeuer sie die alten Lieder singen, in der Asche nach utopischer Restglut stochern und über einen dritten Weg oder, schlimmer noch, einen zweiten Sozialismus-Versuch sinnieren. Natürlich ist die trutzige Wagenburg umritten von westdeutschen Desperados, die alle Habseligkeiten und so genannten Errungenschaften, selbst die Biografien und Identitäten, rauben möchten: Eine Halluzination, die das Flimmern der Freiheit im nicht ummauerten Raum als bedrohliche Wüste wahrnimmt. Die Freiheit erscheint als Leere, als Bindungslosigkeit und Zumutung. Gegen diese Bedrängnis helfen nur stärkste Psychopharmaka: Verdrängen und Verklären des Vergangenen, Dämonisieren des Gegenwärtigen und Schwarzmalen des Zukünftigen, dazu der Traum aller Träume von einer sozial egalitären Welt, die sie an den Horizont projizieren und sich wundern, dass die sich entfernt, je näher sie ihr zu kommen glauben. Der Verlust der Utopie macht ihnen schwer zu schaffen. Dabei war die Überzeugung, auf einem heilsgeschichtlichen Weg zu sein, eine ideologische Selbstverzauberung, die offenbar einfachste sittliche Regeln außer Kraft setzen konnte, freilich als Ausdruck einer überlegenen, neuen Moral, die sich als Klassenmoral im Klassenkampf verstand und Täuschung, Terror und Verrat als Instrumente der Geburtshilfe akzeptierte, um vom „Reich der Notwendigkeit“ (nach Marx) ins kommunistisch-chiliastische „Reich der Freiheit“ zu gelangen. Brecht, revolutionär reduktionistisch, in seinem Agitationsstück „Die Maßnahme“: „Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: dass er für den Kommunismus kämpft.“ Doch birgt eine Geschichts-
auffassung in der geistesgeschichtlichen Tradition von Hegel und Marx, die der Geschichte eine gesetzmäßige Zielrichtung mit einem heilsgeschichtlichen Horizont gab, für deren Anhänger stets die Gefahr, von der Politik, die sich solcher Ideen bemächtigt, instrumentalisiert oder, bei Abweichen von dieser ideologisch kanonisierten Heilserwartung, denunziert zu werden: als Ketzer, Revisionisten, Skeptizisten und Renegaten. Die Furcht wird Wahn, der Wahn Methode, die Furcht, das Volk, der große Lümmel, könnte seiner Zunge mächtig werden - wie es denn auch im Herbst 1989 hierorts geschah. Woraus für mich aus allem folgt: Sozialutopien, um Himmels willen, nein, danke – Visionen aber, die weiter reichen als eine Legislaturperiode des deutschen Bundestages, um unser aller Überleben willen, ja! Nun jedoch zu den Zufriedenen, die der menschlichen Natur gemäß, entsprechend langweiliger scheinen. Das sind jene, die eine gute Arbeit und ein gutes Einkommen gefunden und deren Wohnverhältnisse sich erheblich verbessert haben, die genießen können, was es zu kaufen und in der großen, weiten Welt zu sehen gibt. Da sind auch die nachgewachsenen Generationen, denen die DDR historisch ebenso fern ist wie das deutsche Kaiserreich, für die Demokratie, Grundrechte und Weltoffenheit Selbstverständlichkeiten sind. Und schließlich, nicht zu vergessen, sind da die Opfer und politisch Verfolgten, die noch immer froh sind, dass der kommunistische Paradies-Versuch, der in die Hölle von Workuta oder Bautzen führte, sein Ende fand, und die darauf bestehen, die Diktatur eine Diktatur zu nennen. Was bei manchem neuen Funktionär selbst heute noch zu Stirnrunzeln führt und auch vor dem Fall der Mauer nicht gern gehört war, im Osten sowieso, doch wunderlicherweise auch in manchen Gegenden des Westens nicht. Deshalb ein weiterer Exkurs, ein kurzer Blick in den Rückspiegel West. Vor dem Untergang der DDR war es in der dominanten DDR-Forschung und Literaturgeschichtsschreibung der Bundesrepublik weitgehend verpönt, den Begriff Diktatur zu gebrauchen. Man schonte die DDR und schonte die eigenen Illusionen, freilich um den
Preis nicht nur einer Linsentrübung des Auges, sondern einer bewussten Wahrnehmungsverweigerung, um das aus linker Sicht weltwichtige Experiment, eine Utopie zu realisieren, freundlich zu begleiten, was denen im Osten als zynischer Snobismus erscheinen musste, aus komfortablem Abstand zu betrachten, ob und wie die Versuchspersonen das Experiment überstanden. Nach dem Untergang des sowjetischen Imperiums und der EpochenIllusion auch im Westen, sucht man nun den treffenden Begriff Diktatur mit mildernden Epitheta zu schönen. So etwa fand Günter Grass, die DDR sei eine „kommode“ Diktatur gewesen. Ihm und allen, die das auch gern glauben möchten, empfehle ich so freundlich wie dringlich einen tiefen Blick ins offene Archiv der DDR-Verbrechen, und wenn sie nach der Kenntnisnahme der 43.000 Toten der Speziallager nach 1945, den Zahlen und Schicksalen der politischen Häftlinge, der im stalinistischen Gulag Verschwundenen, der in der Aktion „Ungeziefer“ Zwangsumgesiedelten, der willkürlich Enteigneten und zwangsadoptierten Kinder, wenn sie nach der Lektüre der massenhaften Spitzelberichte, Verhörprotokolle und Gerichtsakten, des Missbrauchs von Minderjährigen als Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, der detaillierten Maßnahmepläne zur psychischen Vernichtung („Zersetzung“ genannt), der Berichte über erschossene Mauerflüchtlinge mit den buchhalterischen Anmerkungen über den zu hohen Munitionsverbrauch pro Tötung oder der fertigen Pläne für die Isolierungslager Ende der achtziger Jahre, den minutiös und namentlich festgelegten Verhaftungslisten nebst Einsatzort, Uhrzeit, Anzahl und Bewaffnung der Häscherkommandos noch immer meinen, die DDR-Diktatur sei „kommod“ gewesen, dann ist ihnen nicht zu helfen. Nun zu dem letzten Drittel derer, zu denen ich mich zähle. Sie sehen beides: Gewinn und Verlust, Glück und Gefahr, Fortschritt und Defizit. Sie wissen die gewonnenen persönlichen Freiheiten zu schätzen und sehen die wesentlichen Forderungen der friedlichen Revolution erfüllt: Fall der Mauer, das Aus für die Staatssicherheit, die deutsche Einheit und in deren Gefolge die demokratischen Grundrechte Reisefreiheit, Meinungsfreiheit und Wahlfreiheit.
Ebenso wichtig, wenn nicht weitaus wichtiger ist ihnen, ist mir jedoch die Befreiung von der Angst. Die Staatssicherheit und die anderen Gewaltorgane der SED waren übel genug, doch waren sie nicht der Kern des Übels. Unheilvoller war, dass sie durch ihre Allgegenwart und die ständige Drohung einen gesellschaftlichen Raum der Angst erzeugten, in dem das Virus der Furcht in die Innenwelten der Beherrschten eindrang und dort seine verheerende Wirkung des Abtötens und Lähmens verrichtete, des Abtötens und Lähmens von Widerspruch und alternativem Denken. Die Zensur erzeugt die Selbstzensur und wo das freie Wort unter Kuratel und Strafe steht, auferlegt sich der Mensch nach dem gelernten Schweigen zum Selbstschutz letztlich Denkblockaden. Diese tief verinnerlichte Angst vor dem zu weit gehenden Denken ist die subtilste und zugleich fürchterlichste Tiefenwirkung einer Diktatur. Das Machtmittel Angst war bis zuletzt konserviert in der Funktionärsformel: Wir können auch anders! Und das meinte die Option der nackten Gewalt, den Griff zur chinesischen Lösung, die noch im Oktober 1989, nicht nur in Leipzig, real drohte.
Vor diesem düsteren Geschichtshintergrund wirkt die gegenwärtige Welt erfreulich hell, möglicherweise heller, als sie es tatsächlich ist. Und doch kann ich mich freuen über die auferstandenen Altstädte, sind mir doch die traurigen Bilder des Verfalls ins Hirn gebrannt. Kann mich freuen, lesen zu dürfen, was ich möchte, weil ich mich Was zusammen gehört ...
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gut erinnern kann, was früher alles auf dem Index stand. Kann mich freuen, visumfrei frei und kurz entschlossen über den Brenner zu fahren, wo doch Rom und Sizilien lange auf der weltabgewandten Seite des Mondes lagen. Kann mich freuen über das Nachtleben und die Kneipendichte im Prenzlauer Berg, hatte ich mir doch solch eine Szenelebendigkeit zu meinen Studentenzeiten auch gewünscht. Die anhaltende Freude über die Angstfreiheit heißt jedoch nicht, unkritisch oder blind gegenüber den neuen Problemen zu sein. Zu DDR-Zeiten hingen über meinem Schreibtisch Hölderlins Verse aus dem Gedicht „Hälfte des Lebens“: Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen. Für mich damals die historische Reprise einer in die Realität gesprungenen und scharf empfundenen Metapher.
Derzeit hängt über meinem Schreibtisch auch ein Hölderlin-Zitat, ebenfalls mit Wind und Fahne, doch ist der Sinn ein völlig anderer: Die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech, im Winde aber oben stille krähet die Fahne. Das Gedicht heißt „In lieblicher Bläue“. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall scheint mir diese Metapher von bestürzender Aktualität.
Den frostklirrenden Fahnen, doch nicht dem Wind entkommen, erweist sich die Zeit als größtes Problem. Wenn wir Zeugen einer Wende waren, so einer Zeiten-Wende. Die Mauer war auch eine Barriere gegen die Zeit, ein ebenso martialischer wie lächerlicher Versuch der in Schildagorsk gebürtigen Genossen, die Zeit aufzuhalten. Ein Haarriss in der Zeitmauer genügte - und die westliche Weltzeit strömte ein als Flut, die die östliche Binnenzeit hinwegschwemmte von Wernigerode bis Wladiwostok. Ich hatte die gesetzte Zeit, die eine verstaatlichte war und zum Ende hin stagnierte und fast stillestand, über die Jahre und Jahrzehnte verinnerlicht und zu meinem Biorhythmus werden lassen, und habe nun meine liebe Mühe mit dem neuen Metronom, das schneller tickt als ich die Tasten finde. Die im Westen sind im Takt geblieben, und mancher meint beim Anblick der aus dem Rhythmus gekommenen Ostler, er sei der Sieger dieser historischen Klavierstunde. Der Überlegene hat seine Zeit gesetzt und glaubt fatalerweise, diese gelte nun weltweit und für alle Zeiten bis ans Ende der Geschichte. Das allerdings könnte tatsächlich der Anfang vom Ende sein, denn die Weltzeit ist wertfrei, sie egalisiert Grenzen und öffnet Räume, ohne sie jedoch mit etwas zu füllen außer dem großen Beschleuniger Geld. Das Geld verbindet Wirtschaftsräume, lässt die inneren Räume jedoch leer. Die Sinnfrage bleibt, es sei denn, das Geld nimmt sich selbst als letzten Sinn und hält eine für alle verbindliche Ethik und einen allseits akzeptierten neuen Wertekanon für überflüssig, da sich das nicht rechnen lässt. Wer den globalen Triumph der Weltzeit zum Endsieg des Bestehenden stilisiert, übersieht die latente Gefahr: Die Barbarei lauert dicht unterm bunten Blech der Zivilisation. „Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb“, so Max Frisch 1986. Doch auch das Blattgold des Kalbes blättert, und die Sonne gehet hoch darüber und färbet das Blech: das trotz der Krisen weiter umtanzte Idol unter den krähenden Fahnen des globalen Marketing. Der gesellschaftliche Umbruch von 1989/90 hat uns zwar das erfreuliche Ende einer Diktatur gebracht, doch nicht den dringend notwendigen Werte-Wandel, nicht den Umbau des herrschenden Paradigmas. Trotz des galop-
pierenden Klimawandels, der unübersehbaren Umweltkrise und des akuten Finanzdesasters ist keine grundlegende Transformation unserer Kultur erkennbar, die sich von Wachstumswahn und instrumenteller Vernunft verabschiedet und das konsequente Umdenken einleitet, hin zu einer von unten kommenden, solidarischen Weltgemeinschaft der Verantwortung, der Balance von Mensch und Natur. Und dabei geht es nicht um neue Parteien, sondern um eine weltweit kooperierende, neue Haltung des Einzelnen. Der einst den Blick verstellende und nun fortgefallene, kräfteverschleißende Ost-West-Showdown gibt den Blick frei auf den neuen Gegner: auf uns selbst. Sind wir, die wir heute massiv Kredite bei der Natur aufnehmen, Zinsen und Tilgung jedoch den nachfolgenden Generationen überlassen, tatsächlich weiter im Kopf als beispielsweise der Reisbauer im Gleichnis, der all seine Reispflanzen ein Stück in die Höhe zog, um schneller den maximalen Ertrag zu erreichen, und am Ende nichts in den Händen hielt? Was leitet uns nach dem trügerischen und machtmissbrauchten Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch beschrieb die enttäuschte Hoffnung als ein Gespenst, das den Rückweg zum Friedhof verloren hat. Das Prinzip Verantwortung, das einen Ausweg aus der Misere weisen könnte, wird nicht angenommen, und zwar von uns nicht, nicht etwa nur von denen da oben nicht, wie ewige Ideologen uns glauben machen wollen und die Schuld ungebrochen kämpferisch an die da oben delegieren, womit sie das Entstehen eines neuen, von innen und unten kommenden, individuell gelebten Ethos des freiwilligen Verzichts behindern. Nicht wildes Wünschen, nicht in die Ewigkeit projizierte Illusionen können dazu taugen. Die Fakten sind zur Kenntnis zu nehmen, und die sind, in die nähere Zukunft extrapoliert, nicht eben rosig. Die zu verteilende Arbeit wird weniger werden, wodurch der Bereich der Frei-Zeit weltweit wächst. Nicht die freiheitliche, sondern die freizeitliche Gesellschaft scheint auf am Rand der neuen Scheinwelt, deren Sonne rechteckig ist, ein Bildschirm, natürlich flach. Zeitvertreib - was für ein sinnlich starkes Wort: die Zeit vertreiben, als hätten wir zu viel davon, als wäre sie der unsichtbare Feind, dessen Aggregatzustand die Leere
ist, die sinnentleerte Langeweile. Wo kein Sinn ist, muss Sinn suggeriert und Sinnlichkeit simuliert werden: Die Unterhaltungsindustrie, auch das ein starkes Neo-Wort, das Fernsehen als der große Nuckel für das freizeitliche Volk, das nun nicht mehr greint und strampelt, sondern still am Gummi saugt, als wär es eine Brust. Weit produktiver als die rückwärtsgewandte Frage „Was bleibt?“ fand und finde ich die Frage: Was kommt? Was kommt, wenn wir nach dem kläglichen Ende des opferreichen Versuches, eine Utopie zu realisieren, und nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur die Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen und als warnendes Lehrstück begreifen wollen? Was kommt künftig über uns, wenn wir das eigene wie das fremde Versagen, die eingebildete wie die berechtigte Angst, die Inkonsequenz von einsichtigem Denken und nach wie vor unverantwortlichem Handeln, wenn wir die gigantisch gesteigerte Gier und die alten wie die neuen Lügen nicht erkennen und benennen und korrigieren? Dass die Hölderlin´sche liebliche Bläue eher Wunsch denn Wirklichkeit war und ist und wir, vielleicht?, durch die politischen Tragödien des vorigen Jahrhundert scharfsichtiger geworden, das eine vom andern besser zu scheiden vermögen, darin liegt mein vorsichtiger Optimismus, ein Optimismus, der skeptisch bleibt. Und dennoch setze ich weiter auf das Wort. Denn Worte haben Kraft - sie können etwas sichtbar machen, sie können Handeln bewirken und Zukunft generieren. Worte halten Zugänge zwischen Menschen offen. Worte können und sollten wider die Abgesandten des Nichts stehen, und seien die noch so eloquent. Auch das Unbenannte, im Dunkel Bleibende, Tabu und Geheimnis üben Gewalt aus, indem geglaubt werden muss, was gewusst werden kann. So wird zwingend und zwanghaft Gehorsam erzeugt. Woraus folgt, dass es in der Verantwortung der Wortführer liegt, medial manipulierte Massen zu erregen oder Individuen zu bestärken, das kollektivistische Wir zu propagieren oder das autonome, kritische Ich zu inthronisieren als höchste irdische Instanz. Die differenzierte, demokraWas zusammen gehört ...
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tische Gesellschaft, in der wir angekommen sind, erweist sich als ein Kosmos mit vielen Mikrokosmen, was verwirren und dem als Unübersichtlichkeit erscheinen kann, der an den klaren Anblick der feudalsozialistischen Machtpyramide gewöhnt war. Manch einer sucht noch immer den Staat als Stab und Stern, der stützt und leitet, und gleicht dem Besucher von Oxford, der nach der Besichtigung sämtlicher Colleges nun aber endlich die Universität zu sehen wünscht. Auch wenn der Staat, in dem wir leben, nicht mehr der alles und alle beherrschende Leviathan ist, so ist er doch unübersehbar in der Krise: hoch verschuldet, abhängig von Großbanken, Weltkonzernen und globalen Marktprozessen, bei denen er nicht mehr als Kapitän oder Steuermann, sondern lediglich als Leckflicker fungiert. Auch sein Verhältnis zum Volk, oder sagen wir vornehmer: zum Bürger, bedarf der Konturierung. Es kann nicht Endziel der Politik sein, den gesellschaftlichen Frieden durch soziale Zuwendungen zu wahren, den Bürger als Bezugsberechtigten zu sehen und ihn aus seiner Eigenverantwortung zu erlösen. Vielmehr muss es darum gehen, durch eine neu definierte politische Kultur dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben, in Freiheit politisch zu partizipieren, gestaltend einzugreifen in laufende Prozesse und Zukunftsentwürfe, Protest und Konflikt nicht als Hausfriedensbruch und Gefährdung der Demokratie zu empfinden, sondern als bestes Mittel, Demokratie zu stärken und eine Gesellschaft beieinander zu halten. Die vielen Einzelnen waren nicht nur im Herbst 1989 das Volk, sie sind es noch heute, auch wenn das nicht so scheinen mag. Volk ist nicht nur Volk, wenn es auf die Straße geht, sich durch Masse Gehör verschafft und Veränderung erzwingt. Intelligenter wäre es, wenn die Bürger nicht als Volk auf die Straße gehen müssten, um etwas zu bewirken, sondern wenn es eine ständige Kommunikation und Interaktion zwischen Oben und Unten gäbe, nicht nur wie üblich vor Wahlen aus durchsichtigem Grund ein gnädiges Hinunterneigen der Oberen, um ihr Ohr an die Masse zu legen, sondern ein Interagieren auf gleicher Augenhöhe und zu jeder Zeit, womit die unselige Trennung in Oben und Unten und das kurzfristige Denken in Legislaturperioden
aufgehoben werden könnte. Eine neuartige Bürgergesellschaft offen für Impulse von unten, offen für Alternativen, die das Etablierte bereichern, verändern oder auch, wenn es überlebt ist, abschaffen, ohne das System wechseln zu müssen. Das wäre so eine der Visionen, von denen ich sprach, Visionen, die ohne neue Sozialutopien, ohne ideologisches Parteigeklingel und revolutionäre Rhetorik auskommen und möglich sind, wenn sich Demokratie selbst beim Wort nimmt. In diesem Sinne: Ich wünsche Ihnen eine erfolgreiche Jahrestagung.
Workshop
Frauen-Power Ostfrauen begegnen Westfrauen
Input Walli Gleim Gemeinwesenverein Heerstr. Nord (Spandau) Evelyn Ulrich Nachbarschaftshaus Am Berl (Hohenschönhausen) Moderation: Reinhilde Godulla Walli Gleim: Ich gebe eine verkürzte, wahrscheinlich zugespitzte und subjektive Darstellung der letzten 30 Jahre meines Vereins und der dort enthaltenen frauenbewegten Phase. Zur Vorbereitung unserer Diskussion habe ich eine Mini-Mini-Umfrage gemacht: Was verbindest du mit Frauen-Power? Eine junge Frau, die hier am Empfang sitzt, sagte: Keine Ahnung, ich glaube, so eine feministische Gruppe von früher. Eine andere Kollegin, Streetworkerin, also eine bodenständige Frau, die Mädchenarbeit macht, meinte: Da fallen mir als erstes die Power-Girls ein in Spandau, die trainieren richtig doll, ich finde, das ist eine gute Gruppe. Und eine langjährige Kollegin und Freundin, Heidi, Anfang 60, sagte: Ja, Frauen sind immer noch aufgerufen, etwas zu bewegen, sie arbeiten unglaublich viel, und es ist weitgehend immer noch so, dass Männer entscheiden und Frauen umsetzen. Aber ich glaube, das Thema ist trotzdem veraltet. Meinen Mann habe ich auch gefragt, der sagte: Aber ihr habt doch jetzt eine Bundeskanzlerin, was wollt ihr eigentlich noch?
Ja, wir haben in einer relativ kurzen geschichtlichen Zeit unwahrscheinlich viel erreicht – ich spreche jetzt von der alten Bundesrepublik. Aber was wir erreicht haben, wie die Zeiten vorher waren, von welchem Stand wir ausgegangen sind, ist heute bei vielen jungen Frauen in Nachbarschaftseinrichtungen gar nicht mehr bekannt. Dennoch wird das, was wir erreicht haben, heute gelebt: Frauen in allen Positionen, Frauen in Führungspositionen, es ist eine unglaubliche Freiheit, die wir erreicht haben, Selbstbestimmung, Orte für Frauen, immer noch starke politische Initiativen, um keine Gewalt gegen Frauen zuzulassen, Gleichberechtigung in Beruf und Familie. Vielleicht mit Abstrichen, aber insgesamt haben wir viel erreicht. Nur das Bewusstsein über diese historische Zeit ist in weiten Teilen weg. Wie hat sich das in unserer Arbeit in den Nachbarschaftseinrichtungen niedergeschlagen? Nachbarschaftseinrichtungen waren von Anfang an keine Frauenprojekte, sondern waren für Stadtteilarbeit zuständig. Aber die Zeit zwischen 1968 und Mitte bis Ende der 80er Jahre, also sozusagen die Hochzeit der Frauenbewegung, hatte eine unwahrscheinlich starke Ausstrahlung in die Nachbarschaftseinrichtungen – das ist meine These. Was ist da alles passiert? Welche Möglichkeiten haben sich aufgetan? Welche Projekte sind entstanden? Welche Orte? Welche vielfältigen Angebote und Initiativen von Frauen? Was in der Frauenbewegung radikal diskutiert wurde, hat sich in abgemilderter Form in der Arbeit der Nachbarschaftseinrichtungen niedergeschlagen. Mein Verein war in den vierziger Jahren als ganz traditionelle Nachbarschaftseinrichtung gegründet worden. Als ich 1980 dort eintrat, arbeiteten dort drei Männer, ich war die erste Frau bei diesem ganz kleinen Verein. Es entwickelte sich dahin, dass eine zweite Frau kam, zwei Männer gingen weg. Bis 2000 hatten wir in der Nachbarschaftseinrichtung dann ausschließlich weibliche Mitarbeiterinnen, der Vorstand war weiblich, und wir haben eine ganze Menge Projekte für Frauen gemacht: Frauengruppen, Frauenbildung, fast 20 Jahre lang Frauenorientierungskurse, Beratung für Frauen, Selbsthilfegruppen für Frauen, Kurse für Frauen. Das alles hatten wir in unserer Einrichtung aufgebaut und angeboten. Aber Was zusammen gehört ...
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gleichzeitig waren wir immer Stadtteilzentrum, Nachbarschaftseinrichtung, es gab bei uns nie einen Ausschluss von Männern. Männer kamen zum Beispiel verstärkt in unsere soziale Beratung. Wir waren der Meinung: wenn schon die Leiter in den anderen Einrichtungen Männer sind, dann wollten wir wenigstens aus frauenpolitischen und berufspolitischen Gründen das Feld für Frauen frei halten und entsprechend Sozialarbeiterinnen einstellen. Ab 1995 entwickelte sich ein neues Arbeitsfeld. Dieser Stadtteil ist eine Großraumsiedlung, ein bisschen vergleichbar mit Gropiusstadt oder Märkischem Viertel, zwar ein bisschen kleiner, aber ungefähr in der gleichen Machart. Hier gab es in den neunziger Jahren einen verstärkten Zuzug von Migranten und Migrantinnen, so dass der Bedarf, mit Migrantinnen oder Migranten zu arbeiten, deutlich wurde. In diesem Bereich entstand ein sehr großer Bedarf an sozialer Beratung. Bei den Deutschkursen haben wir dann wieder hauptsächlich Angebote für Frauen gemacht, Integrationskurse, immer mit dem Aspekt, dass Migrantinnen ganz oft noch in Zwängen und teilweise in Gewaltverhältnissen leben, teilweise als sogenannte Importbräute nach Deutschland gekommen sind. Also haben wir in den Deutschkursen einen frauenpolitischen Schwerpunkt gesetzt. Ich habe ein paar Thesen aufgeschrieben, die wir zu dieser Zeit entwickelt haben, weil ich denke, dass die durchaus weiter gültig sind: Frauen sind im Stadtteil aktiver Frauen engagieren sich in Gruppen und Initiativen Frauen suchen und wollen Weiterbildung Frauen wollen sich austauschen Frauen wollen Lebensqualität für sich und ihre Familien und tun etwas dafür. Das ist meine und unsere Erfahrung aus fast 30 Jahren Arbeit in diesem Stadtteil. Wir wollen Ost und West miteinander vergleichen, aber wir sollten auch die Frage diskutieren: Wie kommt es, dass wir so viel erreicht haben, aber Feminismus oder Frauenbewegung überhaupt kein Thema mehr sind und inzwischen schon von uns selber irgendwie als peinlich angesehen werden?
Reinhilde Godulla: Gibt es bei euch immer noch keine Männer? Walli Gleim: Doch, doch, jede Menge … <Elena kommt herein, um zu fotografieren> Reinhilde Godulla: Elena, was ist für Dich Frauen-Power? Elena Scherer: Ach du liebe Güte ... meine Mutter ist Frauen-Power ... die studiert gerade noch mit Ende 40. Evelyn Ulrich: Frauen-Power ist mir ein sehr angenehmer Begriff, weil ich ganz viele Frauen kenne, die wirklich eine Menge Power haben und eine Menge aus ihrem Leben machen, nicht nur für sich, sondern auch für andere. Das ist sicher ein großer Vorteil, den Frauen von sich aus mitbringen. Die Thesen kann ich alle bestätigen, ohne dass ich an irgendeinem Wort einen Zweifel hätte. Ost- Frauen begegnen WestFrauen, dazu ist mir als erstes eingefallen, dass ich über mein Geschlecht, dass ich eine Frau bin, wirklich erst zu Zeiten der Wende nachgedacht habe, vorher war es für mich nicht wichtig. Schule, Kindergarten – ich habe nie irgendwelche Nachteile gehabt, habe meinen Berufsweg gefunden, da war überhaupt kein Problem. Mit der Wende haben sich mein Blickwinkel und auch mein Sprachgebrauch geändert. Ich weiß noch, wie befremdet ich war, als im Kaufvertrag für ein neues Auto mein Beruf als „Erzieherin“ angegeben war. Heute ist mir das wichtig. Es hat sich also viel in meinem persönlichen Erleben getan. 1991 wurde unser Verein gegründet. Wer hat diesen Verein gegründet? Frauen, die sich in diesem Stadtteil fragten, wie mit dieser Fülle neuer Gesetze umzugehen ist. Wie die Leute, die noch in Arbeit sind oder schon ihre Arbeit verloren haben, überhaupt begreifen können, was passiert, welche Gesetze gelten. Wir wollten besonders für Frauen und für Mütter etwas tun, um heraus zu finden, welche Möglichkeiten dieser neue Staat bietet, um Familien zu unterstützen. Das war der Grundgedanke für diesen Verein.
Das heißt, wir haben diesen Verein als Treffpunkt zur Begleitung, Unterstützung und Selbsthilfe gegründet, mit dem Schwerpunkt, dass sehr viele Angebote für Frauen entwickelt wurden. Frauen waren die ersten, die mutig waren und wissen wollten: Was kann ich machen, wie können wir in dieser neuen Zeit überleben, wie kann ich meine Kinder gut erziehen, wie kann ich diese Wende, die es ja staatlich gab, auch wirklich ganz persönlich nutzen, und welche Hilfen kann ich in Anspruch nehmen? Es waren auch sehr schnell Frauen, die nicht nur kamen, um Rat und Hilfe zu holen, sondern Frauen, die mitmachen wollten. Aus einem kleinen Treffpunkt „Begleitung, Unterstützung, Selbsthilfe“ ist ein großes Nachbarschaftshaus entstanden. 1998 sind wir umgezogen und haben alle Besucher mitgenommen, obwohl es von dem einen Ort zum anderen ein ganzes Stück Weg war. Wir haben ein ehemaliges Kita-Gebäude als Nachbarschaftshaus umbauen können. Es sind wieder die Frauen gewesen, die aktiv waren und gemalert haben, um das Haus überhaupt für das Wohngebiet öffnen zu können. Das ist Frauen-Power! Da wir ein Nachbarschaftshaus sein wollen, das für alle da ist, haben wir es dann über Freizeitangebote geschafft, dass Männer den Weg zu uns gefunden haben. Bis wir schließlich auch begriffen haben, dass wir auch ein paar Männer als Mitarbeiter brauchen, damit auch Männer reinkommen. Die Frauen sagten sich: Warum sollen nicht auch Männer diesen Stadtteil mit gestalten? Interessanterweise finden sich auch sehr unterschiedliche Dinge, wo sich Männer angesprochen fühlen, zum Beispiel im Kiezbeirat befinden sich vorwiegend Männer. Im Familienzentrum, das wir entwickelt haben, sind inzwischen sehr viele Väter dabei. Das finde ich sehr gut, weil ich immer davon ausgehe, dass Kinder in der Erziehung möglichst Mutter und Vater brauchen und beide in der Freizeitgestaltung und in der Auseinandersetzung mit tieferen Fragen erleben können sollten. TN: Zu dem Stichwort Frauen-Power – es gibt doch eine Karrierefrau bei euch? Das ist allgemein bekannt.
Evelyn Ulrich: Wir haben auch eine Karrierefrau, selbstverständlich, damit können wir angeben. Sie hat den Verein mit viel Power gegründet, mit vielen Frauen an ihrer Seite, jetzt ist sie Bürgermeisterin in Lichtenberg. Insofern ist es auch eine Erfolgsgeschichte von Ost-Power der Frauen, wie man sich entwickeln kann. So ein Verein kann eine gute Startbasis dafür sein, sich auch woanders einzubringen. Wir sind ja nicht nur im Nachbarschaftshaus, sondern natürlich auch in anderen Gremien in Lichtenberg vertreten und arbeiten mit politischem Engagement. TN: In der DDR hatte es keine Bedeutung, ob man junges Mädchen, Mann oder Frau war, das spielte keine Rolle. Nach der Wende aber schon. Mein Kind war 5 Jahre alt und wollte in ein Mädchenzentrum gehen. Ich dachte, so ein Quatsch, Mädchenzentrum, was soll das denn? Aber ich habe mal reingeguckt. Dann hat sich ergeben, dass
ich dort auch eine ABM-Stelle bekommen habe. Meine Meinung zu dem Punkt Mädchenarbeit und Frauenarbeit hat sich dann geändert, denn mit diesem veränderten politischen System waren andere gesellschaftliche Bedingungen gegeben. Mich hat erschreckt, wie schnell es seit der Wende innerhalb von ein paar Jahren - nötig wurde, Angebote für Mädchen und Frauen zu machen, weil die Frauen als erste arbeitslos in die Ecke gestellt wurden. In manchen Was zusammen gehört ...
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Familien hat man Kinder zur Betreuung dann zu älteren Geschwistern abgeschoben. Oder es gab Frauen, die erst mal wieder Halt finden mussten und die trotz Arbeitslosigkeit einfach noch aktiv sein wollten. Das war für mich
eine neue Erfahrung, die ich als negativ empfinde, weil es für mich ein Rückschritt ist, im Vergleich mit den relativ gesicherten Verhältnissen in der DDR. Heute sind im Nachbarschaftsheim die Besucher überwiegend Frauen. Zur Beratung kommen aber genauso viele Männer wie Frauen. Es gibt auch Selbsthilfegruppen oder Interessengruppen, wo die Anzahl der Männer nicht ganz gering ist, aber die Besucher sind eben überwiegend Frauen. Bei den Ehrenamtlichen, zum Beispiel bei der Nachhilfe, habe ich mehr Männer als Frauen, also es hängt auch von den Inhalten ab. Vielleicht noch ergänzend: Meine Mutter ist 1933 geboren, hatte damals ganz normal einen einfachen Schulabschluss, Berufsausbildung, hat später die 10. Klasse nachgeholt. Sie ist immer arbeiten gegangen, hat das Abi nachgeholt und mit Ende 30 ein Hochschulstudium gemacht. Und heute ist das so eine Ausnahmeerscheinung! Das finde ich sehr schade, weil Frauen diese Möglichkeiten doch haben. Sie müssen bloß darum kämpfen oder rausfinden, wie sie sie nutzen können. Reinhilde Godulla: Es stand gerade im Tagesspiegel ein Artikel, der sehr gut passt. Darin geht es um die unter-
schiedlichen Lebensverhältnisse von Ostfrauen und Westfrauen. Demnach sei es in der DDR gar nicht nötig gewesen, Erzieherin zu sagen. Die Frauen hätten beides gelebt, Kinder zu haben, berufstätig zu sein und noch weiter zu studieren. Wohingegen im Westen gesagt worden sei: eine Frau müsse erst mal Karriere machen, erst dann kämen Kinder. In dem Artikel steht auch, dass die Westfrauen den Feminismus erklären könnten, während die Ostfrauen ihn gelebt hätten.. TN: Ich bin im Westen aufgewachsen, in Düsseldorf, habe dann in Berlin gelebt und danach im ländlichen Raum. Wir hatten nach der Maueröffnung sehr früh Kontakte zu kulturellen Einrichtungen im Osten. Wir waren sehr beeindruckt davon, mit welcher Selbstverständlichkeit die Frauen in ihren Berufen als Ingenieurinnen usw. standen und selbstbewusster auftraten als wir es von den eher feministisch orientierten Frauentreffen gewohnt waren. Was ich zu der Zeit aber trotzdem wahrgenommen habe, was auch von Ostfrauen ausgesprochen wurde, war, dass trotz aller Gleichberechtigung und Selbstverständlichkeit Frauen in gehobenen Positionen in der DDR auch kaum vertreten waren. Damals wie heute hatte die Frau nicht nur einen Beruf, sondern drei. Der Haushalt wurde auch in der ehemaligen DDR den Frauen überlassen, ebenso wie die Kinderbetreuung. Es gab die gleichen Diskrepanzen, die wir auch hier erleben. Diese Doppel- oder Dreifachbelastungen waren eben ähnlich, trotz aller Errungenschaften und trotz allem, was viel selbstverständlicher war. Im Westen feministisch zu sein, das hat so einen Beigeschmack gekriegt. Dieser einseitige Kampf wurde irgendwann von dem Gefühl begleitet, dass die Fixierung auf die Frage gleicher Rechte nicht ausreichend ist. Die Beschäftigung damit, als die Mauer geöffnet wurde, war für die Frauen aus dem Osten erst einmal völlig überflüssig, weil sie meinten, dass sie das nicht nötig hätten, weil sie Gleichberechtigung schon gelebt hätten. Das kann ich gut nachvollziehen. Gisela Hübner: Das klafft jetzt so weit auseinander, aber ich glaube, man muss ein bisschen die Zeit bedenken. Bis 1961, also bis zum Mauerbau, spielte es in Ost und
in West eine Rolle, dass unglaublich viele Frauen ihre Männer im Krieg verloren hatten. Sie dachten nicht über Frauen-Power nach, sondern brachten ihre Familien durch. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen waren im Osten natürlich auf gleichberechtigt abgestellt, auch das ganze Versorgungssystem war so, dass Frauen ihrer Tätigkeit ohne Unterbrechung nachgehen konnten, das war überhaupt keine Frage. Aber jetzt möchte ich noch was zu der Situation der Frauen im Westen sagen, weil es da wirklich eine Frauen-Power, eine sehr große, von Frauen bewegte Zeit gegeben hat, ausgelöst durch die Studentenbewegung, durch politische Umbrüche. Frauen wollten weiter studieren, Berufe beenden, wollten raus und politisch mitwirken. Das hat eine Riesenwelle, eine politisch getragene Welle, ausgelöst, wo auch Männer mitgingen. Das war kein Gegeneinander. Auch bei den Kindergartengründungen waren damals Männer und Frauen dabei. Die Auseinandersetzungen um neue Formen, um Emanzipation, Kinder in neuer Freiheit zu erziehen, das mussten Männer und Frauen gemeinsam machen, die Elternabende jede Woche bis Mitternacht. Da lachen die Frauen, die dabei waren. Ende der 60er bzw. Anfang der 70er Jahre war das zunächst einmal für sehr bürgerliche Schichten, aber das weichte sich dann auf. Gesellschaftlich wurde darauf tatsächlich in den 70er Jahren reagiert, die Politik, SPD-Regierung – und auch danach -, unternahm unendlich viele Modellversuche, die gefördert und gestützt wurden, wo Frauen eingebunden waren. Auch das war ein Miteinander. In den 80er Jahren gab es Veränderungen, in den 90er ebenfalls. Heute sind wir wieder an so einem Punkt, wo man bei dem Begriff Feminismus ein bisschen lächelt, aber ich glaube, irgendwo ist es jetzt in den Köpfen angekommen, dass man nur gemeinsam etwas verändern kann, Männer und Frauen. Mir ist es wichtig, dass es im Westen außerhalb eines abgesicherten Rahmens zunächst mal von unten Entwicklungen gegeben hat, die bis heute Grundlage einer starken Veränderung in ganz Deutschland sind. Walli Gleim: In der Ausgangsposition haben in der Frauenbewegung damals Themen eine Rolle gespielt wie die
Rückkehr der starken Frauen nach dem Krieg, die sich alleine mit ihren Familien durchgekämpft haben. Ich habe es selber als junges Mädchen erlebt, dass ich mit meinem Schulabschluss keine Beamtenlaufbahn einschlagen konnte, aber die Jungens mit dem gleichen Schulabschluss und mit schlechteren Noten diese Laufbahn mit entsprechender Ausbildung machen konnten. Solche Dinge, dass der Ehemann entscheiden durfte, ob seine Frau arbeiten gehen durfte; dass eine Frau, die sich trennte und die eheliche Wohnung verließ, automatisch schuldig geschieden wurde; dass es überhaupt keine Verhütung gab, sodass jeder Geschlechtsverkehr in einer Schwangerschaft enden konnte, während parallel Abtreibungsverbot herrschte. Das waren mitreißende Themen. Auch dass klar war, dass die besseren Positionen den Männern vorbehalten waren. Gewalt in Familien oder überhaupt Gewalt gegen Frauen war ein Thema, Kinderbetreuung war ein Thema, da gab es bestimmte Punkte, die in der DDR nicht relevant waren, Hausarbeit war ein Thema. Allerdings kann ich der These nicht zustimmen, dass ab Ende der 80er Jahre der Trend war, wir könnten Veränderungen nur zusammen mit Männern schaffen. Ich glaube eher, dass durch so viele Erfolge die Frauen ab einem bestimmten Punkt in der Politik offene Türen eingerannt haben. Wenn inzwischen die CSU sagt, dass Frauen gleichberechtigt sein müssen. Das hatten sie auf Migranten bezogen. Wir hatten über Jahrzehnte eine absolut traditionelle Familienpolitik, die darauf aus war, dass die Frauen eben zu Hause bleiben und die Kinder am besten den ganzen Tag bei der Mutter aufgehoben sind. Also da hat sich so viel verändert in dem ganzen Klima, dass das heute niemand mehr infrage stellen würde, dass Frauen das Recht haben zu studieren, dass sie das Recht auf einen Beruf und Familie haben. Wenn ich manchmal jüngeren Kolleginnen Beispiele erzähle, wie noch Ende der 60er Jahre die Bedingungen für Frauen waren, dann denken die, dass ich von einem fernen Planeten rede. Diese Dynamik hat die Frauenbewegung befördert, deren Ursprünge zwar von intellektuellen Frauen bzw. von Studentinnen ausgegangen waren, aber diese Veränderungen haben sich rasant verbreitet. Was zusammen gehört ...
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TN: Das Thema Gewalt gegen Frauen – wie wurde damit in der DDR umgegangen?
TN: Dieses Projekt kriegt jetzt aber den Berliner Präventionspreis...
TN: Man dachte wohl: das liegt leider auch in der Natur der Menschen, dass sie auch gewalttätig sein können.
TN: Noch eine wichtige Ergänzung: Die Frauenhäuser wurden nicht von der Regierung geschaffen.
TN: Ich meine auch Missbrauch oder Missbrauch gegen Kindern …
TN: An den Punkt zu kommen, dass gewalttätige Männer die Wohnung verlassen müssen, hat sehr lange gedauert.
TN: Sagen wir mal, das Thema war nicht medienwirksam. Wenn aber ein Fall bekannt wurde, dann wurde er auch strafrechtlich verfolgt.
TN: Aus meiner Sicht ist es ganz klar, dass auf der politischen Ebene hier sehr viel erreicht wurde. Irgendwann hatten die Frauen das Gefühl: jetzt sind wir gleichberechtigt, dann ist ja alles gut, also brauchen wir keine Feministinnen mehr. Und es wurde direkt unangenehm zu sagen: ich bin Feministin. In meiner Generation war es noch durchaus üblich, hinzufügen: ich bin aber nicht gegen Männer. Ich finde das eigentlich eine ganz gefährliche Haltung, weil wir noch lange nicht gleichberechtigt sind. Ganz viele Frauen in Führungspositionen, die Macht haben, imitieren Männer nur, weil sie nicht die Energie aufgewendet haben, einen eigenen weiblichen Führungsstil zu entwickeln, sondern sie sind Manager im Kostüm. Erschreckend ist auch in der Jugendarbeit, die ich mache, wenn man sich die finanzielle Lage oder den Bildungsstand von Mädchen anschaut. Sie resignieren und sehen keine Perspektive, denn sie glauben, ohne Kerl seien sie nichts wert. Das habe ich oft erleben müssen. Selbst Mütter sagen zu ihren 16-jährigen Töchtern: sieh zu, dass du unter die Haube kommst. Ich dachte, von dieser Einstellung wären wir schon lange weg, aber ich habe das Gefühl, dass sie ganz verstärkt zurückkommt – und zwar in den bildungsferneren und armen Schichten. Wir müssen genau hinsehen, um die heutigen Formen der Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu entlarven.
TN: Es gab noch einen anderen Aspekt, der da vielleicht eine Rolle spielt. Nämlich dadurch, dass die Frauen eine größere ökonomische Unabhängigkeit hatten, konnten sie ihre Männer leichter verlassen, was auch dazu führte, dass die Scheidungsrate in der DDR erheblich höher war. Was sich jetzt wieder ins Gegenteil verkehrt. Zum Thema Gewalt in Familien war für mich faszinierend, wie die Politik in der Bundesrepublik darauf reagiert hat. Man hat zwar Frauenhäuser geschaffen, wo Frauen dann Zuflucht finden konnten, aber die Folgen der Gewalt mussten einseitig Frauen und Kinder tragen. Wenn Kinder beteiligt waren, mussten sie die Schule wechseln, die Frauen haben die Wohnung verlassen, während der Mann, der geschlagen hat, weniger betroffen war und meistens in der Wohnung blieb. Wir haben uns gesagt, wir müssten eigentlich das Übel an der Wurzel packen und was mit den Männern tun, in Form von Therapie, damit sie nicht gewalttätig werden. 1997 haben wir das Projekt „Männer gegen Gewalt“ initiiert, wo Männer, die aggressiv geworden sind, von Psychologen in der Zusammenarbeit mit der Justiz und der Polizei, therapiert und behandelt wurden. Wir sind damit in der Politik nicht auf sehr viel Gegenliebe gestoßen, denn das ist kein Thema, mit dem man politisch Furore machen kann, wenn man sich um gewalttätige Männer kümmert, sondern es ist besser angesehen, sich auf die Opferseite zu schlagen, damit man sagen kann, man hat ein Frauenhaus geschaffen.
TN: Ich möchte noch mal einen Schritt zurückgehen. Es hat auch in der DDR eine Frauenbewegung gegeben. Das war ja kein historischer Zufall, dass sie entstanden ist, sondern sie hatte handfeste Gründe, zum Beispiel die eingeschränkten Karrierechancen von Frauen in der DDR. Ein starkes Thema, soweit ich mich erinnere, war die
Frage der erstarrten Geschlechterrollen, an denen offensichtlich ein dringender Veränderungsbedarf bestand, weil dadurch aktiv Beteiligung erfahren wurde. Ein ganz starkes Thema war auch die sexuelle Selbstbestimmung, also die verordnete Heterosexualität. Ebenfalls ein starkes Thema war die verordnete Gleichberechtigung, mit der die Frau sich nicht zufrieden geben wollte, damit, dass eine Partei beschlossen hat, dass die Frau in der DDR gleichberechtigt ist. Damit war von oben her das Thema abgehakt. Aus Sicht von DDR-Frauen, die sich mittlerweile auch organisiert hatten, wurde damit ein gesellschaftliches Tabu errichtet, über Benachteiligung von Frauen in der DDR noch zu reden. Es gab dann viele Gründungen von Frauenzentren, zumindest in Berlin, die bestimmt auch ihren Ursprung in dem hatten, was im Protest der Wende entstanden ist, weil es eklatante Verschlechterungen gegeben hat. Aber es spielte für die Frauen sicher auch eine Rolle, dass sie diese Einrichtungen nach der Wende endlich schaffen konnten, die sie gerne schon länger gehabt hätten. Endlich konnten sie etwas tun und dafür streiten, wofür gestritten werden muss. TN: Zur Zeit der Wende reisten auch Frauen aus dem Ostteil nach Schöneberg, um dort eine Berufsorientierung zu machen. Sie haben es als Gewinn gesehen, im Rahmen dieser Kurse die Möglichkeit zu haben, so etwas wie Selbsterfahrung zu erleben. Häufig wurde gesagt, dass es in diesem Punkt ein Manko gab, weil sie aufgrund ihrer Dreifachbelastung nicht die Chance hatten, sich so intensiv mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Ein wichtiger Punkt war aber auch, dass viele Frauen sich gezwungen gefühlt haben, ihre Kinder in die Krippe zu geben, also sie hatten nicht das Gefühl, dass sie selbst bestimmen können, ob sie sich zwei Jahre vielleicht selbst um die Kinder kümmern. Ich habe auch sehr eindrücklich in Erinnerung, dass die ökonomische Unabhängigkeit eben dazu führt, dass eine Frau nie in so eine Abhängigkeit geraten konnte, wie das häufig bei uns in Familie und Ehe der Fall ist. Später habe ich mit Studentinnen Kontakt gehabt. Da habe ich gemerkt, dass sich das Bild jetzt verändert. Sie möchten
zum Beispiel auch eine Babyzeit, ungefähr drei Jahre nach der Geburt. Die Norm ist aber immer noch der männliche Arbeitnehmer, 38,5 Stunden, und Frauen müssen sich wahnsinnig anstrengen, um da ihren Weg zu finden. Es gibt nach wie vor große Probleme für Frauen. Viele sind gut ausgebildet, sind aber nicht berufstätig, weil sie nach längerer Berufsunterbrechung keinen Job mehr finden. Das ist eine Katastrophe. TN: Ich habe das Gefühl, dass das Leben im Osten für mich als Frau irgendwie schon vorgeformt war durch die Pflicht zu arbeiten. Denn ein Ausstieg aus dem Arbeitsprozess hat enorm viel Kraft gekostet oder eine unheilbare Krankheit vorausgesetzt. Aber verschiedene Sachen in Bezug auf Gleichberechtigung waren wirklich anders. Wenn ich ein Kind bekommen habe, dann war die Krippe eben Pflicht, das war die Grundvoraussetzung für die Rückkehr in den Beruf. Die große Schwierigkeit war,
irgendeine Form von Individualität zu leben. Es gab aber durchaus auch in Universitätsstädten gute Ansätze, vor allem über kirchliche Zusammenhänge. TN: Genau. Die Gesetzgebung gab einer Frau, die verheiratet war und geschieden wurde, immer eine sehr starke und eigenständige Position. Man ist dann auseinander gegangen, hatte sein Berufsleben und fing einfach wieder an. Ich denke, das ist schon ein gravierender Unterschied. Als ich hier im Was zusammen gehört ...
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Westen ankam, war ich schon ein bisschen erschrocken darüber, dass es ganz andere Strukturen gab, in denen ich als Frau plötzlich auf ganz anderen Positionen stand. TN: Ich habe manche meiner Vorstellungen, die ich vor 20 Jahren hatte, sehr verändert. Ich habe zum Beispiel gedacht, der überwiegende Teil der Frauen aus den alten Bundesländern seien gerne Hausfrau. Bis ich mal kapiert habe, selbst wenn sie gewollt hätten, sie konnten nicht arbeiten gehen, zumindest keine volle Stelle annehmen. Oder bis ich verstanden hatte, dass ich die drei Euro, die ich verdiene, wieder für die Kinderbetreuung ausgeben muss. In dieser Hinsicht haben wir alle eine Entwicklung durchgemacht. Aber die Mehrheit der Frauen, die ich seit 35 Jahren in der DDR gekannt habe, hat freiwillig und gerne gearbeitet. Vom Gesetz her konnten die Verheirateten so lange Hausfrau sein wie sie wollten. Und dann möchte ich nach wie vor positiv hervorheben, was sich besonders in den 70er und 80er Jahren entwickelt hat: die Unterstützung der Frauen, unabhängig vom Familienstand, wenn sie Kinder bekommen haben. Beim Babyjahr wurde mindestens 70 % deines Einkommens über ein Jahr bezahlt oder es gab Freistellungszeit bei Krankheit des Kindes, das hat sich alles mit entwickelt.
dass ich in den Antrag schreiben soll, dass ich berufstätig bin, alleinziehend mit drei Kindern. Da dachte ich, was soll denn der Quatsch? Das war für mich normal, auch wenn es nicht einfach war. Heute bewerte ich das, mit zeitlichem Abstand, ein bisschen anders, weil es wirklich eine Leistung ist, wenn man drei Kinder alleine groß zieht. Wie gesagt, es war für mich normal, ich bin auch gerne arbeiten gegangen, war ab und zu auch arbeitslos und war immer wieder froh, wenn ich wieder Arbeit hatte. Und viele Frauen, die heute keine oder nicht ausreichend Arbeit finden, haben auch nicht wenige psychische Probleme, weil sie sich mit der Arbeitslosigkeit nicht gut fühlen. Was ich auch so erschreckend finde, was aber leider für die gesellschaftliche Entwicklung nicht untypisch ist, ist, dass auch die Aggressivität und Gewalttätigkeit von Frauen und Mädchen zunimmt. Wenn man Statistiken liest, wird deutlich: es sind ja nicht nur Männer und Jungen gewalttätig. Im Rahmen des Projektes gegen Männergewalt hat die Polizei auf Anfrage auch mit gewalttätigen Frauen gearbeitet. TN: Es gab aber in der DDR die Möglichkeit für eine Frau, nicht arbeiten zu gehen und mit dem Kind zu Hause zu bleiben? TN: Wenn man zum Beispiel ledig war und mit seinem Kind zu Hause bleiben wollte, dann konnte man wegen asozialen Verhaltens angeklagt werden. Das waren durchaus bittere Erfahrungen, die einige Leute machten, die vielleicht nur aus jugendlicher Revolte heraus versucht haben, so ihren eigenen Weg zu gehen. Es gab Bitternis dadurch und auch wirklich tragische Schicksale. Ich bin 1985 nach Berlin gegangen, weil ich das reglementierte und enge Leben in Thüringen nicht mehr wollte. In Berlin habe ich mich entschieden, nicht mehr voll zu arbeiten. Ich habe davon gelebt, dass ich für eine gewisse Zeit Wetten auf der Rennbahn verkauft habe. Dann habe ich mich über den Freundeskreis schließlich doch wieder im Berufsleben integriert. Die wirklichen Außenseiter waren die Ausreisewilligen.
Mit der Selbstreflexion habe ich ein einschneidendes Erlebnis gehabt. 1994 bin ich mit meiner Tochter in eine Mutter-Kind-Gruppe gekommen. Sie hatten mir geraten,
TN: Bei den Berufsorientierungskursen für Frauen waren Berufsbilder und Berufsfindung ein wichtiger
Part. Einige der Frauen sagten, dass sie in der DDR ganz selten wirklich eine Berufswahl hatten, gerade als Frauen. Ganz viele waren auch in Männerberufen tätig, was etwas mit dem regionalen Arbeitsmarkt zu tun hatte. Aber sie meinten, wenn sie in der damaligen neuen Situation 10 oder 20 Jahre jünger gewesen wären und ihren Beruf selber hätten bestimmen können, dann hätten sie einen anderen Beruf ausgeübt. Der individuelle Berufswunsch war bei uns im Westen ja auch schwierig umzusetzen. Aber in den 70er und 80er Jahren war die Selbstfindung sehr ausgeprägt, was man wirklich wollte, und mit welchen finanziellen Mitteln man das verwirklichen konnte. Was die Frauen jetzt wirklich möchten, diese Frage ist jedenfalls auch gekommen. Wir dachten damals, dass Frauen im Bezug auf Arbeit deutlich besser dran waren als im Westen. Aber es ist ja nicht nur die Arbeit allein. TN: Wir wissen alle: was im Gesetz steht und was wirklich ist, das sind zweierlei Sachen. Selbst wenn gesetzlich klar war, dass Männer und Frauen arbeiten gehen mussten, hieß das aber auch: wenn ich mich außerhalb eines Rollenbildes bewege, bekomme ich Sanktionen zu spüren. Sich zu entscheiden, nicht zu arbeiten oder nicht sofort nach der Geburt eines Kindes arbeiten zu gehen oder aber wo anders leben zu wollen, das war schon nicht so einfach. Die Frage ist, wo und wie Frauen auf Rollen festgelegt werden. Ich frage mich, in welche Richtung wir heute an diesen Punkt gehen. TN: Ich will es noch einmal unterstreichen, dass es wirklich sehr schwierig war, nicht arbeiten zu gehen. Ich lebte in einer Partnerschaft und wagte, ein ganzes Jahr nicht zu arbeiten, was mir Schwierigkeiten gemacht hat, weil ich dadurch nicht versichert war. Die andere Seite ist, das fand ich in der DDR wirklich bemerkenswert: wenn man alleinerziehend war, war man genauso gleichgestellt und abgesichert wie jede verheiratete Frau. Das ist etwas unheimlich Positives gewesen. TN: Das empfinde ich auch so.
TN: In der DDR konnten sich weder Mädchen noch Jungen einen Beruf aussuchen. Man stellte Hochrechnungen an, wie viele Lehrer gebraucht werden, wie viele Ingenieure oder Menschen in der Landwirtschaft. Diese Ausbildungsplätze hat man kontingentiert, also das wurde gelenkt. Der Vorteil daran war, dass man fast mit 100 prozentiger Sicherheit, wenn man den Beruf erlernt hatte, danach eine Tätigkeit hatte. Wenn man sich das in den alten Bundesländern anschaut, da konnte man vielleicht den Beruf erlernen, den man wollte, aber ob man dann eine Tätigkeit bekommen hat? Ich will einfach nur sagen: Es hat alles zwei Seiten. Ich habe seit 1991/92 in der sozial-kulturellen Arbeit festgestellt, dass Frauen, was das Sozialengagement angeht, die Aktiven sind. Kurz nach der Wende habe ich auch festgestellt, dass Spezialbereiche eingerichtet wurden wie Frauenladen, Mädchenladen, Frauentreff, Frauengruppen. Man hat dann relativ schnell erkannt, dass man mit Spezialeinrichtungen alleine nicht so eine gute Überlebenschance hat. Wenn man aber diese Spezialaufgaben in ein Nachbarschaftszentrum integriert, kommen sie besser zum Tragen, weil diese Umgebung nicht stigmatisiert und nichts verfestigt, wie wenn zum Beispiel zum Arbeitslosenfrühstück nur Arbeitslose kommen. Aber ich kann nur meinen Hut ziehen vor allen aus dieser Runde, die sich nicht haben unterkriegen lassen, sondern überlegen, wie sie die Lebensqualität der Menschen verbessern können. Und was ist jetzt aktuell? TN: Wir haben übrigens keine Gleichstellungsbeauftragte mehr, sondern Gender-Beauftragte. Das ist von oben initiiert worden. Meine Frage dabei ist, ob es bewusst initiiert wurde, weil Frauen an einen Punkt gekommen sind, wo vielleicht die Gefahr bestand, dass sie weiterkommen? Aber aus meiner Sicht sind sie noch lange nicht da angekommen, wo sie hätten ankommen müssen, nämlich bei echter Gleichwertigkeit. TN: Gender ist ja ein bisschen mehr als Mann und Frau. Und weil der Begriff so sperrig ist, ziehen jetzt unentwegt Berater durch die Gegend und erklären einem, was das ist. Weil man kein Geld mehr von der BundesreWas zusammen gehört ...
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gierung kriegt, wenn man Gender-Probleme nicht auch beschrieben hat. Aber was hinter diesem Wort steht, das finde ich wieder total wichtig, nämlich dass es nicht um Mann und Frau geht, sondern um die Rollen und die Fragen, in was für Zwängen lebt man, welchen Gestaltungsspielraum hat man dabei? Das Interessante an Gender ist, dass man innerhalb dieses Rahmens Rollen neu definieren und ändern kann.
Perspektive als sehr wichtig angesehen. Wo findet sich Arbeit? Arbeit ist eine Menge da, und Frauen lassen sich ganz schnell verführen, sich auch ehrenamtlich zu engagieren. Für die Frauen selber ist es ganz wichtig, dass sie was tun, dass sie eine Anerkennung bekommen, aber das heißt ja dennoch, dass eine Menge an bezahlter Arbeit notwendig wäre. Das sollten wir in Zukunft noch stärker auf die Reihe kriegen, dass wir uns für Frauen – damit auch für uns selber – stärker einsetzen können. TN: Ich kann das nur unterstützen. Die Nachbarschaftszentren decken gut den Bereich der Unterstützung von Familien ab, aber dann wird es schwierig. Es betrifft vor allem Frauen, die sich trennen wollen, Alleinerziehende, womit auch ein großes Armutsrisiko einhergeht. Im Grunde genommen geht es nicht ohne berufliche Orientierung, also müssen Eingliederungsmöglichkeiten in den Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden, weil die ökonomische Unabhängigkeit eine ganz wichtige Lebensgrundlage ist.
Evelyn Ulrich: Ich habe vorhin angedeutet, dass ich mich seit 1991 in der Arbeitswelt als Frau fühle. Das ist in den vergangenen Jahren nicht weniger geworden, sondern hat sich eher verstärkt, weil ich sehe, dass Frauen wirklich für Frauen kämpfen müssen. Wir haben einen Punkt erreicht, an dem wir nicht wieder eine Rolle rückwärts mit uns machen lassen dürfen. Aber wo liegen unsere Möglichkeiten? Diese Diskussion sollten wir gemeinsam führen. Wenn ich mir angucke, in welchem Wohngebiet unser Nachbarschaftszentrum liegt, dann sind knapp 60 % der Kinder von Hartz IV-Leistungen abhängig. Was kann ich da groß an Frauen-Power erwarten? Trotzdem sage ich: Gerade da kann und muss über Frauen-Power etwas passieren. Welche Hilfsangebote können und müssen wir machen, um den Frauen wieder ein Rückgrat zu geben, damit sie die Chance haben, für sich selber zu kämpfen und mutig ihre Unabhängigkeit zurückerobern? Wo sind Perspektiven für Frauen? Bei uns wird eine berufliche
TN: Noch mal zum Stichwort Gender: Es wurde ja ganz schnell ein Thema, dass Jungen inzwischen in der Schule benachteiligt werden. Mädchen haben bessere Abiturnoten, während Jungen ihre Schwierigkeiten durch auffälliges Verhalten ausdrücken. Die ganze geschichtliche Zeit, in der Frauen jede Bildung verweigert wurde, während Männer alle Chancen im Beruf hatten, das ist kein Thema mehr. Nun ist das seit einiger Zeit so, dass die Frauen nicht nur aufholen, sondern überholen, und sofort kommt diese Sorge, was jetzt aus den Jungen wird. Aber was können wir jetzt tun? Ehrlich gesagt, wir – meine Generation – wir können gar nichts tun. Denn wenn junge Frauen nicht selber Anliegen entwickeln, für die sie etwas tun wollen, dann nützen die besten Angebote nichts. Man muss das noch mal ganz stark betonen. Wir hatten Anliegen und wir haben für etwas gekämpft, weil wir etwas wollten. Stichwort sexuelle Selbstbestimmung, da gehörte Homosexualität dazu, also anders zu leben, mehr Freiheit zu haben, in Wohngemeinschaften zu leben, ohne Partner zu leben, berufliche Chancen zu
haben, das waren Anliegen, die wir hatten und die wir vertreten haben. Inzwischen sind Frauenrechte fast schon Mainstream geworden. Ich glaube, junge Mädchen oder junge Frauen, und das kann man ihnen jetzt mal vorwerfen, sehen heute für sich weder Hürden noch Barrieren. Bis sie vielleicht irgendwann merken, wenn sie zu lange aus dem Beruf ausgestiegen sind, dass sie da nicht mehr reinkommen.
unter Frauen bin, das heißt ja nicht, dass Männer diese Berufe ablehnen, sondern das hat ganz schnöde finanzielle Gründe. Das heißt, die Leitung machen die Männer, weil sie dadurch ein bisschen mehr verdienen, während die Frauen die Arbeit machen. Dagegen in der Politik vorzugehen und Debatten zu führen, das könnten Frauen machen, die genug Lebenserfahrung damit haben und junge Frauen coachen können.
TN: Ich glaube, dass das nicht stimmt, dass Frauen deiner Generation nichts tun können. Wir haben so viel erreicht, was heute als normal gilt. Ich würde vehement bestreiten, dass ich alles hätte werden können. Mir hätten vielleicht formal die Wege offen gestanden. Aber ich hatte einen Mathelehrer, der mir gepredigt hat, dass ich Mathe gar nicht können kann, weil das in mein Mädchenhirn nicht reinpasst. Ich hatte einen Biolehrer, der bevorzugt mit seinem Schlüsselbund nach Mädchen geworfen hat. Das hat bewirkt, dass ich alles, was mit Naturwissenschaften zu tun hatte, einfach voll Scheiße fand, das Allerletzte. Das war eine Form, sich dagegen zu wehren, aber sie war nicht besonders effektiv, wenn man sie aus heutiger Sicht betrachtet, aber subjektiv für das eigene Überleben, dann doch recht erfolgreich. Was ich daraus in meinem Kopf mache, das ist entscheidend. Wir dürfen nicht aufhören, darüber zu reden, wo die Problematiken, die Fallstricke liegen. Man muss diese Debatten offen halten und da können wir als Stadtteileinrichtung bzw. als Nachbarschaftshäuser sehr viel tun, wir können uns Strukturen ausdenken, die den Austausch zwischen jungen und älteren Frauen möglich machen.
TN: Solche Diskussionen sind wichtig, um nach Strukturen und Orientierung zu suchen und da konkrete Wege aufzuzeigen.
TN: Ich würde da eine Aufgabe definieren, dass wir uns als Nachbarschaftseinrichtungen Möglichkeiten ausdenken, wie wir genau diese gesellschaftlichen Debatten um Rollen, Chancen, Lebensentwürfe offen halten.
TN: Wir sind doch sicher alle in verschiedenen Gremien vernetzt. Ich bin unter anderem in der Fachgruppe Familie vom DPW, wo es um Vorschläge geht, die man in die verschiedenen Politikebenen weiterleiten kann. In unserem Nachbarschaftszentrum haben wir vor allem über die Schüler, die zu uns zum Nachhilfeunterricht kommen, Kontakt zu den Familien. Diese Familien kommen seit Jahren als Besucher zu uns, also wir haben da wirklich eine gute Zusammenarbeit über die Jahre entwickelt. Alleine durch niedrig schwellige Arbeit stabilisieren wir auch ein bisschen Frauen-Power bei den Müttern oder Mädchen aus den Migrationsfamilien. Wenn sie einmal den Weg zu uns gefunden haben, sind sie auch bereit, was zu machen. Ein Beispiel: Wir haben erreicht, dass Mütter oder Mädchen wiederholt ehrenamtlich das türkische Frühstück mit wirklich viel Arbeitsaufwand vorbereitet haben. Es waren dann überwiegend deutsche Besucher, die das genutzt haben. Aber das sind Aktionen, wo man sich näher kommt und ein bisschen Selbstwertgefühl bekommt. Dabei zeigt sich auch, dass teilweise die Familien, bzw. überwiegend die Mütter, mit Fragen kommen. Es ist also auf alle Fälle möglich, zunehmend auch die Familien mit reinzuholen.
TN: Ich würde es sogar noch weiterführen, dass das nicht nur in den Nachbarschaftshäusern passierten sollte, sondern man muss zunehmend in die politische Arbeit gehen, in die kommunalen Verwaltungen, auf Landesebene. Dass ich als Sozialarbeiterin oder Erzieherin nur
TN: Ich glaube schon, dass es gesellschaftspolitisch in Bezug auf weibliches Rollenverständnis noch sehr, sehr viel zu tun gibt. Auch was die sexuelle Befreiung angeht. Ich kenne Mädchen, die vögeln wirklich durch die Gegend wie Hölle und behaupten, das wäre Freiheit. Die stehen Was zusammen gehört ...
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500 Meter neben sich und kriegen es gar nicht mehr mit, was sie da mit sich machen. Sie sagen sogar noch, dass sie genauso gut rumficken können wie die Kerle auch. Und dabei berufen sie sich auf etwas wie sexuelle Freiheit und gleiches Recht für alle. Die traditionelle Frauenrolle beinhaltet einerseits eine Machtposition, aber sie wird nur gehalten, weil tief unter dem Ganzen eine große Ohnmacht von Frauen zementiert wird. Das haben wir über Generationen so mitbekommen. Da würde ich ganz selbstkritisch viel genauer hingucken, woran wir festhalten und wo wir auf eine ganz komische Art und Weise Macht ausüben, die uns letztendlich nichts bringt. TN: Ich wollte noch auf unser Forschungszentrum hinweisen, das ein Projekt gemeinsam mit dem Mehrgenerationenhaus, dem Kreativhaus, angeht, in dem Schüler an Probleme herangeführt werden, die wir hier auch besprochen haben. Hier sind die Erfahrungen der Alten wichtig. Da sind erfahrene Leute, ob Männer oder Frauen, das spielt in dem Zusammenhang keine Rolle, die sich mit den jungen Leuten an einen Tisch setzen und deren Fragen beantworten. Es ist ja nicht so, dass die völlig desinteressiert sind, sondern sie werden von zu Hause dafür nicht sensibilisiert, man spricht darüber einfach nicht. Ich finde es insofern ganz wichtig, dass wir uns dafür einsetzen, dass die Fragen der Jungen und Mädchen beantwortet werden, die sie an uns haben. Und sei es, dass sie nur in ein Streitgespräch kommen, dass man sagt, na ja, Langeweile oder Gleichgültigkeit ist ja gut und schön, aber das kann es doch nicht sein. Dass man darüber erst mal seine eigenen Erfahrungen einbringen kann, aber auch die Kinder und Jugendlichen dazu anregt, selber zu überlegen. Genauso wie wir hier reden und davon etwas mitnehmen, so ist es auch, wenn man generationenübergreifend tätig wird. Ich finde es immer wichtig, dass man den anderen achtet. Das wird vielen jungen Leuten nicht so bewusst, auch nicht bewusst gemacht. Darauf muss man immer wieder Einfluss nehmen. TN: Mich machen solche Sachen, wie mit diesem 500 Meter neben sich Stehen, weil man einfach wild durch
die Gegend vögelt und denkt, man ist jetzt cool, total betroffen. Aber ich denke immer wieder, dass es diese berühmten Brüche braucht und auch so etwas wie Therapie, was sich an vielen Punkten gar nicht umgehen lässt, also diese Form von Reflektion mit einem Gegenüber, was man dann auch mit den ganzen Fragen aushält. Ich weiß nicht, ob man diesen Prozess wirklich abkürzen kann. Für die jungen Leute heute ist es enorm schwierig, wie sie aufwachsen, wie sie sich in einer Gruppe behaupten, mit welchen Forderungen und Problemen sie ständig in der Gruppe konfrontiert werden. Und dann noch zu wissen, was ist eigentlich menschlich, also welche Rechte habe ich auch, auf mich zu achten und mich von anderen zu distanzieren. TN: Wo werden denn mit Kindern und Jugendlichen als wertgeschätzten Persönlichkeiten Gespräche geführt? Die jungen Leute ernst zu nehmen, ist ein wichtiger Punkt in unserer Arbeit. Dadurch entsteht Persönlichkeitsbildung und auch gesellschaftliche Bildung, mehr als wenn ich nur Kritik übe. TN: Wir haben ein Community-Center in Israel besucht, wir waren auch bei anderen Projekten im europäischen Ausland. Was mich bei uns immer wieder empört, ist das geringe gesellschaftliche Ansehen, das die soziale Arbeit hier hat. Das ist in anderen Ländern ganz anders. Auch in New York waren wir erstaunt, dass Sozialarbeit dort einen richtig hohen gesellschaftlichen Status hat, weil Sozialarbeiter eben in unterschiedlichen Stadtteilen sehr viel wichtige Arbeit machen, wodurch sie tagtäglich den gesellschaftspolitischen Frieden garantieren. Diese Anerkennung ist hier noch nicht sehr ausgeprägt. TN: Aber da schließt sich doch der Kreis. Wenn wir unsere Arbeit selbstbewusst sehen, dann wird sie auch nach außen selbstbewusst dargestellt. Wir neigen aber dazu, sie selber klein zu reden und runter zu spielen. Wir sorgen selbst dafür, dass sie so dürftig ankommt, weil wir unsere Arbeit schlecht gesellschaftlich vertreten.
Workshop
Jugend – Herausforderungen Jugendarbeit begegnet Nachbarschaftsarbeit
Input Ralf Jonas Bürgerhaus Oslebshausen (Bremen) Elke Ostwaldt Outreach (Treptow-Köpenick) Stephan Preschel Outreach (Team Oberschöneweide) Steffen Kindscher Outreach (Team Oberschöneweide) Moderation: Herbert Scherer Herbert Scherer: Wir haben zu dem Thema „Jugendarbeit begegnet Nachbarschaftsarbeit“ zwei Impulsbeiträge. Stephan Preschel: Wir kommen vom Outreach-Team Mobile Jugendarbeit Berlin und arbeiten im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Ich bin 42 Jahre alt und in Berlin geboren, mein Kollege Steffen Kindscher, 30 Jahre alt, und unsere Kollegin Elke Ostwaldt. Elke Ostwaldt: Ich mache die Regionalleitung TreptowKöpenick. Heute wollen wir zu einem Konflikt in Oberschöneweide etwas erzählen und starten mit einem Film, den wir im Verlauf dieses Konflikts gemacht haben. Der soll einerseits unseren Kiez zeigen. Oberschöneweide ist ein altes Arbeiterviertel, bis zur Grenzöffnung gab es über 20.000 Arbeitsplätze in der Industrie, aktuell nur noch 3.500 Arbeitsplätze, der Bezirk ist also von einer hohen Arbeitslosigkeit betroffen. Die Hoffnung ist derzeit, dass mit der Ansiedlung der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft viele neue Studenten kommen, dass
sich das ganze Viertel belebt, und dass es eine andere Durchmischung geben wird. Hier arbeiten wir täglich mit Jugendlichen, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist. Wir machen rein aufsuchende Arbeit mit Jugendlichen im Alter von 14 bis 21 Jahren. Dann haben wir noch ein Kinderteam, das arbeitet mit Kindern im Alter von 9 bis 13 Jahren. Wir haben noch ein besonderes Ausnahmeprojekt, das ich auf der Tagung letztes Jahr bereits vorgestellt hatte, das heißt Sofja, sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit. Das ist eine Kombination von aufsuchender Familientherapie und Streetwork, also ein sehr ungewöhnliches Modell. Das haben wir entwickelt, weil wir merkten, dass es nicht nur wichtig ist, mit den Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, sondern dass wir die Eltern einbeziehen müssen. Wir arbeiten mit sogenannten Multiproblemfamilien. Das sind Familien, in denen es sehr viele familiäre Konflikte gibt. Wir arbeiten mit Jugendlichen zusammen, die notorisch Schuldistanz haben, also wenn jemand einen Hauptschulabschluss schafft, dann sind wir immer schon gut dabei. Es gibt auch einige mit einem Realschulabschluss, aber das ist eher die Ausnahme. Sehr viele Jugendliche haben große Probleme, auf dem Ausbildungsmarkt integriert zu werden, weil sie einerseits das Problem haben, überhaupt etwas kontinuierlich zu machen, andererseits verfügen sie in der Regel nicht über einen adäquaten Hauptschulabschluss. In dem Film wird deutlich, wie unterschiedlich bzw. vielfältig dieser Kiez ist, wie die Straßen aussehen, wie die Atmosphäre ist. Das Besondere ist, dass der Film die Perspektiven der Jugendlichen und Kinder zeigt, wie sie ihren Kiez sehen. Die Erwachsenen sagen immer, oh Gott, Oberschöneweide, wie sieht es denn hier aus, die vielen Problemlagen usw.. Aber die Jugendlichen sagen, dass sie das gar nicht so sehen. Sie lieben ihren Kiez, er ist ihr Zuhause – und das vermittelt unser Film. Es ist ein Film, der in Kooperation mit der Volkshochschule, einem Jugendclub und Outreach Mobile Jugendarbeit entstanden ist. Das Geld hat uns Ende letzten Jahres tatsächlich die Volkshochschule gegeben. Wir haben keinen Cent bezahlt. Die Volkshochschule ist auf Was zusammen gehört ...
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uns zugekommen und sagte, dass sie gerne eine Kooperation mit uns hätte, weil sie mit Jugendlichen arbeiten möchten. Aber das sollte nicht in ihrem Haus stattfinden, sondern in einem Jugendclub, weil die Erwachsenen sich sonst bedrängt fühlen. Das ist ungefähr die Problemlage und davon handelt dieser Film. Herbert Scherer: Wegen technischer Schwierigkeiten zeigen wir den Film später, deshalb bitten wir Ralf Jonas aus Bremen vom Bürgerhaus Oslebshausen, seinen Beitrag vorzuziehen. Das Bürgerhaus Oslebshausen in Bremen hat eine Besonderheit – bezogen auf die Jugendarbeit. Irgendwann wollten sie einen neuen Geschäftsführer einstellen. Dieser Geschäftsführer hat eine Bedingung gestellt: Er wollte diesen Job nur machen, wenn er Jugendarbeit machen kann. Er hat dann Jugendarbeit in den Mittelpunkt des Nachbarschaftshauses gestellt und zwar als attraktives Angebot für die Familien. Ralf Jonas: Eine Besonderheit bei uns ist wahrscheinlich wirklich, dass ich bei meinem Antritt ein Haus vorgefunden habe, in dem es zwar auch mal Kinder und Jugendliche gab, aber nur ganz klassisch, mal eine Kinderdisko, mal ein Kindertheater. Aber es gab keine echte Jugendarbeit. Ich habe dann ganz autodidaktisch angefangen, mit den Jugendlichen klassische Sozialarbeit zu machen. Wir haben um unser Haus herum ein riesengroßes Gelände, einen riesengroßen Spielplatz. Dorthin habe ich mir eine Jugendgruppe von der Straße geholt. Ich bin kein ausgebildeter Jugendsozialarbeiter und habe vorher noch nie etwas mit Jugendlichen zu tun gehabt. Ich hatte vorher nur mit Erwachsenen zu tun, aber das auch nur als Student, weil ich direkt nach dem Studium in diese Funktion als Geschäftsführer gekommen bin. Diese Jugendarbeit hat sich dann unglaublich entwickelt. Das hatte auch damit zu tun, dass ich als Leitung natürlich auch auf mein Team einwirken konnte. Wir hatten verschiedene Beratungen usw., weil auch die Kollegen keine konkrete Kultur- oder Sozialarbeit gemacht haben, sondern mehr administrativ tätig waren. Klassischerweise macht ja der Geschäftsführer einer solchen Einrichtung keine konkrete Gruppenarbeit. Mir hat das aber
viel Spaß gemacht. Mit der ersten Jugendgruppe, die praktisch tagtäglich im Bürgerhaus war, zusammen mit den Jugendlichen habe ich Zirkus gelernt, also ich selber habe jonglieren und andere Sachen gelernt. Daraus ist bis heute ein blühender Jugend- und Kinderzirkus geworden, der eine ganz zentrale Funktion im Bürgerhaus hat. Nach außen ist er jetzt unser Leitbild, also wir stecken alles, was wir an Geld und Personenressourcen haben, in die Kinder- und Jugendarbeit. Es gibt darüber hinaus natürlich auch alle anderen Gruppen in dem Bürgerhaus, Senioren, Familie, Kleinkinder usw. – wie überall in den Häusern auch, aber die sind mehr oder weniger sich selbst überlassen. Sie kriegen von uns zwar organisatorische Hilfen, aber alles, was wir an Personal haben, konzentriert sich auf die Kinder- und Jugendarbeit. Das hat dazu geführt, dass unsere Arbeit in der Stadt einen Stellenwert und Anerkennung bekommen hat. Wenn heute in Bremen vom Bürgerhaus Oslebshausen gesprochen wird, dann wird in erster Linie von der Kinderund Jugendarbeit gesprochen. Das hat sehr viele positive Auswirkungen gehabt, auch was die Finanzierung des Hauses angeht. Die Verhandlungen mit Stiftungen, Spendern und Geldgebern laufen leichter, weil man mit der Sache nach außen gut ankommt. Die ganze Jugendarbeit kostet unglaublich viel Geld. Ohne dass wir zusätzlich unsere Arbeitszeit dafür verwenden, Geld zu organisieren, könnten wir unsere Kinder- und Jugendarbeit nicht machen. Inzwischen werden 90 % unserer Gehälter von der Stadt getragen. Aber alles, was Programm- und Betriebskosten betrifft, müssen wir selber erwirtschaften. Inzwischen machen wir das auch zum Teil über die Kinder- und Jugendarbeit, weil wir mittlerweile auch über ein Zirkuszelt und haufenweise Equipment verfügen. Damit können die Jugendlichen auch woanders Veranstaltungen bzw. Aufführungen machen. Neben dem Zirkus hat sich noch Hip Hop herausgebildet, Tanzgeschichten. Wir haben schon drei Musicals produziert, auch mit ganz gutem Erfolg, auch teilweise verkauft. Neu dazugekommen ist eine Art KünstlerArbeit, in der Künstler zusammen mit den Kindern aktiv sind und regelmäßig Ausstellungen machen. Das alles
findet in Gröpelingen statt. Das ist in Bremen der Stadtteil, dem es am schlechtesten geht. Wobei ich persönlich finde, dass das ein ganz toller Stadtteil ist, der ganz viel buntes kulturelles Leben hat. In den Medien werden eben nur die negativen Sachen hochgekocht, alles andere findet kaum Erwähnung. Ich finde, es ist zwar ein sehr belasteter Stadtteil, ganz klar, die Werft AG Weser ist weg, hohe Arbeitslosigkeit, hoher Migrantenanteil, aber das ist kein Hindernis für eine gut funktionierende Kinder- und Jugendarbeit.
Ralf Jonas: 1988. Zurzeit mache ich vier Gruppen pro Woche, mit Vor- und Nachbereitung sind das 4 x 4 Stunden, insofern kann man sagen, Hälfte – Hälfte.
TN: Was war Ihr Beweggrund, die Jugendarbeit zur Bedingung zu machen?
TN: Wie viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene gehen da pro Woche ein und aus?
Ralf Jonas: Als ich anfing, habe ich gesehen, dass mir etwas in diesem Haus fehlte. Nach und nach habe ich die Struktur im Haus verändert, die Vorstandsstruktur, die Mitbestimmungsstruktur, weil die nur von Alten besetzt war. Wir haben zum Beispiel den Vorstand von 12 auf 3 Leute reduziert. Auf jeden Fall haben wir dem Ganzen eine Linie gegeben, finde ich. Persönlich habe ich Spaß an dieser Kinderarbeit gefunden. Im Haus gab es auch viele Konflikte, aber die sind immer fruchtbar. Wir haben auch Senioren im Haus. Es gibt immer mal wieder Konflikte, das wäre ja vollkommen unnormal, wenn nicht, aber sie sind eher befruchtend und inzwischen vertragen sich alle.
Ralf Jonas: Das sind 150 Kinder und Jugendliche. Insgesamt haben wir pro Jahr einen Besucherdurchlauf von etwas über 5.000.
TN: Das war die Kurzfassung. TN: Es ist so gewesen, dass Ralf tatsächlich gesagt hat, ich will nicht nur Geschäftsführer sein, sondern Gruppenarbeit machen. Er hatte Kinder bzw. Jugendliche, die im Heim untergebracht werden sollten. Wir sind mit ihnen zu einer staatlichen Stelle der Erziehungshilfe gegangen und haben gesagt: Wir machen Angebote für diese Kinder, finanziert die, dann spart ihr euch für sie die Heimkosten. Die haben gesagt: nee, Geld kriegt ihr nicht. Punkt. Das wurde der Ausgangspunkt unserer Jugendarbeit. Herbert Scherer: Wann hat das angefangen?
Herbert Scherer: Ist das Bürgerhaus Oslebshausen eine kleine Einrichtung, wo so etwas geht? Ralf Jonas: Ja. Das Bürgerhaus selber hat einen großen Saal für 160 Leute, einen kleinen Saal, ein paar Gruppenräume – und das war’s.
TN: Worin besteht das Angebot? Das sind eher geschlossene Gruppen und kein offenes Angebot? Ralf Jonas: Ja. Es gab Versuche, im normalen Tagesgeschäft verschiedene offene Angebote zu machen. Aber das war eher schwierig, weil wir dafür nicht die Personaldecke hatten. Jetzt gibt es die Gruppenarbeit im Bereich Zirkus, Theater, Tanz und Musik. Es gibt den Bereich Hip Hop. Da ist eine Besonderheit, dass die Jugendlichen selber einen Schlüssel haben. Sie können kommen und gehen wie sie wollen und Räume nutzen. Das ist meistens in der Nacht und am Wochenende, wenn nix los ist, dann sind die oft im Haus und trainieren. Das ist sozusagen unser offener Anteil. Das funktioniert, weil wir zwei oder drei inzwischen 25-Jährige haben, die seit 20 Jahren im Bürgerhaus sind und auch die Verantwortung übernehmen. Wir machen also nicht das klassische offene Haus, sondern ganz klar Gruppenarbeit. Die Gruppen versuchen immer, verschiedene Kinder unterschiedlicher Herkunft in die Gruppen zu integrieren. Die Nachfrage an den Gruppen ist sehr hoch, wir können die gar nicht alle unterbringen. Darüber, dass für die Gruppenangebote Teilnahmebeiträge bezahlt werden müssen, weil sie darüber teilfinanziert werden, trifft man ja auch Was zusammen gehört ...
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eine Auswahl im Stadtteil. Hartz IV-Empfänger kommen dann eher nicht, wenn es Geld kostet, aber da versuchen wir eben durch Kontakte zu Sozialen Diensten usw. auch einen Teil zu integrieren. Aber das Bürgerhaus hat noch eine andere Besonderheit: wir werden nicht gefördert vom Senator für Soziales, sondern vom Senator für Kultur. Von uns wird erwartet, dass wir schöne, kulturelle Sachen mit Kindern machen. Damit bin ich auch nicht ganz zufrieden, weil ich auch viele Probleme im Stadtteil sehe, die wir damit nicht bewältigen. Aber andererseits sehe ich ganz viele Kinder und Jugendliche, die dadurch auch einen entscheidenden Kick für ihr Leben kriegen, was in die Hand nehmen, was zu verändern, ihren Hauptschulabschluss zu schaffen, teilweise dann hinterher auch nach Berlin oder nach London zur Zirkusschule zu gehen. Oder sie machen sich ohne Hauptschulabschluss als Tänzer in irgendeiner Form selbstständig und überleben so.
Timm Lehmann: Welche Konflikte gibt es und wie löst ihr sie? Mein Hintergrund: Ich komme aus einem Mehrgenerationenhaus in Berlin-Zehlendorf. Wir haben den Vorteil, dass es vorher eine Jugendfreizeiteinrichtung war. Das heißt, das Haus hatte ein Image, das mit Jugendarbeit zu tun hatte. Wir machen recht erfolgreich die Arbeit, die du auch beschreibst, dass ihr als Haus von der Arbeit mit den Kindern profitiert. Diese klassischen Konfliktsi-
tuationen zwischen Jugendlichen und Erwachsenen, was Lärm, Ordnung oder Sauberkeit angeht, bearbeiten wir mit sehr strengen Regeln. Dadurch haben wir Interventionsmöglichkeiten. Das ist sehr arbeitsintensiv, weil die Durchsetzung der Regeln unseren Mitarbeitern obliegt. Das funktioniert nur, wenn wir auch noch jemand haben, der mit den Jugendlichen arbeitet, die die Regeln nicht einhalten können. Das ist unser Spannungsfeld und ich bin neugierig, wie ihr damit umgeht. Ralf Jonas: Klare Regeln sind absolut wichtig. Sie sind die einzige Chance zum Ausgleich in Konflikten zwischen Jugendlichen und Senioren. Meistens geht es ja um belanglose Sachen: dass Jugendliche die Füße auf die Tische legen, der Klassiker, oder die Musik aus dem Saal zu laut ist, also richtig große Konflikte habe ich persönlich noch nicht erlebt. Bei diesen Kleinigkeiten ist es wichtig, dass man schnell ins Gespräch kommt, dass man Jugendliche und Senioren konfrontiert, sie sich auch gegenseitig anschreien lässt. Man sollte sie die Sache auf den Punkt bringen lassen. Teilweise ist es auch witzig, was dabei rauskommt, denn unsere Senioren machen zum Beispiel auch Musik, die ganz schrecklich ist, also mir ist der Hip Hop lieber. Wenn die Jugendlichen dann sagen, dass sie die Quetschkommode der Senioren auch furchtbar finden. Die Leute müssen in ein direktes Gespräch mit einander kommen, was ja schwer ist, weil das nicht über Beziehungen zwischen Einzelnen geht. Aber durch ein gutes Beziehungsgeflecht geht das. Und ganz klare Regeln für alle, nicht nur für die Jugendlichen, das ist wichtig. Ralf Jonas: Jedes Jahr organisieren wir ungefähr vier Punkte, an denen Jugendliche oder Kinder im Haus auftreten. Das führte deutlich zu einer erhöhten Akzeptanz gegenüber den Jugendlichen. Ein normaler deutscher Senior guckt erst mal schief, wenn da vier Hip Hopper reinkommen, aber wenn sie die mal auf der Bühne erlebt haben oder nach dem Auftritt mal persönlich kennen lernen, lösen sich Vorbehalte oft in Luft auf. Meine Erfahrung ist, dass gerade diese Jugendlichen ausgesprochen höflich zu älteren Menschen sind.
TN: Du sagtest, wenn sich Beziehungen zwischen den Älteren und den Jüngeren entwickeln, dann wird die Situation anders. Schafft ihr gezielt Möglichkeiten, dass sich Alte und Junge treffen und austauschen können und ggf. sogar etwas miteinander machen? Oder ist das ganz strikt und säuberlich getrennt? Ralf Jonas: Das passiert leider nicht oft genug, aber es passiert an bestimmten Punkten. Wir haben zum Beispiel mal ein Projekt gemacht, wo unsere Senioren-Theatergruppe mit der Jugendtheatergruppe und mit den Breakdancern zusammen ein Stück gemacht hat. Das war ganz, ganz schwierig und hat mich viele Nerven und graue Haare gekostet. Es war unglaublich anstrengend, aber es war wirklich so, dass die Jugendlichen mit älteren Leuten in die Disco gegangen sind. Das hätte ich mir nie vorstellen können. TN: Das ist eine echte Erfolgsmeldung. Ralf Jonas: Die Jugendlichen haben einen Kreis gebildet, als eine 70-jährige Frau getanzt hat, um sie sozusagen zu beschützen. Das ist sehr gut, aber das passiert natürlich nur punktuell. Schwierig ist auch, Sachen zu finden, die man da zusammenbringen kann. Herbert Scherer: Wir sehen uns jetzt erst einmal den Film an. <Filmvorführung „Hier“ vom Outreach-Team Oberschöneweide-http://www.youtube.com/watch?v=jk4Z9W6_ 6NQ&feature=channel> Stephan Preschel: Dieser Film ist das Endprodukt eines Prozesses, der in Oberschöneweide durch eine Krisensituation entstanden ist. Verschiedene Institutionen waren darin involviert, zum Beispiel eine Grundschule, eine Volkshochschule. Dann kommt dazu das Grünflächenamt, das Sportamt, die haben dort Kinderspielplätze und Sportplätze. Und das Mehrgenerationenhaus KES, was vielleicht vergleichbar ist mit den Häusern des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit, nur eben kommunal, also wie
ein Nachbarschaftsheim. Die haben auf einmal wahnsinnig Stress auf diesem Platz gehabt. Das ist ein Areal, auf dem Kinder und Jugendliche auf unterschiedliche Weise ihre Freizeit verbringen. Das ist öffentlicher Raum und sie stören da eben. Die Situation hat sich über einen gewissen Zeitraum zugespitzt. Daraufhin haben sich verschiedene Versuche entwickelt, wie man dieser Situation in irgendeiner Form Herr werden könnte. Es wurde die Polizei verschärft eingesetzt, aber auch private Sicherheitsdienste. Aber alle Beteiligten haben mit der Zeit gemerkt, dass das keine Lösung ist und man etwas für die Kinder und Jugendlichen tun müsste. In diesem Kontext kam Outreach, wir waren dort anwesend und haben Angebote unterbreitet. Unsere Kollegen haben mit den Kindern gearbeitet, wir hatten dann den Kontakt zu den Jugendlichen. Wir haben uns mit den Kollegen aus den anderen Institutionen an einen Tisch gesetzt und versucht Ideen zu entwickeln. Was kann man machen? Steffen Kindscher: Es gibt dort einen Schulhof, einen Spielplatz, nebenan ist ein Sportplatz, Jungs, die Fußball spielen, aber auch andere Gruppen, die auf den Fußballplatz gehen, um dort zu saufen. Jugendliche, die sich auf dem Kinderspielplatz verkrümeln, sich da verstecken und dort kiffen und andere Sachen machen. Andererseits ist toll an dem Platz, dass man von jedem Passanten gesehen werden kann, der Platz ist absolut zentral, deshalb wurde er sehr „in“. In diesem Jahr zum Beispiel ist auf diesem Platz gar nichts mehr los. Diese Phänomene kann man schwer erklären. Die vielen Besucher sorgten natürlich für entsprechende Lärmbelästigung. Die Nachbarschaft hat da mitgemacht, sie haben nachts die Fenster aufgerissen und mit ihrer Musik eine Gegenbeschallung gestartet, also es waren richtig absurde Zustände. Die Nutzer der Volkshochschule fühlten sich gestört, weil da Jugendliche rumhingen. Es kam nie zu Übergriffen, aber es gab ein subjektives Unsicherheitsgefühl. Die Institutionen sprangen natürlich im Dreieck. Der Direktor der Grundschule hatte auch zwei persönliche Attacken erfahren, es wurde in dem Jahr zweimal von ehemaligen Schülern eingebrochen in dieWas zusammen gehört ...
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ser Schule. Beim ersten Mal haben sie die Schule mit Feuerlöschern dekoriert, sodass der Schulbetrieb zwei Tage gestört war, der zweite Einbruch fand im September statt. Elke Ostwaldt: Die Schule musste tatsächlich zwei Tage lang geschlossen werden. Das hat natürlich verständlicherweise für so viel Aufruhr und Furore gesorgt, dass der Direktor der Grundschule gesagt hat, dass sie einen Zaun um ihren Schulhof bauen. Dieser Schulhof war bislang immer frei zugänglich gewesen, die Kollegen von unserem Kinderteam haben dort Angebote für die Kinder gemacht. Aufgrund dieses Einbruchs stand dann nach den Sommerferien der Zaun. Auch wir durften den Schulhof nicht mehr betreten. Das war auch eine Kritik an mir, denn wir wussten ja, wer die Bösewichte waren und hätten schon beim Einbruch eingreifen müssen, um das zu bearbeiten. Da aber drumherum so viel Stress war, sind wir dort nicht eingeschritten. Meine Sicht ist die der Regionalleitung, eine andere Sicht ist diejenige der Kollegen, und so tauschen wir uns im Team auch immer aus. Es gibt unterschiedliche Perspektiven: die der Kinder und Jugendlichen, aber auch die Perspektive der Anwohner. Steffen Kindscher: Dieses Gelände war seit Jahren eine Dauerbaustelle, die schlecht abgesichert war. Die Kinder und Jugendlichen sind auf Baugerüsten herumgeturnt. Die Dozenten der VHS haben manchmal vergessen, die Fenster zu schließen, was die Jugendlichen gemerkt haben und in den Räumen drin waren. Es kam zu ständigen Beschmierungen, also die Schule hatte eine Wand geweißt und eine Woche später war sie wieder mit Graffitis beschmiert. Das alles waren Gründe für den Schuldirektor, so restriktiv zu reagieren. Stephan Preschel: Von der Grundschule wurde dieser Schulhof für das Gemeinwesen und den Sozialraum geöffnet, finanziert aus EU-Mitteln. Das ist die eine Seite, es wurde entsprechend Geld für Materialien für die Umgestaltung zur Verfügung gestellt. Nicht bedacht wurde dabei nach meiner Meinung: wenn dieser öffentliche
Raum zur Verfügung gestellt wird, dann muss er auch von den Institutionen, die herum sind, getragen werden, wofür es Angebote und Personal geben muss. Ab einem bestimmten Zeitpunkt hat das den Schuldirektor so genervt, dass er es vorzog, den Schulhof zu schließen, damit es nicht mehr zum Vandalismus kommt. Steffen Kindscher: Dann passierte natürlich, was immer passiert: Es bilden sich Interessengruppen und runde Tische, wo sich die erbosten Eltern und Lehrer einfinden und das Problem letztendlich auf die Jugendlichen zentrieren. Die allgemeine und beste Lösung erschien in dem Moment, die Polizeipräsenz zu erhöhen, einen Wachschutz zu engagieren und einen Zaun zu bauen. Der Einzige, der an dieser Sitzung etwas für die Jugendlichen gesagt hat, war der Jugendbeauftragte der Polizei. Er meinte, wenn wir darüber nachdenken, sollten wir die Jugendlichen mit einbeziehen. Ein kluger Satz, meine ich. Die erbosten Eltern, die ja nie auf den Spielplatz gehen konnten, die trafen wir aber bei unseren Streetwork-Rundgängen komischerweise nie im Kiez, die nutzten auch diesen Spielplatz nicht oder haben das auch gar nicht probiert. Aber man hat dieses Forum benutzt, um erst mal verbale Angriffe zu starten. Am Ende saßen dann wieder die üblichen Verdächtigen in einer Vernetzungsrunde, die Mitarbeiter von Outreach, die Mitarbeiter von der VHS, des Seniorenzentrums, eine engagierte Lehrerin, die Konrektorin der Schule. In diesem Rahmen haben wir versucht, kreativ mit dieser Situation umzugehen. Die Leiterin der VHS kam dann auf eine ganz tolle Idee, weil sie meinte, wir sollten mal was Positives machen. Sie hat ein Projekt, das Junge VHS heißt, aber sie hatte das Problem, dass wenige Besucher kamen, weil die Jungen einfach keine Lust haben, in die VHS reinzugehen. So hat man dann mit materiellen Ressourcen der VHS angefangen. Die hatten auch einen professionellen Kameramann, zwei Theaterpädagogen, eine Tanzlehrerin. Der absolute Clou war, dass wir den deutschen amtierenden Meister im Beatboxen dabei hatten, der war natürlich wie ein Magnet für die Jugendlichen. Wir haben unsererseits noch unsere Multiplikatoren ins Spiel gebracht, den Künstler für urbane Lebensweltgestaltung, also einen Sprayer.
Unsere Multiplikatoren waren dann letztendlich für die Jugendlichen viel wichtiger als die Ideen der Theaterpädagogen, weil sie aus dem Hip Hop-Bereich kamen. Die haben eine Hip Hop-Gruppe im Kiez, die nennt sich SOH, Sound of History. Wir stehen mit ihnen schon seit mehreren Jahren im Kontakt und es haben sich gute Beziehungen entwickelt, die Jungs sind vernünftig.
40 Jugendliche vor der Volkshochschule stehen, dann möchte man als Erwachsener da nicht unbedingt reingehen. Es kam eben darauf an zu gucken, auch mit der Volkshochschule zu überlegenen, was man tun kann.
Stephan Preschel: Wobei man dazu noch sagen muss, dass diese Jungs auch Jugendliche sind, mit denen mein Kollege und ich in der Einzelfallsituation arbeiten, das heißt, es sind sehr stark gewachsene Beziehungen, sodass wir sie dafür auch begeistern konnten. Durch diese dreijährige Beziehungsarbeit und die Bindung, die zwischen diesen Jungs und unserer Arbeit entstanden war, haben sie sich völlig verändert, sodass diese Crew als Multiplikatoren und als Seminarleiter im Rahmen dieses Workshops das, was sie selber gelernt haben, an Kleinere bzw. Kinder weitergegeben haben. Elke Ostwaldt: Ich meine, die Eltern haben sich wegen des Spielplatzes zu Recht gesperrt, weil bis zu 60 Kids manchmal dort waren, manchmal bis in die Nachtstunden, Mädchen wie Jungen, die den Platz bevölkert haben. Das kennen wir aus unserer Arbeit: Jugendliche nehmen sich ihren Raum. Ab einem gewissen Alter sind Jugendliche auch ziemlich raumgreifend und so haben sie sich diesen Platz erobert. Für Eltern und ihre Kinder war dann kein Platz mehr da. Peu a peu, über diesen Film, auch über andere Sachen, ist es uns gelungen, dass Eltern und Kinder diesen Platz wieder benutzen konnten, weil die Jugendlichen einen anderen bekommen haben. Es ist wichtig, aus unterschiedlichen Perspektiven hinzusehen. Natürlich hatten die Eltern ein Recht sich zu beschweren, natürlich hatte die Volkshochschule ein Recht, sich zu beschweren, und natürlich hatte die Schule ein Recht, sich zu beschweren. Nur dass der Großteil der Erwachsenen gesagt hat, dass sie diese Jugendlichen weg haben wollten ...Ich besuche selber Volkshochschulkurse und möchte dort auch nicht angepöbelt werden, aber diese Jugendlichen haben erst mal nichts gemacht. Sie standen einfach da, es war eine gefühlte Bedrohung, denn wenn
Die Volkshochschule war der Partner, der gesagt hat: Okay, wir haben Mittel zur Verfügung, die geben wir euch gerne. Wir haben gute Leute zur Verfügung, die geben wir euch auch, aber welche Räumlichkeiten sind da? In der Volkshochschule selber wäre es ein bisschen schwierig gewesen – verständlicherweise, weil dann hätten sich die Jugendlichen die ganze Volkshochschule angeeignet. Das wollte die Volkshochschule natürlich nicht. Also haben wir nach Räumlichkeiten gesucht. Da hatten wir – Gott sei Dank – einen guten Jugendclub, das Inhouse, der uns diese Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt hat. Das Inhouse steht leider im Moment kurz vor der Schließung, aber das ist bis jetzt für uns eine unheimlich gute Ressource im Sozialraum, die wir nutzen können. Steffen Kindscher: Der Jugendclub steht jetzt einigermaßen unter Druck. Der Bezirk wird dort wahrscheinlich Geld rausziehen. Der junge Hip Hopper, der vor drei Jahren noch Jugendliche von dem Haus weggehalten hat, hat über eine Internetcommunity, über die Jugendliche sehr viel kommunizieren, die Nachricht rausgegeben: Jugendliche, macht euch auf ins Inhouse, das muss gerettet werden! Da kamen sogar Jugendliche aus AltWas zusammen gehört ...
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glienicke, einem ganz anderen Stadtteil. Was macht ihr denn hier? Na ja, wir sollen den Jugendclub retten. Das ist einfach eine Qualität, die man dann auch wieder in den Sozialraum geben kann, indem man diese Beziehungen, die man zu den Jugendlichen hat, auch für alle anderen
Veranstalter. Über unseren Kontakt können wir Unterstützung geben, damit die miteinander in Kontakt kommen, damit es zu so einer positiven Situation kommen kann. Herbert Scherer: Was lehrt uns dieses Beispiel? Oder welche Fragen tauchen da auf? Man könnte die These aufstellen: Das strenge Vorgehen des Direktors, dass er da einen Zaun hingestellt hat, hat einen Prozess in Gang gesetzt, der letztendlich positiv war. Vorhin ist gesagt worden, es ist wichtig, wenn solche Regeln bestimmte Jugendliche ausschließen, dass dann jemand da ist, der das auffängt, sodass sie nicht als Menschen verdrängt werden, sondern nur aus dem Raum. Seht ihr das mit dem Direktor jetzt anders? Ihr wart ja wahrscheinlich ziemlich sauer über dessen Reaktion, oder?
öffnet und den Jugendlichen auch Möglichkeiten gibt, selber Kontakte zu knüpfen. Das tun diese Jugendlichen mittlerweile. Sie organisieren sich selber, sind jetzt zum zweiten Mal auf einem Stadtteilfest, das wir jedes Jahr haben, auf einer Bühne aufgetreten, ohne dass es zu irgendwelchen Konflikten kam. Ein schöner Nebeneffekt dabei war: Dieses Stadtteilfest war früher für Jugendliche nicht attraktiv. Seitdem diese Hip Hop-Crew dort ist, kommen sie und gucken sich friedlich ein Konzert an. Das hat natürlich auch eine Qualität für den Veranstalter, der freut sich darüber. Stephan Preschel: Aber der Veranstalter ist vor zwei Jahren noch nicht selber auf die Idee gekommen, dass man so etwas auf so einer Veranstaltung installieren könnte, um so ein Fest für Jugendliche attraktiver zu machen. Das entstand durch unsere aufsuchende mobile Streetwork-Arbeit. Es geht nicht nur darum, dass wir durch den Kiez laufen und gucken, wo die Jugendgruppen sind, sondern unsere Arbeit beinhaltet auch Kontaktpflege zu den verschiedenen Institutionen bzw. verschiedenen Schnittstellen, wie in dem Fall dieser
Elke Ostwaldt: Ihr habt ja im Film gesehen, es sind Kinder und Jugendliche – und für die Kinder ist das Abschotten des Schulhofs fatal, weil sie dort einen geschützten Raum hatten, Schulhöfe bieten das ja. Die Jugendlichen sind dort nicht so ohne weiteres hingekommen, aber die Kinder konnten wirklich wunderbare Spiele dort spielen, und zwar wirklich spielerisch, Hüpfespiele usw. haben sie da gemacht. Aber dieser Raum ist definitiv weg. Das ist wirklich sehr, sehr schade. Deswegen waren wir natürlich mehr als wütend, zumal sich dann alles auf dem Spielplatz gedrängt hat. Da haben sich die Kinder gedrängt, die Jugendlichen auch, also das war für uns nicht positiv, sondern das war für uns wirklich ein riesiges Problem. Und wir haben auch nach wie vor große Schwierigkeiten dort in der Kooperation mit dem Schuldirektor. Das ist nicht einfach. Steffen Kindscher: Der zweite Einbruch hatte noch einen anderen Hintergrund. Das waren Schwellen-Jugendliche, also eine ganz eigenartige Gruppe, der Jüngste ist 13, der Älteste 19, Fußball ist ihr Leben, und irgendwie haben die alle einfach einen Brast – wir kennen die Gruppe ganz genau – auf ihren ehemaligen Direktor. Sie dachten, dass sie ihm wieder mal eins auswischen, alle Pädagogen sind gerade beim Stadtteilfest, also sind sie in die Schule ein-
gestiegen. Was sie nicht wussten, war, dass diese Räume zu der Kinder-, Eltern- und Senioreneinrichtung gehörten, die sie bei der Schule angemietet hatte. In einem Raum waren Gegenstände von einer Seniorengruppe gelagert, die einbrechenden Jugendlichen fanden z.B. einen Ghettoblaster und mehrere Kisten mit Sekt. Die Leiterin dieser Kinder-, Eltern- und Senioreneinrichtung ist eine sehr gute Pädagogin, beim öffentlichen Träger angestellt, aber sehr kommunikationsbereit und uns sehr zugewandt. Wir haben es geschafft, über das Team von Elke, Stephan und Steffen, diese Jugendgruppe, die dort eingestiegen ist, so zu beackern, dass die bereit waren, sich zu entschuldigen, was eine riesengroße Geste war. Es hat Ewigkeiten gedauert, bis es zu diesem Termin gekommen ist, bis die endlich mal erschienen sind. Jetzt kommt der Hintergrund dieser Geschichte, warum die Senioren und Ines, die Leiterin, so erbost waren: Die Sektflaschen hatten eine rituelle Bedeutung, weil das eine Seniorengruppe von krebskranken Patienten war. Wenn ein Mitglied aus der Gruppe gestorben war, haben sie eine Sektflasche geöffnet. Als den jungen Menschen das erklärt wurde, waren sie sehr schwer betroffen. Damit hatte niemand gerechnet, dass da so ein Hintergrund sein könnte. Das hat bei denen so viel bewegt, dass sich alle Beteiligten mittlerweile in die Augen schauen können, sie grüßen sich freundlich, also da ist einfach Beziehungsarbeit passiert, weil die Schwellen abgebaut wurden. Das kann man fördern und das ist auch Stadtteilarbeit, nämlich den Kiez zu entanonymisieren. Stephan Preschel: Im Rahmen dieses Prozesses hatten wir außer diesem Film noch ein paar andere Ideen. Es gab zum Beispiel im Rahmen des runden Tisches die Idee eines Subotniks. Ein Subotnik ist ein freiwilliger Arbeitseinsatz. Mit den Kindern, den Jugendlichen und den verschiedenen Institutionen gemeinsam sollten an einem bestimmten Tag auf diesem Areal der Müll und die Schmierereien beseitigt werden. Das wurde auch erfolgreich durchgeführt. Stephan Preschel: Das Tolle war, dass die Rentner der Senioreneinrichtung da für die Jugendlichen gegrillt und
Kuchen gebacken haben. Und nach diesem Arbeitseinsatz haben sie alle gemeinsam gegessen und miteinander geredet. Das war eigentlich das Schönste an diesem Tag, weil er das gebracht hat, was wir wollten, nämlich Kommunikation. Elke Ostwaldt: Das waren nicht Unmengen von Menschen, es waren auch nicht wahnsinnig viele Jugendliche, aber es war eine kleine Sache, die uns alle sehr zusammengeführt hat. Stand der Dinge heute: Dieser Platz wird im Moment von Jugendlichen überhaupt nicht genutzt, die Eltern und Kinder haben den Spielplatz wieder erobert, auf dem Sportplatz wird ganz normal Fußball gespielt. Das geht in der Regel ziemlich gut, weil da die albanischen Väter auch mal für ein bisschen Ruhe sorgen. Und der Schulhof fehlt den Kindern, das muss man sagen. Die VHS war von dieser Zusammenarbeit so begeistert, dass sie eine Kollegin von uns, die in einem Schülerclub arbeitet, darum gebeten haben, zu kooperieren. Also insgesamt ist dieser Konflikt ganz gut ausgegangen. Aber im letzten Jahr um diese Zeit war es dort sehr heiß, und normalerweise ist diese Gegend ziemlich konfliktbelastet. TN: Wo sind die Jugendlichen jetzt? Sie haben berichtet, wo alle anderen sind, aber die Jugendlichen fehlen. Elke Ostwaldt: Bei den Jugendlichen ist es ganz unterschiedlich. Es heißt ja immer: Integriert sie – im Notfall stellen wir euch auch einen Bus zur Verfügung, damit sie bleiben. Das hat natürlich gar nicht funktioniert. Aber es gibt andere Plätze, insofern ist das nur eine Verlagerung. Wenn die Jugendlichen sich jetzt nicht mehr auf dem „Harry Potter“ treffen und chillen, dann gehen sie in die Wuhlheide. In der Wuhlheide gibt es im Moment Treffen von über 150 Jugendlichen. Das sind oft Verlagerungen. Einige gehen dann in Jugendclubs, andere machen zum Beispiel dann Hip Hop-Musik, einige machen Graffiti, also das ist ganz unterschiedlich. Und man kann jetzt nicht sagen, dass der ganze soziale Raum befriedet ist, es geht im Moment einfach nur um diesen Platz, um den herum eine Entspannung erreicht wurde. Was zusammen gehört ...
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Stephan Preschel: Die Jugendlichen, die Multiplikatoren, die in diesem Hip Hop-Workshop waren, verbringen jetzt mehr Zeit auf diesem Sportplatz und spielen dort Fußball. Dadurch ist die Situation entstanden, dass sich die Kinder und Jugendlichen im Rahmen des Fußballs selbst organisieren, und zwar fast schon regelmäßig in den letzten Wochen. Sie treffen sich Samstagnachmittag und spielen kleine Turniere, sodass sie eine gewisse Sensibilität dafür haben, dass sie auch etwas dazu beitragen können, dass sie in ihrem Kiez glücklich sind. TN: Meine Frage geht an Ralf Jonas aus Bremen. Worin sehen Sie die Vorteile, dass unterschiedliche Altersstufen in einem Haus sind? Was bringt das den Einzelnen? Ralf Jonas: Ein Vorteil ist das gegenseitige Lernen voneinander, vor allen Dingen auch das Kennenlernen. Ein durchschnittlicher Senior kennt in der Regel kaum einen Jugendlichen richtig und urteilt nur über Äußerlichkeiten, was häufig in Vorurteilen endet. Solche Vorurteile kann man teilweise – bestimmt nicht komplett – ein bisschen durchbrechen, auch gegenseitige Vorurteile. Das hängt nur ein Stück davon ab, was man für Senioren und Jugendliche hat. Wenn man zum Beispiel einen tollen Opa hat, der früher Jazzmusiker war und mit den Kindern über Musik ins Gespräch kommt, den Hip Hoppern erzählt, dass es teilweise ganz ähnliche Rhythmen sind, dann kommen natürlich auch Gespräche zustande. Ich würde das gar nicht so auf die Einrichtung beziehen. Eine Einrichtung kann auch ohne Jugendliche existieren. Oder nur mit einer Gruppe kann es toll und gut funktionieren, aber ein Bürgerhaus oder ein Zentrum kann eben auch ein Ort sein, wo beginnende Konflikte schon im Vorfeld gelöst werden und sich Prozesse entwickeln, in denen sich die Zustände verändern. Damit rettet man nicht die Welt, aber man kann in bestimmten kleinen Punkten positive Dinge erzielen. Stephan Preschel: Es gibt so etwas wie Domino-Effekte, sowohl im Negativen wie im Positiven. Die eine alte Frau, die von jungen Menschen begeistert ist, erzählt das ihrer Freundin, usw., so kommuniziert sich etwas Positives und
auch etwas Schlechtes. Deswegen finde ich auch gerade diese kleinen Aktionen wichtig, wie will man sonst anfangen? Das Ganze kann man vielleicht nicht fassen, aber zwei Leute kann man konkret zusammenführen. TN: Oberschöneweide gilt ja nicht unbedingt als angenehmer Bezirk. Ihr seid schon länger vor Ort. Was für eine Entwicklung nimmt der Stadtteil im Moment? Stephan Preschel: Der Stadtteil hat natürlich seine Bereiche, wo er stark belastet ist. Das hat meine Kollegin vorhin schon geschildert, dass im Bezirk aus den ehemaligen Arbeiterstrukturen nun Problemlagen für das Wohnen und Leben geworden sind. Auf der anderen Seite kann man in den letzten drei Jahren beobachten, wie Häuser saniert werden, sich das Straßenbild an bestimmten Stellen im Stadtteil verändert. Dazu kommt, dass Oberschöneweide früher Schöneweide hieß. Das war eigentlich der Verbund von Oberschöneweide und Niederschöneweide. Dieser Verbund bestand bis zum letzten Jahr nicht mehr, weil die Fußgängerbrücke, die diese beiden Stadtteile verbunden hatte, vor 1945 weggebombt worden war. Diese Brücke haben sie jetzt wieder gebaut, insofern wachsen diese beiden Stadtteile auch wieder fühlbar zusammen. Es kommt jedenfalls Bewegung in den Stadtteil. TN: Die alten Industriebrachen, die bei dem Film noch zur Verfügung standen, werden doch auch immer weniger, oder? Stephan Preschel: Die stehen leer. Elke Ostwaldt: Teilweise stehen sie leer, teilweise werden sie genutzt. Vieles wird für Ateliers von Künstlern genutzt, also es wird schon ein bisschen bunter und ist nicht mehr so öde. Aber es ist total voneinander separiert, es gibt gut situierte Familien, es gibt Familien, die sich sehr einbringen, aber es gibt genauso bestimmte Straßen, die sind so hoch belastet, da leben viele Familien und Kinder mit gravierenden Problemen. Die Schwierigkeit ist, dass sich nichts mischt. Die einen leben so, die anderen leben anders, aber es gibt keine Brücke.
TN: Unser Schwerpunkt ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Erwachsenen und Senioren. Dass es zwischen allen Berührungspunkte geben soll, ist offensichtlich wünschenswert, weil dadurch ganz viele Vorurteile abgebaut werden. Weil Erfahrungen weitergegeben werden können, weil die Leute voneinander lernen und eben auch Beziehungen außerhalb der Familie entstehen können, sodass man sich auch manchmal unterstützen kann oder einfach nur grüßt. Das ist die präventive Arbeit. Wir haben eine ähnliche Erfahrung gemacht wie in Bremen. Neben diesen Sachen, die nebeneinander hergehen, da kann schon viel passieren, indem man die Leute miteinander konfrontiert oder miteinander ins Gespräch bringt. Aber die größte Herausforderung ist das Umsetzen der generationenübergreifenden Projekte. Das klang eben auch schon so an, in der persönlichen und individuellen Begegnung zwischen der Seniorengruppe und den Jugendlichen passiert ja am allermeisten. Ich erlebe diese gewöhnlichen Begegnungen als wahnsinnig wertvolle Arbeit. Wir haben mehrere Zeitzeugenprojekte, auch Projekte zum Thema Mauerfall, wo Jugendliche mit Erwachsenen und Älteren ins Gespräch kommen und deren persönliche Erfahrungen mitkriegen. Darüber passiert ganz viel. Das ist aber wahnsinnig aufwändig. Ich finde, das ist noch ein spannendes Thema: Welche Wege zu einander gibt es? Wir können Berührungspunkte nur an den Stellen herstellen, wo wir Ressourcen bzw. eine Projektförderung haben. Das geht bei uns im Haus immer nur dann, wenn wir jemanden haben, der sich dahinter klemmt und dieses Projekt betreut. Zum Beispiel die Theatergruppe mit Jugendlichen erlebe ich als eine große Herausforderung, die Leute zu motivieren, weil sie sich nicht von alleine treffen. Die Jugendlichen wären mit der Seniorengruppe nicht von alleine ins Gespräch gekommen, sondern dazu gehört ungeheuer viel Motivationsarbeit, man muss passende Themen finden, Konzepte finden, beide oder mehrere Zielgruppen begeistern, man muss das auch am Leben erhalten, ganz viel vermitteln. Wie kann man das befördern?
Herbert Scherer: Eine Frage würde ich gerne in die Runde geben: Muss das denn sein? Was wir hier kennen gelernt haben, ist ja ein in Gang gebrachter Kommunikationsprozess, aber nicht unbedingt eine Zwangsvereinigung im Rahmen von Projekten. Ralf Jonas: In Bremen-Gröpelingen war ein Punkt die Auseinandersetzung mit dem Amt. Jugendliche, Mädchen wie Jungen, die eigentlich ins Heim sollten, wurden von uns Mitarbeitern gegenüber den zuständigen Politikern argumentativ unterstützt, indem wir sagten: Wir wollen für unsere Arbeit mit den Jugendlichen mehr Geld haben, dann könnt ihr euch die Heime ersparen. Das ist eigentlich der Punkt. Als das Geld weniger wurde, haben wir mit allen Leuten aus dem Haus eine Demonstration auf einer Kreuzung vorbereitet. Darüber gibt es ein Video. Drittens ist aktuell, das läuft zum 11. oder 12. Mal, im ganzen Bezirk Gröpelingen ein großes Stadtteilfest. Alle Gruppen, Kindergärten, Schulen kommen und bereiten das vor, inzwischen sind das 1.000 Leute.
Herbert Scherer: Hier wird immer von Senioren und Kindern und Jugendlichen geredet, aber irgendwie fehlt da was zwischen den Generationen. TN: So ähnlich wäre meine Frage auch. Jetzt haben wir viel über den generationenübergreifenden Ansatz gesproWas zusammen gehört ...
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chen. Ich komme selber aus der Jugendarbeit, gewinne dem natürlich was ab. Aber das Thema war – Mehrgenerationenhaus ja oder nein? Mit oder ohne Jugend? Ich kann mir vorstellen, dass es doch erheblich anstrengender ist, verschiedene Generationen in einem Haus zu haben und dafür zu sorgen, dass sie sich da alle mit einander wohl fühlen. Warum macht man das denn? Ich kann mir vorstellen, dass es hier andere Sichtweisen gibt, die sagen, nee, das ist nicht zwangsläufig. Ich würde gerne noch die andere Position kennen lernen. Herbert Scherer: Timm, du könntest die andere Position einnehmen, aber fühlst dich vielleicht auch provoziert? Timm Lehmann: Das schon, ja, aber erst mal eine Nachfrage. Du redest von Jugendlichen, die eigentlich ins Heim müssten oder sollten. Das ist ein ganz anderer Ansatz als offene Jugendarbeit und noch mal was ganz anderes als geschlossene Angebote, die kostenpflichtig sind. In meiner Wahrnehmung kriege ich da etwas nicht zusammen. Ich glaube, ein Zirkusprojekt oder Kulturarbeit für Kinder und solche Gruppenangebote für Jugendliche, die in Notsituationen sind oder ins Heim müssen, das sind zwei Welten. Ralf Jonas: Durch diese Zirkusarbeit ist etwas bewirkt worden. Da sind Kinder und Jugendliche dabei gewesen, bei denen schon sechs Brüder im Knast saßen usw., die dann über die Zirkusarbeit, verbunden mit ganz viel Wochenenden, ganz vielen Ferienfahrten und auch ganz viel Freizeitgestaltung und Schularbeitshilfe, was geschafft haben. Das ist eine Generation gewesen, die täglich im Bürgerhaus war. Die sind zwar als 30-Jährige immer noch im Haus, aber es hat danach eine Veränderung gegeben, dass wir mehr auf einzelne Gruppen umgestiegen sind. Das war eine veränderte Bedarfslage. Wir orientieren uns an den Bedarfslagen des Stadtteils. Es gab – ähnlich wie bei euch – diese hardcore Jugendlichentruppe, die berüchtigt war wegen Schlägereien. Inzwischen ist es so, dass ganz viele normale Kinder in das Bürgerhaus kommen.
TN: Ich spiele mal ein bisschen den Anwalt der Kinder und Jugendlichen. Dieses verkopfte sozialarbeiterische Getue der generationsübergreifenden Arbeit, die ganz wichtig ist für die Kinder und Jugendlichen, die geht einem ziemlich auf den Senkel. Aus meiner Perspektive, wie ich meine Sozialisation reflektiere, wenn ich da von Sozialarbeitern immer bespielt worden wäre, ich hätte von Senioren immer vorgelesen bekommen und hätte mich mit denen austauschen müssen, also da würde ich heute gar nicht hier sitzen. Die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen organisieren sich ja im Wesentlichen in ihrer Gruppe, was in dem Film auch ganz gut rüberkam. Diese Industriebrachen sind für mich ein Symbol für Freiräume. Freiraum insofern, dass nicht immer Erwachsene und Pädagogen da sind und sagen, ihr müsst das so oder so machen. Das finde ich ein sehr starkes Bild. Sind wir nicht etwas zu schnell bei diesem generationsübergreifenden Thema? Georg Zinner: Natürlich kann man keine Zwangsbeglückung machen, keine Zwangsintegration. Aber man kann Häuser schaffen, in denen verschiedene Gruppen, egal, ob jung, alt, Deutsche, Ausländer, behindert, nicht behindert, Platz haben, wo sich alle aus der Nachbarschaft treffen. Früher hielt man eigene Orte für jede soziale Gruppe für notwendig. Aber der Ort muss ihnen nicht dauerhaft gehören, es kann auch sein, dass er ihnen nur für drei Stunden gehört, danach gehört er jemand anders. Es geht gar nicht darum, ob das Haus nur für Jugendliche ist. Es gab schon eine Kritik der Nachbarschaftszentren in den 70er und 80er Jahren an den politisch, fachlich und gesellschaftlich gewollten getrennten Institutionen, die in dieser Zeit großflächig aber eben zielgruppenorientiert geschaffen wurden: den Seniorentreffpunkten, den Kindertagesstätten, den Jugendzentren, den Einrichtungen für die verschiedenen Gruppen Behinderter, usw. Das war alles schön separiert und fachlich spezialisiert. Heute sollte ein Haus eher für alle geöffnet sein, für die gesamte Nachbarschaft. In den Jugendzentren, die wir übernommen haben, sind heute, ohne dass irgendwelche Jugendlichen dadurch Nachteile erfahren haben, mehr Kinder und Jugendliche
als je zuvor - aber eben auch Erwachsene, auch Selbsthilfegruppen, auch Senioren, auch Mütter mit Kindern. Das Haus hat im Stadtteil an Vertrauenswürdigkeit gewonnen, damit auch einen Kredit bei Eltern, die ihre Kinder selbstverständlich in dieses Haus gehen lassen, während wir von vielen Eltern bei den früheren Jugendzentren gehört haben: da schicke ich meine Tochter nicht hin, die darf da nicht hingehen, das ist mir zu undurchschaubar. Diese Häuser können offen stehen – das ist meine Vorstellung. Wenn Senioren spazieren gehen, warum sollen die sich nicht in der benachbarten Kindertagesstätte im Garten auf die Bank setzen und Kaffee trinken und vielleicht mitgebrachten Kuchen essen, ganz selbstverständlich? Eine Kindertagesstätte kann auch Begegnungsort für Senioren oder Familien sein. Die Kinder verlassen die Schulen und kehren nie wieder zurück. Was ist das für ein komischer Zustand? Warum können Schulen nicht auch Orte sein, wo sich die Nachbarschaft dauerhaft aufhält? Es wäre schön, wenn die Schulen auch von der Nachbarschaft besucht werden könnten. Dabei ist auch der Aspekt von Bedeutung, dass die Nachbarschaft wieder Verantwortung für die Infrastruktur übernimmt, also eben auch für ihre Schule. Jetzt wird immer noch alles delegiert, an den Staat, an die zuständige Verwaltung. Wir wissen: Irgend jemand ist zuständig, aber wissen auch, dass sie diese Zuständigkeiten nicht mehr tragen und, dass sich mehr Leute denn je für z. B ihre Schule engagieren können und wollen. Herbert Scherer: Du hast von einer gemeinsamen Nutzung gesprochen, aber nicht davon, alles gemeinsam zu machen und durcheinander zu mischen. Das ist vielleicht ein Anspruch, den die Mehrgenerationenhäuser spüren, dass sie ständig so etwas machen müssen, was man zumindest auf dem Foto als aktuelle Begegnung ansieht. Renate Wilkening: Stichwort: Verantwortung übernehmen und Orte. Ich will drei Beispiele nennen, eins, bei dem die Mehrgenerationenarbeit schief gegangen ist, einmal ist es fast schief gegangen und einmal klappte es. Ein wichtiger Punkt für mich sind Orte, die für alle da sind,
und wo die, die sie nutzen, auch die Verantwortung übernehmen, egal, wie alt sie sind und woher sie kommen. Wir haben einen ehemaligen Kinderclub vom öffentlichen Dienst übernommen. Er war ausschließlich für Kinder von 6 bis 14 konzipiert. Wir haben ein Konzept für Mehrgenerationenarbeit abgeliefert, wir öffnen den Club für alle, Familien, Nachbarn, wunderbar, das wird ganz toll. Alle waren begeistert und wir haben uns frisch und fröhlich an die Arbeit gemacht. Die Konflikte der Generationen, die auftauchten, waren nicht zwischen ganz Alten und ganz Jungen, das klappte wunderbar. Es kommen Senioren, die haben ihren Computerclub und die 12-jährigen Jungs machen mit ihnen nachmittags Kurse, wo sie den Alten etwas am PC zeigen. Der Konflikt entbrannte zwischen Kindern und Jugendlichen. Freitags hatten wir den Club bis 18 Uhr für Kinder geöffnet, danach sollten die Jugendlichen kommen. Wir hatten auch die tolle Idee, dass die Jugendlichen früher rein könnten, sie sollten sich aber um die Kinder kümmern und mit ihnen Hausaufgaben und all die anderen schönen Dinge machen. Das ist derartig in die Hose gegangen, weil die Jugendlichen keine Lust hatten, was mit den Kindern zu machen, sie hatten völlig andere Bedürfnisse. Sie wollten sich sehr gerne treffen und ihre Sachen machen, sie wollten in Ruhe gelassen werden. Sie haben sich leider nicht an die gemeinsam erarbeiteten Regeln gehalten, dass zum Beispiel um 22 Uhr die Fenster zu sein müssen. Wir hatten ständig Polizeieinsätze, dann kamen die Nachbarn, wir haben zusammen am runden Tisch gesessen mit allen Beteiligten. Alle haben gesagt: Wir schwören, es wird besser. Aber zwei Wochen später lief die gleiche Geschichte. Diesen Konflikt zwischen diesen Kindern und Jugendlichen haben wir nicht lösen können. Das Haus ist offen, der Platz ist zu klein. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass der Platz für alle Bedürfnisse zu klein ist. Es geht einfach nicht. Er liegt in einer voll besiedelten Ecke, wo die Leute arbeiten und sagen, abends will ich meine Ruhe haben. Mein Wunsch und die Idee wäre natürlich weiter die Rücksichtnahme zu transportieren und weiter daran zu arbeiten, aber an diesem Punkt ging es nicht. Ein gutes Beispiel: Senioren und Familien, die den Club am Wochenende für sich nutzen, das sind die Familien, Was zusammen gehört ...
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deren Kinder dort hingehen, das läuft gut. Das andere geht nicht. Die Jugendlichen sitzen jetzt in dem Jugendkeller, wo ausschließlich Jugendliche sind, in einer Brennpunktsiedlung, fühlen sich da sauwohl, machen ihre Sachen untereinander, oben drüber – etwas separiert – in einem großen Haus sitzen die Erwachsenen und machen ihre Sachen. Wo es fast schief gegangen ist, das ist mit Outreach in Lichtenrade. Wir teilen uns einen Nachbarschaftstreff-
punkt. Wir haben von der Evangelischen Kirche ein altes Waschhaus gekriegt, das wir mit Outreach zusammen renoviert und alles schön gemacht haben. Wir haben die Vereinbarung, Outreach und deren Jugendliche nutzen punktuell den Club, abends oder nachmittags, wenn sie ihn brauchen und wir nutzen ihn am Morgen. Die Differenzen entstanden wieder nicht zwischen den Alten und den Jugendlichen, sondern zwischen den Jugendlichen und den jungen erwachsenen Müttern, die mit ihrer PekipGruppe am Morgen kommen und den Sauhaufen vorfinden, den Outreach hinterlassen hat. Der Konflikt ist gelöst worden. Die Beteiligten haben sich an einen Tisch gesetzt, die Rücksichtnahme klappt, weil der Kollege von Outreach bereit war, eine Putzfrau zu engagieren. Die Jugendlichen wollten nicht selber putzen, aber das war mir egal, Hauptsache Outreach putzt. Also ist jetzt der Raum morgens sauber und die Pekip-Mütter sagen: okay, es ist sauber, dann haben wir nichts gegen sie. Sie sind freundlich miteinan-
der, das ist klar, aber den Dreck von Outreach wollen diese Mütter nicht haben, was ich auch für verständlich halte. Dort sind die Räume größer und können gut gemeinsam genutzt werden. Aber der Punkt ist die Rücksichtnahme. Das hätte ziemlich eskalieren können, aber man muss einen Weg finden, auch für kleine Konflikte. Eine Lösung finden, mit der alle zufrieden sind. Ganz gut gegangen ist es in unserer Kita Luckeweg. Wir haben ein 2.500 qm großes Grundstück mit Garten und wir hatten eine Jugendbande, die Kinder waren 12, 13, 15, die da regelmäßig alles zerstört haben. Wir haben sie einmal erwischt und gesagt: entweder Polizei oder aufräumen, da war natürlich die Entscheidung für das Aufräumen. Wir haben mit denen folgenden Deal: sie dürfen den Garten ab 18 Uhr für sich nutzen, auch am Wochenende, wenn sie die Regeln einhalten. Sie achten selber auf Lärmschutz, weil darüber Menschen wohnen, sie hinterlassen den Garten sauber, und sie kommen gelegentlich zu den Festen in die Kita und helfen uns. Dafür kriegen sie nicht nur den Garten, es gibt auch einen frei zugänglichen Raum, da können sie sich ohne irgendeinen Erwachsenen treffen. Das ist genau das, was du auch schon sagtest: man hat als Jugendlicher keine Lust, dass immer ein Sozialpädagoge anwesend ist. Was wir haben, das ist ein Hausmeister. Mit dem verstehen die sich gut, der ist sozusagen für diese Jugendlichen Ansprechpartner und Autorität. Das geht seit zwei Jahren gut. Miriam Ehbets: Ich komme aus dem Rabenhaus in Köpenick. Wir sind eine ganz kleine Einrichtung und haben über die Jahre immer versucht, auch generationsübergreifende Projekte bei uns zu machen. Meine Erfahrung ist, wenn man eine Kraft hat, die das mit unterstützt, dann geht das auch, aber es ist sehr anstrengend. In dem Moment, wo eine solche Kraft nicht da ist, passieren manchmal Begegnungen von alleine. Das sind dann die Sachen, die halten und bleiben. Ich halte viel mehr von ganz kurzen, temporären Gemeinsamkeiten, über die man sich kurz kennen lernt und Ängste abbaut. Dann entwickelt sich etwas. Alles, was organisiert war mit irgendwelchen Programmen endete in dem Moment, wo die Programmbegleiter weg waren.
Ich möchte auch noch mal für die Jugendlichen sprechen. Wenn man ein ganz großes Haus und eine große Anlage hat, dann kann man auch Jugendliche mit einer offenen Jugendarbeit integrieren. Aber die müssen – bitte schön – wirklich Räume für sich selbst haben, und nicht für drei Stunden oder so, sondern das müssen ihre Räume sein. Wenn man das nicht hat, dann ist es ganz schwer, die zwischen der Mütter- und Seniorenarbeit zu integrieren. Ich halte das für Blödsinn. Hella Pergande: Ich arbeite für Outreach mit Kindern, Jugendlichen und Eltern in Schöneberg. Ich denke, man darf nichts verallgemeinern. Es gibt Familien mit 30 Enkelkindern und der einzige Opa kann nicht lesen. Für die ist es toll, wenn jemand vorliest. Das ist in jedem Stadtteil anders, auch die Gruppen melden ihre Bedürfnisse anders. Ich glaube, dass es immer wichtig ist, dass es Teams gibt, die genau hingucken, Experimente wagen und Verhandlungen machen. Wenn es nicht klappt, geht man wieder einen Schritt zurück, macht ein neues Experiment – das ist der Weg und nicht ein standardisiertes generationsübergreifendes Programm. Herbert Scherer: Ich glaube, es gibt niemanden, der generationsübergreifende Arbeit kategorisch ablehnt und nicht will. Aber es gibt ganz viele, die damit Schwierigkeiten haben. Deswegen haben wir über einige Lösungswege von Schwierigkeiten was gehört. Da ist, glaube ich, die Mentalität von den Nachbarschaftshaus-Leuten und die Mentalität von den Outreach-Leuten durchaus kompatibel, weil sie mit einer ähnlichen Grundhaltung rangehen, nämlich ausgehend von dem, was die Menschen wollen und nicht so sehr, was eine Ordnungsvorstellung will. Aber es gibt eben sehr unterschiedliche Erfahrungen, Renate hat davon einige dargestellt. TN: Ich habe gerade beobachtet, welcher Drive plötzlich entstand, als das Thema generationsübergreifend richtig aufkam. Ich finde schon, dass es noch ein ziemlich ambivalentes Thema ist. Ganz kurz zur Ehrenrettung der Mehrgenerationenhäuser: Auf gar keinen Fall soll alles immer generationsübergreifend sein, und schon gar nicht mit Zwang, also das will keiner.
TN: Ich glaube, es sind alle soweit, dass sie in der Praxis das tun wollen, was den Zielgruppen nutzt. Da würde ich schon sagen: so klein diese Momente der Verständigung auch sein mögen, für den Einzelnen sind das manchmal wertvolle Momente, wenn man sich auf der persönlichen Ebene begegnet. Das ist wichtig, dass wir dazu Möglichkeiten schaffen. Mit Kindern geht das relativ leicht. Mit Jugendlichen ist es schwieriger. Man muss gucken, wo man steht, welche Zielgruppen man hat, was brauchen sie? Da gibt es schon Kinder, die nur auf die erwachsenen Bezugspersonen sehen, bei manchen gibt es keine Großeltern, manche Kinder freuen sich, wenn einfach mal ein Mann da ist. In einem unserer Projekte sind auch Männer mit den Kindern dabei, die kleben regelrecht an denen, weil das in ihrem persönlichen Umfeld fehlt. Herbert Scherer: Bevor wir jetzt allzu schnell die Jugendlichen aus dem generationsübergreifenden Kontext ausklammern, nämlich als die Gruppe, die das gar nicht will, es sind zwei Menschen hier, die genau an der Stelle mit Jugendlichen arbeiten, auch ganz zentral in einem generationsübergreifenden Kontext. Es gibt unter den Mehrgenerationenhäusern in Deutschland nur drei, die aus Jugendzentren heraus den Mehrgenerationengedanken entwickelt haben oder entwickeln mussten. Eins davon ist in Zehlendorf, deshalb ist Timm Lehmann ein wichtiger Zeuge dafür, ob das funktionieren kann. Deshalb hatte ich auch Ralf Jonas eingeladen, weil es bei ihm gerade um Jugendliche geht. Das heißt, auch bei Jugendlichen in einem Mehrgenerationenhaus muss irgendwas funktionieren können. Timm Lehmann: Ich glaube, dass es tatsächlich wenige Nachbarschaftshäuser gibt, in denen offene Jugendarbeit stattfindet. Da es davon nur wenige gibt, glaube ich, dass es ein Thema für uns ist. Ich empfinde es jedenfalls als Auftrag, dass die Begegnung mit Jugendlichen in unserer Gesellschaft irgendwo stattfindet. Die wird auch eingefordert. Das, was ich mache, würde ich nicht als allgemeingültiges Modell sehen. Aber ich glaube, ich muss einen Ort organisieren, wo Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene, Erwachsene und Senioren zusammenkommen und einen Was zusammen gehört ...
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Prozess, der in der Gesellschaft immer weniger selbstverständlich wird, als Institution anbieten und organisieren. Mein Projekt ist eben nicht – wie vorhin vorgeschlagen – ein kurzes Projekt, sondern es besteht darin, jeden Tag den Alltag zu organisieren und die Begegnungen möglich zu machen.
Ich glaube, es findet ein gesellschaftlicher Wandel statt. Ganz viele von unseren Jugendlichen suchen den direkten Kontakt im Zweiergespräch, im Dreiergespräch zu den Älteren, zu den Erwachsenen, also in einer relativ intimen Begegnung, weil die bei ihnen in der Familie nicht mehr stattfindet. Das Projekt ist dann z.B., dass ich eine Seniorin habe, die am Tresen im offenen Treff steht und mit den Jugendlichen über ihren Alltag redet. Und das muss aus beiden Richtungen geboten werden, weil wir den demografischen Wandel haben, ein großer Teil der Bevölkerung ist über 60, hat aber wahnsinnige Kapazitäten und Ressourcen. Und die will ich nutzen – und die Menschen wollen die auch nutzen. Deshalb organisiere ich das, was die Menschen wollen, wenn ich die Begegnungen organisiere. Ralf Jonas: Ich finde diese Begegnungen wichtig, aber noch wichtiger ist, dass man nach gemeinsamen Interessenlagen guckt, das finde ich entscheidend. Wo kann man Interessen von verschiedenen Generationen zusammenbringen? Nach meiner Erfahrung geht das am bes-
ten über kulturelle Aktivitäten, über konkrete Sachen wie Theaterspiel, Zirkus, Musik. Die meisten Leute verbringen ja ihre Freizeit in den Einrichtungen, das darf man nicht vergessen, sie wollen sich ja nicht therapieren lassen. Über gemeinsame Interessen kriegt man auch Begegnung hin. Was vollkommen klar ist, wir können nicht für die gesamte Bevölkerung solche Häuser anbieten. Natürlich wünschen wir uns große und freie Plätze, wo Jugendliche ihren Parcours machen können, ohne dass ihnen ständig jemand auf dem Schlips steht, aber die Städte werden immer enger. In Berlin mag das vielleicht noch anders sein, aber Bremen ist unglaublich eng, da gibt es überhaupt keinen Platz mehr für Jugendliche. Den muss es aber natürlich auch geben, das finde ich genauso wichtig wie ein Mehrgenerationenhaus. Damit auch weiterhin selbst organisierte Geschichten möglich bleiben. Alles andere wäre ja furchtbar, wenn wirklich alles pädagogisiert wäre. Torsten Wischnewski: Wir vom Pfefferwerk haben in einem Nachbarschaftshaus, das dann später Stadtteilzentrum geworden ist, sechs Jahre lang offene Jugendarbeit betrieben, bis die Förderung durch das Bezirksamt eingestellt wurde. Das war immer konfliktträchtig. Der Nachteil war, dass sich immer die Wege junger Mütter mit ihren Kindern und Jugendliche, die rauchen und vielleicht auch mal ein Bier vor der Einrichtung trinken, kreuzten. Das ging alles, sie haben das miteinander ausgehandelt und hingekriegt, aber es war nicht entspannt. Ich denke, dass viel an der Methode hängt. Wenn ich tatsächlich Zirkusarbeit mache und ich habe unterschiedliche Generationen, die Lust und Interesse daran haben, dann kann ich die an dem Thema auch begeistern und habe ein gemeinsames Thema, wo Kinder unterschiedlichen Alters teilnehmen können. Barbara Rehbehn: Ich wollte noch erzählen, wie wir das hier im Bürgerhaus Am Schlaatz machen. Das ist ein Haus, was aus einem FDJ-Jugendclub entstanden ist. Wir haben hier auch einen großen, offenen Jugendclub, der kommunal mit zwei Sozialpädagogen gefördert wird. Der ist räumlich stark getrennt. Konflikte gibt es zum Bei-
spiel vormittags, zum Beispiel wenn die Potsdamer Tafel die Räume nutzt, da beschweren sich die Jugendlichen darüber, dass die Erwachsenen ihren Müll da lassen. Wir haben im Haus relativ viele Jugendgruppen, die sich in irgendeiner Form selbst organisiert treffen. Es gibt einen Verein, der macht Streetdance, die treffen sich hier und tanzen. Es gibt eine Kickbox-Gruppe, die sich hier in dem Raum trifft, im Wechsel mit Senioren. Die nutzen einfach den Raum, der da ist. Man muss Räume so gestalten, dass sie vielfältig nutzbar sind, insofern ist es egal, ob da Jugendliche tanzen oder Senioren tanzen.
Herbert hat zu den Jugendlichen gesagt: „Ja, der Mangel macht’s.“ Aber Thomas Koch, einer der Jugendlichen, der u.a. jetzt auch bei uns beim Projekt arbeitet, hat neulich zu mir gesagt: Ja, ich werde dem Herbert sagen, wir waren wirklich sehr tätig, wir haben unheimlich viel geschafft. Wir haben das damals nicht begriffen, aber wir waren unheimlich aktiv und haben uns sehr eingesetzt. Das ist die Perspektive der Jugendlichen, aber die Unterstützung der Senioren war für uns sehr wertvoll. Ich bin den älteren Herren nach wie vor sehr dankbar, dass sie sich so eingesetzt haben.
Herbert Scherer: Ich habe im Mehrgenerationenhaus in Salzgitter etwas sehr Interessantes gelernt, dass man Gelegenheiten dadurch schafft, indem man Ressourcen knapp hält. Sie sagten: wir kaufen nicht für jede Gruppe eine bestimmte Geräteausstattung. Das bedeutete, sie müssen über die Geräte mit einander verhandeln. „Weniger“ ist da eine gute Methode. Elke Ostwaldt: Ich arbeite seit 10 Jahren bei Outreach und bin absoluter Mehrgenerationen-Fan. Der Steffen kommt aus einem Projekt, das nennt sich „Die Querdenker“. Die Querdenker kamen aus Altglienicke, hatten einen eigenen Jugendclub, und zwar selbst verwaltet. Es gab eine sehr starke Ressource, nämlich die Rentner aus Altglienicke, die diesen Jugendclub, den es nach wie vor seit 12 Jahren gibt, in jeder Hinsicht unterstützt haben. Das heißt: Erwachsene, Rentner, haben sich für Jugendliche, die selbst verwaltet etwas in ihrem Kiez gemacht haben, eingesetzt, bis dahin, dass sie Outreach so unterstützt haben, dass wir unseren kleinen Jugendcontainer erhalten konnten. Das war eine ganz neue Qualität. Die Jugendlichen hatten ihren Club, hatten gemeinsam mit uns den kleinen Container aufgebaut und versuchten, der Nachbarschaft zu vermitteln, was sie dort machen. Die überwiegend älteren Herren ab 70 Jahren waren dort für uns die Brücke. Die haben mit den Nachbarn gesprochen. Dann kam mal Herbert Scherer zu den Jugendlichen, das werde ich nie vergessen, weil die Jugendlichen mich nachher gefragt haben: „Was war das denn?“ Es war Winter, es gab dort keine Heizung und war wirklich sehr kalt.
Herbert Scherer: An solch einem optimistischen Punkt sollten wir für heute enden.
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Integrations-Perspektiven „Eingeborene“ begegnen Migranten
Input: Hüseyin Yoldas Gangway Straßensozialarbeit (Schöneberg) Enver Sen Stadtteilverein Schöneberg Kadriye Karci (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung) Moderation: Petra Sperling Petra Sperling: Wir sind heute alle in der Rolle von Zeitzeugen hier, egal in welchem Alter wir sind. Alle haben den Mauerfall miterlebt, für jeden war das etwas unterschiedlich. Wie war das für Menschen mit einem migrantischen Hintergrund? Was haben die Nachbarschaftseinrichtungen erlebt? Gab es Veränderungen? Wir haben drei Gäste: Hüseyin Yoldas von Gangway, Straßensozialarbeit, Wanderer zwischen Ost und West; Kadriye Karci von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, die spontan zugesagt hat, uns als Impulsgeberin in die Rückerinnerung zu führen. Sie hat ab 1985 im ehemaligen Osten gelebt. Und dann begrüße ich ganz herzlich Enver Sen aus dem Stadtteilverein Schöneberg, der seine persönliche Perspektive einbringt. Hüseyin Yoldas: Mit dem Titel „Eingeborene begegnen Migranten“ hatte ich meine Schwierigkeiten, weil ich mich selber auch als Eingeborenen und die Ossis als Migranten empfand. Vor 20 Jahren, als die Mauer fiel, dachte ich wirklich, dass wir als Eingeborene denen begegnen. Es
war ein Gefühl, dass jetzt neue Deutsche kommen, die aber anders sind. Eigentlich hatten wir uns auch gefreut, weil wir an der Grenze in der Nähe der Warschauer Brücke aufgewachsen sind. An der Mauer gab es den Kanal und eine Lieblingsbeschäftigung der Migranten war, Reste von selbst gebackenem Brot an die Enten im Kanal zu verfüttern. Jedenfalls wurden wir immer gewarnt, dass wir nicht so nahe an den Kanal gehen sollten, weil wir reinfallen könnten. Wenn das passiert, dann würden die Grenzwachen einen erschießen. Mit dieser Sichtweise bin ich aufgewachsen. Aber auf der anderen Seite waren wir auch Kinder der 68er-Generation. Obwohl die meisten unserer Eltern Analphabeten waren, kannten sie Lenin oder Karl Marx oder Sozialisten, wo ich dachte: alle Achtung, ohne Fernsehen oder ohne schreiben zu können, kannten sie sich damit aus. Deshalb hatten wir Kinder auch alle komischerweise solche Jacken mit der DDR-Flagge drauf, die waren schön warm und immer ein bisschen größer als das Kind, damit die Jacke über Jahre zu tragen waren. Es gab immer eine merkwürdige Identifikation mit den sozialistischen Deutschen, damit verbanden wir Sehnsüchte. Als ich eines Tages, es war 1989 und ich war in der 8. Klasse, von der Schule kam, sah ich meine Mutter mit Nachbarn und Tanten herumlaufen, mit Teekannen und Sandwiches, weil auf der Straße eine große Menschenschlange stand. Die ging vom Schlesischen Tor bis zu uns am Görlitzer Park, also eine beachtliche Strecke. Ich sah also, wie sie die Leute mit Tee und Kaffee bedienten. Das hat uns gefallen. Wir Kinder haben dann ein paar Stunden mitgeholfen, totale Freudenstimmung, alles okay. Danach wurde uns in der Schule erzählt, was passiert war. Dann fanden die ersten organisierten Begegnungen statt. Da stellte sich für uns zum ersten Mal unser Selbstbild in Frage. Aus heutiger Sicht sind wir Migranten, aber ich zähle mich nicht zu den Migranten, ich bin ein Kreuzberger Junge, das sagt viel über meine Identifikation aus. Ich hatte jedenfalls damals das Gefühl, irgendwas war schief gelaufen. Was ist denn mit denen los? Bringen die da das Vorurteil zwischen Wessis und Ossis und wir waren irgendwo dazwischen. Das könnt ihr doch nicht machen, wir gehören doch zu euch, wieso macht ihr überhaupt so
etwas? Natürlich gehört ihr doch alle zusammen, wir sind doch alle gemeinsam hier in Deutschland ... Also irgendwie standen wir in einer Vermittlerrolle dazwischen. Es kam zu Begegnungen, wo wir uns allerdings - vielleicht aus diesem sozialistischen Gedankengut heraus - am Anfang eher mit den Ostdeutschen identifiziert haben, weil wir meinten, naja, ein bisschen sind die auch unterdrückt, eigentlich sind sie auch Migranten und welche von uns. Die ersten Differenzen kamen, als das mit den Übergriffen auf die Asylbewerberheime in Rostock und Hoyerswerda losging, teilweise auch Übergriffe auf Migranten, die noch dort waren. Die Angriffe gab es auch vor dem Mauerfall, besonders in Berlin, aber nicht in diesem Ausmaß, nicht, dass Häuser abgebrannt wurden. Wir dachten, so was darf es in einem sozialistischen Land doch gar nicht geben, deswegen hatten wir Schwierigkeiten, das zu verstehen, weil Sozialismus, Kommunismus und Nationalismus passten für uns irgendwie nicht zusammen. Dann gab es natürlich zu diesem Thema Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern aus unterschiedlichen Schulen im Osten, was unsere Sozialisation mit geprägt hat. Ich wurde neugierig, war in der 10. oder 11. Klasse und wollte dann im Osten wohnen, wollte selbstständig sein. Das war in unserer Familienstruktur ein bisschen schwierig, dass einer auszieht, um selbstständig zu sein. Ich habe leider versucht, mich in Treptow niederzulassen, also im Bezirk Schöneweide hatte ich eine Wohnung gefunden. Im Nachhinein musste ich einsehen, dass das ein Fehler war, weil Treptow eine Hochburg der rechtsradikalen Szene ist. Da war ich ein bisschen blauäugig. Danach bin ich in den Bezirk Prenzlauer Berg (Osten) gezogen, da war die Welt etwas anders, da gab es dann Freunde für mich. Später bin ich dann nach Kreuzberg (Westen) gezogen, heute lebe ich in Pankow (Osten). Insofern bin ich immer gewandert. Dabei wurde man immer wieder mit der Frage konfrontiert: zu welcher Zeit waren wir besser integriert? Waren wir überhaupt jemals integriert? Auch mit meinen Eltern und deren Generation habe ich später Gespräche darüber geführt, wann es uns besser ging. Die einzige Aussage, die alle machten: Vor dem Mauerfall war alles ganz
anders – positiv ganz anders. Ich verstehe diese Aussage nicht. Eine 2-Raum-Wohnung mit 12 Personen, Außentoilette, wenn ich darüber nachdenke, da kann es einem nicht gut gegangen sein. Aber meine Eltern sehen das so, dass die Phase vor dem Mauerfall für sie komischerweise besser war, dass sie sich integrierter gefühlt haben. Ich habe dann gefragt: Woran lag das? Sie meinten dann: Ganz einfach, wir waren am Anfang als Gastarbeiter hier, da hatte man eine Aufenthaltsgenehmigung von einem oder von zwei Jahren. Anfang der 80er Jahre gingen einige aus der Familie wieder zurück. Wo ist der Punkt, warum ihr euch integriert gefühlt habt? Da meinten meine Eltern, mein Onkel, meine Tante usw.: als wir auch Geld vom Arbeitsamt kriegen durften. Das war richtig, Mitte der 80er Jahre bekamen Gastarbeiter eine unbefristete Arbeitserlaubnis, damit brauchten sie keine Angst mehr zu haben, dass sie bei Arbeitslosigkeit wieder zurück in die Heimat gehen mussten. Sie hatten zwar noch nicht das Wahlrecht, aber die gleichen Rechte in Bezug auf Wohnverhältnisse, Anspruch auf Sozialhilfe, Anspruch auf Arbeitslosengeld. Erst von da an fühlten sie sich dieser Gesellschaft zugehörig. Es wurde dann für sie Mitte der 90er Jahre etwas schwieriger, als sie vom Arbeitsmarkt verdrängt wurden. Die Integration war für die erste Generation sehr stark mit Arbeit verbunden, Arbeit gleich Integration. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass Arbeit nur ein wichtiger Faktor unter anderen ist. Aber ich glaube, dass die erste Generation durchaus die Integration mit Arbeit verbunden hat. Die Auswirkungen der Vereinigung waren für sie durch den enger werdenden Arbeitsmarkt schwieriger. Petra Sperling: Ich fand spannend, dass du den Titel dieses Workshops anders verstanden hast, weil du dachtest, ihr gehört zu den Einheimischen, während diejenigen, die neu dazukommen, die Migranten sind. Das hat verdeutlicht, wie das gewirkt haben muss. Aber du hast ja auch beschrieben, dass ihr euch als integriert erlebt habt. Hüseyin Yoldas: Wir haben das auch an den Schulen gemerkt. Früher haben sich die Schulen mehr auf die Was zusammen gehört ...
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Belange der Migranten eingelassen, es gab Integrationsklassen, Hausaufgabenhilfe. Es gab Träger, die sich nur um Gastarbeiterkinder gekümmert haben. Vor dem Mauerfall waren auch alle Migranten in Berlin irgendwie tätig, es gab Jobs, man wollte die. Petra Sperling: Wurden die Ostdeutschen als Konkurrenz erlebt? Hüseyin Yoldas: Ich glaube – eher nein. Es ging eher in die Richtung zu sagen: hier sind wir - und ihr seid auch hier. Ich glaube, die Ablehnung ging nicht unbedingt gegen unsere Ostbürger. Das war keine Angst oder Hassgefühle oder Konkurrenz, eher Verbitterung, über die vielen Ausschreitungen, die sich dort häuften. Die gab es auch in Mölln usw., aber diese Bilder von Rostock und Hoyerswerda waren im ersten Augenblick für uns als 12oder 13-Jährige schon heftig, weil wir fühlten, dass auch unser Haus hätte brennen können. Das war kein Hass, eher eine Art Panik. Es gab aber auch sportliche Begegnungen und Spiele untereinander, auch Fahrten, in denen es zu Begegnungen kam. Da gab es so Phasen von gegenseitiger Feindseligkeit. TN: Sie sind schon früh zu Hause weg und in einen Ostbezirk gezogen. Ich kenne das ganz anders von türkischen und arabischen Jugendlichen, dass sie den Osten gemieden haben wie die Pest, weil sie aufgrund der dortigen Vorfälle einfach Angst hatten. Hüseyin Yoldas: Ich glaube, dass es einige Migranten gab, die wirklich Angst hatten und den Osten gemieden haben. Wir kamen aus einer sehr armen Familie. Unsere Freizeit haben wir mit der Familie am Hermannplatz verbracht, wenn es dort Rummel gab. Sieben Kinder, plus Vater, wir durften pro Kind höchstens 5 Mark ausgeben. Natürlich wollten alle Autoscooter fahren, Geisterbahn usw., höchstens einmal oder zweimal durften wir fahren, dann war Schluss. Aber nach dem Mauerfall waren es vor allem Ältere, die waren 17 oder 18 Jahre alt, die hatten den Osten für sich als attraktiven Platz erobert. Es kam ja nicht sofort der Geldumtausch in D-Mark,
also war es im Osten billiger. Sie waren hier mit dem Geld nichts, aber dort konnten sie damit ein bisschen angeben. Eine Attraktion war zum Beispiel, dass wir die Schlüssel von den Besitzern bekamen, haben dann 10 D-Mark bezahlt und durften den ganzen Tag Autoscooter fahren, also dieses Gefühl, dass man mit wenig Geld dort viel mehr machen konnte. Dass es viele waren, die den Osten gemieden haben, das glaube ich nicht. Es gab einige, aber es gab auch eine große Gruppe, zumindest von denen, die in Kreuzberg wohnten, die bewusst ihren Aufenthaltsort am Alexanderplatz usw. gesucht haben. Ich war in der 11. Klasse und machte Abitur, sah mich auch als Sozialist, links, vielleicht von den 68er-Eltern ein bisschen geprägt, und sagte mir: okay, bevor ich jetzt im Westen in einem kapitalistischen System lebe, gehe ich mal zu meinen Genossen und werde dort mit ihnen gemeinsam leben. Ich habe damals nicht richtig mitbekommen, dass die dort gar keine Sozialisten mehr waren. Ich hatte meine politische Überzeugung, aber mit ihr lag ich etwa sieben oder acht Jahre zurück. TN: Wir sitzen mit dem Verein Otur ve Yasa, Leben und Wohnen, im Nachbarschaftshaus Centrum genau in dem Kreuzberg, das du beschrieben hast. Der Verein wurde in den 80er Jahren gegründet, weil die Probleme der türkischen Migranten zu dieser Zeit um das Wohnen und Leben kreisten. Wie komme ich mit meinem Vermieter klar? Was mache ich gegen einen drohenden Rausschmiss? Der Geschäftsleiter des Nachbarschaftshauses hatte mal die Zusammenhänge erklärt, nämlich dass mit dem Fall der Mauer die Berlinzulage weggefallen ist. Die Industrie wanderte aus Berlin ab, womit die Arbeitsplätze, für die die Gastarbeiter ja hergeholt worden waren, auch wegfielen. Heute kümmert sich Otur ve Yasa immer noch um die Themen Wohnen und Leben, aber in erster Linie geht es um Sozialberatung. Wie komme ich mit den Hartz IV-Leistungen klar? Das ist vielleicht eine Antwort darauf, wie es zu dem subjektiven Empfinden der Migranten kam, dass es ihnen vor der Wende besser ging, weil sie damals noch Arbeit hatten.
TN: Stimmt das eigentlich wirklich, dass sich die Migrantinnen und Migranten früher mehr integriert gefühlt haben? Von anderer Seite, also von deutscher Seite akzeptiert waren? Wie war das eigentlich? TN: Damals gab es diesen Begriff Gastarbeiter und sonst nichts. Das bedeutete, es sind Gäste da und irgendwann gehen sie wieder, also gab es keine politischen Bemühungen um das Erlernen der deutschen Sprache. TN: Es gab natürlich eine gewisse Zufriedenheit, weil man gearbeitet hat. Aber man hat sich nicht zugehörig gefühlt. Das gab es nicht. Es gab Situationen, wo die Gastarbeiter gewerkschaftlich viel erreicht haben. Z.B. in der IG Metall im Ruhrgebiet waren 70 bis 80 % der Gastarbeiter organisiert, von den deutschen Kollegen waren es nicht mal die Hälfte. TN: Es gab mehr Zufriedenheit vor dem Mauerfall? TN: Dass die damaligen Gastarbeiter die Ostdeutschen als Konkurrenz wahrgenommen haben, das würde ich eher bejahen. Ich bin in Schleswig-Holstein aufgewachsen, wir lebten im Grenzschutzgebiet, als die Mauer fiel, es kamen viele aus den östlichen Ländern zu uns. Einer der Gründe, warum Gastarbeiter angeworben worden waren, war ja der Bau der Mauer, denn dadurch fehlten Arbeitskräfte im Westen. Demzufolge entstand durch den Mauerfall ein veränderter Zustand. Gastarbeiter in den Fabriken berichteten, dass sie nie wirklich Kontakt zu Deutschen hatten, jeder lebte in seiner Community, wie das auch heute ist. Natürlich frühstückt man vielleicht mal an einem Tisch, aber nach dem Mauerfall beobachteten viele aus ihrer subjektiven Wahrnehmung, dass sie eher noch mal eine Stufe herabgesetzt worden sind. Es kamen die ostdeutschen Arbeiter hinzu, irgendwann existierte eine Klassifizierung. Man brauchte die Gastarbeiter nicht mehr, eigentlich müssten sie gehen. Es gab Mitte der 80er Jahre eine Rückwanderungswelle, besonders von türkischstämmigen Gastarbeitern, die dafür bezahlt wurden, indem sie Anreize geboten bekamen, dass sie ihre Rente ausgezahlt bekommen, wenn sie mit ihrer
Familie in die Türkei gingen. Das ging bis Ende der 90er Jahre. Als die Mauer fiel, da war ich 12 oder 13 Jahre alt. Ich gehöre zu der Generation, die Mölln, Solingen oder Hoyerswerda direkt mitbekommen haben, auch wie sich rechtsradikale Parteien und Organisationen vermehrt haben. In der Familie und in der älteren Generation war die Wahrnehmung, dass das durch den Mauerfall kommt, weil sehr viele solcher Strömungen sich im Osten angesiedelt haben. In Schleswig-Holstein gab es die auch, aber man lebte mit denen. Es gab immer Lehrer, die sich zur DVU oder sonst was bekannt haben, damit wurde ich als Kind immer wieder konfrontiert, angefangen von Kümmeltürke bis was weiß ich. Ich war das einzige türkische Migrantenkind. Egal wo du warst, wurdest du mit deiner Nicht-Zugehörigkeit konfrontiert. Ich, aus der zweiten Generation, bin integrierter als meine Eltern oder Ältere, was nicht bedeutet, dass wir kulturell integriert sind. Sondern wir sind eher sprachlich und was die Bildung angeht besser integriert. Durch die Arbeitslosigkeit steigen die Probleme bei der ersten Generation,
dadurch auch die gegenseitige Ablehnung. Auch meine Eltern und deren Freunde haben immer wieder zu spüren bekommen, dass man sie nicht braucht, dass sie hier überflüssig sind. Man wechselte dann von dem Wort Gastarbeiter zu Ausländer, erst vor sechs Jahren wurde aus dem Amt der Ausländerbeauftragten das des Integrationsbeauftragten. Was zusammen gehört ...
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Diese begrifflichen Abstufungen kommen von außen und man sollte sich damit auseinandersetzen. Als ich nach Berlin kam, habe ich mich nicht in den Osten getraut. Als ich das erste Mal nach Brandenburg gefahren bin, ertappte ich mich, wie ich nach rechts und links guckte, ob man an mir etwas erkennen könnte, was auf meine türkischstämmige Herkunft verweist. Es ist immer noch so, dass man in Diskussionen von „national befreiten Zonen“ hört. Ich war vor zwei Jahren in der Sächsischen Schweiz, davon hatten mir vorher alle abgeraten, dorthin zu fahren. Warum wohl? Das ist eine der Hochburgen der Faschos, der Rechten. Wir sind trotzdem hingefahren. Ich entspreche äußerlich nicht den gängigen Vorurteilen, aber ich ertappe mich dabei, dass es mir unangenehm ist, mich in so einer Umgebung zu bewegen, auch weil ich mit diesen Erfahrungen aufgewachsen bin. Ich habe auch Bekannte afrikanischer Herkunft, die sich noch nicht mal nach Marzahn oder Lichtenberg trauen. Meine Eltern fanden den Mauerfall total positiv, weil sie anfangs Gleichgesinnte in den Ostdeutschen gesehen haben. Aber irgendwann kippte das eben um. Allerdings weiß ich nicht, wann das war.
TN: 1997 bin ich nach Berlin gekommen, um zu studieren. Ich wurde nicht nur von Freunden darauf hingewiesen, nicht unbedingt dorthin zu fahren, sondern habe einfach gemerkt, dass ich diese Art von Bedenken habe. Aber ich bin dann trotzdem hingefahren.
TN: Mein Mann kommt aus Afrika, er ist 1 ½ Jahre vor dem Mauerfall nach Berlin gekommen. Vor dem Mauerfall wurde er als Amerikaner gesehen, nach dem Mauerfall als Ausländer. Das war natürlich eine Rückstufung. Ich erinnere mich, dass in der ersten Zeit sehr schnell so eine Art Konkurrenzgefühl da war. Ich habe im November oder Dezember 1989, also ganz frisch, Schularbeitenhilfe gemacht in Neukölln. Ein kleines Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, hat gesehen, wie die Leute alle zu uns rüberkamen, um das Begrüßungsgeld zu holen oder die Apfelsinen von Kaisers. Sie meinte plötzlich: Die stinken. Sie hat gleich den Neuen, die kamen, eine negative Zuweisung gegeben, weil sie schon als kleines Mädchen das Gefühl hatte: da passiert jetzt was, da ist eine Konkurrenz, wir werden verdrängt.
TN: Es geht ja darum, dass Gastarbeiterfeindlichkeit, Ausländerfeindlichkeit, auch vor 1989 existierte. Ich sage nur, dass die Migranten, insbesondere die große Mehrheit der türkischstämmigen Migranten, in ihrer Wahrnehmung erlebt haben, dass nach dem Mauerfall die Formen dieser Gastarbeiter- und Ausländerfeindlichkeit zugenommen haben. Mölln, Solingen, usw., das war alles nach 1989. Es muss gar nicht damit zusammenhängen, das hängt wahrscheinlich auch gar nicht zusammen. Die Medien mit ihren Schlagzeilen haben natürlich heftig dazu beigetragen, die Anschläge und die Bilder davon, und dann eine repräsentative Umfrage: welches Bild habt ihr von den ostdeutschen Bundesländern? Wie stehen Sie zu Ausländern oder zu Migranten? Da werden alle sagen: Wir haben eher eine distanzierte Haltung.
TN: Du sagtest, du hast nach dem Mauerfall den Osten gemieden.
Petra Sperling: Wir lassen das einfach so stehen und wenden unseren Blick auf den östlichen Teil.
TN: Wo war dein Bewegungsradius in Berlin? TN: Ich war im ersten Jahr im Studentenwohnheim Eichkamp in Charlottenburg, dann im Wedding, Kreuzberg, eigentlich überall. TN: Unser Bewegungsradius war vom Schlesischen Tor höchstens bis zum Görlitzer Bahnhof. Ich kann mich an den 20. April 1989 erinnern, da war die Mauer noch da. Das war der Tag, wo Neonazis zum 100. Geburtstag von Hitler überall publik gemacht haben, dass sie Ausländern eins auf den Deckel schlagen. Da wurden Mahnwachen gemacht, wo linke Leute teilnahmen, auch die SPD. Wir hatten aber auch Schwierigkeiten, nach Zehlendorf zu fahren, weil wir dort auch mit Rechtsradikalen konfrontiert waren.
Kadriye Karci: Ich war seit 1985 in der DDR und zwar in Ost-Berlin. Westdeutschland habe ich erst 1989 bzw. 1990 gesehen. Ich bin als Delegierte der Kommunistischen Partei der Türkei in die DDR gekommen, weil ich mein Land als politischer Flüchtling verlassen musste. Aber ich war eine privilegierte Person in der DDR. Nach der Wende, als ich meine Aufenthaltserlaubnis in der Ausländerbehörde verlängern musste, habe ich erst erfahren, dass ich ein politischer Flüchtling in der DDR war. Ich habe mich – im wahrsten Sinne des Wortes – in der DDR als Gast gefühlt und ich bin auch als Gast behandelt worden. Ich habe ungefähr zehn Monate in Wismar bzw. in Greifswald die deutsche Sprache gelernt. Für mich war schon von vornherein alles geregelt, es war klar, wo ich wohnen werde, wo ich die deutsche Sprache lerne, woher ich Geld bekommen, wer mich betreut, wer mein Ansprechpartner in der Schule ist, an wen ich mich wenden sollte, wenn es Probleme gibt. Das war ein geregeltes Leben für mich. Nach meinem Sprachkurs bin ich 1986 nach Ostberlin gekommen. Ich begann gleich mein Philosophiestudium, das ich trotz meiner sprachlichen Schwierigkeiten mit einem Diplom abgeschlossen habe. Diesen Kraftakt geschafft zu haben, darauf bin ich stolz. Während dieser ganzen Jahre hatte ich mit anderen Gästen aus Vietnam oder Kuba fast überhaupt keinen Kontakt. Später habe ich erfahren, dass diese Menschen, die durch einen Staatsvertrag in die DDR gekommen waren, in bestimmten Wohnheimen bzw. in bestimmten Gebieten lebten. So wie ich auch. Ich hatte nur Kontakte mit einigen wenigen Deutschen, aber das waren nicht sehr enge Kontakte, man musste immer einen bestimmten Abstand halten. Ich durfte zum Beispiel an den FDJ-Sitzungen oder SED-Sitzungen nicht teilnehmen, ich gehöre ja nur zu einer Schwesterpartei. Ich hatte überhaupt keine Kontakte zu Westberlinern oder zu Westdeutschen. Auch nicht mit Kommunisten von der Kommunistischen Partei der Türkei. Besucht habe ich die auch nicht. Ehrlich gesagt, hatte ich erst mal nicht daran gedacht, ob ich nach Westberlin oder Westdeutschland gedurft hätte. Finanziell gesehen, hätte ich die Möglichkeit gehabt, aber die Frage hat sich
mir nie gestellt. Sondern mein Ziel war, dass ich mehr die anderen sozialistischen Länder sehe. Von denen habe ich einige besucht. Für die Diskussion ist es vielleicht wichtig, dass ich erst mal von den Problemen in den sozialistischen Ländern, auch in der DDR, nichts mitbekommen habe. Das kann man vielleicht vor dem Hintergrund verstehen, dass ich aus der Türkei kam. Als politisch Verfolgte wurde man dort wegen seiner Ideale ins Gefängnis gesteckt. Ich kam in der DDR in eine von mir gewünschte Gesellschaftsform, die ich als System immer haben wollte. Es war eine sozialistische Gesellschaft, was die Arbeit betrifft, keine Arbeitslosigkeit in den Betrieben, ein gutes Gesundheitsund Sozialsystem. Ich bin immer noch bereit, darüber zu diskutieren, aber kritisch und nicht negativ. TN: Ich habe das noch nie gehört. Hat die DDR damals politische Flüchtlinge aus westlichen Ländern aufgenommen? Kadriye Karci: Nicht nur aus der Türkei, sondern aus Palästina, Syrien, Libanon, Afghanistan, Brasilien, Griechenland oder zum Beispiel aus Chile. Als ich in die DDR gekommen war, hat man mir gesagt, dass ich nach dem Studium das Land verlassen müsste. Wohin, das wusste ich nicht. Aber eigentlich wollte ich auch wieder zurück in die Türkei, um dort politisch aktiv zu arbeiten. Aber dazu kam es nicht mehr. Was zusammen gehört ...
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1989 war ich im vierten Studienjahr, ich war noch nicht fertig mit dem Studium und ich wollte es auch nicht unterbrechen, um in die Türkei zurückzukehren, weil es dort keine ökonomischen Grundlagen für mich gab. Ich wollte mein Studium beenden. Ab 1990 galten nicht mehr die DDR-Gesetze, sondern die Gesetze der BRD, deswegen musste ich eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Das habe ich gemacht, weil ich mein Studium abschließen wollte. Aber wie Sie alle sehen, bin ich immer noch hier. 1991 gab es dann tausende ABM-Stellen in der ehemaligen DDR, damals hat man diese Maßnahmen besser gestaltet, nach einer ABM-Maßnahme konnte man Arbeitslosengeld beantragen. Nach dem Studium war ich arbeitslos und suchte eine Arbeit, über Kontakte zu Leuten in Ostberlin. Sofort nach der Wende und Anfang der 90er Jahre hat man in der ehemaligen DDR begonnen, überall Vereine zu gründen, um Projekte zu beantragen. So etwas war in der DDR total unbekannt. 1990 wurde in Lichtenberg auch der Verein gegründet, bei dem ich gearbeitet habe. Dieser Verein hatte ein ABM-Projekt, das war ein soziales Beratungsprojekt. Und ich sollte dieses Projekt leiten. Aber ich wusste gar nicht, was für eine Beratung ich durchführen sollte. Soziale Beratung, das ist gut, aber was genau? Das war meine erste Berufserfahrung. Ich wollte Kontakte mit den anderen Vereinen aufnehmen, die schon seit Jahren in diesem Bereich Erfahrungen
gesammelt haben. Das war keine allgemeine Sozialberatung, sondern für diejenigen, die keine Deutschen waren. Damals waren das ja nur ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mosambik, Kuba. Im Staatsvertrag zwischen der DDR und der BRD gab es eine Regelung für diese Menschen, aber darüber hinausgehend war das alles unsicher und ein großer Kraftakt, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu bekommen. Es war nicht sofort klar, ob man das Ausländergesetz öffnen wollte, um den ehemaligen Vertragsarbeitern Möglichkeiten zu schaffen. Das war ein großes Problem, aber da hat man mit diesen Vereinen in Ost und West zusammen im Sinne solcher Forderungen gearbeitet. Das war eine schöne und solidarische Aktion, weil das nicht nur eine politische Forderung von den Vereinen im Osten war, sondern auch von denen aus dem Westen. Zum Beispiel gab es damals im Haus der Demokratie große Veranstaltungen über dieses Thema mit Teilnehmern aus Ost und West. Da hat man keine Unterschiede gesehen, sondern man hat diese Menschen unterstützt und es hat geklappt. Für mich war das eine schöne, Impuls gebende gemeinsame Aktion, bei der man ein gemeinsames Ziel hatte. Bei diesem Projekt habe ich angefangen, die Vertragsarbeiter/innen zu beraten. Zunächst musste ich mich ausbzw. fortbilden, wobei ich Unterstützung vom Flüchtlingsrat und dem Türkischen Bund Berlin-Brandenburg, der damals noch anders hieß, bekommen habe. Es gibt zwei Sachen, die mir merkwürdig vorkamen. Dieser Verein versuchte, sich auf die Probleme der Migranten zu spezialisieren, aber es gab ja nicht so viele Migrantinnen und Migranten im Ostteil der Stadt. Gut, die Vertragsarbeitnehmer und einige Türken wie ich. Ich kontaktierte einen türkischen Verein, weil es für uns im Osten überhaupt keine Erfahrungen mit der Ausländerproblematik und dem Zusammenleben gab. Der Verein war in Lichtenberg, in der Nähe vom S-Bahnhof Lichtenberg. 1989/1990 war da auch eine Gruppe von Rechtsextremisten in der Nähe. In den ersten Jahren war das so extrem, dass man sich als Andersaussehender nicht im S-Bahn-Bereich aufhalten konnte. Ich habe zweimal während meiner Tätigkeit bi-nationale Schülerreisen organisiert. Aus West- und Ost-Schülern
oder -Studenten habe ich eine Gruppe gebildet und bin mit dieser Gruppe zum Austausch in die Türkei gefahren. Das zweite Mal waren wir in der Westtürkei, West-Anatolien. Sie mussten einige Tage einen Job ausüben und konnten dann 6 Tage Urlaub machen. Im Nachhinein kann man sagen, dass das alles positiv war. Aber ich hatte wirklich große Schwierigkeiten gehabt, dass die Schüler aus Ost und West zusammenkommen und miteinander reden konnten. TN: Gab es damals in Ostberlin eine ähnliche Infrastruktur wie in Westdeutschland bei den damaligen Ausländern, dass sie ihre eigenen Läden hatten oder als Arzt arbeiten konnten? Hier braucht man sich ja durch die türkische Infrastruktur kaum noch die deutsche Sprache anzueignen. TN: Sie erwähnten, dass Sie die Möglichkeit gehabt hätten, nach Westdeutschland bzw. Westberlin Kontakt aufzunehmen und auch zu reisen. Das wäre richtig genehmigt worden, Sie hätten es machen können. Warum haben Sie das nicht gemacht? Kadriye Karci: Von meiner Seite gab es keinen Wunsch dazu. Ich kam ja aus der Türkei, also kannte ich von daher auch westliches Leben. TN: Nach dem Studium haben Sie überlegt, wieder in die Türkei zurückzugehen. Wäre das denn möglich gewesen, weil Sie doch politischer Flüchtling waren?
auch, dass viele arabischstämmige Studenten wechselten. Ich kenne auch etliche Studenten, die nach Russland gegangen sind. Sie haben dort gearbeitet und sind nach der Wende zurückgekommen. Die DDR war für Palästinenser das ideale Land, weil sie nie eine Heimat hatten. Und dort wurden sie einfach so aufgenommen und haben studiert. Sie hatten ein schöneres Bild von der DDR als von der BRD. Man wusste natürlich, dass die BRD damals nicht so gerne Palästinenser aufgenommen hat, weil sie gegen Israel gerüstet haben. So kam das positive Bild der DDR zustande, dort hatte man eine andere politische Meinung über Zionismus bzw. über den Staat Israel. Kadriye Karci: Ich denke, das ist vielleicht für euch schwer zu verstehen, aber wir kommen aus anderen Verhältnissen. Ich bin zwar als Student nach Deutschland gekommen, aber der Hintergrund war, dass die Türkei für mich eng geworden war, also ich konnte dort nicht mehr so frei leben. Man kommt dann aus Verhältnissen, die Westeuropa sich damals nicht vorstellen konnte, also Unterdrückung, Erpressung und Verfolgung. Und ein Land öffnete die Tür und hieß einen willkommen. Diese Situation muss man begreifen. Nach 20 Jahren setzt man sich hin und redet ohne weiteres über Fehler von damals, aber das ist zu leicht. Ich glaube, wir müssen die Geschichte nicht nur in Weiß oder Schwarz sehen, denn es gab auch noch andere Farben.
Kadriye Karci: Unter den damaligen Bedingungen glaube ich das nicht, aber ich wollte es.
TN: Ich habe es so verstanden, dass der Anlass für Ihr positives DDR-Bild weniger der Status des Flüchtlings war, sondern stark dadurch ausgelöst wurde, dass Sie sich als Genossin fühlten, insofern auch ein Stück Solidarität zu spüren bekamen.
TN: Ich habe damals an der Freien Universität studiert, wollte aber mein Studium an der Humboldt-Universität abschließen. Wir haben einen Antrag gestellt, der wurde zunächst genehmigt, später aber abgelehnt, weil die Westberliner das nicht wollten, dass ich in Westberlin wohnen bleibe, aber im Osten studiere. Und das war ein Problem für viele aus der Dritten Welt. Im Osten war das Studium viel besser als in Westdeutschland. So kam es
Kadriye Karci: Ja, klar. Es gab in der DDR gewerkschaftliche Organisationsformen. 1989/90 hat man angefangen, Organisationsformen der BRD zu übernehmen, was ich problematisch finde. Um das zu verdeutlichen, habe ich dieses ABM-Projekt so ausführlich erzählt, also dass unser Projekt vom Arbeitsamt nur mit diesem Inhalt genehmigt wurde, nämlich für Ausländerinnen und Ausländer in Lichtenberg. Es gab ja gar nicht so viele AuslänWas zusammen gehört ...
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der und Ausländerinnen. Also man hat dieses westliche Problem ohne kritisches Hinsehen in den Osten transportiert. Man hätte aber dort andere Bedingungen voraussetzen müssen. Petra Sperling: Wir sollten den Fokus noch mehr auf die Gemeinwesenarbeit oder Nachbarschaftsarbeit richten, welche Auswirkungen die Wende hatte bzw. bis heute hat. Enver Sen: Es wurde gesagt, dass es ohne die Mauer nicht so viele Gastarbeiter im Westen gegeben hätte. Das ist mir unverständlich, weil ich denke, es hätte auf jeden Fall so viele gegeben. Man hat in Deutschland aufgebaut, ob in Ost oder West, insofern brauchte man natür-
lich Gastarbeiter. Die haben auf jeden Fall viel geleistet in diesem Land und wir haben ein Recht darauf, von den Deutschen angenommen zu werden und uns hier zu Hause zu fühlen. Leider ist das noch nicht der Fall, weder vor dem Mauerfall noch danach. Darüber müssen wir diskutieren, wie es dahin kommen kann, dass sich die Leute, die seit Jahrzehnten hier leben, endlich mal zu Hause fühlen können. Das wird auch nicht durch Nachbarschaftsheime gelöst, dass dort alle Kulturen miteinander umgehen. Die Menschen kennen sich, sie werden miteinander auch einen Weg finden, damit umzugehen. Aber als gesellschaftliche
Linie gibt es diese Gemeinschaft nicht. Wir Migranten versuchen, Gemeinsamkeiten zu finden, aber natürlich müssen auch die Unterschiede anerkannt werden. Was hat der Mauerfall mit den Migranten gemacht? Etwa ein halbes Jahr danach kamen Leute zu uns, weil sie entlassen worden waren und dafür Ostdeutsche eingestellt wurden. Das war kein Einzelfall, sondern das fand massenhaft statt. Deswegen hat man sich wirklich als Mensch dritter Klasse gefühlt. Das wurde auch in vielen Betrieben gesagt, dass sie uns, also die Migranten, jetzt nicht mehr brauchen. Das Gefühl vom geteilten Deutschland war nicht mehr da, sondern das gefühlte Großdeutschland war wieder da. Das haben vor allem in Berlin die Leute, die hier seit Jahren gearbeitet hatten, deutlich gemerkt. Dadurch ist natürlich eine Kluft entstanden, als viele Ostdeutsche, z.B. Arbeiter aus Lichtenberg, bei Siemens in Siemensstadt angestellt wurden. So meinte man dann, wegen der Ostdeutschen seien sie arbeitslos geworden. Da entstand diese Sichtweise: ohne Ostdeutsche haben wir besser gelebt, weil wir Arbeitsstellen gehabt haben. Aber meine Einschätzung ist, dass die Arbeitslosigkeit nicht entstanden ist, weil die Mauer nicht mehr existierte, sondern das ist ein gesellschaftliches Problem, das auch ohne Mauerfall entstanden wäre. Diese Vorurteile gegenüber den neuen Bundesländern sind in vielen Punkten nachvollziehbar, an Beispielen wie Hoyerswerda, Rostock, aber auch in Westdeutschland. Ich glaube, dass es ein allgemeines gesellschaftliches Problem ist, dass die Migranten nur als Fremde angesehen werden. Ich bin mit 19 hierher gekommen, gleich nach meinem Abitur. Jetzt bin ich seit 35 Jahren hier, ob ich noch immer Migrant bin, weiß ich nicht. Wir müssen einen Weg finden, wie wir uns hier zu Hause fühlen können. Ich denke, wir alle, die wir in Deutschland leben, haben es verpasst, nach dem Mauerfall eine neue Verfassung für Deutschland zu machen, die uns alle beinhaltet, auch unsere verschiedenen Kulturen. Ich gebe mal ein kleines Beispiel, wie Jugendliche sich heute fühlen. Es geht um meinen Sohn. Mit 3 oder 4 Jahren wurde er gefragt, was er ist. Er meinte, er sei halb Kurde, halb Türke und auch Deutscher. Er ist in Berlin geboren. Und dieser Mensch muss mit seinem 16. Lebensjahr von
der Ausländerbehörde eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen. Dann fühlt er, dass er doch nicht Berliner und auch kein Deutscher ist. Ich denke, über diese Problematik muss man gründlicher diskutieren und nicht darüber, ob Hoyerswerda noch ausländerfeindlicher ist als Kreuzberg, weil uns das nicht weiter bringt. Petra Sperling: Hatte das konkrete Auswirkungen auf die Nachbarschaftszentren? Was können wir daraus lernen? Enver Sen: Wir haben erlebt, dass viele gesagt haben, dass sie arbeitslos geworden sind, keine Wohnungen mehr kriegen, dass sie als Menschen zweiter oder dritter Klasse behandelt werden, obwohl sie so viel hier mitgeholfen haben. Petra Sperling: Hat das Nachbarschaftszentrum Angebote verändert? Gab es auf der strukturellen Ebene etwas, was auf diese Betroffenheit der Nachbarschaft bzw. der Menschen reagiert hat? Hüseyin Yoldas: Ich habe das in einem Haus erlebt, das damals eine Jugendeinrichtung war. Aufgrund der Arbeitslosigkeit der Eltern haben sich Arbeitsgruppen speziell auf die Einbeziehung von Müttern konzentriert. Auf einmal gab es dort eine Vätergruppe, in der gemeinsam gekocht wurde; und man sah sich zusammen einen Film an, was für uns vorher unvorstellbar war. Man versuchte, den Müttern, die Analphabetinnen waren, zuerst das Lesen und Schreiben beizubringen. Darüber versuchte man sie in den Schulen zu integrieren. Die Hoffnung der Nachbarschaftsheime war, dass man durch die Mütter die Integration der Kinder in den Schulen schafft. Die Nachbarschaftsheime haben sich viel mehr um die Eltern gekümmert, insbesondere um die der ersten Generation, die vorher keine Rolle gespielt haben. Vorher ging es nur um die Jugend- und Kinderarbeit, zumindest war das meine Beobachtung. Aber danach war es in meiner Umgebung so, dass auf einmal Erwachsene in den Clubs auftauchten, wo wir dachten: Aber das war doch unser Club! Das war, weil sie einfach arbeitslos waren und mehr Zeit hatten und wollten dann irgendwas tun. Ich fand das damals süß.
TN: Ich denke, die Wirtschaftskrise gab es schon vor der Maueröffnung, da fing das an, dass die Arbeit nicht mehr als Integration wirkte, weil es zunehmend Arbeitslosigkeit gab. Durch die Maueröffnung hat sich dann das Interesse konzentriert und umgedreht. Die Nachbarschaftshäuser hinken ja, wie die Gesellschaft auch, immer ein bisschen hinter den gesellschaftlichen Entwicklungen her. Mit dieser ganzen Integrationsdebatte tauchten dann auch alle Probleme auf, die eigentlich ganz stark über die Arbeitslosigkeit ausgelöst worden waren. Dann haben sich die Angebote in Richtung Elternarbeit geändert. TN: Ich würde dem zustimmen, im Prinzip war das Problem schon vor der Maueröffnung da. Zum Gründungsmythos von Gangway gehört natürlich auch, dass große Gruppen von arabischen und türkischen Jugendlichen in Kreuzberg und Wedding aufgetaucht sind, bis zu 300 Leuten stark. Sie wurden von Jugendhäusern und Sozialinstitutionen oder Schulen im Prinzip gar nicht mehr angesprochen. Natürlich haben die Gruppen als Reflex auf diese Ausgrenzungsprozesse, die vorher schon stattgefunden haben, reagiert. Das kam zeitlich mit dem Mauerfall zusammen. Da kann man alles mit reinpacken, wahrscheinlich ist an allem irgendwas wahr. Da hat sich auch eine Menge hochgespielt. Die soziale Arbeit hat manchmal völlig hilflos darauf reagiert, was ich eigentlich ein gutes Beispiel finde, auch wenn das im konkreten Fall nicht stimmt, um mal die Tabugrenzen der sozialen Arbeit zu thematisieren. Kann man mit Jugendarbeit oder Elternarbeit etwas erreichen? Das wird auch theoretisch viel zu wenig entwickelt. Die Übernahme von Strukturen im Osten: In Ostberlin gab es das Drogenproblem, das es in Westberlin gab, überhaupt nicht. Aber innerhalb kürzester Zeit gab es dort ein Drogenberatungsteam. Man hat dann gewartet, bis das Drogenproblem auch ankam. Das lag an den Interessen von den Trägern, von Interessengruppen, da können wir uns unter Umständen an bestimmten Punkten an die eigene Nase fassen, wie die Sachen funktioniert haben. Die großen Träger haben sich natürlich auch in Bezug auf Migrantengruppen bestimmte Themen aufgeteilt, wer für wen zuständig ist. Was zusammen gehört ...
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TN: Ich will noch was zu den Nachbarschaftshäusern sagen. Wir arbeiten ja im gleichen Verein und 1989 waren wir gerade ein Stadtteilzentrum geworden. Wir waren ein Selbsthilfeprojekt, ein Stadtteilprojekt für Migranten und hatten die Aufgabe, auch die Deutschen mit in unsere Arbeit zu integrieren. Das war für uns eine Herausforderung, denn Deutsche suchten gar nicht solche Treffpunkte. Wir hatten Gruppen für Mütter, für Väter, Deutschkurse, Alphabetisierungskurse, wir hatten einen Jugendtreff, haben eine Jugendzeitung gemacht, bei uns gehörte alles Mögliche immer dazu. Wir haben auch in dieser Zeit, weil wir um unsere Einrichtung schon von Anfang an kämpfen mussten, als Verein eine gewisse Stärke entwickelt. Also unser Verein hat sich dadurch verändert und ist inzwischen ein interkultureller Verein, auch weil wir nicht zu einer Randgruppe werden wollten. Wir mussten uns ganz schön anstrengen, dadurch haben wir den Hintern hochgekriegt. Inzwischen ist das Nachbarschaftshaus das Leitprojekt des Vereins geworden. Das ist eine Entwicklung, die in den einzelnen Nachbarschaftseinrichtungen und Stadtteilzentren sehr unterschiedlich gelaufen ist. Aber bei uns gab es in der gesamten Arbeit eine klare Ausrichtung auf interkulturelle Strukturen. Ich arbeite auf unterschiedlichen Ebenen mit den Teams zusammen, also es gibt nicht das Migrantenprojekt, wie es das bei vielen gibt. Sondern es gibt Projekte über bestimmte Sachthemen, an denen Leute mit unterschiedlicher Herkunft zusammen arbeiten. Das ist vielleicht ein wichtiger Unterschied. In Westberlin gab es so in den 80er Jahren schon eine richtige Zäsur mit dem Lummer-Erlass. TN: Zuzugsperre? TN: Nein, die Zuzugsperre war früher, in den 70er Jahren. Das hieß, man durfte als Migrant nicht mehr nach Kreuzberg ziehen, durfte aber noch in den Wedding oder nach Schöneberg, wo die Mieten noch bezahlbar waren. Der Lummer-Erlass sah vor, dass Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz hatten und arbeitslos waren, weg sollten, die kriegten mit 18 Jahren keine Aufenthaltserlaubnis mehr. In der Rückschau war das für mich das erste Mal,
dass ich erlebt habe, und ich war schon lange in dieser Arbeit engagiert, dass sich Migranten richtig zurückgestoßen fühlten, ausgegrenzt und gefährdet. Bis dahin war es so, man wollte hier eine Aufenthaltserlaubnis haben und bleiben, hat sich so in einem Status Quo eingerichtet. Aber dann sollten plötzlich die Kinder weg. Damals wurde von migrantischen Linken die Position vertreten, dass wir keine Identität als Deutsche hätten. Das war ein großes Problem. Wir haben mit Leuten zusammengearbeitet, die sagten: ich bin Türke oder Kurde oder sonst was und waren auch noch stolz darauf. TN: Mit der Wende gab es plötzlich Deutsche, die es als selbstverständlich ansahen Deutsche zu sein. Die waren anders drauf, das hat die Debatte in Deutschland total verändert. TN: Wir sind in diese Wende reingerasselt und waren plötzlich Deutsche und wir sind ein Land. Ja, was denn für ein Land? Diese Zugehörigkeit zu dem größeren Deutschland war sehr ambivalent. Die Migranten wollten nicht hier assimiliert werden, darum ging damals die Debatte. Multikulturelle Gesellschaft oder Assimilation, das war eine Alternative. Es gab 1987 einen Kongress in der FU, Kultur im Wandel, wie muss sich Kultur verändern? All diese Fragen waren plötzlich weggewischt. Die Stadtteilzentren sind winzig kleine Orte der Begegnung. Dort begegnen sich die Leute, die da aktiv und engagiert sind. Und das sortiert sich auch in den Stadtteilen. Es gibt kein Stadtteilzentrum, das von sich behaupten könnte, es erreiche überall alle Leute. Man erreicht in verschiedenen Projekten eine Menge verschiedener Leute, die wollen sich gar nicht unbedingt begegnen. Wenn wir in unserem Stadtteil eine Begegnung zwischen den Deutschen, die dort wohnen, und den ausgegrenzten Migranten organisieren wollen, dann kriegen wir das nie hin. Wir können nur dafür sorgen, dass es Chancen gibt, sich mal über den Weg zu laufen, und die werden immer weniger. Dieses Wir-Gefühl, wir gehören dazu, das ist das Entscheidende. Die deutsche Gesellschaft, die sich erst als deutsche Gesellschaft aufbauen musste, entwickelte plötzlich dieses Ausgrenzungsphänomen, dass die Mig-
ranten nicht dazugehören sollten. Das führt auch dazu, dass die Ausländer, die bisher so locker in die Arbeit der Nachbarschaftshäuser eingebunden waren, sehr viel schwieriger geworden sind als das Klientel, das wir vorher hatten. TN: Ich war das erste Mal in Berlin-Schöneberg in einem Nachbarschaftsheim, mit einer Theatergruppe, die wir dort gegründet haben. Damals gab es eine Flüchtlingswelle aus dem Libanon und da hatten sich in dem Nachbarschaftsheim ziemlich viele Gruppen gebildet. Man hat sie zwar mit Türken oder Iranern verwechselt, aber da war plötzlich eine Gruppe, die vorher nie existiert hat, außer ein paar Studenten oder Intellektuellen, die in der Stadt waren. Da sind für mich die Nachbarschaftsheime sozusagen erst eine Adresse geworden. Ich bin dann öfter ins Nachbarschaftsheim Schöneberg gegangen und im Wedding auch. Damals war ich noch Student, da wurden wir angerufen, ob wir nicht ehrenamtlich übersetzen könnten, deswegen haben viele in diesen Nachbarschaftsheimen gearbeitet. Da haben wir unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Ich habe zum Beispiel die Erfahrungen in Ostberlin oder in der ehemaligen DDR ganz anders gesehen als vielleicht andere. Ich erinnere mich daran, dass ich mit einer Jugendgruppe in Ostberlin war. Wir wurden dort nicht bedient, als wir Pommes kaufen wollten, weil wir alle schwarze Haare hatten. Das waren die ersten Erfahrungen für uns im Ostteil der Stadt, an der Grenze zu Ostberlin. Mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft habe ich dann angefangen, in der DDR Schulen zu besuchen, da habe ich ungefähr 1.000 Schulen besucht. Ich bin immer in die Klassen gegangen, wo ich wirklich als Exot gesehen wurde. Es gab nämlich Leute in der DDR, die noch nie einen Araber gesehen haben. Das Extreme war, als ich nach Hoyerswerda gefahren bin, um nach diesem Anschlag zu demonstrieren. Da hat man auch diese Angst gespürt, dass man angegriffen werden könnte als Ausländer. Man hat uns übrigens immer als Türken gesehen. Für die Leute in der DDR gab es nach der Wende als Ausländer aus dem Westen nur Türken. TN: Und Neger.
TN: Genau, und Neger. Das Wort Neger wurde in den Klassen deutlich gesagt. Einmal in einer Schule in Leipzig, direkt nach dem Mauerfall, kamen plötzlich zehn oder zwölf Jugendliche mit Stiefeln in die Klasse rein, wo ich meinen Vortrag gehalten habe. Ich hatte zwar Angst, aber ich habe trotzdem weiter geredet, und die Lehrer haben sich nicht einmal eingemischt, die haben dieses Drohverhalten der Jugendlichen ohne ein Wort akzeptiert. Also es gibt auch solche Erfahrungen, das muss man sehen. Kadriye Karci: Wir sind uns ja darüber einig, dass es schlimm war oder immer noch schlimm ist, wenn es so weitergeht. Ich habe eine Idee. Es gab damals gleich nach der Wende große rechtsextremistische Organisationen und Gruppierungen in Lichtenberg, jetzt auch in der Sächsischen Schweiz. Nach 20 Jahren könnte man vielleicht anderes erhoffen, aber damals ist das für mich ja auch so gewesen, dass der Mauerfall und die Wiedervereinigung ein Wertewandel für diejenigen war, die in der DDR gelebt haben. Die sozialistischen Werte, die amtlichen Positionen und Einstellungen waren nichts mehr wert, man musste stattdessen etwas anderes haben. Aber welches die anderen Werte sein sollten, das war niemandem klar,
welche Werte man übernehmen sollte oder welche Werte immer noch wertvoll sind, woran man sich orientieren konnte. Diese nationale Identität ist für mich auch eine falsche Entwicklung, man hat einen Punkt gefunden, wo Was zusammen gehört ...
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man angeblich eine Gemeinsamkeit für alle hat. Das war und ist eine gefährliche Entwicklung, man sollte diesen Wertewandel weiter beobachten. TN: Sind denn die Nachbarschaftseinrichtungen Orte, wo solche Werte-Debatten organisiert werden könnten? Das ist ja keine abstrakte Debatte, sondern sie betrifft uns zentral in unserer Arbeit und in unserem Selbstverständnis. Das finde ich spannend, auch wenn es nicht einfach ist. Da sind zum Beispiel die Fragen: Wie wollen wir eigentlich miteinander umgehen? Was sind pädagogische Werte? Was sind unsere Erziehungsziele? Wie gehen wir mit der Spannbreite von Werten um? Zum Beispiel kommt in der letzten Zeit die größte Einwanderergruppe in Berlin aus der ehemaligen Sowjetunion, die ganz andere Erfahrungen und Werte mitbringt. Von streng Gläubigen bis zu dem Denken, dass Religion Opium fürs Volk ist, wie komme ich für diese ganze Spannbreite zu pädagogischen Prinzipien? Wir haben solche Fragen bei uns zwei Jahre lang diskutiert. Da ging es ans Eingemachte. Aber eigentlich müsste es darüber einen permanenten Diskussionsprozess geben. Ich habe das als positive Erfahrung empfunden. TN: Der Mauerfall war eine Zäsur in der Gesellschaft, wo sich das Fremdbild auch bei Migranten geändert hat, weil ein Wandel stattgefunden hat. Erst stand offiziell Ausländer in den Medien, später wurden sie dann Migranten, die Türken wurden dann zu DeutschTürken. Das Bild hat sich in der Öffentlichkeit geändert, dadurch aber auch das Selbstbild, nicht nur in der ersten Generation, sondern in der zweiten oder dritten Generation, die hier keine Migranten sind, weil sie hier geboren wurden. Man sagte dann auch Migrantenkinder. Dieser Prozess hat stattgefunden, wo wir uns durch die Begegnung und jetzt Ausgrenzung definieren mussten. Aber wir wurden auch damit konfrontiert, dass wir hierher gehören, denn die gleichen Ausgrenzungen, die wir hier haben, begegnen uns auch in unseren Herkunftsländern. Ich kann jetzt nur für die Türkei sprechen, aber dort gibt es den Begriff des Deutschtürken, manche sagen auch, wir seien
die Türken der Deutschen. Das ist gar nicht mal so abwegig, es stimmt. Unsere Selbstwahrnehmung hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre besonders in der zweiten und dritten Generation verändert, und das hat dazu geführt, dass wir mehr fordern. Das kann man weltweit beobachten, besonders in der dritten Generation, dass man sich wieder auf die Herkunftsländer der Großeltern zurückbesinnt, weil man sich mit dieser Ausgrenzung nicht abfinden kann. Dann gibt es diejenigen, die sagen: Nein, ich gehöre hierher, auch wenn ich nach außen hin nicht integriert bin. Ich falle aus der Statistik komplett raus. Ich bin unsichtbar. Also Araber, Kurden, Albaner, das sind alles Türken, weil Türke nicht nur eine Herkunft bezeichnet, sondern eine Art Stereotyp oder Sozialtypus geworden ist, wo alles reingepackt wird. Es ist die Aufgabe der Gemeinwesenarbeit und der sozialen Arbeit, darauf nicht nur zu reagieren, sondern zu beobachten, was sich da entwickelt. Interkulturelle Kompetenz ist in den letzten Jahren viel zu spät entwickelt worden, denn Migranten bzw. Einwanderer gibt es seit den 60er Jahren. Also sollte die Gesellschaft auch mit ihren Angeboten darauf reagieren. Ich höre oft in Gesprächen, dass heutzutage für Migranten was angeboten wird, aber sie nehmen es nicht an. Dann denke ich immer, dass man dann als Gemeinwesenarbeiter nicht die Migranten in Frage stellen sollte, sondern das Angebot. Was können wir als Nachbarschaftshäuser schaffen, die mehrheitlich „deutsch“ besucht sind, um Migranten reinzuholen und ihnen zu zeigen, dass das Häuser sind, die sie selber nutzen können. Man sollte nicht immer nur was anbieten, sondern aufzeigen, was sie alles gestalten können, dass es ein Ort für sie ist, den sie nutzen können, also dieser partizipative Aspekt. TN: Ich versuche, den Mauerfall als Chance zu sehen, als etwas zu sehen, wo auch neue Wege für Migranten geöffnet werden, hin zu neuen Freundschaften in neuen Regionen. Der Mauerfall bietet eine neue Perspektive in die Zukunft. Ich zähle mich jetzt nicht mehr zu den Migranten, weil ich mich als Deutscher in der Gesellschaft fühle.
TN: Ich war 12 oder 13 Jahre alt, als die Mauer fiel. Ich meine, dass nicht nur Migranten sich fremd fühlten, sondern auch die Ostkinder von damals. Ursprünglich komme ich aus Nordrhein-Westfalen, habe das alles ein bisschen anders erlebt. Wir hatten auch Schüleraustausch mit OstJugendlichen. Damals waren wir sehr aufgeregt, weil jetzt andere zu uns reinkommen. Ich kann mich erinnern, dass ich sie nicht mochte – und sie mochten mich auch nicht. Auf jeden Fall denke ich, dass sie unsicher waren, weil sie so einen ähnlichen Identitätskonflikt hatten wie ich, zum Beispiel: Bin ich ein Deutscher? Bin ich kein Deutscher? Ich bin hier in Deutschland geboren, ich kann aber bis jetzt nicht sagen, dass ich eine Deutsche bin, ich bin auch keine Migrantin – weiß ich nicht -, aber ich bewege mich zwischen drei Kulturen, arabisch, türkisch und deutsch. Es kam einmal vor, dass ein Freund über mich sagte: Ja, das ist eine Deutsche. Da fühlte ich mich plötzlich beleidigt. Aber wenn jemand sagt: Das ist eine Türkin, dann fühle ich mich auch wieder beleidigt. Warum? Ich fühle mich erst einmal als Mensch. Ich bin total gerne in der Türkei, aber da muss man sich immer wieder behaupten. Als Kind habe ich mich als Gastkind gefühlt. Ich war aus der dritten Generation, meine Großeltern waren in Deutschland, meine Eltern sind es immer noch, und ich bin hier geboren. Das Wort Gastarbeiter fand ich als Kind total schön, weil in den türkischen und arabischen Familien Gäste etwas ganz Besonderes sind. Als Kind habe ich mich als etwas total Besonderes gefühlt. Und dann kam der Mauerfall, da war ich nicht mehr Gast wie als Kind oder Jugendliche, sondern eher eine Fremde, arabisch, türkisch. Ich denke, wir haben alle Vorurteile. Wir denken meistens an Unterschiede, aber ich denke an Gemeinsamkeiten. Wenn man sich überlegt, was wir gemeinsam haben, dann kann man sich besser orientieren. Ich habe in Holland studiert, da gibt es andere Sitten und andere Rituale. Alles, was anders ist, ist fremd. Zum Beispiel das Kind, das nach dem Mauerfall meinte, dass die Ossis stinken. Stinken bedeutet, dass die anders sind. Das drückt ein Gefühl von Angst vor dem Fremden aus. Deshalb finde ich in Berlin die Nachbarschaftshäuser total toll, Nachbarschaftszentren, davon habe ich das
erste Mal im letzten Monat gehört. So etwas gab es zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen nicht, zumindest sind diese Einrichtungen nicht so verbreitet. Seit sechs oder sieben Jahren werden die Begriffe Integration, Migranten oder Migrationshintergrund benutzt. Ich habe zum Beispiel immer noch einen türkischen Pass, obwohl ich hier geboren bin. Aber ich stelle mich einfach stur, obwohl meine Heimat hier ist. Zur Integration: Was auf Deutschland zukommt, das wurde vielleicht unterschätzt. Was heißt eigentlich Integration? Es gibt noch keine richtige Definition, habe ich gelesen, Sie können mich gerne widerlegen. Integration muss ja von beiden Seiten ausgehen. Petra Sperling: Das ist ein sehr großes Thema, das wir eigentlich extra behandeln müssten. TN: Okay. Zu Zeiten des Mauerfalls waren meine Eltern nicht zufrieden. Mein Papa hat als Vorarbeiter in einer Fabrik gearbeitet, aber nach dem Mauerfall war er wieder ein ganz normaler Mitarbeiter, insofern hat er sich nicht darüber gefreut, weil seine Stunden gekürzt wurden. TN: Ich möchte mich nicht integrieren, ich möchte ein Teil der Gesellschaft werden. Ich möchte, dass Emanzipation und Partizipation in der Gesellschaft stattfindet. Für mich bedeutet Integration eine Anpassung der Minderheiten an die Mehrheit. Und an wen soll ich mich anpassen? Leitkultur ist für mich nur ein Wort, in Wirklichkeit gibt es keine Leitkultur. Die Aufgaben der Nachbarschaftseinrichtungen sollte man wirklich nicht übertreiben, wir können nicht die Gesellschaftsprobleme lösen und sollten das auch nicht zu unserer Aufgabe machen. Wir können uns an der Straße, zu der wir gehören, mehr oder weniger orientieren, mit Leuten, die wir kennen, etwas tun und nicht mit der gesamten Gesellschaft. Deswegen muss uns klar sein, was wir machen können und wo unsere Grenzen sind. Petra Sperling: Mehr Austausch ist nötig, aber jetzt leider nicht mehr möglich. Vielen Dank.
Was zusammen gehört ...
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Workshop
Ost/West-Begegnungen Ossis - - - begegnen Wessis
Input: Birgit Weber ehem. Geschäftsführerin Verband für sozial-kulturelle Arbeit Gunter Fleischmann Jugendwohnen im Kiez Siegfried Kaschke Neues Wohnen im Kiez Gisela Hübner ehem. Geschäftsführerin Nachbarschaftsheim Mittelhof Moderation: Ingrid Alberding Gisela Hübner: Ich arbeitete 1989 im Nachbarschaftsheim Mittelhof – der Mittelhof liegt im Süden Berlins nahe an der damaligen Grenze zu Kleinmachnow und Teltow. Als die Mauer in der Nacht vom 9. zum 10. November fiel, kam ich in den Mittelhof und sagte: jetzt müssen wir am Wochenende die Türen unseres Nachbarschaftsheimes aufhalten und in unser Nachbarschaftsheim einladen. Wir liefen auf den Teltower Damm und verteilten Einladungen in den MITTELHOF. Der Teltower Damm – bis dahin eine eher ruhige Einkaufsstrasse – war voller Menschen, die mit der S-Bahn, mit Bussen und Autos kamen. Wir öffneten unser Cafe über die gewohnten Öffnungszeiten hinaus, kochten Unmengen Kaffee, besorgten Kuchen, Zeitungen und Bücher und freuten uns über die neuen Nachbarn, die zu einem ersten kurzen Besuch vorbei kamen.. Über unsere Kindertagesstätten Arbeit - wir waren gut eingebunden in die Fachgruppenarbeit Kindertagesstätten des Paritätischen - hatten einige von uns lose, mehr per-
sönliche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen zu Kitas und Schulen in Ostberlin und angrenzenden Orten. Als ich Barbara Tennstedt vom FIPP (Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis) in den nächsten Wochen traf – wir hatten beide private Kontakte nach Ostberlin, weil wir dort groß geworden sind, sagten wir uns: jetzt muss etwas passieren – wir müssen mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem anderen Teil der Stadt ins Gespräch kommen. Wie macht man das in dieser aufgeregten Zeit? Wir beschlossen eine Einladung in Ostberliner Zeitungen aufzugeben. Der Mittelhof als Veranstaltungsort bot sich an. Das Problem war zunächst, dass von uns Westberlinern keine Anzeigen in den Ostberliner Zeitungen angenommen wurden, also schalteten wir Verwandte aus dem Ostteil der Stadt ein, die das für uns taten. Anfang Januar 1990 gab es in der „Berliner Zeitung“ und in der „Neuen Zeit“ folgende Anzeige: „Erziehung in beiden Berlins, Einladung zum Frühstück und zum Kennenlernen“. Wir hatten uns auf 20 bis 30 Rückmeldungen eingestellt. Was dann passierte grenzte für uns an ein Wunder. Das Telefon im Mittelhof stand nicht mehr still, körbeweise kamen Karten, Briefe und Telegramme. „Wir haben einen Kieselstein ins Wasser geworfen. Die Wellen, die dieser Stein verursacht hat, haben uns fast überrollt“, sagte Barbara Tennstedt damals auf einer der Abschlussveranstaltungen dieses großen Tages. Innerhalb von 12 Tagen nach Erscheinen der Anzeige am 13. Januar hatten sich 1300 interessierte Fachleute aus Ostberlin und der DDR zu diesem ersten Treffen, das Ende Januar an einem Sonntag stattfand, gemeldet. Um diese Zusammenkunft zu ermöglichen, die einen kongresshaften Rahmen angenommen hatte, musste schnell und völlig ohne Auftrag „von oben“ zugepackt werden. Ohne großen technischen Aufwand, durch viel Mundpropaganda, beteiligten sich MitarbeiterInnen quer durch Verbände und Behörden innerhalb, aber meist auch außerhalb ihrer Arbeitszeit an den Vorbereitungen So fand das Treffen schließlich in zwei Zehlendorfer Kirchen, einer bezirklichen Kita, einer Schule, in mehreren Eltern-Kindertagesstätten und im Nachbarschaftsheim Mittelhof statt. Es kamen Frauen und Männer aus allen Berufszweigen der Kinder- und Jugendarbeit. Kindergar-
tenpädagogen ebenso wie Lehrer der verschiedenen Schulen, AusbilderInnen, HeimerzieherInnen und Sonderpädagogen, ehrenamtliche Mitarbeiter aus kommunalen Kommissionen, einzeln und in Gruppen – aus Ostberlin und vielen Städten der DDR. Was konnte mit einem solchen Treffen erreicht werden und wie ging es weiter? In 25 Arbeitsgruppen zu den verschiedenen beruflichen und berufsübergreifenden Schwerpunkten, wie Kindergarten- und Horterziehung, Krippenpädagogik, Heimerziehung und Alternativen hierzu, Sonderpädagogik und Integration, Aus- und Fortbildung, Jugendarbeit und Stadtteil- und Kulturarbeit, - ergaben sich viele interessante Gespräche, wobei die Teilnehmer aus der DDR manchmal feststellen mussten, wie wenig sie selbst voneinander wussten. Anschriftenlisten von Kinder- und Jugendeinrichtungen und Schulen wurden ausgetauscht. Gewünscht wurden gegenseitige Hospitationen, Patenschaften zwischen Kitas, viele wünschten sich einen Austausch über Gewerkschaftsarbeit, über unterschiedliche pädagogische Konzepte, zu Bildungsprogrammen in Ost- und West. Viele Ideen, Wünsche und Träume wurden an diesem Tag zusammengetragen. Alle waren sich einig darin, dass die Zukunft nicht auf „Einbahnstrassen“ von West nach Ost oder umgekehrt verlaufen darf. Wir aus dem Westen haben bei der Vorbereitung dieser Veranstaltung eine Struktur genutzt, die wir gern als Netzwerk ansehen, d.h. eine Struktur, die nicht hierarchisch ist, sondern diejenigen miteinander verknüpft, die in irgendeiner Weise etwas ähnliches wollen. Das erste grenzübergreifende Netzwerk zu bilden, war ein Sinn der Veranstaltung, ein Netzwerk, das zum Ziel haben sollte, die Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensbedingungen der Heranwachsenden in beiden Deutschlands zu verbessern. Im Rückblick auf die letzten zwanzig Jahre finde ich, dass ausgehend von dieser Veranstaltung im Mittelhof im Januar 1990 uns einiges gelungen ist. Es wurden Formen der Zusammenarbeit, des offenen fachlichen Austauschs gepflegt, weiter verfolgt und ausgebaut. Das sage ich besonders aufgrund meiner Erfahrungen als aktive Nachbarschaftsheim-Frau.
Ingrid Alberding Bleiben wir mal bei dieser Euphorie. Wir sind alle Zeitzeugen und haben extreme Gefühlswallungen erlebt. Wie war das zu dieser Zeit, begegnete man sich auf Augenhöhe? Oder gab es auf der Veranstaltung eine Atmosphäre nach dem Motto: wir Wessis wissen alles und können euch darüber berichten? Oder war das eine gegenseitige Neugier? Oder war es so, dass die Ossis hören wollten, was da ist? Gab es eine Seite, die Sendungsbewusstsein hatte? Gisela Hübner: Ich glaube, dass es lange Zeit so war, dass die Ossis mehr Fragen an uns hatten als wir an sie. In meiner Erinnerung ist es so, aber wir stellten natürlich auch Fragen. Es ging immer darum, aus den Fragen kurze Aussagen zu machen und rückzufragen, wie seht ihr das, was ist euch wichtig? Aber der Stil war schon, wir wollen es wissen, wie habt ihr es gemacht, bei euch ist es anders. Die Ossis haben uns zum Beispiel ganz viel Material mitgebracht, ich habe Kinderbücher bekommen usw. Ich kriege diese Distanz gar nicht hin, aber ich glaube, dass wir in diesen ersten Wochen und Monaten auf Augenhöhe waren. Aber für uns veränderte sich ja zunächst einmal die Welt nicht so stark. Das Ganze wurde wirklich anders zu den Zeiten, als es dann die Anpassung gab, die Anerkennungsverfahren, wo was gelernt und gemacht wird. Aber daran waren wir nur indirekt beteiligt. Ich habe zwar auch an einer Nachqualifizierung als Dozentin teilgenommen, aber das war anders. Ingrid Alberding Wir kommen jetzt zu dem, was daraus unmittelbar entstanden ist. Ich selber habe damals mit Gunter Fleischmann als Geschäftsführerin von „Jugendwohnen im Kiez“ zusammengearbeitet. Wir haben 16 Jahre lang wunderbar zusammengearbeitet. Zu der von dir geschilderten Veranstaltung konnte ich damals nicht mitgehen. Ich erinnere mich aber wie heute, wie Gunter zurückkam und vollkommen beseelt war, unglaublich, wir haben da Leute kennen gelernt... Aber das soll er jetzt selber erzählen. Gunter Fleischmann: Die Veranstaltung war in der Tat der Startschuss. Ich war auch schon vorher in Ostberlin und Potsdam unterwegs, aber eher privater Natur. Was zusammen gehört ...
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Workshop Ost/West Begegnungen
Ich saß am 9. November mit einem Freund und Kollegen vor dem Fernseher und habe Schabowski sagen hören, dass die Grenze offen ist. Was hat der gerade gesagt? Hast du das auch so gehört? Ja. Wir wohnten, da wohne ich immer noch, in der Nähe der Oberbaumbrücke und sind sofort hingegangen und haben geguckt. Tatsächlich, da kamen die Leute rüber, mit eingezogenem Kopf, weil sie der Sache nicht getraut haben. Direkt an der Oberbaumbrücke war ein Projekt von uns. Die hatten aber gerade Teamfahrt, was wir einmal im Jahr machen, dass das gesamte Team für zwei oder drei Tage irgendwo ins Grüne fährt und Fortbildung macht und gleichzeitig auch Spaß hat. Diese Fortbildungsfahrt ging am 10. November los, weil alles geplant war, sind wir mit unseren Autos auch in Richtung Helmstedt gefahren. Wir sind im Stau stecken geblieben, haben viele Stunden bis Helmstedt gebraucht, sind dann abends dort angekommen und haben gesagt: Hey, was machen wir eigentlich in Helmstedt? Das geht doch gar nicht, wir kehren wieder um, wir müssen zurück. Dann sind wir alle, 50 Mann, wieder rein in die Autos, wieder sieben Stunden im Stau gestanden, am nächsten Morgen um 5 Uhr waren wir wieder in Berlin. Und dann haben wir gesagt: so, jetzt müssen wir unser Café im Grenzbereich aufmachen, weil die da alle rüberkommen. Dann haben wir das Café aufgemacht, so viel Kaffee konnten wir gar nicht beschaffen, wie wir da hätten verkaufen können. Wir haben eine Riesenkasse mit Ostgeld gehabt, mit dem wir überhaupt nichts anfangen konnten, dann sind uns noch die Tassen geklaut worden … So war die Bewegung ganz am Anfang. Dann kam dieser Workshop, wo ich an einer Arbeitsgruppe zum Thema „Alternativen zur Heimerziehung“ teilgenommen habe. Wir waren zu der Zeit als Westberliner schon im Widerspruch zur traditionellen Heimerziehung. In der Arbeitsgruppe waren wir vielleicht 30 Leute. Und bei diesem Workshop haben wir uns dann getroffen. Siegfried Kaschke: Am 9. November habe ich den Schabowski natürlich auch gehört und gesehen. Für mich als gelernten Ossi war das gar nicht vorstellbar, ich dachte erst, es gibt da Missverständnisse in Verwaltungsge-
schichten und so, bis mir langsam ein Licht aufging. Ich bin erst am 10. über die Grenze gelaufen, an der Oberbaumbrücke habe ich mich durch diese ganz kleine Tür gequält. Stundenlang haben sich die Massen über die Brücke geschoben, bis ich dann durch dieses kleine Loch nach Kreuzberg gekommen bin. Kreuzberg kannte ich noch als Kind, das waren die Zeiten, wo man ohne Mauer noch rüber konnte. Ich habe mich staunend umgeguckt, das war kaum wieder zu erkennen. Ich bin überzeugter Ossi gewesen zu dem Zeitpunkt, war in der FDJ, ich war auch SED-Mitglied, hatte dort also auch eine Karriere in einem sozialistischen Betrieb. Damals war ich mit einer jüngeren Frau zusammen, die Studentin war, sie wollte Erzieherin werden. Dann haben wir diese Annonce in der Berliner Zeitung gelesen und haben die Kollegen aus ihrer Studiengruppe informiert. Zu viert sind wir dann, also die drei aus dieser Studiengruppe und ich, zum Mittelhof. Wir sind dort hingegangen, weil uns klar war, dass es die DDR so nicht mehr geben wird, und dass Studenten, wenn sie zu Ende studieren dürfen - man wusste ja nicht, wie sich das alles entwickelt - zusehen müssen, wie sie ihre Arbeitsplätze oder wie wir unsere Arbeitsplätze schaffen. Ingrid Alberding Das klingt ja so, als hättet ihr zu dem Zeitpunkt, also im Januar 1990 nach nur drei Monaten, schon einen ziemlichen Weitblick gehabt oder schon erfasst, was da auf euch zukommt? Siegfried Kaschke: Wir wollten einfach was Neues machen, was auch in die Zukunft gerichtet ist. Ingrid Alberding Also es war unklar, ob die Ausbildung beendet werden kann? Siegfried Kaschke: Ja, klar. Es war einfach abzusehen, dass es die DDR alten Stils so nicht mehr geben wird. Den sogenannten Kapitalismus kannten wir ja aus dem Parteileiterunterricht, der ja auch in den Schulen schon abgehalten worden ist. Da dachten wir eigentlich, wir müssen uns auf eine neue Gesellschaftsordnung einrichten. Also wollten wir gucken, was im Bereich Erzie-
hung so läuft, weil wir ja völlig ahnungslos waren. Wir sind einfach zum Mittelhof gegangen, um was zu erfahren und Fragen zu stellen. Wir haben unterschiedliche Facetten wahrgenommen, speziell in den Jugendwohngemeinschaften als mögliche Betreuungsform. Wir dachten, das könnte ja eigentlich auch was für uns sein. Ich wusste noch aus dem Fernsehen, dass in den 80er Jahren in Kreuzberg auch viele Häuser leer gestanden hatten. Daraus waren ja damals ganz viele alternative Projekte entstanden. Die kannten wir zum Teil aus der Berliner Abendschau. Und im Ostteil der Stadt standen ja auch hunderte von Häusern leer, die wir freigeräumt haben, weil die saniert oder zum Teil auch abgerissen werden sollten. Die wollten wir wieder aufbauen. So sind wir da bekannt geworden. Wir haben damals im Mittelhof gehört was läuft, ich weiß gar nicht mehr, wie viele Fragen wir gestellt haben. Jedenfalls haben wir vier uns hinterher mit Gunter verständigt, dass wir in Kontakt bleiben wollten. Wir wollten uns in ganz kleinem Kreis zusammensetzen, um zu gucken, was da gemeinsam gehen könnte. Gunter Fleischmann: Ich sagte ja schon, wir waren ja direkt in Opposition zur traditionellen Heimerziehung und auch nicht in allen Punkten mit dem kapitalistischen Gesellschaftssystem einverstanden, insofern sind wir da mit wenig Dünkel angetreten. Wir waren nicht die klügeren Wessis gegenüber den doofen Ossis oder so, sondern wir standen in Opposition zu den traditionellen Heimen, die es damals noch in relativ großer Zahl gab. Uns schien es so, dass es bei der Kommunalen Wohnungsbau AG Freiräume gab und man da vielleicht irgendwo ein Projekt in einem der Häuser machen könnte. Insofern war das natürlich für uns auch spannend, also wir hatten ein gegenseitiges Interesse. Wir haben uns tatsächlich mehrmals getroffen. Es war schon relativ bald klar, dass diese Initiative von vier Leuten und noch einigen anderen einen Verein gründen wollte. Das war auch meine Herangehensweise, also gleiche Augenhöhe, wir wollten nicht imperialistisch vorgehen, im Gegenteil. Es bestand natürlich ein Informations- und Kompetenzgefälle, was die westdeutsche
Struktur angeht, das anzugleichen hat eine ziemlich lange Zeit gebraucht. Aber zunächst zur Vereinsgründung. Siegfried Kaschke: Wir sind in uns gegangen – machen wir diesen Verein oder nicht? Wir hatten völlig uneigennützige Hilfsangebote durch „Jugendwohnen im Kiez“. Dann haben wir die Jugendlichen – im wahrsten Sinne des Wortes – zusammengekramt, da waren noch die Eltern mit dabei, damit wir diese sieben Vereinsgründer haben. Wir haben den Verein gegründet, die Vereinssatzung haben wir von „Jugendwohnen im Kiez“ abgeschrieben, nur ein bisschen umformuliert. Dann haben wir überlegt, wie wir heißen wollen: Jugendwohnen im Kiez gibt es im Westen und „Neues Wohnen im Kiez“ dann im Osten. Wir wollten diese Namensnähe haben, um die sich entwickelnde Zusammenarbeit zum Ausdruck zu bringen.
Im April 1990 haben wir diesen Verein gegründet. Ich glaube sogar, dass wir der erste Verein im Ostteil der Stadt waren, der Jugendwohngemeinschaften gründen wollte. Dann haben wir uns beworben, Geld aus diesem Fond zu bekommen, der aus den SED-Kassen gespeist worden ist. Und mit einem leer stehenden Haus in Friedrichshain, wo wir ein multifunktionales Wohn-, Jugendund Beschäftigungsprojekt reinbauen wollten, hatten wir auch Zugang zu diesen ominösen 30 Millionen, die der damalige Bausenator Nagel großzügigerweise nach OstWas zusammen gehört ...
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berlin geben wollte. Das war natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Von diesem Geld hätten wir 1,3 Millionen für unser Projekt haben können, aber der Hausbesitzer wollte mehr Geld und das Haus für 1,7 Millionen verkaufen. Damit war das geplatzt. Dann haben wir die beiden Wohngemeinschaften in Friedrichshain aufgebaut – mit Hilfe von „Jugendwohnen im Kiez“. Wir haben die pädagogischen Konzepte geschrieben, haben vier Erzieher ausgewählt, wir hatten als Verein Mühe, diese Wohnung anmieten zu dürfen. Und auf dem
Osten der Stadt anging. Das Projekt startete im Oktober, also kurz nach der Wiedervereinigung, aber der Vorlauf war ja weit vorher. Die haben sich mit Händen und Füßen gegen eine Anerkennung bzw. eine Betriebserlaubnis gewehrt. Zu der Zeit brauchte es das ja noch nicht, weil es sowieso völlig unklar war in dieser Zwischenphase, ob sie zuständig waren, aber eigentlich wollten sie schon Geld für den Betrieb geben. Das fanden die überhaupt nicht lustig, dass da ein neu gegründeter Ostberliner Verein plötzlich Westgeld kriegen sollte, um dort im Osten Einrichtungen zu betreiben. Das war so quer zu ihrem Denken, dass sie das nicht über das Herz gebracht haben. Ingrid Alberding Sie wollten das Geld dafür lieber uns geben. Sie wollten auch, dass dort Wohngemeinschaften entstehen, aber sie wollten nicht, dass das ein Ost-Träger macht.
Weg zum Oktober 1990, als wir dann auch grünes Licht für alles bekamen, kam dann die Währungsunion. Dann war es klar, dass es keine eigenständige DDR mehr geben wird. Diese besondere Lage – Westberlin/Ostberlin – führte ja dazu, dass Ostberlin im Grunde genommen keine eigene Regierung bilden konnte, wie das in Brandenburg oder Thüringen der Fall war, sondern wir wurden der Verwaltung Westberlins unterstellt. Irgendwann war dann die Hürde überwunden, aber da gab es intern noch einen Kampf, von dem wir gar nichts wussten. Darüber berichtet Gunter. Gunter Fleischmann: Wir haben große Mühe darauf verwandt, dass die alten Projekte, also die beiden Wohngemeinschaften in Friedrichshain, eine Förderung von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie bekommen. Die waren irgendwie blockiert, was den Geldtransfer in den
Gunter Fleischmann: Richtig. Dann wollten sie uns die Verwaltung des Projekts machen lassen, weil sie dadurch keinen Stress mit der Abrechnung haben würden. Sie hatten die Befürchtung, dass das Geld da irgendwo in dunklen Kanälen verschwindet und sie darauf keinen Zugriff mehr haben würden. Wir haben alles Engagement und alles Gewicht da reingelegt und an die Moral appelliert und an die deutsche Brüderlichkeit und was weiß ich alles. Irgendwann haben sie dann gesagt: okay, gut, wir probieren es mal. Als die Wiedervereinigung kam, war das schon alles eingegliedert, da hatte der Verein schon das erste eigene Geld, womit gewirtschaftet werden konnte, damit diese Projekte loslegen konnten. Ingrid Alberding Mit der Auflage, dass wir die Vereinsmitglieder schulen. Gisela Hübner: Bei den Nachbarschaftsheimen hatten wir das ein bisschen anders. Der damalige Senatsdirektor Dietmar Freier bekam den Auftrag, die Verwaltungsumgestaltung in Ostberlin zu machen. Das machte er so ab März 1990. Er hat die Nachbarschaftsheime immer aus der Überzeugung unterstützt, dass Bürgerengagement
und ehrenamtliche Arbeit, Mittun und Gestalten wichtig seien. Die Berliner Nachbarschaftsheime wurden zu dieser Zeit von der Senatsverwaltung für Jugend gefördert, aber die rührte sich überhaupt nicht. Aber die Sozialverwaltung für Soziales war ansprechbar und organisierte Geld zur Gründung von Nachbarschaftsheimen im Ostteil der Stadt – und zwar mit den dort neu gegründeten Vereinen. Der damals erste geförderte Verein war das FreiZeitHaus in Weißensee. Ingrid Alberding Das ist die Verbindung zu Frank Börner. Er sollte eigentlich hier sein und selbst erzählen. Ich habe es so verstanden, dass er ein vom Senat eingesetzter Scout war – über den Verband -, der schauen sollte, welche Initiativen es in Ostberlin gab. Sieben Einrichtungen sollten gefördert werden, er sollte herausfinden, welche dazu geeignet wären. Birgit Weber: Ja, das war so: Ich bin 1992 zum Verband gekommen, als ich anfing sagte man mir, dass ich auch einen Mitarbeiter in Berlin habe. Das war nicht Frank Börner, sondern das war Gudrun Israel. Und Frank Börner und Gudrun Israel haben sich das so ein bisschen aufgeteilt. Frank, der offiziell beim Landesverband in Berlin angestellt war, hatte die Aufgabe, in Ostberlin zu gucken, wo sich etwas rührt, was eventuell ein Nachbarschaftsheim werden könnte, dort erste Austauschtreffen zu organisieren, miteinander reden, mal hinfahren. Gudrun hatte die gleiche Aufgabe, aber für den Rest der ehemaligen DDR. Ingrid Alberding Die beiden waren ost-sozialisiert, das finde ich wichtig. Gisela Hübner: Es kamen auch Anfragen aus Osteuropa, weil die Grenzen dort ja auch brüchig wurden, insofern gab es dann die ersten großen Tagungen. Warst du da schon dabei, Torsten? Torsten Wischnewski: Die großen Tagungen habe ich nicht so erlebt, weil ich sehr viel im Inneren vom Pfefferwerk agiert habe. Aber wir sind ab März 1991 gefördert worden. Wir hatten einen Antrag gestellt, zur Begutach-
tung kam dann jemand vom Senat und vorher gab es eben ein paar Gespräche mit Herbert Scherer und auch mit Frank Börner. Das kann ich nachher noch mal kurz ausführen, wie das bei uns war, weil das jetzt so weit vom Thema wegführt. Ingrid Alberding Ich fände es ganz gut, wenn Birgit gleich weiter über das Hospitations-Projekt berichtet. Birgit Weber: Im Verband gab es so eine Atmosphäre, dass da Sachen möglich sind, die sonst nicht möglich waren. Es gab schon vor dem Mauerfall offizielle und inoffizielle Zusammenarbeiten zwischen Ost und West, das war diesem Verband schon vertraut und hatte mit der eigenen Entstehungsgeschichte zu tun. Ähnlich wie wir dann in den Osten marschiert sind, sind ja die Amerikaner bei uns reingekommen, da gab es Parallelen, wo es einfach eine Tradition gab, mit solchen Situationen umzugehen. Wir haben Ende 1992 dann überlegt, wie sich deutschlandweit ein fachlicher sozialer Austausch zwischen Ost und West in die Wege leiten ließe. In Berlin war das relativ einfach, weil hier die Wege nicht so weit waren. Es entstand die Idee, dass man eine Bewegung organisieren müsste, die nicht nur persönlich sein kann, aber auch nicht nur fachlich, weil es die gewünschte Augenhöhe gar nicht gab. Man konnte Projekte in Berlin nicht mit Projekten in Nordrhein-Westfalen vergleichen, die hatten zu unterschiedliche Strukturen. In Nordrhein-Westfalen war damals eine ganz starke GWA-Fraktion, in Berlin eher die Nachbarschaftsarbeit, also da ging sowieso schon alles durcheinander, und dann kam der Osten noch dazu. Wie kriegen wir unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche Leute zusammen? Die Idee war, Einrichtungen zu finden, die bereit waren, für zwei Wochen jemanden aus einer Einrichtung aus dem Osten aufzunehmen, während gleichzeitig ein Mitarbeiter aus dem Westen dafür in den Osten ging. Wir haben eine Ausschreibung gemacht, auf die sich gleich über 40 Einrichtungen aus dem Westen gemeldet haben. Im Osten habe ich mit Gudrun alle Adressen abgeklappert, die wir kannten, Volkssolidarität, Senioren-Veteranen-Clubs, Umwelthäuser, die gerade drei Was zusammen gehört ...
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Wochen alt waren, also es war ganz gemischt. Wir haben gesagt, wir gucken uns alles an und was sich dann irgendwie nicht wehrt, das ist dabei. Es war einfach unmöglich, dort Standards anzulegen. Sehr gut war, dass Gudrun sehr ost-sozialisiert war und eine bessere Verbindung hatte, als wenn ich als West-Frau alleine dort hingekommen wäre. Genauso ging es auch andersrum, insofern sind wir immer als Duo aufgetaucht, was an sich schon ein Ereignis war. Teilweise musste ich Gudrun fragen, was die Leute eigentlich gesagt haben, obwohl sie ja Deutsch sprachen, aber für mich war das teilweise schwer einzuordnen. Das war unheimlich gut, wir haben uns sehr gut ergänzt und ich konnte besser mit Sachen umgehen, die ich gehört hatte. Alle die wollten haben wir zu einem gemeinsamen Seminar eingeladen. Wir kannten ja schon alle so ein bisschen über die Querkontakte, wer zu wem passte, hatten uns kleine Spickzettel gemacht, dem Peter Stawenow habe ich dann gesagt, guck dir mal Wuppertal an, und in Wuppertal habe ich gesagt, wenn da ein Herr Stawenow kommt, dann guckt ihn euch an. Das Seminar haben wir dann zu einer Art Marktplatz gemacht. Im ersten Seminar hatten wir zwei Referentenzwei, einen aus dem Westen und einen aus dem Osten. Die beiden haben das total toll gemacht, sie haben das, was war, an ihren eigenen Biographien verdeutlicht. Das hatte den großen Vorteil, dass niemand sagen konnte, so war das nicht, weil beide sagten: so habe ich das erlebt. Das war eine unheimlich gute Sache für die Diskussion und damit war an diesem Tag schon das Eis gebrochen. Dann hatten wir noch mal einen Marktplatz, wo jeder seinen Stand hatte und erzählen musste, was er macht. Der andere kam als Besucher und fragte. Nach zwei Tagen war jeder versorgt und hatte Termine ausgemacht. Wir haben dann geschaut, ob alles klappt, ob er ein Bett hat, usw. Wir hatten vom Bundesministerium Geld zur Verfügung gestellt bekommen, so dass wir auch für die Unterkunft etwas beisteuern konnten. Auf der einen Seite ist auf einer persönlichen Ebene etwas passiert, weil man miteinander viel mehr und tiefer reden konnte, weil man zwei Wochen zusammen war. Auf der fachlichen Ebene war nirgends eine 1 : 1-Übersetzung
möglich, weil gerade im Osten viele Leute in einer Soziokultur gelandet waren, wo sie noch gar nicht wussten, ob sie dort überhaupt sein wollten. Sie waren sehr damit beschäftigt sich zu orientieren. Es war sehr gut, dass die Wessis nicht wussten, wie Ossi-Land funktioniert, von daher dumm waren, und die anderen waren auch dumm, also das war eine total gute Ausgangsbasis. Vor Ort war das noch besser, weil sich auf die Art eine tolle Verbindung zwischen Praxis und Theorie ergab. Ich würde sagen, diese Austausch-Projekte sollte man viel öfter machen. Und diese Märchen?, man hätte keine Zeit, irgendwo für zwei Wochen rauszukommen, das ist Quatsch. Was man da mitkriegt, das ist viel mehr als man im Studium lernen kann. Das war eine tolle Sache. TN: Wir wollten wirklich sozial-kulturelle Arbeit machen und unsere Teilnahme am Austausch-Projekt in Bremen brachte die letzte Entscheidung, dass wir ein Nachbarschaftshaus werden wollten. Das ist im Prinzip in Bremen entschieden worden. Es war wirklich eine intensive Arbeit, das kann man sich kaum vorstellen. Es gab so unglaublich viele Ebenen, auf denen man sich begegnet ist. Und es war eine echte Neugier aufeinander. Es gab nie einen Punkt, wo man gesagt hat, du bist schlauer, du bist dümmer, gar nichts. TN: Kanntet ihr euch schon vorher? TN: Nein, gar nicht. Wir waren auf dem Markt der Möglichkeiten gewesen. Ingrid Alberding Wie waren denn die Erwartungen? TN: Wir wollten schon gucken, wie passiert Nachbarschaftsarbeit woanders, wie funktioniert das, was kann man übernehmen, was kann man vom gesetzlichen Rahmen her machen, weil das nicht vollständig klar war. Natürlich wollten wir auch gucken, wie Menschen in diesen Einrichtungen miteinander umgehen. Das war eine Erfahrung, das ist kaum zu erklären, da muss man in den Tiefen dabei gewesen sein. Diese vielen verschiedenen Veranstaltungen dort, das war einfach faszinierend. Eine Spendenhilfe für russische Kinderhäuser fand gerade
statt, auf dem Weg nach Russland sind wir dann auch wieder zu Hause abgeworfen worden. Auch solche Sachen waren toll, diese Vielfalt zu erleben, wo sich Nachbarn auch immer wirklich darum kümmern, was das Haus selber macht und was die Menschen untereinander machen, das fand ich faszinierend. Für die Bremer war es seltsam, dass wir damals alle über ABM-Gelder oder sonstige Fördertöpfe finanziert wurden. Ich war zu der Zeit gerade arbeitslos, das haben die Bremer überhaupt nicht verstanden, wie ich da hinfahren kann, wenn ich doch nicht arbeite und gar nicht weiß, wie es weitergeht. Ich war aber relativ optimistisch und sicher, dass es irgendwie schon weitergehen wird, weil ich das sehr gerne umsetzen wollte, was ich in Bremen gesehen habe. Also das war wirklich sehr schön. Einer der Tagungsteilnehmer, Micha aus Köln, kam mich danach besuchen. Der war völlig überrascht, als er ankam, war ausgerechnet mein Geburtstag. Dann sind wir erst mal zusammen essen gegangen unter dem Motto: wir müssen erst mal was Nettes machen. Auf seiner Seite war sehr viel Neugier, was war die Stasi, wie stehst du dazu, usw. Neben der Neugier gab es viel Bestätigung: was ihr schon auf die Beine gestellt habt, das ist faszinierend. Wir haben zu diesem Nachbarschaftstreff in Köln auch heute noch Kontakt, wenn auch sporadisch, aber wenn wir uns sehen, finden wir es toll. Peter Stawenow: Ich konnte auch an diesem Hospitationsprojekt teilnehmen. Ich muss Birgit Weber erst mal ein Kompliment machen, weil sie mit einfachen Worten eine komplizierte Situation dargestellt hat. Es ist nach den Berichten auch von eurer Seite deutlich geworden, dass das eine sehr spannende Zeit gewesen ist, wo jeder auch für sich selber nachgedacht hat, ob die bisher vertretenen Werte noch gültig oder relevant sind und was sich alles verändert. Die Gespräche, die durch diesen Hospitationsaustausch stattgefunden haben, haben sehr schnell dazu geführt, auf beiden Seiten Vorurteile abzubauen, was auch auf einer persönlichen Ebene stattgefunden hat. Ich hatte die Chance, mir eine der Spitzeneinrichtungen der Nachbarschaftsarbeit in Wuppertal anzuschauen. Jeder aus der Szene weiß, dass das eine Super-Einrichtung ist.
Gleichzeitig haben wir das Nachbarschaftszentrum „Bürger für Bürger“ in Mitte aufgebaut und standen damit ganz am Anfang, 50 Meter Luftlinie zur Bernauer Straße, der U-Bahnhof hatte Eingänge im Osten und im Westen. Dort habe ich gemerkt, dass ich nicht nur in der Arbeit am Bildungsprozess bestärkt wurde, sondern auch für mich persönlich eine Menge rausgeholt habe. Das war das Wertvolle daran. Es entstanden auch wertvolle Kontakte, u.a. zum Verband für sozial-kulturelle Arbeit. Dort konnte ich Fragen stellen, durch die ich die Leute dort auch angeregt habe, und durch die Antworten ist mir wiederum geholfen worden, in diesem Selbstfindungsprozess Bestätigung zu finden. Gisela Hübner: Wie ernst das gemeint war, das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Peter später Mitglied im Bundesvorstand wurde, also die Augenhöhe stimmte, die Berliner Landesgruppe hat bewusst Kollegen aus dem Osten mit eingebunden hat, was ja bis heute noch gilt. Peter Stawenow: Über die Gespräche mit Gudrun Israel will ich bestätigen, was Birgit Weber über Gudrun gesagt
hat. Es tut mir immer noch weh, dass sie nicht mehr lebt und nicht mehr bei uns ist. Das war eine ganz, ganz ehrliche Frau. So wie Birgit das geschildert hat. Aber es war immer noch ein Unterschied zwischen Berlin und den neuen Bundesländern, diesen Unterschied gab Was zusammen gehört ...
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es schon zu DDR-Zeiten, zwischen Berlin und dem Rest der DDR, weil es andere Bedingungen gab. In Berlin gab es die kurzen Wege, während es in den neuen Bundesländern eine ganze Zeit dauerte, bis Finanzmittel transferiert wurden, um voranzukommen. Das war nicht unbedingt eine Frage der Konkurrenz. Sondern der Selbstfindungsprozess war schwerer. In den ländlichen Gebieten ist es noch komplizierter gewesen, weil sich da alle von Angesicht zu Angesicht kannten.
ganz normal reden. Ich weiß, wir haben eine lange Zeit gebraucht und da war auch immer so ein Ding drin, na, nur weil ich jetzt Ostler bin, bin ich blöd, oder was? Nein, nein, natürlich nicht. Also da schwang schon immer unter den Worten was mit, wo wir uns ganz schnell raufen mussten. Bis wir sagen konnten: Hey, jetzt entspannt euch mal, jetzt reden wir mal auf einer Augenhöhe. Aber in der Anfangszeit von 1992 bis 1995 gab es viele Missverständnisse dabei, auch verbale.
TN: Ich finde es toll, wie konfliktfrei das bei euch gelaufen ist. Bei uns im Projekt, als wir die ersten Kollegen in Ostberlin eingestellt haben, die verstanden erst mal kein Wort. Ihnen fehlte diese Fähigkeit, ein minder gutes Ergebnis wahnsinnig gut zu verkaufen. Das konnte der Westler genial. Die ersten Diskussionen und Vereinssitzungen waren sehr schwierig, also wir kamen irgendwie nicht richtig zusammen. Man kann ja auch sagen, sorry, das hat nicht richtig geklappt. Die Westler sahen ständig alles extrem positiv, egal, was das war. Und wir wussten das auch so auszudrücken. Und die Ostler saßen da: Von was redet ihr? Wir verstehen euch nicht. So locker war das auch nicht, eher kopfschüttelnd, wir haben uns teilweise nicht verstanden. Die Kritik der Ostler war: Kannst du nicht mal ganz normal über die Arbeit reden und nicht so geschwollen? Wir machen hier Arbeit mit Jugendlichen, da kann man
TN: Es gab eine richtig unterschiedliche Sprache. TN: Völlig unterschiedliche Sprachen, nicht nur die Wörter an sich, auch der Habitus dabei, wie wir Realität darstellten, das wurde dann nur mit Kopfnicken quittiert. Elke Ostwaldt: Ich bin von Outreach, Mobile Jugendarbeit. Dirk und ich sind von Anfang an mit dabei, also seit 1992 sind wir bei dem Projekt. Ich habe die erste Zeit in Schöneberg gearbeitet, 1996 bin ich dann in den Osten nach Altglienicke gegangen. Ich hatte das große Glück, Übersetzer und Übersetzerinnen zu finden, weil man wirklich keine gemeinsame Sprache hatte. Die eine Übersetzerin war für mich Hella, mit der wir sehr eng zusammengearbeitet haben. Ich habe in Altglienicke in einem kleinen Container mit Jugendlichen Jugendarbeit gemacht. Wenn ich Unterstützung und Übersetzungshilfe brauchte, dann hat Hella mir sehr geholfen, wir haben uns sehr gut ausgetauscht. Der andere Übersetzer war ein junger Kollege, Steffen Kindscher. Wir haben oft zusammen gesessen und Steffen hat erzählt, wie er die DDR erlebt hat, während ich erzählt habe, wie ich in Kreuzberg lebe. So haben wir uns gegenseitig immer ausgetauscht. Er hat mir die ganzen Fachbegriffe in der DDR erklärt, die ich überhaupt nicht kannte. Dirk hat schon recht, es war zuerst keine Begegnung auf Augenhöhe. Aber jetzt mit Miriam bestimmt. Miriam und ich haben in Köpenick eine sehr gute Zusammenarbeit, wir moderieren mittlerweile Fachveranstaltungen zusammen. Ich glaube, da ist ein sehr gutes Netzwerk entstanden, aus der praktischen Arbeit heraus und obwohl wir so weit entfernt voneinander sind. Aber Hella kann vielleicht auch noch was dazu sagen.
Hella Pergande: Damals hätte ich das nicht gedacht, aber im Nachhinein denke ich, wir waren auf gleicher Augenhöhe, weil wirklich beide Seiten von einander gelernt haben. Aber als wir damals in der Situation waren, da war es schon so, dass wir uns auch ein bisschen über die Wessis lustig gemacht haben: Schön aufpassen und zuhören, die haben Kohle, die wollen wir auch. Aber heute würde ich behaupten: Doch, alle haben von unserer Zusammenarbeit profitiert, gerade durch solche Reibereien. Vielleicht bin ich auch schon zu sehr Wessi und höre es nicht mehr, aber ich glaube, die Sprache ist für mich als Ossi ehrlicher geworden, wenn ich jetzt mit einem Kollege rede. Das ist nicht mehr dieses „alles so toll“, sondern es geht irgendwie mehr um reale Schwierigkeiten und Lösungswege. TN: Ich finde, das Reden von der Unsicherheit wird etwas überstrapaziert. Wir haben uns ja an das System rangerobbt, was im Westen selbstverständlich war, für uns aber was ganz Neues, wir haben die gleiche Augenhöhe einfach übertrieben. Ich erinnere mich, als ich 1995 eingestiegen bin, da hat mir meine Vorgängerin gesagt: Also sie mache das so, wenn sie was wissen will, dann ruft sie Herbert Scherer an und sagt ihm, dass sie so lange am Telefon sitzen bleibt, bis sie das begriffen hat, um was es geht. Das zeigt ja, wie schwierig das auch war, bestimmte Dinge zu verstehen und überhaupt auf gleiche Augenhöhe zu kommen. Torsten Wischnewski: Ich will noch einen anderen Aspekt reinbringen zu dem Thema, wie quasi das Pfefferwerk entstanden ist, weil das eine andere Dynamik hatte. Aber vielleicht später dazu. Gunter Fleischmann: Es gab eine Art gleicher Augenhöhe, auf der persönlichen Ebene. Also ich habe es so empfunden, dass es gegenseitigen Respekt gab und auch ein Interesse daran, Dinge zu erfahren, zu fragen: Wie war es eigentlich bei euch? Auf der Ebene der Arbeitsperspektive auch, denn wir wollten ja gerne mit dafür sorgen, dass im Osten ein ähnlicher Verein wie unserer entsteht. Das war für uns ein Anliegen, weil wir dachten, dass Alternativen
zur Heimerziehung etwas Gutes sind. Wir wollten auch gerne, dass diese verrotteten Ostheime bald ein Ende haben. Das war also die gleiche Perspektive auf beiden Seiten. Dadurch, dass die anderen aus dem Lehrerinstitut kamen und jung waren, war es so, was die Kompetenzen, sich in dem System zu bewegen, anging, gab es keine gleichen Partner auf Augenhöhe. Da waren wir diejenigen, die wussten wie es geht, und die anderen waren doof, also so war das einfach. Wir haben die beherbergt für zwei Jahre, weil sie auch keine Kohle hatten, also auch da waren sie nicht auf gleicher Augenhöhe. In unserem Büro haben sie einen Schreibtisch und ein Telefon gekriegt und konnten da sitzen. Dann kam die Phase der Pubertät, sage ich mal, wo die sich abgelöst haben. Da hat es dann auch ein bisschen geknirscht und wurde kurzfristig etwas unangenehm. Dann sind sie in ein eigenes Büro umgezogen und hatten ihren eigenen Verein, eigenes Geld, usw. und wir sind nach wie vor freundlich verbunden, die Namensnähe ist sowieso da, die können wir auch nicht mehr ändern, wir treffen uns auch. Beide Vereine haben sich eigenständig weiterentwickelt – mit der Voraussetzung, dass wir verabredet haben, dass „Neues Wohnen im Kiez“ die Ostbezirke bedient und „Jugendwohnen im Kiez“ die Westbezirke. Damit war Konkurrenz ausgeschaltet. Inzwischen haben die doppelt so viele Mitarbeiter wie wir, insofern ist die Augenhöhe kein Problem mehr. Aber es gibt nach wie vor ein großes gegenseitiges Interesse und ich weiß, ich kann immer den Geschäftsführer von euch anrufen, kriege alle Interna von ihm, wenn er bei mir anruft, dann kriegt er auch alle Interna. Insofern ist das ein engeres Verhältnis als zu einem anderen Träger – und das ist geblieben. Das speist sich natürlich aus der gemeinsamen Geschichte. Torsten Wischnewski: Ich will einen persönlichen Aspekt reinbringen und einen organisatorischen Aspekt. Pfefferwerk ist als Initiative um einen Ort, nämlich um den Pfefferberg, entstanden. Ich bin seit September oder Oktober 1990 dabei, da gab es im Haus der Talente eine ominöse Sitzung mit 200 Leuten, alle Kettenraucher, so ein Bild habe ich davon. Diese Menschenmasse versuchte darWas zusammen gehört ...
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über zu diskutieren, wie man diese alte Brauerei im Prenzlauer Berg retten und zu einem Kulturzentrum oder sozio-kulturellen Zentrum mit kleingewerblichen Aspekten machen kann. Glücklicherweise bin ich dann mit einer der damaligen Protagonistinnen, Karin Ludwig, ins Gespräch gekommen. Sie kam auf mich zu und meinte, sie hätte mich noch nie gesehen und fragte wo ich herkomme. Ich sagte, dass ich bei einem kleinen Bildungsverein in Westberlin bin und wir hätten uns überlegt, dass wir gerne eine Jugendbildungsstätte eröffnen würden. Und wenn, dann jetzt, und am liebsten in einem Fabrikzusammenhang, und dass wir von befreundeten Künstlern aus Kreuzberg gehört haben, wir müssten zum Pfefferberg, weil da das Leben ist. Zwischen Kreuzberg und Prenzlauer Berg gab es eine ganze Menge Austausch. Meine persönliche Situation: Ich war 25, klarer Antikapitalist mit sozialistischer Prägung. Kurz vor dem November 1990 war ich als Student in Dänemark auf einer Fortbildung zum Thema „Heimvolkshochschule in Dänemark, Zweiter Bildungsweg, Möglichkeiten zum Nachholen von Schulabschlüssen“. Die dänischen Sozialisten fragten uns nun als Studenten: Erklärt uns doch mal wie es in Deutschland weitergehen wird. Mir war gar nicht wohl dabei, dass diese Kraft der friedlichen Revolution die Mauer durchbricht und quasi ein Großdeutschland erwächst mit allen schlimmen geschichtlichen Aspekten, die es ja schon zweimal gegeben hatte. Ich war damals politisch sehr engagiert, aber auch in gewerblichen Zusammenhängen, war in einem Arbeits-Kollektiv aktiv, war bei dem ersten linken Privatsender Radio 100 aktiv, ein Bürgerradio. Ich war äußerst distanziert, habe mich dann ab und zu im Roten Rathaus am Runden Tisch wieder gefunden, wo Leute darüber sinniert haben, wie die DDR gerettet werden kann. Da habe ich mich auch nicht sehr wohl gefühlt. Noch ein persönlicher Aspekt davor: Ich war seit 1987 nicht mehr in die DDR gereist. Ich hatte vorher immer freundschaftliche Beziehungen nach Magdeburg und Halberstadt gehabt. Irgendwann war das vorbei, warum auch immer, ich kam nicht mehr über die Grenze und konnte nicht mehr einreisen. Von daher war ich äußerst distanziert.
Aber mit meinem Kollegen aus dem Berliner Arbeitskreis für politische Bildung sind wir dann gucken gegangen und bei den Pfefferberg-Aktivisten gelandet. Im Herbst 1990 waren dort unheimlich viele Theaterschaffende, Bildhauer, Pantomimen, bunt gemischt. Aus diesem Kreis heraus gab es einen Kern von zehn Protagonisten, die einfach einen Verein im September 1990 gründeten, die Vereinsgründung fand in einer Eckkneipe statt. Und seitdem bin ich dem Pfefferwerk immer verbunden gewesen. Diese Auseinandersetzung zwischen Ossis und Wessis hat tatsächlich auch stattgefunden, aber eigentlich aus meiner Perspektive erst ein Jahr später, also Ende 1991 und 1992, und zwar im Vereinsvorstand. Diese Auseinandersetzung wurde sehr heftig und intensiv geführt, weil der Verein Pfefferberg e.V., wo auch das Nachbarschaftshaus damals gefördert wurde, nur Ost-Protagonisten hatte, ich war der Einzige, der west-sozialisiert war. Ich war aber ab 1991 einer der Geschäftsführer in der Pfefferberg Stadtkultur gGmbH und habe da auch jugendlich und fröhlich mitgewirkt, das Ganze voranzubringen. Es gab tatsächlich intern einen Konflikt darüber, wie viel West soll es eigentlich in Prenzlauer Berg geben oder wie viel Ost ist in dieser Initiative zu erhalten? Das war kurz, aber heftig. Es war dann aber auch beendet, weil Prenzlauer Berg als Treffpunkt immer sehr offen war und immer neue Leute kamen, die neue Veranstaltungen machten. Von daher gab es bei uns nicht die Situation, dass schon jemand Bescheid weiß, wie es funktioniert, sondern die Leute haben es gemeinschaftlich gelernt. Mein Vorteil war, dass ich die Strukturen in Westberlin kannte, ich wusste, zu wem man gehen musste, um Rat zu holen, oder was in einem Antrag stehen musste, um einen Antrag durchzukriegen. Das war ein ziemlich großer Vorteil. Wir haben es sehr lange so gehalten, dass wir selbst als Pfefferwerk eine Institution waren, um Dinge zu ermöglichen. Ich habe mich nur in der Rolle gesehen, zu sagen, wie man bestimmte Dinge ermöglichen kann. So haben wir relativ lange agiert, bis diese ganze ABMund SAM-Soße richtig losging, so ab 1992 oder 1993/4. Da haben wir uns dann bewusst entschieden, als Träger
der Jugendhilfe aufzutreten, mit Jugendarbeit, später Kindertagesstätte, das erzieherische Hilfen, da hat es mehr die Richtung von denjenigen gegeben, die intern die Protagonisten gewesen sind. Das hat einen anderen Zusammenhang als bei anderen Projekten. Ingrid Alberding Es ist noch einmal ein eigenes Thema, auf diesen Beschäftigungsteil einzugehen. Welche Instrumente sind damals verwendet worden? Welche Auswirkungen hatten die? Wie haben sie es ermöglicht, Strukturen zu schaffen oder auch zu zerschlagen? Aber ich wollte Elke noch mal die Gelegenheit geben. Elke Ostwaldt: Ich war damals in der Umweltbewegung und wir hatten eine ABM-Stelle im Anti-Atom-Büro im Ökodorf in Westberlin. Ab dem 10. November kamen immer ganz viele, die sich Informationsmaterial besorgt haben. Wir haben Päckchen gepackt mit allem was wir hatten. Vorher war ja das Unglück im Atomkraftwerk Tschernobyl und wir wollten den Kindern von Tschernobyl helfen. Damals gab es in Ostberlin war das Neue Forum, die haben einen ähnlichen Verein gegründet. Wir waren basisdemokratisch, offen für alle. Wir haben dann Kontakt aufgenommen und sind auch eingeladen worden. Als wir kamen, waren wir vollkommen irritiert, weil wir überhaupt nicht verstanden haben, was da ablief. Das war ganz anders als bei uns. Wir wurden vorgelassen, durften unser Anliegen vortragen. Dann wurden wir wieder rausgeschickt vor die Tür und sie haben ohne uns diskutiert. Wir fühlten uns da vollkommen ausgeschlossen, weil das eine ganz andere Art der Kommunikation war. Das werde ich nie vergessen.
haben. Und solche Hoffnungen erfüllten sich dann häufig nicht. Das Zusammenwachsen auf der Verwaltungsebene war und ist bis heute ganz schön schwierig. Ingrid Alberding Was ich heute mitnehme, ist, dass es im Bereich der Nachbarschaftsheime doch eher leicht ging, jedenfalls klingt es so. Es scheint so, als ob es sehr darauf ankam, ob man in der Verwaltung Förderer oder Gegner für seine Projekte hatte. TN: Zumindest bei dem Hospitations-Projekt war es ein Zusammenarbeiten. Einfach mal irgendwo hinfahren und gucken, dann wieder zurück, das ist etwas anderes, als wirklich zusammen zu arbeiten. Es wurde ja auch immer wieder vorbereitend diskutiert, was wir machen, wenn die Mauer wieder geschlossen würde. Es gab die Idee, dass dann alle Nachbarschaftshäuser zu Schlafstätten umgewandelt würden. TN: Das Hospitations-Projekt lief über zwei Jahre. Ingrid Alberding Zwei Jahre, da ist auch Zeit, um Alltagsprobleme und Konflikte zu produzieren. Und offensichtlich hat es trotzdem geklappt. Ich danke allen. Gisela Hübner: Hat es geklappt oder hat es nicht geklappt? Dass Nachbarschaftsheime in Deutschland und in Berlin Hilfe von außen bekommen haben, das hatte Geschichte, an die man sich nach der Wende noch mal erinnert hat. Wir haben über diese Geschichte erneut nachgedacht, über so wundervolle Worte wie Toleranz und gegenseitige Achtung und Offenheit für Andersartigkeit. Wir mussten anfangen, das auch zu leben.
TN: Nach der Wende kamen viele Amtsleiter aus dem Westen in den Osten, weil damals Amtsleiter auch die Treppe hoch gefallen sind, also dieses ganze Heer von Leuten, das ging nicht ohne Blessuren ab. Dann bekamen die Bezirksämter neue Strukturen und wie das alles zukünftig funktionieren sollte. Da hat sich jeder natürlich einen Kopf gemacht, wo er in diesem System dann bleibt. Natürlich auch die Hoffnung gehabt, so, jetzt werden auch wir mal Einfluss auf das Geschehen Was zusammen gehört ...
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Kultur-Botschaften Sozial-Kultur begegnet Sozio-Kultur
Input: Eva Bittner und Eva-Maria Täuber Theater der Erfahrungen Renate Wilkening (Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der ufafabrik) Margret Staal Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren Moderation: Tanja Ries Tanja Ries: Wir wollen schauen, ob diese traditionellen Zuordnungen von sozio-kultureller Arbeit und sozial-kultureller Arbeit noch stimmen. Wo berühren sie sich? Wo gibt es klare Abgrenzungen? Dient in der sozial-kulturellen Arbeit die Kunst nur dem Sozialen? Wie sieht das auf der Verbandsebene und in den Einrichtungen aus? Es gibt drei Inputs: Es starten Eva Bittner und Eva-Maria Täubert vom Theater der Erfahrungen, das zum Nachbarschaftsheim Schöneberg gehört. Es folgt Renate Wilkening vom Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der Ufa-Fabrik, dort verbindet man das Soziale mit der Kultur. Danach hören wir Margret Staal von der Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren, die auch über deren Entwicklung etwas sagen kann. Eva Bittner: Ich hatte am Anfang ziemlich Mühe mit den Begriffen sozio-kulturell und sozial-kulturell. Ich fand, diese Begriffe sind schwierig zu benutzen, weil ich den
Unterschied nicht so richtig sah. Dann habe ich mir aber erklären lassen, dass die Sozio-Kultur mit dem Denken eher bei der Kulturarbeit anfängt, während die sozial-kulturelle Arbeit eher bei der Sozialarbeit anfängt und die Kulturarbeit mit einbezieht. Eva-Maria Täubert: Als Eva mich mit diesem Thema konfrontierte, dachte ich darüber nach, wie es damals eigentlich genau war. Wir hatten ja eigentlich gar nicht (so recht) die Wahl der Entscheidung, die war relativ zufällig. Kurz nach der Wende haben sich im Osten unheimlich viele Vereine gegründet. Diese Vereine haben sich häufig in der Nachfolge der Kulturhäuser installiert. Waren die Vereine umweltorientiert, dann wurde das eine eher umweltorientierte Szenerie. Wenn es – wie in Grünau – ein ausgemachter Kulturverein war, dann wurde es ein Treff mit starkem kulturellen Akzent. Das barg allerdings in Grünau von Anfang an ein paar Probleme in sich, weil dieser Verein fast elitär kulturell war. Die Vereinsvorsitzende wollte ein Ausstellungshaus aufmachen. Dazu muss man sagen, das Bürgerhaus Grünau war ein Stasi-Haus gewesen, in dem eine Abhörzentrale war, speziell für Stefan Heym, der um die Ecke in Grünau wohnte. Der Verein hatte teilweise wendeorientierte Mitglieder, sie besetzten mehr oder weniger das Bürgerhaus bzw. die alte Stasi-Höhle und da sollte nun was passieren, erst mal kulturell orientiert. Mit Sozialarbeit und Sozialarbeitern brachte man das nicht in Verbindung. Die Personalstruktur wurde mit ABM-Kräften aufgebaut. Und was war zu diesem Zeitpunkt an Mitarbeitern mit Qualität zu haben? Medienmitarbeiter, Schauspieler, Dramaturgen, Musiker, alle die, die in den frühen 90er Jahren abgewickelt wurden. Das führte auch dazu, dass sehr viele Zentren im Osten bzw. in Ostberlin einen stark kulturellen Akzent hatten. Aber das Anliegen, das sich dann im Laufe der Jahre entwickelte, war dem der sozial-kulturellen Arbeit, die ich dann in der Wolke kennen gelernt habe, doch sehr ähnlich: Gruppenarbeit, Selbsthilfegruppen waren unheimlich wichtig bei der Arbeitslosigkeit, die sich ausbreitete; Kinderangebote und Kultur für Leute, die sich das, was in der City oder im Zentrum läuft, gar nicht mehr leisten konnten. So etwas drängte immer mehr in den Vor-
dergrund. Dieses sozio-kulturelle Zentrum hat sich trotz stärkster kultureller Akzentuierung dem, was wir unter sozial-kultureller Arbeit verstehen, sehr angenähert, die Unterschiede sind gar nicht so groß. Eva Bittner: Das Theater der Erfahrungen geht jetzt in das 30. Jahr, also das gab es schon zehn Jahre vor der Wende. Ich glaube, wir machen von der Herkunft her eine sozialkulturelle Arbeit im Kleinen. Johanna Kaiser und ich haben das gemeinsam aufgebaut. Johanna ist Diplom-Sozialpädagogin und ich komme aus den Theaterwissenschaften, wir haben uns in der Mitte getroffen, aber völlig ohne Begriffe, also eher aus der Praxis heraus. Wir dachten, es sei eine großartige Idee, mit Laien Theater zu entwickeln. Ich denke bis heute, dass es so gut funktioniert, weil beides gleichgewichtig ist. Es ist Sozialarbeit, aber es ist auch Kulturarbeit, auf beides legen wir Wert, sowohl auf den Prozess als auch auf das Produkt, das dabei herauskommt. Der Begriff „sozial-kulturell“ sagt uns was für die Praxis, aber ich würde daraus keine Theorie machen. Eva-Maria Täubert: Das Theater der Erfahrungen hat ein Wahnsinns-Ergebnis, wenn es in ein Pflegeheim kommt. Da ist nicht unbedingt das dankbarste Publikum, weil die Leute teilweise schon halb weggetreten sind. Aber wir machen viel mit Musik, man merkt, dass dann doch jemand wippt oder summt, was wirklich sehr bewegend ist. Es kommt nicht annähernd die Resonanz wie wenn wir vor einem generationenübergreifenden Publikum spielen, aber es gibt einem sehr viel, weil es Sinn macht, denn diese Menschen haben kaum noch Abwechslung. Solche kulturellen Aktivitäten bringen diesem Publikum Freude, was eine wunderschöne Aufgabe ist. Renate Wilkening: Wir haben eine enge Verbindung zum Theater der Erfahrungen. Ich bin vom Nachbarschaftsheim der Ufa-Fabrik. Für uns hat sich die Frage sozialkulturell oder sozio-kulturell überhaupt nicht gestellt, also diese Begrifflichkeiten waren uns ziemlich egal. Die Ufa-Fabrik ist 1979 besetzt worden und heißt so, weil sie auf einem 18.000 qm großen Gelände im Westteil Berlins am Teltowkanal liegt, das in den 20er Jahren das
Kopierwerk von den Universal-Filmstudios aus Babelsberg beherbergte. Die Gebäude, die wir dort haben, sind alle aus den 20er Jahren. Wir haben dort auch ein Premierenkino vorgefunden, wo den Sponsoren Filme gezeigt wurden. Die Ufa hatte das aufgegeben und ihr Kopierwerk woanders hin verlegt, das Gelände lag brach. Die Post hat es gekauft, konnte aber damit dann doch nichts anfangen und hat es an den Senat verkaufen wollen. Der unterschriftsreife Vertrag lag beim Notar am 9. Juni 1979. Und die Ufa-Kommunarden, die vorher schon einen Verein für Kunst, Kultur und Handwerk hatten, haben sich dieses Gelände über eine Besetzung friedlich angeeignet. Das erklärte Ziel war – und ist es heute immer noch -, miteinander zu leben, miteinander zu arbeiten, miteinander Kunst und Kultur zu machen, das aber nicht nur füreinander zu machen, sondern auch nach außen zu geben. Wer immer Lust hat, soll kommen, egal welchen Alters, das Gelände entdecken, nehmt euch Raum, wenn ihr den braucht und sofern wir ihn haben. Ich selber war bei der Besetzung nicht mit dabei, aber ich habe die Geschichte von Anfang an verfolgt. Zuerst wurden sehr viele Räume instand gesetzt und es wurde ein Zirkus gegründet, wo alle Kommunarden und Kommunardinnen ihre eigenen Talente entdeckt haben und – ähnlich wie beim Theater der Erfahrungen – sich viele, viele Jahre artistisch und musikalisch ausgebildet haben, um hinterher Zirkusnummern vom Feinsten hinzulegen, was auch für ein Publikum jeder Couleur etwas war. Insofern war die Kultur ein ganz großer Schwerpunkt. Aber die andere Seite war das soziale Miteinander. Das war von Anfang an ein Schwerpunkt, wenn man miteinander lebt, dann möchte man auch sozial miteinander leben, Konflikte gemeinsam im Konsens lösen. Es gab und gibt in der Kommune Menschen, denen ging es etwas besser, weil sie von Papa und Mama mit finanziellem Background gut ausgestattet waren, manche dagegen überhaupt nicht, manche waren allein erziehende Mütter, also die ganze Bandbreite der kulturellen und sozialen Gesellschaft war und ist dort vertreten. Die soziale Komponente wurde sowohl im Zusammenleben als auch in der Gründungsphase des Nachbarschaftszentrums verstärkt. Was zusammen gehört ...
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Dann gab es Zeiten, in denen im Westteil der Stadt Geld für Selbsthilfearbeit bezahlt wurde. Es kam ein Senator in die Ufa-Fabrik, seine Kinder waren vom Kinderzirkus begeistert, in dem die Ufa-Fabrik junge Artisten ausbildet. Er war so begeistert, dass er meinte, man müsste das in Form gießen, damit der Senat uns eine Finanzierung geben kann. Wir sagten, dass wir darüber nachdenken müssen, weil Finanzierung bedeutet, dass man die Unabhängigkeit verliert. Wir haben acht Jahre ohne einen staatlichen Pfennig gearbeitet. Aber dann haben wir uns entschieden, das Geld vom Gesundheitssenator für die Selbsthilfearbeit anzunehmen. Dafür haben wir mit sieben Frauen einen Verein gegründet und gesagt: so, dieser Verein ist das Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum in der UfaFabrik. Da machen wir Freizeitangebote, da machen wir Kunst und Kultur, wir machen u.a. auch Karate und Aikido und andere Bewegungs-Künste. Es kamen ganz viele junge Frauen zu uns, die schwanger waren oder Kinder hatten. Die wollten Gruppen für sich, Müttergruppen, Schwangerengruppen, sie brauchten plötzlich aber auch soziale Beratung. Dann haben wir selbstverständlich geguckt, wo wir Experten finden, ob wir sie vielleicht im eigenen Haus haben, und so ist das organisch gewachsen. So kam die soziale Komponente dazu. Ich selber bin von Haus aus Bankerin und Sozialpädagogin und hatte auch Ahnung von sozialer Beratung. Es gab zwei Verbände, die auf uns zukamen, nämlich die Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren und der Verband für sozial-kulturelle Arbeit. Beide meinten, dass wir zu ihnen gehören und ihnen beitreten sollten. Wir hatten uns das angeschaut und uns für den Verband für sozial-kulturelle Arbeit entschieden, weil uns die soziale Arbeit genauso wichtig ist wie die kulturelle Arbeit. Deswegen sind wir in einem Verband gut aufgehoben, der den Boden schafft, die kulturelle und soziale Arbeit miteinander zu verbinden. Das machen wir heute nach wie vor. Wir sind mittlerweile ein international anerkanntes sozial-kulturelles Zentrum. Wir haben vier Bühnen, auf denen Comedy und Variété gespielt werden, auch das Theater der Erfahrungen ist dort zuerst vor 30 Jahren
aufgetreten und wird wieder bei uns auftreten und Geburtstag feiern. Unter den vier Bühnen befindet sich eine Open-Air-Bühne, auf der Künstler aus der ganzen Welt auftreten, wir haben eine Samba-Band, Terra Brasilis, und auch eine Jugend-Samba-Band, die Tebras. Zwei ganz aktive junge Leute, die in Brasilien waren, haben im Sommer dieses Jahres brasilianische Jugendliche hergeholt, die Capoeira machen, die haben sich in einem Workshop zusammengefunden und haben uns dann eine wundervolle Vorstellung in unserem Variété gegeben. Also auch diese Komponente gibt es bei uns. Außerdem haben wir einen Kinderbauernhof, ein großes Restaurant und einen Laden. Heute sagen wir, dass wir nicht nur Kultur und Soziales miteinander verbinden, sondern auch Bildung. Wir haben eine Freie Schule, auch Pflege, auch Wirtschaft, also wir sind auch ein ökonomischer Betrieb. Mittlerweile ist es so, dass wir nicht nur auf dem Gelände vertreten sind, sondern in ganz Tempelhof-Schöneberg. Wir sind Träger mehrerer Kindertagesstätten, wir sind Träger mehrerer Offener Ganztagsbetriebe an Schulen, wir sind Träger von diversen Nachbarschaftstreffpunkten und von zwei Kinder- und Jugend-Clubs in der Stadt. TN: Wenn dort Programme von Gaby Decker oder anderen Comedians laufen, die bei euch auftreten, kommt das genauso aus eurer Arbeit? Ich habe gedacht, es sind zwei verschiedene Sachen, das Theater, das bewirtschaftet und organisiert wird, und das Nachbarschafts- und Selbsthilfe-Zentrum. Renate Wilkening: Das ist ein bisschen so. Früher gab es einen einzigen Verein und der hieß Ufa e.V., sonst gab es nichts. Mittlerweile gibt es den Ufa e.V., der macht die Grundstücksverwaltung, die ja rasant gewachsen ist. Dann gibt es das IKC, das Internationale Kultur Centrum, das für die Konsumkultur zuständig ist, wie wir das nennen. Artisten oder Comedy-Künstler kommen, und es finden Veranstaltungen statt, das IKC organisiert komplett den Kulturbetrieb auf der Bühne. Dann gibt es das Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum, wir organisieren den sozial-kulturellen Bereich. Wenn
wir Jugendbands organisieren oder alles, was Leute selber machen wollen, ob Kunst oder Kultur, ob die einen Trommelworkshop machen oder tanzen wollen, egal, das wird vom Nachbarschaftszentrum organisiert, einem eigenständigen Verein. Wir haben eine GmbH, die macht die Bäckerei und den Laden. Wir haben einen individuellen Wirtschaftsbetrieb, das ist das Restaurant. Das hat die Rechtsform einer GbR. Das wird privatwirtschaftlich betrieben. Der Betreiber muss entsprechend Miete zahlen. Dann haben wir noch Netdays, das ist der Punkt Bildung, die organisieren die ganzen PC-Geschichten, auch das ist ein eigener e.V. Wir organisieren uns so, dass wir einmal in der Woche zusammensitzen, alle Häuptlinge, und da beratschlagen wir, was an großen Dingen ansteht. Wir reden da nicht über einzelne Gruppen, sondern darüber, ob es Schwierigkeiten gegeben hat und wie wir die lösen können, ob wir ein Leitsystem machen, oder wer was wie wann baut, wir geben uns Tipps, wo man Geld bekommt und welche Konzepte man machen muss. Das ist unser Gremium. Dann gibt es noch die 30 Menschen aus den 70er Jahren, die dort leben. Mit Nachwuchs jetzt auch intergenerativ, die jüngste Bewohnerin ist ein Jahr alt, unser ältestes Mitglied war 96, ist aber inzwischen verstorben. Gott hab ihn selig. Er hat aber ein gutes Leben gehabt.
Wir haben gerade bei 35 sozio-kulturellen Zentren eine bundesweite Befragung gemacht, in der ging es u.a. darum, ob sie ein Leitbild haben und was die Gründe dafür sind. Da ist mir deutlich geworden, dass ein wichtiges Anliegen ist, Raum zu bieten für eine Kultur, die in anderen Häusern keinen Platz hat oder nicht vorkommt. Man will also den Kulturbegriff verändern. In den 70er Jahren war der Hintergrund, dass es Kultur nicht nur als Oper oder Orchester oder in den Theatern geben sollte, sondern auch ganz woanders, dass Kultur ganz kleinräumig sein kann. Kleinkunst ist der Begriff, der mit SozioKultur verbunden ist. Dafür Räume zu schaffen, dafür die Möglichkeiten zu schaffen. Damit sie wachsen und stattfinden kann, sind die Zentren vielfach auch von Künstlern gegründet worden. Ein ganz wichtiger Grund war auch, Kultur für alle zu machen, Kultur auch vor Ort, Kultur auf den Straßen und Plätzen anzubieten. In den 70er Jahren war das Thema, heute ist das teilweise Mainstream, das findet heute überall statt, also auch die Theater gehen auf die Straße oder in andere Räume, was eben vor 30 Jahren nicht so war.
Ich wollte nur die Bandbreite schildern. Wir haben mehrere Generationen, wobei die Jugendlichen sich erst mal von ihren Eltern und der Ufa-Fabrik trennen und ausziehen, aber nach ein paar Jahren kommen sie wieder. Margret Staal: Ich bin als Vertreterin der Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren hier. Ich bin schon lange Mitglied in diesem Verband und habe 1986 ein soziokulturelles Zentrum im Westerwald aufgebaut. Wir haben uns damals zunächst an dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit in Nordrhein-Westfalen orientiert, da es in Rheinland-Pfalz Sozio-Kultur als Verband noch nicht gab. Irgendwann hatten wir den Eindruck, dass wir da nicht ganz richtig sind, weil sie dort mehr engagiert für Nachbarschaftsheime und Sozialarbeit waren, während unser Fokus ein anderer war.
Ich habe auch in den Zentren gefragt, die erst 1989 oder 1991 gegründet wurden, die aber nach wie vor diesen Schwerpunkt haben, Raum für die Kultur zu geben. Es gibt das eine oder andere Zentrum, das eher in den Jugendhilfe-Bereich reingeht oder ganz dezidiert Bildung und Integration zum Thema hat, wo Kultur eben auch mit Was zusammen gehört ...
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dabei ist. Den Kulturbegriff anders zu definieren, Kultur zu demokratisieren, wirklich allen zugänglich zu machen, unter dem Motto von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“, daran wird in vielen unserer Zentren gearbeitet. Dennoch gibt es eben Zentren, zum Beispiel den Schlachthof in Kassel, der noch zu einem Drittel diese Kulturarbeit hat, aber zu zwei Dritteln soziale Arbeit macht, Schuldnerberatung, Fallmanagement, Migrationsarbeit usw. In den Interviews gibt es auch Äußerungen, dass sie dann eben irgendwann auf die Nachbarschaftsarbeit gekommen sind. Häufig sind es Hausbesetzer, die Fabrikhallen oder sonst was besetzt haben, wo ein wichtiger Punkt Basisdemokratie und Selbstverwaltung war. Die gibt es heute nicht mehr überall, mittlerweile ist in vielen Häusern auch eine Hierarchie entstanden. Geblieben ist aber eine hohe Identifikation der Leute, die mitarbeiten, sowie ein großes Bestreben, gemeinsam Dinge zu entscheiden und zu entwickeln. Ein wichtiger Begriff ist Nutzerorientierung, wodurch sich Zentren sehr unterschiedlich verändern. Je nachdem, an welchem Ort sich die Arbeit entwickelt hat, liegen die Schwerpunkte im Literaturbereich, Theaterbereich, mehr bei Kindern und Jugendlichen usw.
Herbert Scherer: Das klingt jetzt, als wären die Mitarbeiter alle in der Ufa-Fabrik, aber es geht auch um all die Kindertagesstätten und die Einrichtungen, die außerhalb des Geländes sind. Aber wie viele sind es auf dem Gelände der Ufa-Fabrik im Nachbarschaftszentrum? Ist die Verwaltung auch dabei?
TN: In der Ufa-Fabrik trifft man sich einmal in der Woche. Wie viele Personen nehmen daran teil?
Ralf Jonas: Den Unterschied zwischen sozial-kulturellem und sozio-kulturellem Zentrum könnte man auch so benennen/definieren, dass sozio-kulturelle Zentren eher Veranstaltungszentren sind, während in sozialkulturellen Zentren eher Gruppenarbeit oder offene Angebote stattfinden. Das wäre ein Unterscheidungsmerkmal für mich. Dann geht es vielleicht auch um die Qualität von künstlerischer Arbeit. Wir gelten ja als sozial-kulturelles Zentrum, dann wurde gesagt: ihr seid ja eigentlich kein sozial-kulturelles Zentrum, sondern eher ein sozio-kulturelles Zentrum. Wo ist da eigentlich der Unterschied? Aber es scheint Unterscheidungsmerkmale zu geben, was die Qualität der künstlerischen Arbeit betrifft und ob man Veranstaltungszentrum ist oder ein Ort, an dem Gruppenarbeit oder offene Angebote stattfinden. Ist das richtig?
Renate Wilkening: Zwölf. Aber das ist kein geheimer Zirkel, denn jeder weiß, wo und wann das Treffen stattfindet. Von denen, die dort leben, kann jeder, der daran interessiert ist, teilnehmen, also manchmal sitzen dann auch 25 Leute in dem Raum. Das ist offen, aber für die Häuptlinge ist das Treffen verbindlich. TN: Wie viele Personen insgesamt sind dort ehrenamtlich und hauptamtlich tätig? Oder kann man das nicht trennen? Renate Wilkening: Doch. Wir haben im Nachbarschaftszentrum 200 fest angestellte Mitarbeiter, 95 Ehrenamtliche und 102 freie Honorarkräfte.
Renate Wilkening: Ja, unsere Verwaltung ist auch dabei. Wir haben eine relativ schlanke Verwaltung, zwei Kolleginnen in der Personalverwaltung, eine Finanzbuchhalterin, einen Bilanzbuchhalter, eine Kita-Verwalterin und mich, plus drei Assistentinnen, die noch Öffentlichkeitsarbeit und andere Sachen machen. TN: Für diese Größenordnung ist das wenig. Eva Bittner: Wir sind gar kein sozio-kulturelles oder sozialkulturelles Zentrum, wir sind ein Teilbereich des Nachbarschaftsheims Schöneberg. Das Nachbarschaftsheim hat 800 Mitarbeiter, ebenso viele ehrenamtliche Mitarbeiter. Wir sind ein Mini-Unternehmen. Zur Zeit werden wir für ein größeres Projekt zusätzlich aus Europa-Mitteln gefördert und stehen deswegen etwas besser da.
Margret Staal: Für mich ist es eher der Entstehungshintergrund und welche Entwicklung es dann nimmt. Das
ist oft unterschiedlich, weil sich die Entstehungsarbeit nach der Region richtet, welchen ungedeckten Bedarf es dort gibt. Die sozio-kulturellen Zentren sind eher daraus entstanden, dass etwas im Bereich Kultur oder Bildung gefehlt hat und nicht, weil man dort einen Nachbarschaftstreff machen wollte. Das ist ein wesentlicher Punkt. Mittlerweile sehen sich manche Zentren genötigt, zum Beispiel Diskos u.a. Konsumkultur zu organisieren, um andere Veranstaltungen zu finanzieren, während der Bereich der eigenen Kreativität ganz in den Hintergrund getreten ist, weil der nicht zu finanzieren ist.
ten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Tatsache, dass die Sozio-Kultur es zumindest in Berlin sehr schwer hatte, in Gang zu kommen, damit zu tun hatte, dass es da für Szene-Kultur jede Menge Orte gab und gibt, da brauchte man das nicht. Anderswo, zum Beispiel in der Provinz, gibt es das nicht, weshalb es dort ein Bedürfnis nach Raum für Besonderes gab. Damit ist die Nähe zur alternativen Kunst-Szene auch ein Teil des Selbstverständnisses. Die Leitideen, wie weit steuern sie das Alltagsgeschehen? Gibt es da Grenzen? Ich glaube, die Grenzen sind für unsere beiden Verbände schon unterschiedlich.
TN: Aber wenn tatsächlich die Qualität der Kulturprodukte den Unterschied ausmachen würde, wäre das für uns sehr schmerzhaft.
Margret Staal: Unsere Ideen sind sicher an dem Punkt aus der Jugendzentrumsbewegung gespeist worden, wo es darum ging, selber zu bestimmen, was in den sozio-kulturellen Zentren stattfindet, die inhaltlichen Themen auch selber kreieren zu wollen, das war die eine Bewegung. Die andere Bewegung ist ganz klar aus dem künstlerischen und kulturellen Bereich, dass Orte gesucht wurden, wo Leute andere Formen von Theater, Tanz oder Musik unterbringen konnten, weshalb sie auch alte Hallen oder sonst was besetzt haben. Ich glaube, es gibt eine Bandbreite von unterschiedlichen Zentren, in denen die Leitlinien ein Stück vermischt werden, die sich aber trotzdem in der Sozio-Kultur beheimatet fühlen, weil sie z.B. auch Kultur mit interkulturellem Schwerpunkt machen - und trotzdem mehr ein Nachbarschaftshaus als ein Kulturzentrum sind. Manchmal sind die Schwierigkeiten der Abgrenzung auf Landes- oder Bundesebene größer als vor Ort in den Zentren selber. Was ich wichtig finde, ist, dass in den Landesverbänden und auch im Bundesverband die Diskussion mehr darum geht, Räume für eine andere Formen von kultureller Arbeit zu schaffen als sie bis dato und zum Teil ja noch in den Gruppen vor Ort stattfindet. Da ein anderes Denken und auch ein anderes kulturpolitisches Konzept anzuschieben, darin liegt der Unterschied. Die Nachbarschaftsheime sagen, dass Nachbarschaftszentren offen für alle sind, auch für alle Sorten von Angeboten, egal, ob kulturell oder bildungsmäßig, ob es mit Alten oder Kindern zu tun hat, ob es soziale Beratung ist oder soziale Treffpunkte, Gruppen, Tauschringe usw.,
TN: Das ist ja nur eine Frage oder eine Vermutung gewesen. Ralf Jonas: Ich habe das manchmal bei Gesprächen gespürt. Es gibt ja auch einen sozio-kulturellen Verband in Bremen, wenn ich da nur gesagt habe, dass ich aus dem Bürgerhaus komme, dann habe ich gemerkt, dass ich sofort in die Schublade Makramee gepackt worden bin. Kulturelle Qualität wurde von uns gar nicht erwartet. TN: Ich will Sie unterstützen. Wir sind in Brandenburg Mitglied in beiden Verbänden. Von der Methodik und dem, was die Zentren anbieten, sind sie häufig sehr vergleichbar. Aber bei uns im Haus machen wir eine ganz biedere Kultur. Da hängen nette Bilder, hier finden klassische Konzerte statt. Wir haben überhaupt nicht den Anspruch, innovative Kultur zu machen. Viele sozio-kulturelle Zentren haben ja diesen Anspruch, dass sie Räume für Künstler öffnen, die etwas Neues machen, die am Puls der Zeit sind, und zwar so weit voraus, dass sie in den HochkulturOrten noch keinen Raum finden. Wir haben hier das, was schon vor 20 Jahren angesagt war. Aber das ist das, was Kreativität möglich macht, weil es in die Breite geht. Herbert Scherer: Gucken, wo was fehlt, das ist ganz wichtig, um Entstehungsgeschichten zu verstehen, aber dann auch das weitere Geschehen aufmerksam zu beobach-
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die Bandbreite ist da größer. Ansonsten sind manche Dinge identisch, weil – das ist für mich eigentlich der wesentlichste Punkt – das was fehlt, von den Menschen angepackt wird und sie sich den Raum dafür nehmen. Für unseren Verband sehe ich die Aufgabe, das überall zu unterstützen, wo Menschen ein Bürgerhaus, Stadtteilzentrum, Nachbarschaftszentrum wollen, die offen sein wollen für alle Leute, die die Möglichkeiten und den Ort bieten, dass Menschen eigenverantwortlich – ein ganz wichtiger Punkt, in dem wir uns wieder ganz nah sind – ihre Dinge machen können, ob das Kultur ist oder andere Dinge, die für sie wichtig sind. Eva-Maria Täubert: Ich habe nach wie vor mit der Unterscheidung sozio-kulturell und sozial-kulturell Schwierigkeiten, weil ich denke, dass das Umfeld bestimmt, mit welchen Inhalten das jeweilige Projekt wächst. Dann ist es doch ziemlich egal, wie das Kind heißt. Ich habe sechs Jahre in einem sozio-kulturellen Projekt gearbeitet, das war echt nicht innovativ, sondern sehr bieder.
Wenn wir dort z.B. ungewohnte Musik an den Mann bringen oder kreative Gruppen aufbauen wollten, sind wir in der Regel an einer weit gehenden Interessenlosigkeit der Umgebung gescheitert. Wir haben schöne klassische Konzerte gemacht, die gibt es immer noch, Dixieland, eine schöne Schreibgruppe, die ihre Erfahrungen auswertete und die Kinder haben gebastelt, also kulturell orientiert,
aber kulturell innovativ kann man das nicht nennen. Ich finde, dass das bei unserem „Theater der Erfahrungen“, das ja eigentlich dem sozial-kulturellen Bereich zugeordnet ist, anders läuft: Fast alle Stücke, die die Gruppen dieses Theaters spielen, sind selber entwickelt, in ihrer Form ganz unterschiedlich, zum Teil wirklich ziemlich schräg, also das ist zukunftsweisender, auch in der Seniorenarbeit, als das schöne, bürgerliche, sozio-kulturelle Projekt in Grünau. Margret Staal: Man kann es schlecht auf ein einzelnes Zentrum beziehen. Der Innovationspreis Soziokultur 2009 ging an die Ländliche Akademie Krummhörn ganz oben im Nordwesten, für das Projekt „Sturmflut 1509“. Dazu gehörte auch ein Theaterstück mit 120 Leuten aus 19 Dörfern der Region. Der Hintergrund für diese Initiative war, in diese ländliche Region hinein Kulturarbeit zu transportieren, weil außer dem heimischen Chor vielleicht nichts stattfindet. Das ist sicher auch nicht ohne Befremden abgegangen, aber es bewegt sich dann doch was. Ich habe, wie gesagt, auch in einer ländlichen Region, 50 Kilometer entfernt von jeder größeren Stadt, Kulturarbeit bzw. Kleinkunst aufgebaut. Das war auch erst befremdlich. Aber mittlerweile ist es salonfähig und an allen Ecken und Enden vertreten. Ich denke, so ein Theaterprojekt ist genauso gut in einem sozio-kulturellen Zentrum möglich. Gerade hatten wir im Dreiländereck zwischen Saarland, Rheinland-Pfalz und der wallonischen Region in Belgien eine Sitzung zum Thema Sozio-Kultur. Dort stellte sich heraus, dass das Saarland Sozio-Kultur in zwei Strängen betrachtet, nämlich einmal, die soziale Arbeit mit Kultur zu betreiben, andererseits auf der kulturellen Ebene, Kultur für alle und die Möglichkeit zur Kreativität für alle zu bieten, was jeweils vom Sozialhaushalt oder vom Kulturhaushalt finanziert wird. In Belgien und in Wallonien geht es ganz klar auch in Richtung Kulturarbeit und um Demokratisierung durch Kulturarbeit und Bildungsarbeit, nämlich um den emanzipierten Bürger, also die Erwachsenenbildung und Jugendbildung zu formen. Tanja Ries: Es kam jetzt auf, dass wir alle doch ähnlich sind. Ich sehe allerdings doch einen ganz großen Unter-
schied. In der sozio-kulturellen Arbeit wird Raum für Kultur geboten. Da werden Künstler gebucht oder Kunstgruppen machen was, während in der sozial-kulturellen Arbeit mit Menschen, ob sie Künstler, Bäcker oder Rentner sind, Kultur erarbeitet wird, wo also die Kultur im Prozess entsteht. Und zu der Qualitätsfrage: Wenn ihr sozial-kulturelle Arbeit macht, passiert es euch nicht manchmal, dass es heißt: na ja, das ist ja bestimmt ganz schön, wenn da mit Laien gearbeitet wird, man kann das mal angucken, weil es spannend ist, aber man erwartet jetzt nicht gleich ein hohes Niveau? Mir geht es so, wenn ich mit Jugendlichen arbeite: Das Publikum geht nicht davon aus, dass es ein hohes Niveau geboten bekommt, sondern die Leute finden es toll, dass da überhaupt was gemacht wird. Eva Bittner: Ich habe im Moment eine kleine Identitätskrise, weil ich überall zuzuordnen bin, auch in der Tüte Sozio-Kultur fühle ich mich total zu Hause. Die Startbedingungen vom Theater der Erfahrungen waren wirklich eine Abgrenzung von der Hochkultur. Wir wollten einen anderen Kulturbegriff, mehr die Kultur der kleinen Leute, Kultur von unten, Kultur von Leuten, die sonst nie gehört werden, also mit Älteren, die sonst nicht vorkommen. Das war der Anfang der Geschichte. Dadurch, dass wir beim Nachbarschaftsheim Schöneberg willkommen waren, das uns fest an seine Brust gedrückt hat, ist natürlich auch eine kleine Verschiebung in manchen Ecken passiert, die ja auch zum Guten des Projektes ist. Aber inhaltlich ist es im Bereich der sozial-kulturellen Arbeit so, dass man sagen könnte: Kulturarbeit ist manchmal die bessere Sozialarbeit. Sie hat diese soziale Komponente eher. Das stimmt für uns auch. Alles, was hier gesagt wird, kann ich durchaus zusammenbinden mit dem, was wir tun. Was du sagtest, stimmt leider auch, dass die Qualitätsfrage an uns immer wieder gestellt wird und wir garantiert für die Arbeit, die wir tun, nie vom Kultursenat gefördert werden würden. Das ist auch wahr. Nur versuchen wir durch die Produkte, das ein Stück weit zu unterlaufen, und ich glaube, es gelingt uns auch sogar, weil der Anspruch an uns so gering ist. Die Leute denken erst mal, kann ja nichts werden, also die
Anspruchshaltung ist relativ niedrig. Dann kann man sie gut beeindrucken mit dem, was man tatsächlich tut. Ob das für alle Bereiche gilt, das würde ich gerne als Frage in den Raum stellen. Ob es stimmt, dass die Sozialarbeit, die mit kulturpädagogischem Handwerkszeug arbeitet, notwendigerweise ein schlechteres Ergebnis bringt? Herbert Scherer: Wir haben vorhin vom kulturpolitischen Selbstverständnis der Sozio-Kultur gesprochen. Du hast jetzt einen ganz wichtigen Satz gesagt: der Kultursenat würde das nicht fördern. Ich glaube, das ist das größte Verdienst der Sozio-Kultur, dass sie es geschafft hat, für soziale kulturelle Projekte eine Bresche geschlagen zu haben. Das haben wir in Berlin nicht geschafft. Es ist nicht nur das Selbstverständnis wichtig, sondern auch die Frage: vor welchem Geldgeber muss ich mich mit dem, was ich tue, rechtfertigen? Unsere Kollegen müssen sich vor dem Ressort Soziales rechtfertigen und das Kulturelle auch sozial begründen. Wenn sie anfangen würden, sich vor dem Kultursenat zu rechtfertigen, hätten sie bei der arroganten Berliner Kulturpolitik keine große Chance. Da kommt man gerade noch mit Kleinkunst rein, aber dann ist auch schon Schluss. Renate Wilkening: Bei der Ufa-Fabrik ist es so, dass wir natürlich auch vom Kultursenat gefördert werden, und zwar mit erheblich größeren Summen als vom Sozialsenat, aber das Geld geht ganz klar nur in die Kulturschiene. Wir haben durch unsere Größe, durch unsere Besonderheit und durch das, was wir machen, beide Senatsförderungen. Ich sagte ja schon, dass ein großer Teil der Projekte auf unserem Gelände schwerpunktmäßig aus der Kultur gefördert wird, nur ein Teil aus dem Sozialbereich. Margret Staal: Ich beobachte das gerade in einem anderen Bereich: die BKJ als Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung wird ja aus dem Jugendministerium gefördert. Im Grunde genommen machen sie kulturelle Bildungsarbeit, das könnte man genauso gut in die Kultur packen, weil der Anspruch in die Richtung geht. Jetzt hat die Enquête-Kommission gesagt: es gibt die Bundeszentrale für politische Bildung, und so soll es Was zusammen gehört ...
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auch eine Zentrale für die kulturelle Bildung geben, die aber dann aus dem Kulturhaushalt bezahlt werden soll. Im Bereich kultureller Bildung passiert ganz viel Kultur, und es ist eigentlich völlig egal, ob die aus dem Jugendministerium oder aus dem Kulturministerium gefördert wird. Bei dem Ansatz, den wir in der Sozio-Kultur hatten, die Kultur in die Breite zu tragen und zu vertreten, dass Kultur nicht nur als Hochkultur stattfindet, sondern ganz viel mehr ist, da ist sicher etwas dabei, was in die kulturelle Förderung muss. Ich habe draußen ein paar Infodienste und Zeitschriften liegen, Anfang des Jahres hieß eine Zeitschrift Mainstream Sozio-Kultur, weil ganz viele Inhalte und ganz viele Dinge, die Sozio-Kultur riskiert und probiert hat, an vielen Stellen heute glücklich etabliert sind. Im Grunde macht die Sozio-Kultur mit ihren Formaten das, was heute zum Teil auch Theater oder Orchester machen. Es entstehen immer wieder neue Entwicklungen, die sind vielleicht nur nicht mehr so spektakulär wie vor 30 Jahren, als das Theater auf die Straße geholt wurde. Ralf Jonas: Das Problem ist nicht die Vielfältigkeit der Häuser, sondern das Denken in Ressorts. Man wird gezwungen, sich irgendwie zu definieren. Wir bekommen eine Förderung vom Kultursenat, dann bekommen wir auch eine Nebenförderung von Soziales, neuerdings auch noch eine Nebenförderung von Bildung, kultureller Bildung, von den Etats der Schulen usw. Das ist eine Unmenge an Arbeit, die wir in die unterschiedlichen Ansprüche der verschiedenen Ressorts stecken. Für die Bürgerhäuser ergibt diese Aufspaltung teilweise überhaupt keinen Sinn. TN: Ich fand die Frage von Herbert Scherer spannend, wie weit diese Leitideen und auch die historisch gewachsenen Hintergründe der Einrichtungen die Praxis dann auch mitbestimmen oder ungeschriebene Grenzen vorgeben. Wir waren zum Beispiel auch in der Situation, dass wir uns entscheiden mussten, von der Theaterpädagogik kommend, in der Praxis beides machend, Kultur und sozial-kulturelle Arbeit. Wir haben uns entschieden, dass wir ein Mehrgenerationenhaus sind und auch in den Verband für sozial-kulturelle Arbeit gehen. Aber da gab es
Widerstände bei einigen Kollegen, die stärker von der Kulturarbeit kamen und ein bisschen erschrocken waren, ob wir mit dem Schritt unsere Kulturarbeit aufgeben würden. Das hat sich dann alles relativiert, weil sich natürlich in der Praxis Soziales und Kulturelles vermischt haben und die Kollegen merkten, dass sie das auch weiter machen können. Diese Hürden gibt es aber manchmal. Margret Staal: Diese Diskussionen finden natürlich statt, auch weil jetzt ein Generationenwechsel stattfindet. In relativ kleinen Häusern haben sich Leute zusammengetan, für die ist ihre Einrichtung ihr Wohnzimmer, das belebt wurde. Und das jetzt anders zu öffnen, für eine jüngere Generation und eine andere, jüngere kulturelle Bewegung, dazu gibt es jetzt neue Diskussionen. Tanja Ries: Ich würde gerne auf die inhaltliche Frage zurückkommen, ob denn in der Qualität oder von den Inhalten her wirklich ein Unterschied beschreibbar ist, also einer, der uns weiterhilft, sonst könnten wir den Begriff ja auch einfach nicht mehr benutzen und sagen, das ist eins. Herbert Scherer: Man kann das ganz einfach machen: Man übersetzt es ins Französische, dann übersetzt man es zurück ins Deutsche und das Problem ist gelöst, weil im Französischen heißt alles socio-culturel, da ist das SozialKulturelle und das Sozio-Kulturelle in einem Begriff. Tanja Ries: Zum Beispiel dieses Theater Thikwa, das mit Profis und Behinderten gemeinsam arbeitet: das ist vom Kulturprodukt her sicher was Neues, Schräges, Fremdes und vom Ergebnis her sicher auch etwas ganz anderes als das, was von „ganz normalen“ Schauspielern erarbeitet und entwickelt wird. Aber es ist auch ein Projekt mit sozialen Komponenten. Ich wollte nur die Frage stellen, ob sich das an den Inhalten besser beschreiben lässt? TN: Wenn man trennen will, dann kann man das an den Grenzen jeweils machen. Wie weit gehen jeweils die Verbände? Wenn ich mir die Sozio-Kultur-Mitgliedschaft angucke, dann sind zum Teil einzelne Künstler oder Projekte
Mitglied, die sagen: ich mache Kunst, und zwar zusammen mit Leuten, aber ich mache Kunst, oder ich betreibe ein Museum. Wenn man in den Verband für sozial-kulturelle Arbeit schaut, dann findet man im Extremfall jemanden, der ein Pflegeheim betreibt, wo es auch mal eine Weihnachtsfeier gibt. TN: Nein, so ist das nicht. Ein Pflegeheimbesitzer könnte nicht sagen, dass er ein sozial-kulturelles Zentrum oder ein Nachbarschaftsheim ist, nur weil er ab und zu Flötenmusik für die Bewohner macht. Herbert Scherer: Es gibt bei uns sicherlich eine Grenze, wo man sagen kann: das würde uns tatsächlich trennen. Aber ich könnte das nicht so einfach definieren, wie du das jetzt gerade gemacht hast. Ralf Jonas: Ich finde, das macht auch keinen Sinn. Die Einrichtungen verändern sich im Laufe der Jahre, manche nehmen soziale Sachen mit rein, andere haben eher kulturelle Sachen mit reingenommen. Es gibt viele, die würde ich als sozial-kulturelle Zentren bezeichnen, aber ich wüsste nicht mehr, wo ich da unterscheiden sollte. Es gibt auch sozial-kulturelle Einrichtungen, die mit erstklassigen Künstlern Kinderarbeit machen, also es ist nicht so, dass sozial-kulturell eine schlechtere Qualität beinhaltet als sozio-kulturell. Von den Inhalten her hat sich das doch sehr angenähert. Wir versuchen diese Unterscheidung auch nicht mehr, die besteht nur noch auf politischer Ebene. Margret Staal: Wir sind inhaltlich auf Bundesebene sicher anderswo unterwegs als der Verband für sozialkulturelle Arbeit, wir bohren andere Bretter als die sozialkulturellen Zentren. Das ist ganz wichtig, selbst wenn sich die Basis beider Verbände zum Teil überlappt oder angenähert hat. Herbert Scherer: In welchem Brett bohrt ihr denn gerade? Margret Staal: Durch die Enquête-Kommission gab es ja den Weg, dass sozio-kulturelle Zentren neben den
Hochkultur-Häusern wichtige Kultureinrichtungen hier in Deutschland sind, die die kulturelle Grundversorgung der Menschen gewährleisten. Das trifft den Anspruch, den sozio-kulturelle Zentren ursprünglich an sich selber hatten, nämlich Kultur niedrig schwellig vor Ort für die Menschen möglich zu machen und auch andere Formen von Kulturangeboten möglich zu machen. Um dem tatsächlich jetzt Gewicht zu verleihen, dass es auch umgesetzt wird, gibt es Hinweise, dass Kommunen mit einsteigen, um die Finanzierung der Häuser zu verbessern. Daran arbeiten wir im Moment. Herbert Scherer: Und an welchen Brettern bohren wir? In Berlin haben wir uns erfolgreich an einer ganz anderen Stelle angesiedelt, nämlich in diesem Stadtteilzentrumsbegriff. Das heißt: Stadtteilzentren-Vertrag, Landespolitik, Landesförderung, Kernfinanzierung, Infrastruktur – so etwas soll es überall geben, als Teil der sozialen Grundversorgung, nicht der kulturellen. Das haben wir hier geschafft, dass das in der Landespolitik verankert ist. Aber das ist eben keine Bundesebene, wodurch es in den anderen Bundesländern eben dann auch nicht so läuft. Hier ist das durch verschiedene glückliche Konstellationen entstanden und dadurch, dass hier einige Zentren sehr gewachsen sind und eine Bedeutung bekommen haben, wodurch sie die anderen mitnehmen. Aber das hat hier auch im Kopf durchaus was verändert. Jetzt heißen die Zentren alle erst einmal u.a. Stadtteilzentrum im Untertitel. Oder Mehrgenerationenhaus, das ist die zweite Schiene. Das ist in Berlin auch ein relativ großes Thema, hier gibt es neun solcher Häuser, die mit diesem Anspruch antreten. Margret Staal: Es haben sich sozio-kulturelle Zentren genauso als Mehrgenerationenhäuser beworben und sind es auch geworden. Ich weiß jetzt nicht, wie viele bundesweit. Herbert Scherer: Nicht so viele, aber es sind einige. Vielleicht können wir Gaisental einbringen, weil das noch mal eine ganz andere Perspektive ist. Wie sieht das bei euch aus? Was zusammen gehört ...
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Sabrina Blum: Ich bin erst seit einem halben Jahr dort tätig und habe dazu noch keinen umfassenden Einblick. Ich bin auch nicht aus dem sozialpädagogischen Bereich, sondern aus dem Betriebswirtschafts-Bereich. Ich kenne die Situation bei uns im Haus, habe allerdings keine Vergleichsmöglichkeiten. Das Stadtteilhaus liegt im Stadtteil Gaisental in Biberach. Biberach hat ca. 30.000 Einwohner, der Landkreis bei uns hat 200.000 Einwohner. Das Stadtteilhaus ist 2000 auf das große Drängen der Anwohner gegründet worden, die ein Haus wollten, in dem sie ihre Angebote schaffen können, in dem aber auch Angebote für die Bürger geschaffen werden, also sowohl von Bürgern als auch für Bürger. 2000 ist das gebaut worden, seit 2007 ist es auch ein Mehrgenerationenhaus. Wir hatten vorher schon viele Auflagen, die mit einem Mehrgenerationenhaus verbunden sind, für uns selber umgesetzt, zum Beispiel den Mittagstisch, den es geben muss, weshalb wir uns relativ leicht damit getan haben, dann zum Mehrgenerationenhaus ernannt zu werden. Wir bieten alles Mögliche an, angefangen bei diesem wöchentlich stattfindenden Mittagstisch, wo Bürger aus dem Stadtteil kommen und einen Treffpunkt haben, wo sie sich mit anderen austauschen können. Wir haben einen Tauschring, aber auch einen Sprachkurs „Mama lernt Deutsch“, wo wir gleichzeitig die Kinderbetreuung übernehmen. Wir bieten Konzerte an, also da bieten wir auch einen kulturellen Bereich an, der allerdings noch ausgebaut werden könnte. Deshalb sitze ich auch hier, damit ich mir ein paar Anregungen holen kann und mitbekomme, wo die Schwierigkeiten liegen, weil wir diesen Bereich bei uns verstärken wollen. Das Problem ist, dass wir in einem Stadtteil sind, der in Biberach ziemlich verpönt ist. Viele Russland-Deutsche haben sich dort niedergelassen, die in der Stadt nicht den besten Ruf haben. Dazu haben sich natürlich auch noch andere Menschen mit Migrationshintergrund gesellt. Das ist jetzt nicht wirklich ein Ghetto, aber es kommt diesem Begriff schon ein bisschen nahe. Bei den anderen Bürgern ist der Stadtteil recht unbeliebt und wird auch nicht gerne besucht. Deswegen tun wir uns schwer, Kultur anzubieten, weil Menschen mit Migrationshintergrund so etwas leider nicht
so annehmen. Und die anderen Menschen aus der Stadt kommen nicht, weil sie sich dort eben nicht wohl fühlen. TN: Am Anfang sagtest du, es sei ein Bedürfnis der Leute gewesen. Arbeiten viele ehrenamtlich mit? Sabrina Blum: Nicht mehr. Es war ursprünglich wirklich so, dass auch viele Senioren dafür gekämpft haben, weil sie nicht mehr mobil genug waren, um durch die Gegend zu fahren, weshalb sie gerne hier im Stadtteil etwas haben wollten. Inzwischen ist es leider so, dass die Senioren eben älter geworden sind und nicht mehr so viel leisten können, während die Jüngeren leider nicht nachkommen. Das ist auch ein ganz großes Problem bei uns, dass wir viel zu wenig Ehrenamtliche haben, weshalb wir auch gar nicht so viel leisten können wie wir wollen. Ich bin mit einer 50 %-Stelle angestellt, die Kollegin, die für das Mehrgenerationenhaus zuständig ist, hat ebenfalls eine 50%-Stelle. Inzwischen gibt es vier Frauen, die je auf 400-Euro-Basis arbeiten. Das ist eine ganz schwierige Struktur bei uns. Der Vorstand ist sich auch nicht völlig klar darüber, wo es lang gehen soll. Aber wie gesagt, ich komme aus dem BWL-Bereich und habe eine andere Sichtweise. Ich habe das schon beim Vorstand angesprochen, der ist im Bilde, aber es ist schwer, an der Situation was zu ändern. Ich mit meiner 50 %-Stelle, dann vier 400-Euro-Kräfte, zusätzlich haben wir noch eine 400-Euro-Kraft, die für das Sekretariat zuständig ist, da weiß die linke Hand nicht immer, was die rechte tut. Dabei noch Ehrenamtliche zu koordinieren, ist sehr schwierig, weil wir keine festen Bürozeiten haben, denn die 400 Euro-Kräfte kommen dann, wenn sie denken, dass sie gebraucht werden. Ich bin reingekommen und mir ist der Kopf angeschwollen, weil ich nicht mehr wusste, wo ich überhaupt bin und mit wem ich was zu besprechen habe, wer Ansprechpartner ist – und genauso geht es den Bürgern. Sie kommen ins Haus, haben ein Anliegen, ich kann nicht weiterhelfen, weil meine Kollegin dafür zuständig ist und weiß auch nicht Bescheid, weil ich meine Kollegin kaum sehe. Es fehlt an Absprachen usw., man hört wahrscheinlich, dass ich ein bisschen ratlos bin.
TN: Aber trotzdem noch motiviert, noch mehr Kultur ins Haus zu bringen? Sabrina Blum: Ich bin supermotiviert, was vielleicht merkwürdig ist, aber da ich aus dem BWL-Bereich mit Schwerpunkt Kultur- und Freizeitmanagement komme, will ich Kultur machen. Ich bin auch der Überzeugung, wenn man es richtig anpackt, dann kann es auch funktionieren. Aber es muss erst mal angepackt werden, dafür reichen meine Kräfte mit einer 50 %-Stelle einfach nicht aus, dafür benötige ich auch Ehrenamtliche. Das wäre der erste Schritt, die zu aktivieren. TN: Oder Kooperationen, Vereine oder Organisationen, die bei euch etwas veranstalten. Sabrina Blum: Wir betreiben auch sehr viel Netzwerkarbeit, allerdings hauptsächlich im sozialen Bereich mit Behinderteneinrichtungen usw.. Aber das ist sicher auch eine Möglichkeit, ebenso wie eine Sponsorenakquise zu machen, es muss eben alles angezapft werden. TN: Das ist nicht in einem halben Jahr zu machen, es wird noch ein bisschen Zeit brauchen. Sabrina Blum: Mit Sicherheit, aber noch bin ich motiviert. Margret Staal: Kooperationen sind ein ganz wichtiger Punkt, generell für Nachbarschaftshäuser. Räume für Gruppen zu bieten, die sich dort treffen, sei es der Probenraum für die Theatergruppe oder den Chor, die dann dort in den Räumen auch Veranstaltungen machen. Herbert Scherer: Wir hatten bei uns früher überall im Verband eine große Diskussion darüber, was wichtiger ist – Räume oder Menschen? Wir hatten zwei Flügel: Die aus der Gemeinwesenarbeit sagten, dass nicht die Räume entscheidend sind, sondern die Leute, die mit den Menschen arbeiten, denn die werden für sich schon Räume finden; während die andere Fraktion, die Nachbarschaftsheimfraktion, meinte, dass die Räume als das zentrale Angebot im Vordergrund stehen. Räume bieten die Mög-
lichkeit, dass sich etwas auf der Basis der Interessen der Menschen entwickelt. Durch die Benutzung der Räume entsteht Interaktion. Ich glaube, dass Räume auch beim Stadtteilzentrumskonzept einen zentralen Stellenwert haben. Sie sollen für selbst organisierte, aber auch für angeschobene Begegnungen, Aktivitäten, usw. als halb öffentliche Räume zur Verfügung gestellt werden. Es sind Räume nicht primär für einen kulturellen Zweck, sondern sie sind offener. Deswegen beinhaltet diese Parole „offen für alle“ auch, dass es offene Räume für alle gibt. Das greift an den Stellen, wo es so etwas nicht oder nicht ausreichend gibt. Und dann gibt es auch wieder Orte, wo es für bestimmte Menschen ausreichend Möglichkeiten gibt, das können Kneipen sein oder der Feuerwehrverein. Und da braucht es wieder Räume für die anderen, die sich in den entsprechenden Milieus nicht wohlfühlen. Das können dann sozio-kulturelle Zentren sein, die eine entsprechende Alternative bieten. Ich glaube, diese Art Beschränkung würden wir in den Einrichtungen unseres Verbandes in der Regel nicht machen. Sondern wir wollen für die Geraden und Schrägen und für alle da sein, für die verschiedenen Generationen und nicht so sehr ausschließen. Vielleicht können wir uns das auch einfach erlauben, weil es diese verschiedenen kleinen Kultur-Nischen in Berlin schon kommerziell gibt. Vielleicht könnt ihr noch mal sagen: warum diese Rechtfertigungsnotwendigkeit gegenüber dem Sozialen an diesem Punkt? TN: Es gibt eine Förderung für sozio-kulturelle Projekte auf Bundesebene, und da wird immer wieder um diesen Begriff gerungen, was ein sozio-kulturelles Projekt ist. Eine Theatergruppe für Senioren zu machen, wäre sicher kein sozio-kulturelles Projekt. Aber unter dem Blickwinkel, dass ein Künstler mit Laien arbeitet, um mit ihnen kulturell etwas zu bewegen, wäre das gleiche Projekt doch eine sozio-kulturelle Sache. TN: Darin steckt doch genau das Problem. Anstatt zu sagen: wenn eine Künstlerin kommt und mit Leuten etwas macht, das ist die beste Sozialarbeit überhaupt. Das ist präventive Arbeit, das ist eine herausragende Arbeit und Was zusammen gehört ...
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das muss seinen Stellenwert haben und finanziert werden. Statt dessen wertet man so etwas ab und meint: da machen die ein bisschen Pipifax mit den Senioren oder Jugendlichen. TN: Ja, weil andere so denken, sehen wir selber es manchmal auch so ... TN: Ich denke jetzt gerade mal weg von Nachbarschaftshäusern und sozio-kulturellen Zentren, aber es ist mittlerweile doch schon deutlicher geworden, dass Arbeit mit Laien oder zum Beispiel mit Schülern, die absolute Schulverweigerer sind, sehr wichtig und qualitativ hochwertig sein kann. Denkt an die wunderbare Aufführung von „Le Sacre du printemps“ dieses wunderbare Stück, das von Simon Rattle mit Schülern auf die Bühne gestellt wurde, die absolut null Bock hatten. Es gibt ja den Film dazu, der die Entwicklung zeigt. Hochkarätige Künstler haben das
fertiggebracht. Das gibt es an Nachbarschaftszentren an bestimmten Punkten auch, dass man nicht nur mal was mit jungen Besuchern macht, sondern auch hohe Qualität erreicht wird. Dabei erwarten wir gar nichts. Es gibt Stücke, die mit Laien gemacht werden, die qualitativ absolut hochwertig sind. Dafür möchte ich eine Lanze brechen, dass das sehr wohl möglich ist, aber auch das Andere ist wichtig.
Ralf Jonas: Ich bin davon überzeugt, dass sich in den nächsten Jahren in den Kommunen und Städten verschiedene Ressorts wie Kultur, Bildung und Soziales gemeinsam an einen Tisch setzen. In Ansätzen findet das ja bereits statt, um genau diesen Bereich kultureller Bildung, von dem wir hier reden, nachhaltig zu fördern und mehr Kindern und Jugendlichen den Zugang zu ermöglichen. Dann sollte man wirklich mit erstklassigen Künstlern in die Schulen gehen. Momentan sind wir in Bremen leider mit einem größeren Antrag an den Bund gescheitert, man will uns die Infrastruktur zur Verfügung stellen, aber nicht die Mittel für die Künstler, obwohl man die auch braucht. TN: Wir stehen immer wieder vor dem Dilemma, dass auf der einen Seite die Freude darüber da ist, dass kulturelle Angebote jetzt eine Anerkennung erfahren, während die Finanzierung oft überhaupt nicht vorhanden ist. Eva Bittner: Ich finde es andererseits aber auch kompliziert, dass die Kultur irgendwie an Boden verloren hat. Vor 30 Jahren war es klarer, wogegen man losgezogen ist. Während es heute für Künstler unheimlich schwer ist, sich überhaupt zu ernähren und durchzubringen. Insofern ist man gezwungen, diese Sozialgeschichten zu machen, was ja nicht für jeden Künstler immer ein Genuss ist. Wir erleben das bei uns auch ein Stück weit. Das reine „Theater der Erfahrungen“ war so, wie wir es eigentlich am liebsten bis zur Rente gemacht hätten, nämlich Stück um Stück entwickeln und glücklich sein. Das ging nicht, weil sich die Bedingungen verändert haben. Aus Neugier, aber auch aus sozialer Verantwortung haben wir diese intergenerative Arbeit begonnen, wir sind mit den Spielern in die Schulen gegangen und haben mit den Jugendlichen Stücke entwickelt. Einmal oder zweimal ist das superklasse und oberspannend. Aber wenn es irgendwann heißt: damit das Projekt weitergeht, damit ihr das machen könnt, was ihr wirklich machen wollt, müsst ihr auch ehrenamtlich ein Stück Sozialarbeit leisten - daraus ergibt sich eine Schwierigkeit, die in diesem Bereich auch noch mit drinsteckt, dass nämlich die Räume für Kulturarbeit so klein geworden sind.
TN: Auf sozio-kulturelle Einrichtungen übersetzt heißt das, dass wir die Disko oder anderes machen müssen, damit andere Sachen finanziert werden können, weil es sonst gar nicht geht. TN: Der Konsens wäre dann, dass es auf jeden Fall viel mehr Geld für diese sozial-kulturelle Arbeit geben muss. Herbert Scherer: Das ist ein wunderbarer Konsens, dann machen wir noch einen Beschluss und eine Resolution. Ich denke, wir müssen noch mal genauer hingucken, wie wir das erreichen. Da spielt die Qualitätsfrage eine wichtige Rolle. Nur dann, wenn es gelingt, die guten Projekte auch richtig gut, vielleicht auch in ihrer ganzen Kraft, zusammenzufassen, wird es gelingen, diese Vorurteile und diese Barrieren zu überwinden. Und dieses Nase-Rümpfen ist ja überhaupt nicht berechtigt. Oder es ist nur dann berechtigt, wenn wir nicht an der Frage arbeiten, wo wir selber welche Qualitätsansprüche haben. Unsere Qualitätsansprüche sind nicht identisch mit denen der Kulturbehörde, aber es gibt trotzdem interne hohe Qualitätsansprüche. Es gibt in unseren Bereichen weltweit so gute Sachen. Ihr habt doch den Film gesehen mit diesen Alten in den USA, die für ihre Musik standing ovations bekommen – oder das Video über das Taubstummen-Theater der Drusen in Nordisrael. Sie haben taubstumme Menschen in einer arabischen Gegend, wo sie normalerweise versteckt werden, auf die Bühne gebracht und damit im ländlichen Raum kulturell und sozial ganz viel bewegt. Plötzlich haben diese vorher nicht wahrgenommenen Menschen soziale Anerkennung bekommen. Die Frage Kultur und Soziales ist in einer genialen Weise verknüpft. Wir haben vor zwei oder drei Jahren diese gut dokumentierte Jugendorchesterbewegung aus Venezuela kennen gelernt. Also es gibt eine öffentliche Wahrnehmung für diese Projekte und deren Qualität, aber wir müssen es schaffen, das irgendwie zusammenzubringen. Margret Staal: Es hat auch bei uns schon lange ganz tolle Projekte gegeben und es wird sie immer wieder geben. Sie werden nur nicht so selbstbewusst vertreten und
nicht so nach außen kommuniziert. Es heißt lapidar, dass jemand mit Jugendlichen oder Senioren was macht. Aber dass so eine Arbeit, die 30 Jahre alt ist, im Grunde etwas vorgedacht hat, wo wir heute sagen, wir müssen für die Generation 60 plus was tun, darauf kann man eigentlich selbstbewusst hinweisen. Das ist die Herausforderung, auch das, was Herbert sagt, wir müssen es zusammenbringen und wir müssen es vermarkten und sagen, dass wir eine supertolle Sache machen, die sehr lohnend ist sich anzuschauen. TN: Ich finde nicht, dass jedes kulturelle Projekt, das mit Menschen gemacht wird, auch in eine öffentliche Aufführung münden muss. Wir haben zum Beispiel einen professionellen Musiker, der mit Kindern arbeitet. Da ist eben nicht das Ziel, eine Aufführung zu haben oder dass was Tolles rauskommen muss, sondern der soziale Auftrag ist die Stärkung des Kindes. Wir wollen also kein tolles Produkt machen, sondern der Prozess steht im Vordergrund. Ich finde das genauso wichtig. Beides kann sein, aber muss nicht sein. Renate Wilkening: Das ist ein wichtiger Aspekt, dass beides seine Berechtigung hat. Aber ich erlebe zum Beispiel in der Arbeit mit den Kindern, dass sie ein Ergebnis ihrer Arbeit zeigen möchten. Für die ist dieses Produkt enorm wichtig und sie fiebern dem entgegen. Wir haben bei uns eine Action-Hausparty, da treten alle die Gruppen auf, die über das Jahr miteinander gearbeitet haben, ob professionell oder nicht professionell, ob Kindertanz, Bauchtanz oder Samba. Kinder wollen ihr erworbenes Können unbedingt vorführen. Da muss es Modelle geben, die beides ermöglichen, einerseits muss der Prozess ermöglicht werden, also ohne Anspruch an den Qualitätslevel. Auf der anderen Seite muss es genauso möglich sein, dass wir da, wo wir diesen Anspruch auf Präsentation entdecken und wo er gerechtfertigt ist, - manchmal sehe ich während des Prozesses Kinder, wo ich denke: das könnte ich der Deutschen Oper anbieten - dass auch diese Möglichkeit geboten wird. Das sollten wir auch nicht verstecken. Öffentliche Anerkennung ist schön und gibt den Leuten Selbstbewusstsein. Was zusammen gehört ...
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Und wir können auch ganz selbstbewusst unsere Entdeckungen präsentieren. Diese Sichtweise ist natürlich auch ufa-mäßig, weil wir uns das auf die Fahne geschrieben haben, Leute zu entdecken und zu fördern. Herbert Scherer: Dieser Qualitätsbegriff orientiert sich nicht nur an dem Produkt, sondern bezieht sich auf das Ganze. Das ist ja bei dem genannten Film so gut, dass er das Gesamte zeigt, auch das, was hinter den Kulissen passiert. Diese Geschichte mit den alten Menschen ist ja Realität, kein Theaterstück - der Film zeigt das Umfeld, die Proben, was machen sie, wenn einer stirbt, das ist die Qualität des Ganzen, dass ein Gesamtbild entsteht. Der Stress, dass es ein Produkt geben sollte, ist Teil des Ganzen. Aber nicht, weil es von Sozialarbeitern so gewollt wird, sondern weil Künstler ihre ganze kreative Energie da mit reinstecken. Also die Qualität ist das Gesamte und nicht nur das Produkt. TN: Es steht in den Leitlinien der Stadtteilzentren, dass kulturelle Arbeit eines der vier wichtigen Standbeine ist. Trotzdem ist es oft so, dass dieser Teil nur als Sahnehäubchen, als Kann-Bestimmung mitläuft, aber keine Kernaufgabe ist. Im Ernstfall sind die Beratungen und alle anderen Dinge wichtiger, Kinderbetreuung, Sozialstation usw. Das sind tatsächlich alles wichtige Angebote, aber die sozial-kulturelle Anstrengung steht in manchen Einrichtungen nicht an oberster Stelle. Sie steht ein bisschen an der Seite – oder ist das nur meine Wahrnehmung? TN: Da würde ich gerne einhaken. Wir haben den Club Spittelkollonaden in der Leipziger Straße. Während der umfassenden Diskussion dachte ich: Mensch, das sind alles hier so hohe künstlerische Ansprüche, da können wir überhaupt nicht mithalten. Ich fühle mich jetzt ein bisschen klein. Wir sind ein Stadtteilzentrum, welches nur Räume zur Verfügung stellt, nämlich Räume für die verschiedensten Interessengemeinschaften. Unser Publikum in der Leipziger Straße ist intellektuell sehr bereit, sich neuen Dingen zu öffnen und braucht auch sehr viel geistige Anregung, die sie selbst einbringen. Deshalb haben sie in Selbstinitiative Projekte entwickelt und
Interessengruppen zusammengefasst und bieten bei uns in den Räumlichkeiten bestimmte Sachen an. Wir haben über 20 verschiedene Interessengruppen. Unsere Nachbarschafts- und Begegnungsstätte gibt es seit 1992, sie ist aus der Aktivität von interessierten Bürgerinnen und Bürgern entstanden. Wir leiten an, wir unterstützen bei verschiedenen Projekten, wir haben jetzt mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern das Stadtteilaktiv Spittelkolonnaden gebildet, das Neueste, was wir gemacht haben. Im November werden wir die erste Stadtteilkonferenz in Berlin-Mitte abhalten. Das ist eine tolle Errungenschaft, aber das geht gar nicht in Richtung Kultur. TN: Kommt darauf an, was in den Gruppen passiert. TN: Ganz viel Kultur natürlich, aber es hat einen anderen Stellenwert, wir haben keine eigenen Theaterstücke oder wir haben auch keine tolle, künstlerische, musikalische Laufbahn zu bieten, aber vielleicht ergänzt meine Kollegin. TN: Wir haben bei uns natürlich auch Künstler, die in den Gruppen sind. Wir organisieren auch Veranstaltungen, wo Künstler auftreten, fast alle Genres, das sind Schriftsteller, Sängerinnen und Sänger. Einen Tanzkurs machen wir jetzt, der ja auch Kultur und Lebensfreude spiegeln soll. Insofern kann ich nur das unterstreichen, was vorhin hier gesagt wurde, man muss die Möglichkeit haben, sich auch mal vor anderen zu produzieren und zu zeigen, was man in der ganzen Zeit überhaupt gemacht hat. Es sind alles Senioren, die sich zum Tanzen zusammengefunden haben. Ich kann das jetzt wieder neu beleben, weil ich einen neuen Tanzlehrer gefunden habe, der auch Standard und Latein in seinem Repertoire hat, was gar nicht so einfach war – für Senioren. Für Kinder machen ja sehr viele was, aber für Senioren? Wir haben also auch künstlerische Ambitionen. Auch für unser Nachbarschaftsfest hatten wir ein tolles Kulturprogramm auf die Bühne gebracht, wir haben das organisiert. Das ist sehr gut von allen angenommen worden. Die Berliner Seniorenakademie nutzt unsere Räume, sie machen einen Opernkurs, musikalische Akademie, Operette, usw., was sehr viele Leute interessiert, gleichzeitig schaffen wir
ihnen die Basis, dass sie sich dort produzieren können. Wenn in einer Veranstaltung 50 Leute sind und der Saal fasst nur 50, dann ist das eine tolle Sache. Ich denke, so etwas wäre bestimmt auch für Sie machbar, man muss ja nicht gleich mit einer Seniorenakademie anfangen.
haben wirklich nur zwei Räume, einen großen Veranstaltungsraum für 50 bis 60 Leute, dann einen kleinen Raum, die Kollegen haben nicht mal ein eigenes Büro, die sitzen immer in diesen beiden Räumen mit drin, also das sind ganz unzumutbare Bedingungen.
Sabrina Blum: Bei uns ist auch das ganz schwierig, weil wir eine der reichsten Kommunen in Deutschland sind, die auch sehr viel Geld in Kultur und ähnliches steckt. Deswegen haben sämtliche Vereine und Einrichtungen in Biberach eigentlich ihre eigenen Räumlichkeiten.
Herbert Scherer: Ich komme mal zu unserem generellen Thema zurück: 50 Meter von dieser Einrichtung ist die nächste, aber dazwischen ist die Mauer, die es nicht mehr gibt - oder ist sie immer noch in den Köpfen vorhanden? Hat sich da was verändert?
TN: Aber die Russlanddeutschen …
Margret Staal: Im Rückblick meine ich, dass sich da vieles geändert hat. Ich weiß von den Anfängen aus der SozioKultur, dass die entstehenden kulturellen Einrichtungen im Osten unseres Landes eher kritisch beäugt wurden, weil die Sorge bestand, dass das aus den alten Kulturhäusern gewachsen war und die alten Strukturen noch wirksam sind. 1992 gab es hier in Berlin einen Kongress „Utopien leben“, ich glaube, im ‚Förderband‘, wo sehr hart darüber debattiert wurde, welche Maßstäbe man an Kunst und Kultur anlegen kann, professionell oder nicht. 2001 gab es noch mal einen Infodienst dazu, wo der Ton schon sehr viel gelassener war – und so nehme ich das auch wahr. In den ostdeutschen Einrichtungen, die ich besucht habe, hat einiges vor 10 oder 15 Jahren begonnen und die Entstehungsgeschichten sind ähnlich. Es gibt inzwischen nicht mehr so viel kulturpolitischen Ballast. Heute geht es darum, Räume und Möglichkeiten zu schaffen, um der Kreativität des Einzelnen jenseits der üblichen Strukturen einen Platz zu geben. Wir machen die Rest-Kultur, also das, was nirgendwo Platz hat.
TN: ... die sind meistens sehr musikalisch und mögen musikalische Zusammenkünfte ganz doll... Sabrina Blum: Die haben zum Beispiel auch ihren extra Raum, wo sie ihre Folkloretänze machen können, der wurde ihnen von der Stadt zur Verfügung gestellt. Das ist arg schwer, weil die Konkurrenz unsere Stadt selber ist. TN: Aber wir haben auch die Staatsoper, die Komische Oper, das ist alles bei uns drum herum. Trotzdem machen die Leute auch ihre eigenen Sachen noch. Sabrina Blum: Ja, das erstaunt mich. In Berlin ist es wohl so, dass es trotzdem auch noch Menschen gibt, die sich nicht nur für das große Kommerzielle interessieren, sondern auch für die Kleinen mit ihren Projekten. TN: Wo soll denn bürgerschaftliches Engagement stattfinden, wenn es keine Räume gibt? Irgendwo muss das ja eine Anlaufstelle haben. TN: Ich habe Probleme, alle unterzukriegen, die bei uns was machen wollen. Manchmal ist dieser Andrang einem gar nicht so recht, weil dann der Besucher, der normal so kommen will, beide Räume belegt vorfindet. TN: Wir sind auch ein sehr, sehr kleines Stadtteilzentrum, unsere Räumlichkeiten sind arg eingeschränkt. Wir
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Stadtteil-Entdeckungen Gemeinwesenarbeit begegnet Quartiersmanagement
Input: Prof. Dr. Dieter Oelschlägel (Dinslaken) Markus Runge Nachbarschaftshaus Urbanstr. (Kreuzberg) Angelika Greis, Stadtteilmanagement/ NBH Urbanstr. (Kreuzberg) Moderation: Reinhilde Godulla Dieter Oelschlägel: Ich habe mit der Mauer insofern zu tun, dass ich dabei war, als sie aufgebaut wurde – und umso mehr bin ich erfreut, dass sie wieder der weg ist. Was die Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit betrifft, haben wir in Dinslaken vom Wegfall der Mauer nichts gespürt, da ist alles so weitergegangen wie es war und es gab keine großen Erschütterungen. Im Verband für sozial-kulturelle Arbeit bin ich seit 1972, ich habe in Heerstraße Nord angefangen und hatte dann lange Zeit verschiedene Funktionen. Jetzt bin ich Ruheständler und im Vorstand eines Stadtteilvereins in Dinslaken. Ich will nur kurz anreißen, wie wir Gemeinwesen wahrgenommen haben. Vor etwa zehn Jahren hat C.W. Müller auf einer Tagung eine Bilanz der Gemeinwesenarbeit der letzten 30 Jahre gezogen, was ungefähr auch meine Zeit betrifft. Er sagte u.a. auch, dass die lokale Geschäftswelt in den GWA (Gemeinwesenarbeit)-Prozess einbezogen worden ist. Das stimmte für uns gar nicht,
wir haben mit den Menschen an der Basis darüber geredet, aber Geschäftsleute waren nicht dabei. Heute geht es nicht mehr nur um den - wie es bei uns damals hieß - Reproduktionsbereich, also Freizeit, Konsum, Wohnen, sondern sehr stark auch um Arbeit, Arbeitslosigkeit und lokale Wirtschaft. Die Projekte leben vielfach verstärkt von abenteuerlicher Mischfinanzierung. Multiethnische Projekte spielten vor 30 Jahren noch keine große Rolle, das hat sich inzwischen geändert. Auch das Berufsbild des Gemeinwesenarbeiters hat sich sehr verändert. Die alte GWA scheint den sozialpädagogischen Kinderstuben entwachsen zu sein. Ich war immer der Meinung, dass GWA nicht so eng an die Sozialarbeit gebunden werden sollte, sondern weit darüber hinausgehen und sehr viel in andere Bereiche gehen soll. Inzwischen ist Quartiersmanagement groß herausgekommen, nicht zuletzt durch das Programm Soziale Stadt. Man könnte fast meinen, es habe GWA ersetzt. Ich bin inzwischen ehrenamtlich in meiner Heimatstadt Dinslaken in einem Projekt der Sozialen Stadt tätig. Das ist ein Projekt, das Quartiersmanagement durch einen Verein betreibt, der von der Stadt Dinslaken mit einem Kooperationsvertrag das Quartiersmanagement übertragen bekommen hat. Das ist ein Stadtteil von 7.000 Einwohnern, mit etwa 50 % Migranten, einem Bergwerk, das vor zwei Jahren geschlossen wurde, also mit allen Problemen, die dabei entstehen. Über einige Erfahrungen, die wir mit dem Quartiersmanagement gemacht haben, möchte ich Ihnen berichten. Inwieweit sie übertragbar sind, müssen Sie selbst entscheiden. Quartiersmanagement ist eine Strategie unter der Regie der Städte. Programmatisch soll es die soziale Desintegration in den Städten aufhalten, die Lebenslage der Menschen in den benachteiligten Stadtteilen verbessern, Bürgerbeteiligung und Vernetzungen staatlicher und privater Akteure schaffen und verschiedene Handlungsfelder integrieren. Wie das umgesetzt wird, das ist von Stadt zu Stadt und auch innerhalb der Städte verschieden. Es kann durchaus eine Verbesserung der Lebensumstände erreicht werden. Aber Quartiersmanagement kann auch – je nach kommunaler Philosophie und Steuerungsvorstellung – als
Spar- oder Befriedungsstrategie eingesetzt werden und der eigenen Legitimation dienen. Das habe ich in Dinslaken schon wahrgenommen, dass die Stadt uns immer benutzt, um sich zu legitimieren, um sagen zu können, dass sie etwas Soziales tut. Finanziell hängen wir am Tropf der Stadt, das Geld wird vom Land bzw. vom Bund an die Stadt überwiesen, die Stadt überweist es an uns. Manchmal ist das eine Sicherheit, weil man weiß, dass es kommt. Aber es ist auch ein Mittel, um uns an der kurzen Leine zu halten. Wir mussten zum Beispiel bis vor einem Jahr jede Ausgabe über 500 Euro genehmigen lassen. 500 Euro hatten wir freies Geld, damit konnten wir spielen. Das ist natürlich für Gemeinwesenarbeit und für Stadtteilarbeit eine fürchterliche Klemme. Wenn man dann schnell mal was unternehmen will, dann muss man fragen und es geht den Verwaltungsweg. Man schreibt dem Sachbearbeiter, der legt es seinem Amtsleiter vor, wenn es sehr schwierig ist, legt er es dem Dezernenten vor, dann geht der Weg wieder zurück. Inzwischen ist die ganze Sache schon gelaufen und man braucht das Geld nicht mehr. Das ist eine doch sehr kurze Leine. Entscheidungen werden auch in Politik und Verwaltung gefällt, es sind viele bauliche Sachen im Programm Soziale Stadt, die werden im Planungsamt und im Bauverwaltungsamt entschieden. Wir können dazu noch ein bisschen Bürgerbeteiligung organisieren. Beteiligungsansätze sind vielfach die üblichen runden Tische, Lenkungsausschüsse, Projektgruppen, in denen diejenigen sitzen, die sich ausdrücken können. In der Regel sind das dann bei den Ehrenamtlichen die Lehrer und ähnliche Berufsgruppen, die Geschäftsführer oder Mitarbeiter in den Wohlfahrtsverbänden und die politischen Vertreter. Das kann gut gehen, es kann aber auch nicht gut gehen. Es passiert auch, dass mit Teilhabe gelockt wird - und am Ende werden doch die Entscheidungen gefällt, die vorher bereits ausgehandelt und beschlossen wurden. Quartiersmanagement kann auch zur Ausgrenzung in den Stadtteilen beitragen, zum Beispiel bei der Ausgestaltung und Umsetzung von bestimmten Maßnahmen, bei denen immer stärker beispielsweise die Arbeitsverpflichtung und nicht die Frage nach den Entwicklungsperspektiven der
Einzelnen im Vordergrund stehen. Wir haben es erlebt, dass die Maßnahmen dann nach den Kriterien, wie sie uns vorgegeben werden, laufen mussten und man gar nicht viel Auswahl bei der Gestaltung hatte. Die Befristung der Förderzeit ist ebenso ein Problem. Es wird nicht auf die Prozesse im Stadtteil geachtet, sondern nach schematisch vorgegebenen Zeiten und Problemlösungsstrategien vorgegangen. Dahinter steckt die Ideologie von den selbst tragenden Strukturen. Das hört man bei dem Projekt Soziale Stadt immer wieder, dass selbst tragende Strukturen geschaffen werden sollen. Der Stadtteil muss in die Lage versetzt werden, mit allen Problemen selbst fertig zu werden. Das ist das alte Sich-überflüssigmachen, was eigentlich nie eingetroffen ist. Das wird aber jetzt noch zusätzlich als „aktivierender Sozialstaat“ beschrieben, worin eine ganze Menge Ideologie steckt. Schließlich gibt es dann auch noch das Sozialraum-Budget, was ich für Spielgeld halte. Jedenfalls bei uns wird es von einer Jury verteilt, die im Wesentlichen aus Politikern und Vertretern von Wohlfahrtsverbänden besteht. Die Betroffenen haben darauf gar keinen Einfluss. Das Ganze ist widersprüchlich, um es mal vorsichtig positiv auszudrücken. Wir machen das trotzdem und wir machen das auch noch gerne, wir strengen uns an, denn viele Verbesserungen werden erreicht. Es wäre zynisch, das Quartiersmanagement nicht zu nutzen. GWA kann auch eine Strategie innerhalb des Quartiersmanagements sein, auch parallel dazu im Stadtteil laufen. Wir versuchen immer wieder, Ansätze von Gemeinwesenarbeit im Quartiersmanagement zu realisieren, zu erkämpfen, durchzusetzen, zu verhandeln, je nachdem, wen man als Gesprächspartner gewinnen kann. Wir versuchen jedenfalls, so viel Bürgerbeteiligung wie möglich in dem Projekt unterzubringen. Was ist das:Gemeinwesenarbeit? Ich will nur auf zwei Punkte hinweisen, die ich besonders wichtig finde. Das sind eigentlich ganz alte Sachen aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Gemeinwesenarbeiter bzw. die Gemeinwesenarbeiterin soll Anwalt und Organisator sein. Anwalt, das heißt, gemeinsam mit Betroffenen Stellung zu beziehen und sich öffentlich und aktiv zu äußern. Das ist eine Voraussetzung für eine wirksame Praxis. Die MenWas zusammen gehört ...
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schen müssen wissen, dass wir uns dort für sie einsetzen, wo sie das selbst nicht können. Das ist allerdings ein kniffliger Prozess, bei dem man sich immer vor Entmündigung hüten muss. Er hat eine starke sozialpolitische und auf Öffentlichkeit gerichtete Wirkung. Dabei kann es dazu kommen, dass wir auch für die Betroffenen stellvertretend handeln und uns äußern müssen, was immer wieder die Legitimationsfrage aufwirft. Allerdings sollten wir für die Betroffenen nicht das erledigen, was sie selbst tun können, sondern ihnen gemeinsames solidarisches Handeln ermöglichen. Wir müssen zielbewusst auf Prozesse der Selbstorganisation hinwirken. GWA heißt dann: gezielte und nachhaltige Investition in kompetente Personen, beschützte Begleitung von Bevölkerungsgruppen, die sonst in der Gesellschaft nicht wahrgenommen werden. Dieser Organisationsprozess weist über die Anwaltsfunktion hinaus und gehört gleichzeitig dazu. Damit habe ich allerdings nichts Neues gesagt, das ist Bestandteil von GWA seit den 70er Jahren. Markus Runge: Angelika Greis und ich, wir kommen beide aus dem Nachbarschaftshaus Urbanstraße in Berlin, wo wir seit einigen Jahren als Stadtteilarbeiter aktiv sind, Angelika seit 2005 auch in der neuen Funktion als Stadtteilmanagerin.
Ich will zunächst einen recht kritischen Blick auf Nachbarschaftshäuser und aktivierende Arbeit im Gemeinwesen
wagen, dann wollen wir beide dialogisch ein paar Aspekte herausgreifen, Erfahrungen im Stadtteilmanagement, also im Programm Soziale Stadt, und in der Gemeinwesenarbeit jenseits des Programms Soziale Stadt, um dann in die Diskussion zu kommen. Zum Thema Nachbarschaftshäuser und aktivierende Arbeit im Gemeinwesen gab es in der Vergangenheit eine zuweilen recht heftige Diskussion, an der Dieter Oelschlägel nicht ganz unbeteiligt war. Für mich ist die damalige Diskussion darüber, ob Nachbarschaftshäuser vor allem das Gemeinwesen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen sollen oder eher die Einrichtung, nach wie vor nicht vorbei. Ich frage mich in den letzten Monaten häufiger, wieso Gemeinwesenarbeit und Nachbarschaftshäuser immer noch so stark mit der Tradition der Settlement-Bewegung identifiziert werden, aus der sie stammen. Gemeinwesenarbeit verstehe ich heute als hinausgehende Arbeit mit dem Ziel, in Zusammenarbeit mit den Menschen im Stadtteil Handlungsspielräume zu finden und daran anknüpfend Lebensverhältnisse zu verändern, also eine starke Selbstbefähigung zu fördern. Ich finde, dieser Arbeitsansatz für Gemeinwesenarbeit unterscheidet sich sehr stark von dem Arbeitsansatz Nachbarschaftsarbeit, den man heute angebotsorientiert ganz viel in den Nachbarschaftshäusern findet. Aus meiner Sicht steht Stadtteilarbeit oder Gemeinwesenarbeit immer noch in vielen Satzungen von Nachbarschaftshäusern als Begriff drin. Schaut man jedoch tiefer in die Arbeit hinein, dann finde ich selten Stadtteilarbeiter, die für bestimmte Stadtteile oder Kieze zuständig sind und es sich ganz konkret zur Aufgabe machen, hinauszugehen in den Stadtteil, dort von Bewohnern getragene Netzwerke aufzubauen, bürgerschaftliches, stadtteilbezogenes Engagement zu aktivieren und diese Menschen darin zu begleiten, die Wohn- und Lebensbedingungen im Stadtteil zu verbessern. Ich bin ein Fan von Gemeinwesenarbeit. Ich finde es bedauerlich, dass es historisch betrachtet in den Nachbarschaftshäusern zwar eine Kernkompetenz Gemeinwesenarbeit gibt, ich diese aber heute in vielen Nachbarschaftshäusern nicht mehr sehe. Nachbarschaftshäuser vergeben sich meiner Meinung nach damit eine Chance,
wenn sie auf diese Kompetenz verzichten, die es ihnen in hohem Maße ermöglicht, sich aktiv in die Stadtteilentwicklung einzumischen, sich gemeinsam mit den dort wohnenden und arbeitenden Bürgern zu engagieren. Wenn wir z.B. ins Programm Soziale Stadt schauen, gerade auf Berlin bezogen, dann sind die Nachbarschaftshäuser zwar als lokale Akteure in den Quartiersmanagement- und Stadtteilmanagementgebieten vertreten. Aber sie spielen keine bedeutende Rolle als Gebietsbeauftragte, als Träger von Quartiersmanagements. Warum nicht? Vielleicht weil wir uns den ständigen Rollenkonflikt zwischen Legislative, Exekutive, Administration, Kommune und Stadtteilbevölkerung nicht zutrauen? Weil zunehmend basisorientierte Ansätze durch Reglementierung eingeschränkt werden? Weil es unbequem ist, diese Arbeit zu tun? Wenn man in den Bereich Community Organizing (CO) schaut, dann gibt es in Berlin ganz spannende Ansätze. Auch da sind wir oft nicht Initiator im Aufbau von Bürgerplattformen, sondern wenn überhaupt, dann eher Mitglied einer Bürgerplattform, zum Teil aber auch nicht mal das, obwohl wir in Gebieten des CO unseren Standort haben. Und Gemeinwesenarbeit jenseits von Community Organizing und Quartiersmanagement findet sich aus meiner Sicht in den Nachbarschaftshäusern noch seltener, was aber umso wichtiger wäre, wenn man sich im Stadtteil nicht nur in der Zwangsjacke des Zuwendungsempfängers bewegen will. Ich komme aus dem Nachbarschaftshaus Urbanstraße, wo es seit etwa 30 Jahren eine Tradition von Gemeinwesenarbeit gibt, initiiert von Wolfgang Hahn. In den 90er Jahren haben wir dann den ersten Stadtteilarbeiter im Nachbarschaftshaus eingestellt. Aktuell haben wir sechs StadtteilarbeiterInnen und arbeiten in vier Stadtteilen Kreuzbergs. Davon drei Kolleginnen in der DüttmannSiedlung, also in einem Stadtteilmanagementgebiet, finanziert über das Programm Soziale Stadt; drei StadtteilarbeiterInnen arbeiten in anderen Quartieren jenseits der Finanzierung über das Programm Soziale Stadt. Angelika steht jetzt eher in diesem Dialog zwischen uns für das Stadtteilmanagement, für das Programm Soziale Stadt und die Erfahrung damit, ich stehe hier eher für die übrigen drei Gemeinwesenarbeitsbereiche oder Quar-
tiere, in denen wir arbeiten. Wir wollen in einem relativ spontan gestalteten Dialog aus unseren Erfahrungen mit ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Ressourcen, Beteiligungsansätzen schauen, wo die Unterschiede liegen. Ich sehe den Ansatz Quartiersmanagement und das Programm Soziale Stadt eher kritisch. Ich glaube, ich könnte in dem Setting nicht arbeiten, aber ich lade euch dann ein, das Für und Wider dieser unterschiedlichen Ansätze zu diskutieren. Wir haben völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen. Ich finde, ihr im Stadtteilmanagement Düttmann-Siedlung arbeitet eher in einer relativ engen Struktur an Rahmenbedingungen. In welchem Setting bewegt ihr euch? Angelika Greis: Es hat sich so entwickelt, dass die Düttmann-Siedlung ein Stadtteilmanagement hat. Mit 3.000 AnwohnerInnen fällt die Siedlung ein bisschen aus den anderen Quartiersmanagements heraus, nicht nur aufgrund der Größe, sondern weil es eine reine Wohnsiedlung ist, es gibt ganz wenig Infrastruktur, kaum Gewerbe. Wir haben 2004 als Pilotprojekt angefangen, als die Senatsverwaltung an das Nachbarschaftshaus herangetreten ist und gefragt hat, ob wir die Fördergelder übernehmen. In den ersten 1 ½ Jahren hatten wir überhaupt keine Stellen, nun haben wir eine 20-StundenStelle und Unterstützung durch die Geschäftsführung, teilweise bist auch du dabei. Was zusammen gehört ...
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Es gab also Geld, das kam von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Aber da hatten wir eine ganz kompetente Regionalsachbearbeiterin, die uns unterstützt hat. Wir haben dann eine Initiative gegründet, mit Akteuren, die schon vorher vor Ort in der Trägerrunde gearbeitet haben, und Bewohnern und Bewohnerinnen. Wir mussten ganz schnell Strukturen aufbauen, um diese Gelder zu verteilen. Es ging dann um Bewilligungsanträge, wir mussten überhaupt erst mal durchblicken, was wie und wo beantragt werden muss, wie Förderanträge gestellt werden müssen. Im Juni 2005 kamen wir aus dem Pilotprojekt raus und ins Stadtteilmanagement. Seitdem merken wir, dass die Rahmenbedingungen immer enger werden. Die Senatsverwaltung gab dann die Aufgabe an die Bezirksleiter mit dem Hinweis weiter, dass die Stadtteile auch eine Hausaufgabe des Bezirkes sind. So wurde der Rahmenvertrag zwischen Senatsverwaltung, dem Bezirk und dem Nachbarschaftshaus abgeschlossen. Es gab die unterschiedlichsten Kooperationsrunden mit dem Bezirk, Steuerungsrunde, Lenkungsrunde usw. Ich kann da Herrn Oelschlägel Recht geben, es ist teilweise ein Kampf. Es gibt die Interessen des Bezirkes, es gibt die Interessen der Senatsverwaltung, die aber immer mehr an den Bezirk abgegeben hat, und wir hängen als Vor-OrtBüro oft dazwischen. Es werden z.B. Entscheidungen von BewohnerInnen gefällt, die dann der Bezirk nicht für gut erachtet. Dieses Problem gibt es überall. Wir sind auch im Austausch mit allen QuartiersmanagerInnen in Friedrichshain-Kreuzberg, da sind einige an den immer enger werdenden Rahmenbedingungen gescheitert. Die Fördermittel sind oft nur unter größter Mühe zu bekommen,immer wieder muss jeder beantragte Cent umgewidmet werden, wenn es auch nur kleinste Abweichungen von der Planung gibt.Was uns in der Arbeit hier einengt, das sind definitiv diese undurchschaubaren Förderregelungen, die aber von der EU vorgegeben werden. Das sind die Rahmenbedingungen, die uns am meisten einengen. Es werden im Quartiersrat Entscheidungen gefällt, die auf der Stelle umgesetzt werden müssten. Aber bis es so weit kommt, dass Anträge vom Bedarf über Ausschreibungen zu Fachämtern gelangen, und wer da
noch alles involviert ist, bis etwas endlich durchgeführt werden kann, ist viel Zeit vergangen und ein sehr großer Teil des Bewohner-Interesses verpufft. Wenn wir in der Düttmann-Siedlung Träger kontaktieren und fragen, ob sie Anträge zu unseren Ausschreibungen stellen wollen, lehnen es viele wegen der fürchterlichen Rahmenbedingungen ab. Sie sagen, dass der Verwaltungsaufwand insbesondere für kleine Projekte zu groß ist. Markus Runge: Nach einer Ausschreibung wurde die Düttmann-Siedlung als festes QM-Gebiet festgelegt. Das Nachbarschaftshaus hat dagegen die anderen drei Stadtteile selber gewählt, entsprechend der Gebietskenntnis und den Beobachtungen über Entwicklungen im Stadtteil haben wir gesagt, dass wir stärker in diesem Stadtteil oder in jenem arbeiten müssen. Das heißt, wir wählen schon mal den Stadtteil frei, in dem wir aktiv sind. Wir haben auch keine Vorgaben zum Aufbau bestimmter Strukturen, also es braucht in unserer Arbeit keinen Quartiersrat, keine Steuerungsrunde, das ist alles eher frei gestaltbar, organisatorisch und auch inhaltlich. Während ihr in der Düttmann-Siedlung ein Handlungskonzept habt, gucken wir eher regelmäßig im Gespräch mit den Menschen vor Ort, welches die Themen sind, die die Leute berühren und wo sich Menschen finden, die für diese Themen aktiv werden wollen. Ihr habt relativ regelmäßig Kontakte zum Bezirksamt, zu Stadträten, ihr könnt immer anrufen, und ihr erreicht relativ leicht die Leute. Unser Kontakt zum Bezirk gestaltet sich dagegen relativ schwierig. Dass es für euch so viel leichter ist, liegt vielleicht daran, dass ihr als Stadtteilmanagement sozusagen von oben eingesetzt seid. Dennoch schätze ich unsere Unabhängigkeit, dieses freie Agieren. Du hast schon von der Finanzierung gesprochen: ihr habt eine Grundfinanzierung, zusätzlich bestimmte Fördertöpfe, auf die ihr Zugriff habt, bei all dem aber sehr viel Bürokratie. Bei uns ist das recht anders. Wir haben zwei halbe Stellen für Stadtteilarbeit in zwei Stadtteilen, von denen jeder etwa 15.000 Einwohner hat. Außer diesem Personal haben wir geringfügige Projektmittel. Das heißt für unsere Vorgehensweise, dass wir erst mal die Ideen
mit den Menschen vor Ort entwickeln, und erst dann die Frage stellen, woher das Geld dafür kommen kann. Die Suche nach Finanzierung ist ein Schritt, der schon auch länger braucht. Aber mir erscheint dieses Vorgehen viel gesünder, nicht 100.000 Euro zu haben und am Anfang des Jahres überlegen zu müssen, wofür ich das Geld verwenden könnte, damit am Ende des Jahres auch alles ausgegeben ist. Ich finde es besser, so eine Freiheit zu haben, Geld dann zu beantragen, wenn ich weiß, wofür ich es nutzen möchte. Auch nicht in Jahresscheiben zu denken, sondern Geld über Jahresscheiben hinweg ausgeben zu können. Angelika Greis: Das Handlungskonzept schränkt uns nicht ein. Wir haben die Vorgabe von einem Handlungskonzept mit neun Handlungsfeldern, das geht von Qualifizierung, Arbeit, sozialer Infrastruktur bis zu Gesundheit, das ist fast ein politisches Programm. Die Bewohner bzw. der Quartiersrat entscheiden, welches Handlungsfeld für sie momentan wichtig sind. In der Düttmann-Siedlung ist Qualifizierung zum Beispiel ein sehr, sehr großer Aspekt. Darin steckt eine langfristige Perspektive. Und Qualifizierung kann nicht alleine über die Bürgerbeteiligung laufen, weil man sich nicht selber qualifizieren kann, es muss immer ein Know-how reinfließen. Aber wir haben gemerkt, dass durch diese vielen Handlungsfelder die Verantwortung immer größer wird. Es gibt viele Möglichkeiten, Pilotprojekte zu starten, wir haben durch die Gelder eine Infrastruktur schaffen können, wir haben einen Nachbarschaftstreff, wir konnten einen Kindertreff eröffnen, wir haben intergenerative Lernwerkstätten, wir haben Räume vom Jugendamt bekommen, wo Projekte stattfinden können. Wir haben auch erreicht, dass einzelne Träger in der Siedlung bleiben und auch Migranten ins Programm wollen, um nachhaltige Strukturen aufzubauen. Aber das Problem ist, dass es Projekte gibt, die die AnwohnerInnen zwar erreichen, die gute Ansätze haben, aber dann nicht nachhaltig sind. Die Projekte können nicht über einen längeren Zeitraum erhalten werden. Der Bezirk hat kein Geld, der Senat hat kein Geld. Aber es läuft nicht von alleine, denn die Projekträume müssen
gehalten werden, die Arbeit muss auch bezahlt werden, es kann nicht alles ehrenamtlich geleistet werden. Das steht irgendwie hinter diesem Programm Soziale Stadt, was Herr Oelschlägel auch gesagt hat, es ist ein Riesenprogramm, wo eigentlich zu jedem Punkt nur ein Tropfen auf den heißen Stein fällt. Wir können AnwohnerInnen keine Arbeit geben, vielleicht ein paar Arbeitsplätze über den zweiten Arbeitsmarkt, die sogenannten ÖBS-Stellen, wo AnwohnerInnen dann z.B. als Kiezlotsen mitarbeiten. Aber nachhaltige, stabile Strukturen aufzubauen, das ist eine Verantwortung und eine Aufgabe, wenn man die ernst nimmt, muss man täglich diesen Spagat machen, der eigentlich nicht möglich ist. Markus Runge: Dennoch, finde ich, liegen darin ganz viele Chancen. Über diese Stadtteilarbeit oder Stadtteilmanagementarbeit schaffen wir ganz viele Zugänge zu Menschen und entwickeln da ganz viel. Letztlich auch immer Dinge, die für das Nachbarschaftshaus eine
Bereicherung sind. Einige Arbeitsbereiche, die wir jetzt im Nachbarschaftshaus haben, hätten wir nicht, wenn wir die Stadtteilarbeit nicht gehabt hätten und darüber ganz klar Dinge herausgefunden hätten, die wesentlich sind, und die wir dann geschaffen haben. Z.B. ein offenes Jugendzentrum, wir hätten dieses offene Jugendzentrum nicht übernommen, wenn wir nicht in diesem Stadtteil schon Stadtteilarbeit gemacht hätten. Der Bezirk sagte: Was zusammen gehört ...
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Angelika Greis: Es gibt den Quartiersrat, den kennen wahrscheinlich alle. Ein Gremium aus hauptsächlich BewohnerInnen und Trägern, die über die Projekte entscheiden. In der Düttmann-Siedlung haben wir es durchgesetzt, dass alle Quartiersratsmitglieder aus der Bewohnerschaft MigrantInnen sind, unsere gesamte Arbeit passiert mit MigrantInnen. Sie stellen Projekte vor und entscheiden darüber. Die einzige Bremse sind aber immer wieder unsere Richtlinien: dass Fördergelder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgegeben werden müssen; dass Projektideen in die Fördertöpfe reinpassen müssen. Das ist für uns immer wieder ein Riesenspagat und teilweise auch nicht machbar. Dass die Gelder in Jahresscheiben eingeteilt sind. Das sind so die Probleme, die es gibt. Aber prinzipiell ist dieser Quartiersrat für die Bewohnerschaft schon ein wichtiges Gremium für die Auseinandersetzung. Die Bewohnerbeteiligung passiert auch in den einzelnen Projekten. Alle Projekte sollen Partizipation und Eigenverantwortung beinhalten.
tischen Nutzen haben. Wenn eine Schule unzufrieden ist mit der Ganztagsbetreuung, aber keine Initiative vonseiten des Schulleiters da ist, den Träger zu wechseln, dann können wir mit den Eltern zusammen dafür sorgen, dafür gibt es praktische Beispiele, dass ein Trägerwechsel stattfindet. Oder wenn ein Jugendfreizeitheim saniert werden muss, dann sind wir in der Lage, das zu tun und eine Einrichtung zu erhalten und weiterzuentwickeln zu einem Nachbarschaftszentrum, eine Infrastruktur zu entwickeln, in der Bürger aller Altersstufen sich treffen und auch wieder betätigen können. Wir sind ständig im Austausch mit den Leuten, in ständiger Kommunikation. Wir haben vor kurzem ein Ehrenamtsfest gemacht, zu dem wir 900 Ehrenamtliche eingeladen haben. Das sind Leute, die bei uns in die Strukturen eingebunden sind, die haben was zu sagen, die reden mit. Die sind natürlich ein Potenzial auch dem Bezirk gegenüber oder gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und die mischen sich in alles ein. Wir schaffen für sie Zugänge und stellen auf diese Art für sie Qualität her. Eines meiner Lieblingsworte ist: wir geben an die Gesellschaft einen aktiven Bürger wieder zurück. Das ist für mich praktische Gemeinwesenarbeit. Und die verstehe ich auch als Stadtteilarbeit. Heute hatten wir eine Diskussion darüber, wie wichtig Schulen sind, mit dem Bezirksamt und dem Jugendamt in Schöneberg. Die Leute ziehen weg, wenn bestimmte Strukturen in einem Bezirk nicht mehr stimmig sind und der Stadtteil absackt. Da kannst du so viel Stadtteilarbeit, Gemeinwesenarbeit oder Quartiersmanagement machen, wie du möchtest, das nutzt gar nichts, wenn die Schule nicht super funktioniert. Dazu können wir aber einen Beitrag leisten – und das machen wir auch.
Georg Zinner: Ich teile die Auffassung nicht. Bei uns machen wir klassische Gemeinwesenarbeit und sehr viele konkret nützliche Sachen. Und wir sind nicht mehr abhängig vom Senat und von Zuwendungen. Wir sind Akteure, die mittlerweile so stark in der Region und im Bezirk sind, dass der Bezirk uns braucht, der Bezirk ist von uns abhängig. Wir können Dinge bewegen mit den Bürgern zusammen, Sachen machen, die einen prak-
Thomas Mampel: Ich will etwas zu der These sagen, dass Nachbarschaftshäuser und Stadtteilzentren zu wenig Gemeinwesenarbeit machen. Wenn es so wäre, wäre es natürlich hochgradig bedauerlich, aber ich kann diese Beobachtung in der Tat nicht nachvollziehen. Ich komme aus Steglitz-Zehlendorf, das ist der Bezirk der Schönen und Reichen. Wir haben natürlich kein Quartiersmanagement, sind nicht Fördergebiet des Programms Soziale
ihr seid doch da eh schon aktiv, übernehmt doch bitte die Trägerschaft für dieses Jugendzentrum. Ich sehe darin eine große Chance, über Stadtteilarbeit die Arbeit der Nachbarschaftshäuser zu erweitern und anzureichern. Ich sehe viele Anknüpfungspunkte für Kooperation und eine große Nähe zum Bedarf und den Bedürfnissen von Menschen, woraus dann Dinge wachsen können. Letzter Punkt: Bewohnerbeteiligung. Ich glaube, da gibt es auch Unterschiede. Ihr habt eine stark vorgegebene Beteiligungsstruktur, wenn ich mir etwa den Quartiersrat anschaue. Vielleicht willst du dazu noch mehr sagen? Wobei ihr natürlich auch enorm spannende Ansätze habt.
Stadt, aber trotzdem gibt es da ganz viele Kieze und Sozialräume, die natürlich Stadtteilarbeit brauchen, die Gemeinwesenarbeit brauchen. Unser Verein bekommt aus dem Stadtteilzentrumsvertrag eine Förderung von 95.000 Euro, also selbst wenn wir wollten, könnten wir niemals sechs Leute als Stadtteilarbeiter beschäftigen. Für uns ist also vollkommen klar, dass alle Projekte, alle Einrichtungen, die wir in den Kiezen, Sozialräumen und Stadtteilen entwickeln, mit dem Auftrag an die Arbeit gehen, sich für den Stadtteil zu öffnen, in den Stadtteil zu wirken. Im Prinzip muss unsere Kitaleiterin Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit machen, im Prinzip macht unser Jugendarbeiter Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit. Ich glaube, Nachbarschaftshäuser beweisen das durch ihr tägliches Handeln, dass Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit eine sehr hohe Priorität haben. Z.B. die Kooperation mit Outreach ist nichts anderes als der Versuch, auf diesem Gebiet Stadtteil- und Gemeinwesenarbeit zu entwickeln, in der Kooperation mit Schulen etwa geht es immer darum, diese Einrichtungen zum Gemeinwesen zu öffnen. Sie sagten, Sie würden sich wünschen, dass Gemeinwesenarbeit sich nicht so eng an Sozialarbeit koppelt. Da ist meine Befürchtung oder meine Wahrnehmung, dass Quartiersmanagement eigentlich das gescheiterte Modell davon ist. Was passiert, wenn man Gemeinwesenarbeit von Sozialarbeit abkoppelt? Dann passiert aus meiner Sicht irgendwas sehr Technokratisches, was mit den Lebensverhältnissen und der sozialen Situation der Menschen nur noch begrenzt zu tun hat und was auch nicht nachhaltig wirkt. Wäre es da nicht sinnvoller, diese unendlichen Summen von Geld, die für Quartiersmanagement kurzfristig zur Verfügung gestellt werden, in die Finanzierung von Nachbarschaftsheimen und Stadtteilzentren fließen zu lassen, damit da nachhaltig Stadtteilarbeit und Gemeinwesenarbeit entwickelt wird? Anstatt solche technokratischen, von den Bürgern entrückten Modelle zu machen, über deren Sinn man wirklich streiten kann. Dieter Oelschlägel: Zunächst mal möchte ich nicht gerne die alten Diskussionen führen, die bringen uns nicht weiter. Wir sollten uns lieber fragen, ob es nicht für jeden
eine Form von Gemeinwesenarbeit gibt und es getrost den einzelnen Einrichtungen überlassen, welche Form der Gemeinwesenarbeit sie machen. Zu dem Punkt, dass ich beklagt hatte, dass GWA so eng an die Sozialarbeit gebunden war oder ist: Sozialarbeit wurde als Methode der Problembewältigung gesehen. Sie wurde dann mit der Einzelfallhilfe, der Gruppenarbeit und der Gemeinwesenarbeit in einen Topf geschmissen und immer wenn es kritisch wurde, auch wenn zum Beispiel viele soziale Probleme auftauchten, dann hat die Gemeinwesenarbeit sich zurückgezogen und wurde dann Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe. Es wurde sehr viel Betreuungsarbeit und fürsorgliche Arbeit gemacht und wenig Aktivierung und Selbstorganisation. Andererseits hatte sich Gemeinwesenarbeit eben wie Sozialarbeit immer auf die sozialen Fragen beschränkt und wenig auf die Arbeits- und Wirtschaftsfragen konzentriert. Wir sollten die lokale Ökonomie fördern, das betrachte ich als eine sehr wichtige Aufgabe von Gemeinwesenarbeit. Die kleinen, oft ausländischen Geschäftsleute zu organisieren, damit sie eine Macht werden, das ist dann nicht mehr Sozialarbeit im engen Sinn. Gerd Schmitt: Bei uns in Schöneberg-Nord, auch ein QMGebiet, hat sich inzwischen die Sozialraumorientierung der Jugendhilfe entwickelt. Sie spielt eine wichtige Rolle, weil das ganze System von Vernetzung und Nachhaltigkeit damit auf ganz andere Füße gestellt wird. Aber ich muss dem beipflichten, dass man mit den Mitteln, so wie sie jetzt im Programm Soziale Stadt eingesetzt werden, wesentlich Sinnvolleres machen könnte, weil wir im Moment Parallelstrukturen haben. Einerseits haben wir im Rahmen der Sozialraumorientierung bestimmte Strukturen, auch von guter, gewachsener Zusammenarbeit. Andererseits ein System der Sozialen Stadt. Es wird zwar versucht, diese beiden Dinge zu verbinden, aber das gelingt nicht immer. Zum Beispiel sind Quartiersräte oft ambivalent. Auf der einen Seite Partizipation, wunderbar, auf der anderen Seite werden oft nicht – so ist es bei uns – die Schwerpunkte umgesetzt, die im Sinne der Nachhaltigkeit wichtig wären. Schwerpunkte wären etwa das Anknüpfen an Schulen und Kitas. Das ist für die EntWas zusammen gehört ...
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stehung von Nachhaltigkeit ein entscheidender Punkt. Weshalb ich der These widersprechen würde, dass jetzt weniger Gemeinwesenarbeit gemacht wird. Wenn ich das auf uns beziehe: in den letzten 20 Jahren sind wir von einer auf das Haus fixierten und begrenzten Einrichtung dahin gekommen, dass wir ganz viele Einrichtungen in
dem Stadtteil haben, ein Netz aus Kitas und Schulen, intensive Verbindung mit den Eltern. An all diesen Punkten finden heute die spannenden Prozesse statt. Das aber nachhaltig zu organisieren, das ist die Aufgabe. Wir haben Projekte, finanziert über Soziale Stadt, die zum Beispiel Zugänge der Eltern zu Kitas verändert haben, also dass die Kinder früh in die Kita gehen, dass die Übergänge gestärkt werden zwischen Kita und Grundschulen, dass Eltern sich in den Schulen beteiligen. Das sind Prozesse, die nach dem Ende des Projekts nicht einfach in sich zusammen fallen, sondern sie haben eine stabile Qualität von nachhaltiger Beteiligung gewonnen. Das ist für mich eine Frage der Steuerung, wie diese Mittel in nachhaltige Strukturen einfließen. Grundsätzlich kritisiere ich die Tatsache, dass im Prozess des Quartiersmanagements zuviel Energie für die Abwicklung verloren geht. Ich denke, wenn man eine übergreifende Struktur hat, wo alle Beteiligten in einem Stadtteil auch eine gemeinsame Strategie entwickeln, dann müssen dort die Gelder einfließen. Warum soll man nicht die Mittel beispielsweise der Jugendämter verstärken, mit denen man zusammen
Projekte entwickelt, statt sie in eine eigene Institution wie das Quartiersmanagement zu geben. Ich hielte das für effektiver und langfristiger. TN: Es wurde gesagt: wir geben den Bürgern die Einrichtung zurück. Das finde ich auch und ich glaube, wir sind die Einzigen, die dazu in der Lage sind. Trotzdem würde ich mir ein bisschen mehr Ehrlichkeit an der Stelle wünschen. Ich erlebe viele Fälle, in denen eine Kitaleiterin oder die Leiterin vom Schulhort nicht in der Lage sind, die Arbeit der Verbindung zu den Anwohnern zu leisten, weil sie in ihren Aufgabenfeldern schon überlastet sind. Was wir gerne wollen und wichtig finden und woran wir auch arbeiten, nämlich rausgehen aus der Einrichtung in das Wohnumfeld der Menschen, das können sie nicht zusätzlich erbringen. Wir müssen also überlegen, wie wir diesen Anspruch auch wirklich umsetzen können. Im Zusammenhang mit der Sozialraumorientierung bin ich in Berlin durch relativ viele Bezirke gekommen, durch Sozialraumrunden, Kiezrunden u.ä., die ich begleitet habe. In diesen Runden meint man häufig: wenn es Geld aus dem Quartiersmanagement gab, dann ist es uns gelungen, auch Bürger stärker zu aktivieren. Wenn am Beginn eines Projekts Geld bereits da ist, um etwa die Schulhofgestaltung, die Öffnung des Schulhofs in den Sozialraum umzusetzen, ist das eine große Hilfe, um Bürger zu aktivieren. Und das Geld ist so auch besser eingesetzt, glaube ich, wenn die Kitaleiterin sich nicht darum kümmern muss, wo sie Gelder für die Schulhofgestaltung her bekommt, sondern sich mehr um die Bürger kümmern kann. Markus Runge: Also ich will die Diskussion jetzt auch nicht wieder aufgreifen mit der GWA, ich glaube, da gibt es einfach eine unterschiedliche GWA-Definition. Nachbarschaftshäuser machen ohne Frage eine sehr nützliche Arbeit, und solche Häuser in den Stadtteil zu öffnen und sie so den Bürgern zurückzugeben, ist wichtig. Was mich interessieren würde: Haltet ihr denn den Ansatz dieser hinausgehenden Arbeit für falsch, weil ihr ihn aus meiner Sicht nicht in dem Maße praktiziert wie wir? Oder wie betrachtet ihr diesen Ansatz der hinausgehenden stadtteilbezogenen Arbeit? Und an Thomas Mampel: Du
hast dieses Quartiersmanagement so ein Stück kritisiert als den falschen Ansatz, aber ich sehe darin ja auch eine Chance, so wie es Dieter Oelschlägel auch gesagt hat. Nur war ja die Beobachtung 1999, dass kein Nachbarschaftshaus Träger von einem Quartiersmanagement wurde, 2005 waren es dann zwei oder drei, die in die Trägerschaft von Quartiersmanagement kamen. Ich stelle mir da die Frage, welche stadtteilbezogenen Kompetenzen hatten wir offensichtlich nicht? In der Düttmann-Siedlung hatten wir bereits eine Steuerungsrunde, bevor das Stadtteilmanagement überhaupt begonnen hatte, nämlich die Trägerrunde, die wir dort aufgebaut hatten. Diese hohe Gebietskompetenz, die wir als Träger hatten, die hat uns automatisch qualifiziert, dort Träger des QM zu werden. Jetzt kann ich mir in ganz Berlin ganz viele Quartiersmanagementgebiete angucken, wo es Nachbarschaftshäuser gibt, die aber nicht dazu gekommen sind, Träger von Quartiersmanagement zu werden. Da frage ich mich, was hat denen denn an Kompetenz gefehlt, dass sie diese Chance nicht bekommen haben? Denn aus meiner Sicht sollten Nachbarschaftshäuser genau diese Rolle übernehmen, da sie vor Ort bleiben, auch wenn das Quartiersmanagement ausläuft. Georg Zinner: Wir haben uns auch immer stark dafür gemacht, dass die Nachbarschaftshäuser Quartiersmanagementaufgaben übernehmen und diese Gelder nutzen. Um wenigstens aus diesem schlechten Programm das Beste zu machen und es zu verbinden mit den etablierten Systemen, die da sind und nachhaltig sind. Die man auch damit weiterentwickeln kann, um einen Qualitätssprung zu erreichen. Aber den Glauben, dass mit dem Quartiersmanagement oder mit so einem Programm Soziale Stadt tatsächlich irgendwelche großen Veränderungen bewirkt werden, teile ich nicht. Kommunen nutzen dieses Programm, um bestimmte Schritte zu machen, die sie sonst auch machen würden. Falsch daran ist, dass sich Kommunen den Bürgern gegenüber mit diesem Programm immer das Interventionsrecht vorbehalten. Vielleicht noch mal zu der Forumlierung, wir geben unsere Einrichtung den Bürgern zurück: das ist ein ständiger Pro-
zess, der hört nie auf. Jede Institution, auch wir, unterliegen ständig der Gefahr, dass wir uns selbst genügen und uns als Organisation zufrieden stellen, aber nicht die Bürger. Das ist eine Daueraufgabe, man muss sich dieser Gefahr bewusst sein. Zum Aktivieren der Bürger: das ist für mich ein schwer zu schluckender Begriff. Ich finde, es steht uns nicht zu, die Bürger zu aktivieren. Es steht uns nicht zu, weil die Bürger ihre eigenen Interessen haben, man muss sich keine Sorgen machen, sie sind hochaktiv an ganz vielen Stellen. Wenn sie es dann sind, dann soll man bitte darauf achten und sie unterstützen und begleiten und fördern. Es gibt unendlich viele Initiativen in Berlin, wir sind gar nicht in der Lage, das alles aufzunehmen, was es gibt. Bürgeraktivierung ist in meinen Augen alles, was mit ehrenamtlichem und bürgerschaftlichem Engagement zu tun hat. Die Leute engagieren sich selber. Und sie tun das nicht, weil wir dazu aufrufen, sondern sie wollen etwas tun und wir müssen viele Zugänge und Gelegenheiten
schaffen, damit sie es tun können. Das ist unser Job. Und sie müssen es nach ihrer Facon tun dürfen, nicht nach unseren Vorstellungen. Wir dürfen selbstverständlich ein Angebot machen. Bei der Einführungsveranstaltung für unsere neuen Mitarbeiter geht es auch um ehrenamtliche Mitarbeit. Die ist für uns das Innovationspotenzial schlechthin. Ehrenamtliche Mitarbeit und Bürgerengagement findet nur dort statt, wo herkömmliche Institutionen Was zusammen gehört ...
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versagen und irgendwas nicht mehr stimmig ist in unserer Gesellschaft, wo etwas nicht mehr zusammenpasst, da engagieren sich Bürger. Wir müssen uns keine Gedanken machen, außer denen, wie wir eine Struktur schaffen können, dass dieses Engagement unterstützt wird. Wie können wir dazu beitragen, dass Bürger ihre Ziele erreichen? Hinschauen, registrieren, was passiert und das dann unter Umständen wie ein Katalysator verstärken und unterstützen, das sehe ich als unsere Aufgabe an. Man kann das mit ganz einfachen Mitteln machen. Wir haben seit fünf Jahren eine Stadtteilzeitung, die es einmal im Monat gibt. Das macht eine ehrenamtliche Redaktion unter Anleitung einer Honorarkraft, aber die Ehrenamtlichen bestimmen, das Nachbarschaftszentrum nimmt auf die Redaktion keinen Einfluss. Die rein ehrenamtlichen Redakteure dürfen da schreiben und veröffentlichen, was sie wollen. Die Zeitung erscheint in einer Auflage von 10.000, inzwischen trägt sie sich finanziell sogar fast selbst, anfangs haben wir das subventioniert. Das ist ein wichtiges Medium in Schöneberg-Steglitz geworden. In der Quartiersmanagement-Zeitung dürfen die Leute nicht schreiben, was sie wollen, ich glaube, das sind auch ehrenamtliche Redakteure. Das ist genau der Unterschied. Wir haben die Kraft und die Möglichkeit, so etwas zu machen. Aber da will ich nicht sagen, dass wir die Bürger aktiviert haben. Es war unsere Idee, so eine Stadtteilzeitung zu machen, wir haben es gemacht, es haben sich Leute gemeldet und seitdem läuft das Ding. So einfach kann es sein, wir müssen gar nichts groß machen, da kommen die Themen schon auf den Tisch. Ich gebe es sozusagen auch wieder ein Stück weit den Bürgern in die Hand, die haben das Medium, die haben eine verlässliche Infrastruktur durch das Nachbarschaftsheim, damit diese Zeitung erscheinen kann. Bahar Sanli: Ich würde Ihnen bei der Herangehensweise vollkommen zustimmen, nur würde ich sagen, zu meiner Aufgabe als Stadtteilarbeiterin zählt es auch, zu aktivieren. In dem Sinne zu aktivieren, dass ich zum Beispiel rausgehe, durch Gespräche und Beobachtungen herausfinde, was ist das Interesse, was sind die Bedürfnisse der Stadtteilbewohner? Es gibt viele Interessensgruppen
oder einzelne Personen, die sich nicht aus eigener Initiative heraus ehrenamtlich und freiwillig engagieren, in irgendwelche Vereine oder Initiativen eintreten oder die Angebote des Nachbarschaftshauses in Anspruch nehmen. Sie setzen sich mit Problemen ganz für sich alleine auseinander. Da sehe ich es als meine Aufgabe Informationen zu sammeln und herauszufinden, wie ich sie begleiten, fördern und unterstützen kann. In dem Sinne wirke ich ja auch aktivierend ein, wenn ich sage, hier, es gibt Gleichgesinnte, die teilen mit dir das gleiche Problem, wir bieten euch die Strukturen, wir bieten euch die Räume, ihr könnt euch hier versammeln und wir können euch unterstützen. Solange der Einzelne sich in seine Wohnung zurückzieht und sich alleine mit den Themen wie z.B. Mietentwicklung oder Vermüllung auseinandersetzt, hat er keine Möglichkeiten, Einfluss auf die Gestaltung seines Kiezes zu nehmen. Manchmal müssen Menschen dafür motiviert werden, sich für ihre Ziele einzusetzen. Dafür bin ich da, ich bin so eine Art Coach, ich bin da, um sie zu unterstützen, damit sie sich trauen und den Kontakt zu Gleichgesinnten aufsuchen. In dem Sinne sehe ich die Aufgabe von Stadtteilarbeit auch in der Aktivierung. Unter diesem Aspekt ist auch der Stellenwert der Vernetzungsarbeit zu bewerten. Entscheidend ist nicht unbedingt die Akquisition von Projektgeldern, sondern dass ich Ressourcen ausfindig mache und aktiviere. Hier will jemand was, dort gibt es jemanden, der diese Ressource hat und beide sind bereit für Ihren Kiez etwas zu tun. Wie kann ich diese Personen zusammenführen? Vielleicht kann man sogar ohne finanzielle Mittel Bürgern durch die Vernetzungsarbeit ermöglichen, etwas für den Kiez zu schaffen, nicht nur in Form von Festen, sondern auch in Form von z.B. einer Zeitung, die sie schließlich mit Hilfe einer im Kiez ansässigen Druckerei selbst produzieren. Georg Zinner: Einverstanden. Wir haben 1998 zum ersten Mal einen Flyer gedruckt, auf dem wir unsere Angebotsstruktur bekannt gemacht haben. Von dem Moment an mussten wir uns als Nachbarschaftszentrum keine Gedanken mehr machen, was wir anbieten, weil die Bürger mit so vielen Ideen und Vorschlägen kamen, was wir
machen sollten, dass wir fast getrieben waren, immer wieder Einrichtungen zu schaffen. Die enorme Vielfalt der Nachfrage hat gereicht, um eine unglaubliche Infrastruktur aufzubauen. Bahar Sanli: Für mich ist es aber auch wichtig, die Gruppen zu erreichen, die nicht auf diese Methoden anspringen. TN: Ich glaube, alle, die in diesem Bereich arbeiten, wissen, dass man Stadtteilarbeit nicht nach seinen eigenen Ideen machen kann. Aber egal auf welcher Ebene, ob das der Träger ist, ob das Bewohner sind, auf institutioneller Ebene, Kitas, Schulen, funktioniert eigentlich nichts von alleine. Es muss jemand in der Trägerrunde sein, der die Einladungen macht, die Tagesordnungspunkte, den Kleinkram organisiert. Quartiersrat, Bewohner, Kita-MitarbeiterInnen, Schulen, alle sind durch die starken Kürzungen völlig überfordert. Es ist so schwierig, diese Vernetzung zu machen, dass die Menschen miteinander reden und ihre Ressourcen nutzen. Es gibt viele Institutionen, die so in ihrer eigenen Arbeit verstrickt sind und gegen Kürzungen kämpfen, dass sie überhaupt keinen Blick mehr nach außen haben. Es muss sich jemand um Vernetzung kümmern. TN: Die Infrastruktur schaffen. Dieter Oelschlägel: Ich bin nicht ganz einverstanden, Georg, dass man allein mit der Bekanntmachung von Möglichkeiten die Menschen zum Handeln ermuntert. Denn damit erreicht man nur immer wieder dieselben Leute, die aktiv sind. Die, die immer still sind, die erreichst du nicht. Da müssen wir Methoden finden, denen auch die Möglichkeit zu geben sich zu äußern. Das heißt ja nicht, dass ich denen sagen muss, was sie machen sollen. Aber ich muss ihnen die Möglichkeit zur Äußerung geben. Zum Beispiel gibt es bei uns ein Zechengelände, das stillgelegt wurde, was jetzt neu überplant wird. Da kommt doch kein Mensch von sich aus auf die Idee, dass Bürger hingehen und mitplanen können, dass sie sogar eine eigene Planung machen können. Das müssen wir anregen. Und dann machen sie mit. Da reden wir ihnen dann auch nicht
rein. Das haben die ganz prima gemacht und das ist jetzt in die zentrale Planung eingegangen. Das ist eine ganz tolle Sache. Aber wenn wir nicht den Anstoß mit einer Bürgerversammlung gegeben hätten, dann wäre das nie passiert. Daraus ist ein Beteiligungsprozess geworden. Gerd Schmitt: In der ganzen GWA-Debatte finde ich unsere Anwaltsfunktion wichtig, die auch beinhaltet, dass Beteiligung nicht von alleine entsteht. Wenn man Strukturen und Gelegenheiten zum Mitmachen schafft, entsteht daraus eine Aktivierung. Hinausgehen oder Nichthinausgehen, das muss es beides geben. Wir haben z.B. eine Familienberatung, und da sagen wir, das geht doch nicht mehr, dass die Familienberatung dort sitzt und wartet, bis sie angerufen wird. Sondern wir müssen an die Familien rankommen, die diese Hilfe brauchen und nicht in Anspruch nehmen. Diese Momente von hinausgehender Arbeit, mit der wir ganz viele Strukturen im Stadtteil schaffen in Verbindung mit den Regeleinrichtungen, das ist für mich kein Gegensatz, sondern es gehört zusammen. Thomas Mampel: Ich brauche immer irgendwelche Bilder, um mir die Welt zu erklären. Bei dieser Diskussion Quartiersmanagement, Gemeinwesenarbeit, so wie wir sie als Nachbarschaftsarbeiter verstehen, fällt mir ein Bild aus der Software-Entwicklung ein. Es gibt SoftwareBuden wie Microsoft, die kommen mit einem fertigen Paket. Wenn dann irgendwas nicht funktioniert, dann kann man an Microsoft eine Fehlermeldung schicken. Wenn das mehrmals passiert, stürzt das System irgendwann ab. Dann gibt es aber auch eine andere Haltung von Software-Entwicklung, die mehr auf Open Source-Modelle setzt. Im Prinzip gibt es dann einen Kern von Angeboten, dann öffnen sie ihre Schnittstellen, öffnen ihre Systeme, da gibt es draußen in der Welt ganz viele fitte Leute, die eine Idee dazu haben, wie man diese Software weiterentwickeln kann, wie man irgendwelche Applikationen bauen kann. Und so verstehe ich Gemeinwesenarbeit, wie wir sie als Nachbarschaftsheim oder Stadtteilzentrum machen, dass wir unsere Systeme öffnen, also das, was Georg meint mit möglich machen. Vor einem Jahr las ich an Litfasssäulen auf Plakaten der Was zusammen gehört ...
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Diakonie: wir kümmern uns. Das ist genau das falsche Modell, also wir kümmern uns nicht, sondern wir machen möglich. Dieses Quartiersmanagement ist für mich so eine Denkwelt von Microsoft und Diakonie. Wir kümmern uns und hier hast du ein Angebot, wir nehmen dein Feedback dankend auf und entwickeln daraus was Neues, aber wir geben dir nicht die Möglichkeit, dir selbst dein Produkt zu entwickeln. Natürlich rennt auch unsere Kitaleiterin nicht ständig in den Stadtteil hinaus, das kann sie natürlich nicht, und auch nicht unser Hortleiter. Wir können nicht den ganzen Tag draußen im Stadtteil unterwegs sein, aber wir können unsere Systeme und Strukturen so bauen, dass sie sich für all diejenigen anbieten, die daran Interesse haben. Die an Projekten bauen, die irgendwelche Initiativen gründen und diese Struktur bzw. diesen Kern nutzen wollen. Da entsteht dann in einem Prozess Gemeinwesenarbeit. Das entwickelt sich immer weiter. Das ist ein komplett anderer Denkansatz als Quartiersmanagement. Gabriele Hulitschke: Ich arbeite seit ca. einem Jahr als Quartiersrätin am Magdeburger Platz, unmittelbar angrenzend an Schöneberg-Nord. Für mich ist das etwas, wo man praktisch sich selbst auch aktiviert, wenn man bürgerschaftliches Engagement erlebt. Ich erlebe das jetzt sogar öfter in migrantischen Kreisen, die noch diese andere Denkweise als Großfamilie haben. Es ist über den Stadtteilverein schon gelungen, für einen Mädchentreff auch Migrantinnen als Betreuerinnen zu engagieren. Oder dieses Lotsen-Brücke-Projekt, wo wirklich Frauen, die dieselbe Sprache wie die Bewohnerinnen sprechen, Ansprechpartner werden, die unabhängig von den Männern Inhalte vermitteln. Es gibt mittlerweile auch acht Frauengruppen in dem Gebiet. Da beginnt wirklich Kommunikation. Wir hatten das Projekt Magistrale, das fünf Jahre lang finanziert wurde. In diesem Jahr haben wir es geschafft, sie über einen Sponsor selber zu finanzieren. Seit dem letzten Jahr gibt es auch die Kinder-Magistrale, da machen Künstler Aktionen mit Kindern zu einer bestimmten Thematik. Das war dieses Jahr das Thema Geld im weitesten
Sinne, also mit Schatz verbuddeln und einer Schnitzeljagd zu Kunstwerken, um so etwas zu erfahren. Das sind Sachen, die laufen zu einem hohen Prozentsatz ehrenamtlich ab, also die Künstler, die oft aus dem Quartier sind, engagieren sich auch ehrenamtlich. Während die Organisation, also Presse und die Gesamtkoordination, finanziert wird. Durch solche Veranstaltungen kommt auch eine Verbindung zum Einzelhandel zustande. Das sind Aktivitäten, die sind über die Jahre gewachsen. Daran hat das Stadtteilmanagement vom Magdeburger Platz einen hohen Anteil. TN: Die Stadtteileinrichtungen als Open Source, wo jeder zur Entwicklung beitragen kann, dieses Bild aus der Computer-Welt hat mir gut gefallen. Das setzt aber ein aktives Interesse bei allen voraus. Ein Beispiel: Am Kottbusser Tor gibt es seit vielen hunderten von Jahren Versuche, da eine Bewegung reinzubringen. Wir haben da mal einen arabischen Kollegen hingeschickt, der versuchte, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Nach seiner Einschätzung sind 70 % der dort wohnenden arabischen Menschen Analphabeten. Was ich damit sagen will: wir brauchen das Hingehen zu den Menschen, man braucht diese direkte Kommunikation, um wichtige Informationen zu bekommen. Wir erreichen viele Menschen nur über unsere hinausreichende Arbeit, über Straßensozialarbeit. TN: Als Gemeinwesenarbeiter und Mitarbeiter eines Nachbarschaftsheims gehe ich erst mal grundsätzlich davon aus, dass jeder Mensch was kann und jeder Mensch Möglichkeiten hat, sich einzubringen. Aber ich bin natürlich sehr begrenzt in meinen Möglichkeiten, alles zu schaffen. Ich muss zugeben, dass ich mit meinen Angeboten viele Leute nicht erreichen kann. Dennoch ist die Alternative nicht irgendein Programm, das mir sagt, aktiviere jetzt mal alle. Vielleicht müssen wir unsere Begrenztheit einfach akzeptieren? Georg Zinner: Ich will noch mal was zu Dieters Sorge sagen, dass wir sozusagen Dinge laufen lassen. Das machen wir nicht. Allein wenn wir informieren, dass es
diese Infrastruktur gibt, - Anfang der 80er Jahre haben wir das die offensive Information genannt – ist das ja eine aktive Handlung, das war eine Angebotseröffnung. Aber das hat dazu geführt, dass wir dann im Grunde genommen nur hinhören mussten. Natürlich haben wir auch aufgenommen, dass unser Stadtteil sich verändert hat, als die türkischen Familien zugezogen sind und haben eine türkische Einrichtung geschaffen, haben türkische Mitarbeiter eingestellt usw. Man muss eine offene Haltung gegenüber Veränderungen haben und dann Strukturen so aufbauen, dass sie genutzt werden können, dass sie zur Verfügung stehen, dass sie nicht an der Bevölkerung vorbei existieren. Bei vielen Institutionen ist das ja der Fall. Wer geht zum Beispiel schon freiwillig ins Gesundheitsamt? Aber zu uns kommen die Leute. Es gäbe bei uns kein stationäres Hospiz und vielleicht auch kein ambulantes Hospiz, wenn es nicht eine Gruppe von Ehrenamtlichen gegeben hätte, die zu uns gekommen ist. Sie waren inhaltlicher Träger dieser Projekte. Und unsere Stärke war, das aufzunehmen und auch die wirtschaftliche Stabilität von so einer Einrichtung sicherzustellen, denn das konnte die Gruppe alleine nicht leisten. Ein zweites Beispiel ist Al Nadi in Schöneberg, eine Einrichtung speziell für die arabische Bevölkerung. Das Bildungsproblem ist bekannt, sie bieten deshalb ehrenamtlich Alphabetisierungs- und Sprachkurse an. Daraus hat sich die Initiative von Studenten und Stipendiaten einer Stiftung entwickelt, die sagte, dass sich alle Stipendiaten ehrenamtlich engagieren sollten. Diese Stiftung bzw. diese Stipendiaten haben sich in Berlin zusammengetan und sorgen jetzt dafür, dass dort genug ehrenamtliche Schüler Bildungshilfen für arabische Familien in Schulen anbieten, weil wir keinen Platz haben. So hat das angefangen und das weitet sich aus. Wir haben jetzt größte Problem, da organisatorisch hinterherzukommen, diesen ganzen Nachwuchs jetzt an die notwendigen Stellen zu transportieren, dafür müssen wir uns eine Struktur überlegen, wie wir diese Ehrenamtlichen in die Familien bringen. Ein drittes Beispiel: Irgendwann war es eine Verpflichtung, auch für alle Einrichtungen des Nachbarschaftsheims,
da es Arbeitslosigkeit eben gibt, auch Arbeit suchende Menschen zu beschäftigen, um mit zu ihrer Qualifizierung beizutragen. Das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen. Aus diesem Kreis können wir dann auch wieder Regelarbeitsplätze besetzen. Es ist nicht so, dass wir da nur zuschauen, sondern natürlich ist man aktiv. Und eines der wichtigsten Mittel ist Transparenz, Offenheit und Information. Information ist schließlich Öffentlichkeitsarbeit, das ist sozusagen das Wichtigste überhaupt, dass die Leute wissen, dass es das gibt, dass sie kommen können und dass sie diese Institution bzw. deren Ressourcen für sich verwenden können. Ich glaube auch nicht, dass alle unsere Einrichtungen immer so ausgelastet sind, dass sie nicht auch Stadtteilarbeit machen können. Unsere Kitas sind glücklich, bei einem stadtteilorientierten Träger zu sein, auch diejenigen, die aus dem öffentlichen Dienst zu uns gekommen sind, das sind inzwischen die meisten bei uns. Ihnen haben sich neue Dimensionen erschlossen, denn vorher hatten sie den Stadtteil gar nicht im Blick. Dieser erweiterte Horizont ist eine Belastung, das ist richtig. Aber teilweise empfinden sie diese zusätzliche Belastung als Gewinn durch die Erweiterung ihrer Möglichkeiten und ihrer Chancen. Und sie wollen Stadtteil-Kitas werden, also Einrichtungen, die hinausgehend arbeiten. Angelika Greis: Ich weiß von einem Praktikanten, der bei euch in der Einrichtung war, dass er eines Abends mit KolWas zusammen gehört ...
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legen durch die Straßen zog, um zu gucken, wo die Kinder und Jugendlichen sind. Er sagte, das ist dort Standard, das machen sie regelmäßig. Vielleicht weiß man da auch viel zu wenig voneinander. Ich kann nur sagen, dass wir als Nachbarschaftshaus und als Stadtteilmanagement gemerkt haben, dass Schulen und Kitas, wo 80 bis 90 % Kinder aus Migrationsfamilien sozial benachteiligt sind, in einer völligen Überbelastung hängen. Sie tun, was sie können innerhalb ihres Kreises, aber sie gucken nicht mehr nach außen. Ich rede von solchen Einrichtungen, von denen es zahlreiche in Kreuzberg gibt, in Neukölln und in anderen Bezirken. Wenn man etwas gegen Analphabetismus tun will, ist ganz viel Beziehungsarbeit mit den Menschen notwen-
Wir haben ein Kiez-Lotsen-Projekt aufgebaut, das ist total wichtig, weil es in unserem Gebiet Menschen mit vielen unterschiedlichen Sprachen gibt, die von ihresgleichen aufgesucht werden. Diese Menschen kommen dann zu unserer Sozialberatung, viele kommen nur mit Zetteln, die sie nicht lesen können. Das ist nicht als bürgerschaftliches Engagement anzusehen. Das sind Leute, die sind überhaupt keine Bürger, weil sie keinen deutschen Pass haben und nicht als Bürger wahrgenommen werden, weil sie z.B. zehn Jahre lang in der Duldung lebten und nicht erwünscht waren. Das sind Bevölkerungsschichten, die kommen nicht einfach in die nächste Beratungsstelle, auch wenn sie am Kottbusser Damm ist. Die haben jetzt Lotsen, die sie da hinbringen, weil sie sonst nicht hingehen. Das ist natürlich auch eine Arbeit, die wir leisten müssen. TN: Das machen wir auch. TN: Aber das ist eine klare Kooperation mit dem QM, ich denke, es gibt viele gemeinsame Projekte im Bereich Gemeinwesenarbeit.
dig, dass man erst mal mit denen redet, die am nächsten sind, Leute, die man im Vor-Ort-Büro kennen lernt. Dadurch entsteht, dass Leute aus der Isolation rauskommen. Also gerade in Gebieten mit den stark Benachteiligten, mit Dauerarbeitslosigkeit, ganz vielen Analphabeten, da entsteht durch die Beziehungsarbeit, dass Mütter auch mal sagen: ich nehme mir jetzt diesen Raum und gehe zum Alphabetisierungskurs. Es passiert eben viel über Beziehungsarbeit, über Kontinuität. Meine Kritik an dieser Projektarbeit ist die, dass die Leute alle ganz wichtige Beziehungen aufgebaut haben, bei Projektende aber dann nichts mehr nachfolgt. Insofern ist Kontinuität ein zentrales Element solcher Projekte.
TN: Aus meiner Sicht muss man schon sagen, dass über das Quartiersmanagement auf jeden Fall neue Ansätze in die Stadtteilarbeit gekommen sind, auch im Denken, auch in unserem Stadtteil. Beispielsweise dass man sich in bestimmten Gebieten wieder der lokalen Ökonomie zugewendet hat. Es gibt zumindest eine strategische Zusammenarbeit zwischen Stadtteilzentren, Gesundheitsamt, Jugendamt und Quartiersmanagement, um ganz bestimmte Punkte umzusetzen. Damit haben wir schon eine ganze Menge erreicht, ohne dass wir jetzt selbst Träger des Quartiersmanagements sind. Das ist ein Prozess, der in jedem Fall läuft. Ansonsten geht es generell darum, wie man mit einander pragmatisch umgehen kann, wenn wir es nicht in der Hand haben, das System so zu verändern, wie wir das eigentlich gerne hätten. Da sehe ich auch keine Entwicklung in den nächsten Jahren. Was die Quartiersräte angeht, ist meine Position ambivalent. Einerseits feiern wir sie als Beispiel für Partizi-
pation, das haben wir uns immer schon gewünscht usw. Aber wenn das Geld nicht dahinter wäre, was es dort zu verteilen gibt, würde dieses Modell in sich zusammenbrechen. Das sind zumindest meine Beobachtungen. Wenngleich darüber auch Menschen aktiviert wurden, die dann auch in irgendeiner Form weitermachen. Aber es entsteht durch das Quartiersmanagement eine Art von inszenierter Welt, ganz bestimmte Gremien, die nicht immer effektiv ist. Wenn dieses Geld direkt in die bereits vorhandenen Strukturen reinfließen würde, das ist meine These, wäre das effektiver. Walli Gleim: Mir war die Diskussion ein bisschen unbehaglich, weil ich finde, dass wir gegenseitig offene Türen eingerannt haben. Du hast das aber schon gesagt, dass es völlig klar ist, dass wir mit verschiedenen Herangehensweisen auch verschiedene Bedarfe angehen. Dass Bürger aus Schöneberg oder Steglitz ganz anders mit solchen Angeboten wie Raum, Infrastruktur, umgehen als analphabetische Araber, das ist ja völlig klar. Meine Frage ist aber: geht es nicht in Wirklichkeit darum, dass wir im Quartiersmanagement Finanzierungstöpfe haben, einhergehend aber mit hoch komplizierten Entscheidungsstrukturen, Antragsverfahren, skeptisch zu sehenden Beteiligungsmöglichkeiten, zahllosen Verwendungsnachweisen, und ein großer Teil der Ressourcen und Energien aufgefressen wird durch dieses endlos komplizierte Prozedere? Und dass einfach die großzügigen Grenzen und Spielräume, die wir uns wünschen, eben speziell im Bereich Quartiersmanagement nicht vorhanden sind. Da ist wirklich die Frage, wie man damit umgehen kann. Gibt es Möglichkeiten oder Entwicklungen, die die Sache verbessern? TN: Das ist die EU-Politik. TN: Das hat mit der EU nichts zu tun, das wird nur behauptet, aber das ist falsch. TN: In der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sieht man die Probleme mit dem Verwaltungsaufwand inzwischen auch. Es soll künftig einen kleinen Experimen-
tierfonds geben, der diese Bürokratie abbauen soll für bestimmte Bereiche. Dafür soll ein Konzept entwickelt werden. TN: Es gibt ja kleinere Summen. Bei uns sind das 10.000 Euro pro Jahr, die relativ unbürokratisch über einen sogenannten Aktionsfonds mit einer Jury ausgegeben werden können. Da können Bürger Anträge stellen. Aber der große Topf ist ganz schwer verfügbar zu machen. TN: Meines Wissens sind die Finanzen für das Quartiersmanagement eh begrenzt, also von der Planung her. Ich vereinfache jetzt und werfe Stadtteilarbeit und Gemeinwesenarbeit in einen Topf: es müsste ja dann darauf hinauslaufen, dass über die Bezirke die geplanten Mittel perspektivisch in diese Gemeinwesen- oder Stadtteilarbeit einfließen. Das Anliegen des Quartiersmanagements ist ja zu aktivieren, zu bewegen. Also darf man nicht aus dem Auge verlieren, dass das QM zwar nicht auf Dauer angelegt ist, aber doch auf längere Zeit natürlich, um da wirklich was in die Gänge zu kriegen. Was dann eventuell noch zusätzlich unterstützt werden muss, das muss man dann konkret sehen. Dann müssten ja eigentlich auch die Erfahrungen gerade aus dem Quartiersmanagement beim Wirtschaftsamt einfließen. Dann noch eine kurze Bemerkung: Flyer haben vor Jahren mal funktioniert. Meine Erfahrung ist in meiner Nachbarschaftsarbeit, dass Geschriebenes gar nicht mehr gelesen wird. Wenn man dagegen zielgerichtet Menschen anspricht und sagt: wir suchen das noch, kennst du nicht jemanden, dann passiert viel mehr. Ich arbeite in einem Nachbarschaftszentrum und wir machen auch Gemeinwesenarbeit. Wir erleben alle, dass der Staat sich zunehmend aus seiner sozialen Verantwortung rausnimmt und Aufgaben gerade an die Nachbarschaftseinrichtungen übergibt. Es wird von uns immer mehr erwartet, auch dass ehrenamtliche Arbeit geleistet wird. Natürlich brauchen wir die ehrenamtliche Arbeit nach wie vor, sie ist zum gegenseitigen Nutzen, sowohl für die Menschen, die sich engagieren, als auch für die Einrichtungen und Bürger, die sie benötigen. Aber ich habe doch zunehmend ein schlechtes Gewissen, wenn wir den Menschen nicht Was zusammen gehört ...
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mal mehr das Fahrgeld geben können. Sehr viele Ehrenamtliche haben ein geringes Einkommen, sie engagieren sich, weil sie eben gebraucht werden wollen, weil sie ihr Können einbringen wollen. Und wir haben oftmals nicht die Möglichkeit, ihnen das Fahrgeld zu ersetzen. Ich finde, da müsste eine Lösung gefunden werden. TN: Ich habe noch eine Frage in die Runde. Mein Projekt ist im Ostteil der Bernauer Straße, unser Sozialraum ist kein Quartiersmanagementgebiet, aber drei Meter weiter links von der Bernauer Straße ist ein Quartiersmanagementgebiet. In Berlin ist es häufig so, dass relativ wohlhabende mit sehr armen Gebieten aneinander grenzen. Wir grenzen an den Wedding und an den Prenzlauer Berg und haben im Haus sehr viele Besucher aus dem QM-Gebiet. Gibt es in der Runde Erfahrungen der Zusammenarbeit, die ich für meine Arbeit nutzen kann? Annette Maurer-Kartal: Unser Einzugsbereich liegt zum Teil im QM-Gebiet und zum Teil nicht. Warum das so ist, ist irgendwie unerfindlich, denn am Willmanndamm und an der Großgörschenstraße kippt nicht die Sozialstruktur um, sondern im Gegenteil, es zieht sich von Norden nach Süden, und ein Teil vom QM-Gebiet ist so, dass ich mich frage, warum man es drin haben wollte – es ist so. Frevelhafterweise besuchen Menschen über die willkürlich gezogene Sozialraumgrenze hinaus, also Menschen aus dem falschen Sozialraum, aus dem QM-Gebiet, den Stadtteilladen, der 300 Meter weit weg liegt. Das ist wirklich frevelhaft, weil man die Arbeit mit diesen Leuten nicht erwähnen darf. Es werden alle Projekte, die bestehen, ohne dass das QM zufinanziert, schamhaft verschwiegen. Die Geschichte des QM ist zum Teil recht seltsam verlaufen, die ersten QM wurden implementiert, da wurden wir nicht mal gefragt, plötzlich waren sie da. Als Träger des QM wurde eine alte Sanierungsbetreuungsgesellschaft genommen, die dort schon die Bewohner domestiziert hat, das waren die Vorerfahrungen. Die Aufgabe dieser Sanierungsberatung war es gewesen, die Sanierung zügig und möglichst störungsfrei durchzuziehen. Wir waren damals daran beteiligt, und unser Anliegen war es, zunächst mit
den Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Mit dem Auftreten des QM war uns diese Aufgabe entzogen. Inzwischen ist das eine sehr pragmatische Zusammenarbeit, meistens läuft es auch gut. Wenn das QM kommt und fragt, ob wir dieses oder jenes kleine Projekt noch übernehmen können, dann sage ich erst mal: oh, Gott. Weil der Verwaltungsaufwand dieser Projekte einfach irrsinnig ist. Das bedeutet Nächte am Computer, nachher eine Rechnungsprüfung, die schon von mehr als Irrsinn geprägt ist, schlimmste Vorverfahren. Man muss nicht nur die Anträge durch diesen Quartiersrat kriegen, es ist noch viel schlimmer, bis man dann die Bewilligung hat. Dann jubelt man, wenn man das alles geschafft hat. Aber durch dieses Verfahren zu kommen, bindet unheimlich viele Ressourcen und Energie, die wir eigentlich für andere Dinge brauchen. Der zweite Wahnsinn ist, dass die Projekte eine sehr begrenzte Laufzeit haben. Wir dürfen maximal zwei Anschlussanträge stellen. Wenn es aber notwendig ist, dass eine Struktur erhalten bleibt, müssen wir das Projekt im Antrag variieren, um etwas Ähnliches weiterzumachen. Das ist der reinste Blödsinn. Wir wissen alle, dass gerade mit ausgegrenzten Menschen die Arbeit langwierig ist, das geht nicht an einem Tag, wir reden auch nicht von ein oder zwei Jahren, sondern von einem Jahrzehnt, um was zu bewirken. Und dann so eine Bewilligungsstruktur! Die ehrenamtliche Energie von Bürgern wird auch durch diese Gremien sehr stark in Anspruch genommen. Diese Gremien nehmen alle Leute in Anspruch, die die Fähigkeit haben, sich dort bewegen zu können. Andere haben da keinen Zugang. Die Gremien funktionieren in einer Art, dass Leute, die das Mitmachen nicht irgendwo gelernt haben, sofort frustriert wieder aussteigen. Es gibt vom QM aus nichts, was die Leute befähigt, sich in diesen Gremien einzubringen, auch keine Struktur, dass man Sitzungen anders gestaltet, damit Leute da eher mitmachen können. Es sitzen alle um einen Tisch und reden, es gibt einen Vorsitz und ein Protokoll. Aber so funktionieren diese Leute nicht unbedingt. Ich würde mir bei dem QM eine große Öffnung wünschen. Wenn bei uns irgendwelche Themen besprochen werden, sorgen wir dafür, dass alle die Chance haben sich einzu-
bringen, auch wenn sie nicht so geübt sind, in großem Kreis was zu sagen. Sich zur Tagesordnung zu melden und zu erzählen, dass ihr Bad kaputt ist, das ist verpönt in QM-Runden, aber das sind oft die Dinge, die den Leuten am Herzen liegen, mit denen kommen sie zuerst rüber. Unsere Aufgabe ist es, weiterhin zu gucken, dass Leute, die wenig Teilhabechancen in dieser Gesellschaft haben, da Möglichkeiten kriegen. Die kommen nicht unbedingt von selbst und rennen einem die Bude ein mit der Idee teilzuhaben, sondern das ist ein Prozess, der läuft auch über Sozialarbeitsangebote und in jeder Einrichtung anders. Deshalb kann man keine Rezepte für ein erfolgversprechendes Vorgehen geben, sondern man muss sehr, sehr vielfältig agieren. Wir brauchen immer wieder neue Ideen für neue Zugänge, weil alte nicht mehr funktionieren. Die Zettel funktionieren nicht mehr. Wir arbeiten stark mit Communities, die gar nicht lesen. Auch die Deutschen, die wir erreichen, lesen nicht besonders viel, aber wir können uns ja schlecht zwischen die Fernsehreklame klemmen. TN: Ich finde die Debatte darum, dass Gebiete falsch geschnitten sind, schlichtweg überflüssig. In Berlin sind eine Million Mal die Gebiete falsch geschnitten worden und es ist einfach müßig, darüber zu diskutieren. Wenn man Mittel, Ressourcen, Personal irgendwie steuern will, muss man Gebiete schneiden. Wenn man Gebiete schneidet, wird man sie immer falsch schneiden, weil das nie der Realität von Menschen entsprechen kann. Man muss darüber reden, wie man diese Grenzen überwindet. Ich will noch mal was zu vertanen Chancen sagen. Was jetzt gesagt wurde, dass wir die Menschen als mündige Bürger annehmen und ernst nehmen, das steckt ja hinter der Sozialraumorientierung. Es geht nämlich in der Sozialraumorientierung um das Interesse und den Willen des Klienten, um seine Ziele. Damit tut sich die Sozialarbeit extrem schwer, weil sie nie gelernt hat, vom Bürger auszugehen. Da hätten wir noch unheimlich Potenzial. In der ganzen Stadt werden Mittel für diese aktivierende Arbeit vergeben, ressourcenorientierte Arbeit aufzubauen, zu entwickeln und zu unterstützen.
Wir vertun gerade wieder eine Chance, weil ich nicht sehe, dass die Nachbarschaftseinrichtungen mit ihrem Potenzial diese Mittel in Anspruch nehmen. TN: Doch. Georg Zinner: Ich glaube, das ist alles in der praktischen Arbeit viel einfacher, als wir das hier theoretisieren. Ich habe noch ein Beispiel, weil ich glaube, dass wir als Nachbarschaftsheime vielen anderen Fach-Trägern gegenüber etwas voraus haben, nämlich unseren Blick auf den Stadtteil. Was wir auch voraushaben, das ist unsere Ressourcen-Orientierung, also dass wir Potenziale nicht bei den Bürgern wecken müssen, sondern die sind da, diese Potenziale sind bei jedem Bürger da. Das ist meine feste Behauptung und auch meine Erfahrung.
Worauf es ankommt und was wir als Nachbarschaftsheim so gut können, das ist, diese Potenziale aufzunehmen, die Bürger einzuladen, unsere Infrastruktur in Anspruch zu nehmen. Die Infrastruktur, das sind Personal, die Räume, unser Wissen, unser Können, was wir im Kopf haben, was wir an Erfahrungswerten haben, unsere Art des Umgangs mit Menschen, dass wir vernetzen können. Dass wir aufgrund unseres Fachwissens auch eigene Vorstellungen und Ideen haben, und die vielen Fachleute, die in unseren Einrichtungen arbeiten. Das sind die Ressourcen, die wir zur Verfügung stellen. Was zusammen gehört ...
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Organisations-Erfahrungen Schnelles Wachstum begegnet langsamem Wachstum
Input: Miriam Ehbets Rabenhaus (Köpenick) Thomas Mampel Stadtteilzentrum Steglitz Franz Erpenbeck ehm. Verband Bremer Bürgerhäuser, Dreye Moderation: Elke Schönrock Elke Schönrock: Beim Wachstum geht es uns nicht so sehr um die Größe, sondern eher um die Fragen, wie Organisationen entstanden sind, welche Motivationen gab es, sich zu verändern oder Dinge zu erhalten, welche Probleme gibt es damit, dass man wächst oder nicht wächst. Die Inputs kommen von Miriam Ehbets, Geschäftsführerin vom Rabenhaus, Nachbarschaftshaus in Berlin-Köpenick, dann Thomas Mampel, Geschäftsführer vom Stadtteilzentrum Berlin-Steglitz, sowie Franz Erpenbeck, ehemaliger Bildungsreferent des Verbandes Bremer Bürgerhäuser und ehemaliger Vorstand vom Bürgerhaus Oslebshausen, sowie kollegialer Berater für ein Stadtteilzentrum in Berlin-Weißensee. Miriam Ehbets: In unserem Haus und in einer unserer Broschüren gibt es einen Spruch, der übrigens auch in der NASA hängt, der nicht unbedingt als Motto gilt, aber für unsere Einrichtung und unseren Verein charakterisierend ist: „Nach eingehenden mathematischen Berechnungen und physikalischen Experimenten hat
man herausgefunden, dass Hummeln nicht fliegen können. Die Hummel weiß das nicht – und fliegt doch“. Das Rabenhaus ist mit der Wende entstanden. Es gab kunstinteressierte Menschen im Stadtbezirk TreptowKöpenick bzw. Köpenick, die schon im Kulturbund organisiert waren. Der Kulturbund war eine DDR-Organisation, in der sich Menschen zusammenfinden konnten, die im weitesten Sinne an Kunst interessiert waren, das ging von Philatelisten über Musiker, Maler, Galerien, die im Kulturbund organisiert waren. Die Leute haben sich während der Wende zusammengefunden und sagten sich, dass sie jetzt endlich das machen können, was sie schon immer machen wollten. Sie konnten frei entscheiden, wie sie das umsetzen wollten und waren nicht mehr durch die DDR gedeckelt. Kindertheater wurde organisiert, Kellerjazz, Maler und Künstler haben eine Galerie in Eigeninitiative eröffnet. 1991 hat man einen Verein gegründet, der auch ABM-Stellen hatte, also man versuchte, diese Möglichkeiten, die sich da geboten haben, zu nutzen. Dann kamen vom Verband Herbert Scherer und Frank Börner, die guckten, welche Initiativen es im Ostteil Berlins gibt, wo könnte man Nachbarschaftshäuser initiieren oder wo könnte sich da etwas entwickeln. Unser Verein saß damals in einer kleinen Villa, für die wir nur mit Bauchgrummeln den Zuschlag bekamen, weil ein Rückübertragungsanspruch an die Treuhand gestellt worden war. Das Schicksal hat uns ereilt, nach zwei Jahren waren wir das Haus los. Es ist eines der vielen Wunder, dass es das Rabenhaus immer noch gibt. Wir haben keine Villa mehr und sitzen jetzt in Räumen, für die wir Miete bezahlen müssen, sind auch schon zweimal umgezogen, aber wir sind trotzdem immer noch da. Von der Ausrichtung her sind wir sozial-kulturell. Wir haben mit ganz vielen kulturellen Angeboten angefangen, sind aber in unserer Geschichte mehr in den sozialen Bereich gewechselt. Angefangen haben wir wirklich mit Kulturarbeit. Aber durch die Nachbarschaftshausarbeit und die Schulungen, die wir hatten, und durch den wachsenden sozialen Bedarf vor Ort bekamen wir eine immer mehr soziale Ausrichtung. Wir haben jetzt ganz viele Beratungsangebote und gehen inzwischen mehr in die Gemeinwesenarbeit.
Wir haben den Geldmangel immer als Chance empfunden und versuchten, daraus kreativ etwas zu machen. Wir wollten nicht zu den Jammer-Ossis gehören, die jammern, weil sie nicht genug Geld haben, um irgendetwas zu tun, sondern wir haben uns gesagt: wir haben wenig Geld, aber holen damit das Optimum raus und schauen, was wir damit machen und bewirken können. Momentan versuchen wir, aus dem Mangel, dass wir kein großes Haus sind und selber nicht unendlich viele Angebote machen können, wie die Spinne im Netz zu hocken: wir wissen um alle Angebote, wir sind unheimlich gut vernetzt in unserer Region und in unserem Bezirk. Wir wissen um die Angebote der anderen Anbieter, wenn Leute zu uns kommen, die ein Problem haben, dann kann ich kompetent beraten und an eine entsprechende Stelle vermitteln. Wir sind Anschieber und Mitorganisator für eine Vernetzungsstruktur in unserem Bezirk, sind Teil eines Runden Tisches für Soziales, Kultur und Jugend. Zweimal im Jahr organisieren wir große Treffen, wo man ressortübergreifend Informationen austauscht und versucht, an einem Strukturaufbau teilzuhaben. TN: Habt ihr euch in einer Nische eingerichtet oder wollt ihr vom Verein aus wachsen? Miriam Ehbets: Wir haben uns immer als ein pulsierendes System verstanden. Wenn die Gegebenheiten von außen es uns ermöglichen, dann vergrößern wir uns auch. Wir haben immer unterschiedliche Projekte gehabt. Wir haben auch ein Projekt an anderen Örtlichkeiten gehabt, aber wenn sich das nicht mehr halten ließ, dann haben wir das eben aufgegeben und gesagt, dass wir was Neues probieren. Wenn das nicht mehr geht, dann eben was anderes. Das ist auch immer eine Entscheidung, die man für sich selber trifft, dass Wandel möglich sein soll und dass das keine Katastrophe ist, sondern eine Chance und Möglichkeit. Momentan haben wir neben der Kerneinrichtung neu dieses Vernetzungsprojekt, dann haben wir noch einen Schülerclub und ein Jugendprojekt, was aber aufsuchende Arbeit bedeutet und momentan eine personelle Belastung fürs Haus ist.
Es gab eine Zeit, in der verschiedenen Stadtteileinrichtungen die Trägerschaft für Kindertagesstätten angeboten wurde. Da war die Entscheidung der Vereinsmitglieder, dass sie diese enorme Verantwortung für so einen Bereich nicht wollten, das war den Vereinsmitgliedern zu groß. Wir haben dafür nicht den finanziellen Rückhalt, man wollte sich nicht verschulden. Denn im Ostteil waren Kitas teilweise sehr marode, man hätte kräftig investieren und große Kredite aufnehmen müssen. Da haben wir auch gesagt, wenn die Mitglieder das nicht wollen, dann drücken wir es ihnen auch nicht auf, denn von der Struktur her sind das ja unsere Arbeitgeber. Ich kann sie nicht vergewaltigen und zu etwas zwingen, wo sie nicht dahinter stehen. Bei dem, was wir jetzt machen, da stehen alle Vereinsmitglieder auch voll dahinter. Thomas Mampel: Bei diesem Tierbeispiel mit der Hummel fiel mir gleich der Tausendfüßler ein. Kennt Ihr die Geschichte? Der Tausendfüßler läuft durch den Wald, ist fröhlich und pfeift. Ein anderes Tier sieht ihn, staunt, und fragt: Ist ja irre, wie du hier durch den Wald gehst. Wie koordinierst du diese vielen Füße? Der Tausendfüßler stutzte – und konnte fortan nicht mehr laufen. Das beschreibt vielleicht ganz gut wie wir arbeiten, also wir, das Stadtteilzentrum Steglitz. Unser Verein wurde 1995 gegründet, wir haben im November 1995 einen kleinen Treffpunkt eröffnet. Damals hieß unser Verein noch Nachbarschaftsverein Lankwitz. Das ist ein Teil von Steglitz, in dem wir wohnten. Zusammen mit meiner Frau und Freunden in der Diakoniestation haben wir überlegt, was werden soll, wenn wir mit dem Studium fertig sind. Wir wollten ein bisschen was an unserem Wohnumfeld verändern, aber natürlich immer mit der Perspektive und der Absicht, für uns selbst eine Arbeit zu schaffen, von der man vielleicht irgendwann leben könnte. Wir gründeten diesen Verein, anfangs war das ein kleiner Laden in einer Einkaufspassage. Wir waren vollkommen überwältigt, wie toll das funktioniert hat. Es gab eine ganz große Bereitschaft von Leuten, sich ehrenamtlich zu engagieren. Ich selber habe den Job die ersten drei Jahre auch ehrenamtlich gemacht. Wir hatten unglaublich viel Spaß, grandios, wie toll uns Was zusammen gehört ...
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alle fanden, gerade aus der Anfangsphase haben wir unglaublich viel an Bestätigung und Zuneigung gezogen. Wir hatten ja die Perspektive im Hinterkopf, irgendwann einmal damit unser Geld zu verdienen, was zwangsläufig voraussetzt, dass man bereit ist zu wachsen. WestBerlin 1995, die Lasten der Wiedervereinigung drückten uns schon morgens beim Aufstehen kräftig, also da war nicht mehr viel mit neuen Projekten, die sich entwickeln, in West-Berlin wurde eher abgewickelt und auch erfahrene Träger kamen in schwierige Situationen. Und in der Situation kamen wir an und meinten, wir müssten jetzt ein bisschen Stadtteilarbeit machen. TN: Ich kann bestätigen, ich dachte damals, dass ihr einen Knall habt. Ich sage es ganz ehrlich. Thomas Mampel: Wir hatten die Bereitschaft zu wachsen und zusätzliche Verantwortung zu übernehmen, und uns war klar, dass wir nur existieren und leben können, wenn wir dazu bereit sind und irgendwelche Aufgaben übernehmen. Dann war es eine Mischung aus glücklicher Fügung und Zufällen, dass man uns immer mal wieder neue Projekte angeboten hat, die wir übernehmen konnten. Im Laufe der Zeit sind wir nicht nur zu Aufgaben und zu Einrichtungen gekommen, sondern sogar zu einer Finanzierung. Mittlerweile – 2009 – haben wir ungefähr 80 fest angestellte Mitarbeiter, wir betreiben Kindertagesstätten, Schulhorte, eine Jugendfreizeiteinrichtung, einen Nachbarschaftstreff, eine Senioreneinrichtung, ein Existenzgründungsprojekt. Wir machen ganz viele verschiedene Sachen, nicht mehr nur in Lankwitz. Im Jahr 2000 haben wir unseren Verein umbenannt in Stadtteilzentrum Steglitz. Im Nachhinein haben wir festgestellt, dass wir mit dieser Namensänderung ein großes Stück unserer Identität aufgegeben haben. Wir hatten plötzlich eine Jugendeinrichtung, eine Kita. Und damit hatten wir einen Haufen neue Probleme. Wir haben ständig Sachen gemacht, von denen wir eigentlich nicht wussten, wie man sie machen muss. Irgendwie dachten wir, wir werden das schon hinkriegen, es gab auch sehr viel Unterstützung aus dem Verband. Gisela
Hübner hat mir erklärt, wie eine Kita finanziert wird, damit ich weiß, was ich da tue. Wir haben das eine ganze Weile gemacht, immer munter drauf los. Als Unternehmen, als Verein, oder Organisation sind wir immer ein bisschen der Realität hinterher gehechelt. Wir hatten eine Aufgabe, haben festgestellt, dass das alles ein bisschen anders ist, als wir uns das vorgestellt hatten, und versuchten dann, unsere eigenen Fähigkeiten, unsere Kompetenzen und vor allem unsere eigenen Strukturen irgendwie daran anzupassen. Das hatte zur Folge, dass wir unglaubliche Fehler gemacht haben. Ich glaube, wir sind der Verein in Berlin, der am meisten Fördergelder zurückgezahlt hat, weil wir Fehler gemacht haben. Wir mussten Spendenaktionen machen oder Leute um Geld angehen, weil wir die Fehler teuer bezahlen mussten, auch um nicht wieder in neue existenzielle Probleme zu kommen. Die Aufgaben und die Verantwortung, die mit bestimmten Wachstumsphasen verbunden sind, haben wir nicht richtig eingeschätzt. Aber wir haben auch gelernt, dass diese Fehler uns in der Regel nicht umbringen, sondern wir irgendwas draus lernen, was wir für die nächste Aufgabe oder Herausforderung nutzen können. Ein zweites Problem: unsere Struktur hat sich massiv verändert. Am Anfang basierte das auf den Mitgliedern, wir hatten zu unserer besten Zeit 175 Mitglieder, jetzt haben wir 30 und wir können zufrieden sein, wenn wir eine beschlussfähige Mitgliederversammlung hinkriegen. Das hat sich komplett verändert. Ich vermute, dass das in vielen anderen Einrichtungen auch so ist, aber das wird nicht gerne offen besprochen. Wir sind jetzt in einer Phase, in der wir überlegen, wie wir das anders gestalten können. Zu den alten Strukturen können wir nicht zurück. Wir sind in sehr vielen Prozessen in der Verantwortung, wollen die auch sehr gerne tragen und wollen auch weiter wachsen. Trotzdem suchen wir nach anderen Modellen, wie wir NutzerInnen oder Partner im Umfeld einladen können, an der Entwicklung dieser Organisation mitzuwirken. Das wurde auch gestern in einem Workshop schon besprochen unter dem Stichwort Open Source-Organisation. Wo können wir unsere Schnittstellen öffnen? An welcher Stelle können wir Leute
einladen, an der Entwicklung von Projekten mitzuwirken, ohne dass sie sich auf diese klassische Vereinsmeierei einlassen müssen? Das wollen die Leute nicht, aber sie wollen an bestimmten Projekten mitarbeiten. Da müssen wir gucken, dass sich unsere Strukturen in Richtung Stadtteilzentrum Steglitz 2.0 entwickeln. Wir haben gelernt, dass Wachstum nur dann in Ordnung und was Schönes ist, wenn es sich organisch entwickelt. Damit meine ich, dass in einem halbwegs vernünftigen Tempo Arbeitsbereiche und Projekte dazukommen, die zu der Vision oder Philosophie der Organisation passen, zu ihren Ursprüngen. Bei uns klingen diese 14 Jahre so rasant, aber eigentlich war es im Durchschnitt immer ein neues Projekt oder eine neue Einrichtung pro Jahr. Demnach haben wir jetzt 14 Einrichtungen. Das ist relativ gesund, das kann man schaffen. Ungesund sind große Beschäftigungsträger, die aus dem Nichts gegründet sind und plötzlich Maßnahmen mit ein paar hundert Teilnehmern machen, wo aber keine Substanz vorhanden ist. Man muss gucken, warum und in welchen Bereichen man wachsen will. Wachstum an sich ist nicht viel wert, da kann man auch viel kaputt machen, auch intern. Also muss man schauen, wie man diese Prozesse gestalten kann. TN: Wenn du von wir sprichst, das ist praktisch der Verein? Thomas Mampel: Ja, wir sind nach wie vor ein e.V.. Für ein Projekt haben wir jetzt im Sommer eine GmbH gegründet. Das hat satzungstechnische Gründe und hat mit der Gemeinnützigkeit zu tun, aber wir sind nach wie vor ein Verein und werden das auch bleiben. Miriam Ehbets: Schon in der Gründungsphase und in der Zielrichtung gibt es große Unterschiede zwischen Ost und West. Unsere Mitarbeiter, die wir damals hatten, sind mit einer ganz anderen Ausbildung an die Arbeit gegangen. Das waren keine Sozialarbeiter, es gab überhaupt keine Sozialarbeiter, die in dem Verein als Hauptamtliche gearbeitet haben, sondern sie kamen alle aus anderen Ursprungsberufen. Wir haben wirklich von dieser Vorstellung gelebt, dass es Fördertöpfe gibt. Wir sind ja in eine
völlig neue Struktur gekommen und wussten überhaupt nicht, wie das Ganze funktioniert. Man hat aber angenommen, dass das einfach dazugehört, dass für den Bereich Nachbarschaftsarbeit Fördertöpfe da sind. Und die waren am Anfang – im Verhältnis zu heute – üppig. Man kam gar nicht darauf, dass man expandieren muss, um sich selbst dadurch erhalten zu können. Das hatten wir noch nicht drin, sondern das haben wir während des Prozesses erst gelernt, dass das mit dazugehören könnte. Franz Erpenbeck: Ich habe in den 70er Jahren in Berlin studiert. Mit meiner Familie wohnte ich im Märkischen Viertel. Das heißt also, diese ganzen Geschichten, die es damals an Einrichtungen für Kultur oder Soziales nicht gab, hat der Forum-Verein, das war ein Nachbarschaftshaus. damals organisiert, Kinderläden, alles auf Ebene von „das können wir alles“. Vor allen Dingen waren sie alle auf dem Wohngemeinschafts-Trip, uns haben sie erst mal gesagt, wir müssten uns trennen, dann könnten wir auch mitmachen. In der Hochschule bin ich die halbe Zeit gewesen, die andere Zeit habe ich Gemeinwesenarbeit im Märkischen Viertel praktiziert. Das hat mich ganz wesentlich geprägt. Daher kenne ich auch ganz viele Einrichtungen aus der Zeit. Dann habe ich mich in Bremen beworben, das war 1975. Relativ schnell habe ich meinen gewünschten Arbeitsplatz bekommen, nämlich mit zwei anderen Kollegen habe ich 12 Jahre lang Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Erzieher im staatlichen Praktikantenamt begleitet. Die waren verpflichtet, unsere Angebote wahrzunehmen. Alles verlief nach festgelegten Regeln. Bremen war in den 70er Jahren wahrscheinlich die Stadt, die am meisten Geld für Kultur, Gesundheit, Soziales ausgegeben hat. Damals hat es etwa 70 Millionen DM für die etwa 700 Einrichtungen in Bremen gegeben. Die Millionen waren innerhalb kurzer Zeit weg, das war nämlich die Zeit der ABM-Stellen. Nur um zu sagen, dass damals Wohlstand gewesen ist. Durch die Arbeit im Praktikantenamt habe ich natürlich auch alle Einrichtungen in Bremen kennen gelernt, das heißt, ich weiß, wie viele Einrichtungen da miteinander konkurriert haben. Was zusammen gehört ...
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Diese Erfahrungen habe ich dann genutzt, um zu sagen, ich habe die Schnauze voll von dieser Arbeit, das kann man nicht ewig machen. Es ist ein langer Kampf gewesen, bis ich praktisch versetzt werden konnte zu einer Außenstelle der Behörde, nämlich in den Verband Bremer Bürgerhäuser. Da habe ich schnell gemerkt, dass das eigentlich das Gleiche wie in der Behörde war. Ich sollte praktisch als Referent für Grundsatzfragen und Öffentlichkeitsarbeit den Häusern, die dieser Geschäftsstelle zugeordnet waren, beibringen, wie sie am besten arbeiten und neue Sachen machen. Das ist natürlich ein Witz, weil man das als Außenstehender nicht kann. Das waren gestandene Leute, zum Teil mit Ausbildungen wie z.B. Schaufenstergestalter, die hatten Gehälter von Sozialarbeitern. Solche Zustände konnte ich nur als provisorisch ansehen. Ich meine, es müssen keine Professionellen sein, sondern es können auch Leute sein, die gut sind. Aber die zu finden, das ist nicht so einfach. In der Wendezeit habe ich ganz vielen Leuten, die über den Verband für sozial-kulturelle Arbeit in dieser Hospitationsphase zu uns kamen, die Möglichkeit gegeben, dass sie sich das bei uns angucken konnten. Ich kannte Ralf Jonas als Praktikanten und habe ihn wiederentdeckt, als ich für die Bürgerhäuser arbeitete. Der hat 1988 eine Anstellung gekriegt und zwar haben die Entscheider in der Einrichtung nicht gewusst, dass er nicht in der Partei (= SPD) war. Es war normalerweise so, dass das sein musste. Er hatte einen Vater, der in der Partei war, deshalb hat man ihn übernommen. Das muss ich deswegen sagen, weil er von vornherein gesagt hat, ich mache nicht nur die Geschäftsführung, sondern ich mache Gruppenarbeit. So etwas gab es damals sonst nicht. Ralf Jonas begann in Oslebshausen zu arbeiten, einem Stadtteil, der zum Hafenbereich gehört. Er hatte mit Jugendlichen zu tun, die er eigentlich in Heimen unterbringen wollte, aber die Behörde akzeptierte die Einrichtungen nicht, die er ausgewählt hatte. Dann hat er angefangen, mit den Jugendlichen Jonglieren und solche Sachen zu machen. Das ist der Anfang der Zirkusarbeit dort im Haus. Und das ist heute das wichtigste Standbein dieses Hauses, obwohl junge und alte Menschen da sind.
Wir haben das ganze Haus umgekrempelt nach der Devise: wer Verantwortung in unserer Gesellschaft übernehmen und lernen will, der muss Selbstständigkeit erlangen. Das heißt, sie müssen etwas leisten können in dieser Einrichtung, die müssen etwas mitmachen. Wir haben den Vorstand auf drei Personen reduziert und damit angefangen, dass alle, die im Hause sind, regelmäßig an Sitzungen teilnehmen können, wenn sie das wollen, um über das was passiert mitzubestimmen. Und wir haben nach Möglichkeit innerhalb eines Jahres immer wieder Seminare außerhalb gemacht, damit die Mitwirkung praktisch ermöglicht wird. Das ist für mich das Prinzip, also Verantwortung vorzubereiten – und das ist gelungen. TN: Das Haus steht praktisch auf Selbstinitiative, das ist euer Prinzip? Franz Erpenbeck: Ja. Es gibt einen Verein, aber der ist ja nach dem Gesetz nur dafür da, dass man vom Staat Geld kriegt. In der praktischen Arbeit spielt er keine Rolle. Elke Schönrock: Da kann es unterschiedliche Auffassungen geben. Du sagtest, dass im Rabenhaus die Vereinsmitglieder viel zu sagen haben. Im Stadtteilzentrum Steglitz wird mittlerweile nach anderen Formen der Organisation gesucht. TN: Du sagtest, im Rabenhaus kamen die Leute aus anderen Berufen. Welche Berufe waren das denn? Miriam Ehbets: Die Ursprungsmitglieder, die den Verein gegründet haben, kamen wirklich alle mehr oder weniger aus dem künstlerischen Bereich, Maler, Musiker, unsere Ex-Chefin ist gelernte Druckerin und Setzerin. Ich bin richtig reingewachsen, denn ich habe erst Studentenjobs im Rabenhaus gemacht, mein erster Job war mit Kindern zu kochen. Ich habe Soziologie studiert, also ich bin völlig verkopft und überhaupt kein Praktiker. Ich bin nur reingerutscht, weil eine der Kolleginnen, die Erzieherin war, in Schwangerschaftsurlaub gegangen ist. Dann haben sie händeringend jemanden gesucht, der einspringen kann, so sind sie auf mich gekommen. Ich habe erst ein Viertel-
jahr mitgemacht, später habe ich noch mal für ein halbes Jahr Schwangerschaftsvertretung gemacht. Irgendwann haben die dann gesagt, na ja, obwohl du eigentlich völlig theoretisch drauf bist, kannst du dir nicht vorstellen, hier trotzdem mitzumachen? Dann bin ich reingewachsen, so wie das bei allen hauptamtlichen Mitarbeitern war. Weil sie irgendwann mal selber Nutznießer waren oder teilweise da gearbeitet haben und von dem Prinzip und von dem Flair des Hauses überzeugt waren, sodass sie gerne mitmachen wollten. Bei uns ist es klein, aber fein, also sehr kuschelig. Meine Maxime ist: die Leute sollen reinkommen und sich sofort wohl fühlen, sie sollen sich sofort zuhause fühlen – und das passiert auch. TN: Wie viele Leute seid ihr jetzt bei euch? Miriam Ehbets: Ich bin hauptamtliche Mitarbeiterin. Unser Haus funktioniert über ehrenamtliche Mitarbeiter, wir haben immer ein oder zwei Praktikanten, die aus dem sozialen Bereich kommen, wir haben die hauptamtliche Mitarbeiterin im Schülerclub und Honorarkräfte in dem Jugendprojekt. TN: Also zwei fest angestellte Mitarbeiterinnen. Miriam Ehbets: Ich mache die Logistik im Hintergrund, die anderen sind Ehrenamtliche. Ich denke, das ist der Unterschied zu einem Haus, das Jugendarbeit macht. In einem Haus, wo eher Senioren sind oder Angebote, die über Kurse laufen, oder Beratungen, die durch Drittanbieter passieren, ist so etwas möglich, dass das über Ehrenamt funktioniert. In dem Moment, wo ich wirklich Jugendarbeit mache, brauche ich dafür natürlich auch fest angestellte Mitarbeiter. Franz Erpenbeck: Das ist nicht nur in der Jugendarbeit so. Wolfgang Leppin: Thomas sagte, ihr hattet zu Anfang 170 Vereinsmitglieder, als das Ganze am Wachsen und Gedeihen war. Jetzt sind es 80 Mitarbeiter, aber nur noch 30 Vereinsmitglieder. Sind diese 30 Mitglieder das juristisch notwendige Konstrukt, was den regierenden
Vorstand wählt, dann arbeitet der Vorstand, bis irgendwann wieder mal eine Mitgliederversammlung ist, in allen zentralen Aufgaben, auch was Neuentwicklungen der Einrichtung angeht? Oder ist da noch eine Möglichkeit drin, in die Mitgliedschaft irgendwelche Entscheidungsfragen einzubringen? Manchmal überlege ich, ob diese ganze Vereinsstruktur überhaupt noch angemessen ist für Einrichtungen, die immer größer werden. Auch in einer Zeit, wo sehr schnelle Entscheidungen nötig sind, die eigentlich, von einem bestimmten Demokratieverständnis ausgehend, breit diskutiert werden sollten. Die aber oft gar nicht breit diskutiert werden können, weil die Zeit schlichtweg nicht da ist, um Entscheidungsprozesse voranzubringen. Die Themen werden auch immer komplexer, die beraten werden müssen, ist da eine Vereinsmitgliedschaft überhaupt noch ein sinnvolles Konstrukt? Oder sind es letztlich der Vorstand und die Geschäftsführung, die Entscheidungen treffen? Thomas Mampel: Im Laufe der Zeit haben wir die Erfahrung gemacht, dass mit diesen ganzen zusätzlichen Jobs und mit dieser zusätzlichen Verantwortung, mit diesen Anforderungen an das, was wir wissen müssen und bewerkstelligen müssen, dass es nicht kompatibel ist mit einer Vereinsstruktur. Aber das gilt nur für uns. In der Anfangsphase hatten wir 175 Mitglieder, bei den Mitgliederversammlungen waren dann 50 oder 60 Leute. Die Leute sind gekommen, weil sie ein klar definierbares Was zusammen gehört ...
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Interesse daran hatten, was sich in ihrem Wohnumfeld verändern soll. Im Laufe der Jahre haben sich die Themen der Mitgliederversammlung vollkommen verändert. Es gibt einfach Leute, die kriegen einen ganz verschleierten Blick, wenn die dann im Jahresabschluss oder in einer Einnahmen-Ausgaben-Übersicht irgendwas von über 1 Million sehen. Tatsache ist aber, dass viele Mitglieder mit all dem, was da besprochen wird, gar nichts mehr zu tun haben. Das ist nicht mehr deren Welt. Die kommen dann auch nicht mehr. Wir haben es auch im Laufe der Zeit nicht hingekriegt, diese Vereinsstruktur weiterzuentwickeln. Natürlich kommen Leute, die sich an bestimmten Projekten beteiligen wollen, aus unseren Häusern gibt es Sprecher, die regelmäßig zu Treffen kommen, aber die sind nicht mehr diese klassische Vereinsstruktur, die den Vorstand wählen, weil sie etwas mitbestimmen wollen. Unser Vorstand ist seit sieben oder acht Jahren kontinuierlich gleich besetzt. Unter nostalgischen Gesichtspunkten finde ich das blöd, da möchte ich eigentlich was anderes, da möchte ich eine lebendige Mitgliedschaft, die hoch engagierte Vorstandsmitglieder hervorbringt, die sehr engagiert und bürgerschaftlich interessiert das Vereinsleben vorantreiben. Auf der anderen Seite kriege ich als Geschäftsführer das gar nicht mit den ganzen Anforderungen in Einklang, die andere Leute an mich stellen. Ich möchte zum Beispiel, dass meine MitarbeiterInnen beteiligt sind. Ich möchte gerne, dass unsere Kunden zufrieden sind. Ich möchte, dass die ZuwendungsgeberInnen zufrieden sind. Da tritt in meiner Welt das normale Mitglied in den Hintergrund. Da haben wir den goldenen Weg noch nicht gefunden und ich habe ihn auch bei anderen Organisationen noch nicht gesehen. TN: Ich habe mein ganzes Berufsleben in Nachbarschaftseinrichtungen verbracht, das heißt, 14 Jahre war ich im Nachbarschaftsheim Mittelhof und kenne diese ganze Vereinsgeschichte. Wir hatten 80 Vereinsmitglieder, das ist ein Traditionsverein, der erste, der nach dem Krieg gegründet wurde. Jetzt haben wir seit etwa 10 oder 15 Jahren, genau wie Thomas gesagt hat, einen gleich bleibenden Vorstand und die Mitgliedschaft wird gesteuert.
Man kann da nicht einfach Mitglied werden, es gibt auch keine Aufrufe, werdet Mitglied, sondern wenn man merkt, dass die Zahl kritisch wird, dass man irgendwann vielleicht doch unter zehn sackt, dann schaut man, wer ist zuverlässig aus den Reihen der Besucher und der Freunde, derjenige wird dann berufen. Das beobachte ich bei mehreren Vereinen, wenn das Wachstum der Organisation eine bestimmte Größenordnung erreicht, für die der Verein nicht mehr in seiner bisherigen Funktion brauchbar ist. Man versucht, die Organisationsform beizubehalten, aber sie in einer bestimmten Form zu steuern. Ob das auf die Dauer dann der richtige Weg ist, das mag dahingestellt sein. Deshalb fand ich es auch ganz spannend gestern, als von dieser Öffnung gesprochen wurde, also andere Wege zu finden und das nicht auf diese Vereinskonstruktion zu reduzieren. Es geht ja darum, dass wir einen bestimmten Garanten haben müssen, der dafür sorgt, dass dieser Verein eine vernünftige juristische Grundlage hat, um arbeiten zu können. Thema Wachstum: Am Anfang in den 70er Jahren gab es einen bestimmten Topf für die Nachbarschaftsheime, der war gleich bleibend, da haben die drum gekämpft. Wir wollten zunächst nicht, dass sich der Verband erweitert, denn jeder, der dazu kam, griff auf den gleichen Topf zu. Da war kein Wachstum, sondern wir freuten uns, dass es eine zugewandte Senatsverwaltung gab, jetzt waren wir fortschrittlich, machten unsere Arbeit und wollten in diesem Rahmen bleiben. Das hat sich dann Gott sei Dank geändert. Ich überlege manchmal, ob es nicht so etwas gibt wie ein Zeitfenster, das irgendwann wieder zu ist. Denn die ganze staatliche Organisation, die hinter unserer Arbeit steht, hat sich inzwischen grundlegend verändert. Aufgaben gehen weg vom Staat, das sind Kernaufgaben. Irgendwann wird dieser Prozess vielleicht abgeschlossen sein, aber im Moment ist er noch voll im Gang. Stadtteilzentren sind heute in der Phase der sozialpolitischen Umstrukturierung deshalb erfolgreich, weil sie schon immer sozialraumorientiert waren und generationsübergreifend waren, also ein Stück weit die Sparten verlassen haben. Das sind zwei Supervoraussetzungen, die dann auch, wenn man sich in die Richtung begeben hat, greifen. Das
sieht man u.a. am Nachbarschaftsheim Schöneberg, bei einer ganzen Reihe Einrichtungen, bei denen ganz deutlich ist, dass da ein enormes Wachstum stattfindet. Wenn man sich aber an dieser Entwicklung nicht beteiligen will, muss man sich darüber klar sein, dass dieser Zug abfährt. Gerade wenn man diese Aufgaben mit übernimmt, darf man sich nicht vom Kerngedanken entfernen, was Nachbarschaftsarbeit und stadtteilorientierte Arbeit heißt, sondern dass man dadurch überhaupt erst in die Lage versetzt wird, die Ressourcen zu haben, um auch Bereiche, die vielleicht nicht so gut finanziell ausgestattet sind, mit finanzieren zu können. Das sind auch meine Erfahrungen. In diesem Wachstum wird manchmal ein atemberaubendes Tempo vorgelegt, manchmal hat man das Gefühl, man verliert sich dabei. Es ist sicherlich gut, für das Wachsen ein gewisses Maß zu finden und dennoch nicht auszusteigen und zu sagen: lass den Zug, sollen andere damit fahren. Franz Erpenbeck: Zu der Verkleinerung des Vorstandes: Da ist praktisch gleichzeitig eine Vereinbarung bzw. ein Vertrag mit dem Geschäftsführer gemacht worden, dass alle Dinge, die im Haus laufen, die pädagogischer oder kultureller Art sind, mit den Leuten, die das gerne möchten, gemeinsam entscheidet. So ist das festgelegt. Der Vorstand ist wirklich nur noch das Minimum, was das Finanzamt akzeptiert. Bei der Satzungsänderung haben wir feststellen müssen, dass uns vorgeschrieben wurde, wie unsere Aufgaben heißen – und das ist teilweise eine Lüge. Also für mich ist das einfach Unsinn. In Bremen ist die Auslagerung von Sozialprojekten aus dem öffentlichen Dienst inzwischen wieder rückläufig, weil die Privatisierung teurer ist. TN: Ich wehre mich gegen den Begriff Privatisierung, weil der in einem abwertenden Sinne gebraucht wird, auch von den Gewerkschaften, … Markus Runge: Ich bin Mitarbeiter des Nachbarschaftshauses Urbanstraße in Kreuzberg. Wir sind ein mittlerer Träger, würde ich sagen, wir sind 55 Jahre alt und haben
zurzeit etwa 100 Mitarbeiter. Wir haben in den letzten 20 Jahren ein größeres Wachstum hingelegt, so um die 50 Mitarbeiter sind in den letzten 10 Jahren vermutlich dazugekommen. Das hat einerseits mit den 90er Jahren zu tun und mit der Beobachtung, dass es viele kleine Träger gab, die sich selber nicht mehr halten konnten. Andererseits gab es in den letzten 15 Jahren auch konzeptionelle Neuentwicklungen innerhalb des Hauses, weshalb wir auch maßgeblich gewachsen sind. Wir sind gerade sehr besorgt um unseren Verein und die Mitglieder. Wir haben ungefähr 70 Mitglieder und merken, dass die Mitgliederzahl deutlich abnimmt bzw. die Mitglieder immer älter werden und wenig junge Mitglieder nachrücken. Viele Diskussionen gab es darum, wie wir uns neue, engagierte Mitglieder in den Verein holen. Zugleich diskutieren wir auch unter uns Mitarbeitern, wie viel Wachstum gesund ist. Ich beobachte ein extremes Wachstum einiger Nachbarschaftshäuser in Berlin, sehr stark fokussiert auf finanzielle Unabhängigkeit, finanzielle Selbstständigkeit und finanzielle Spielräume. Das ist sicherlich ein ganz wichtiger Aspekt, dennoch sehe ich eine Gefahr, regionale Bezüge zu verlieren. Das Nachbarschaftsheim Schöneberg ist das beste Beispiel, es ist –glaube ich-in mindestens fünf Bezirken aktiv. Ich frage mich, wie kann man als Nachbarschaftsheim Schöneberg eine schon in den Namen geschriebene regionale Identität noch in Tempelhof oder in CharlottenburgWilmersdorf transportieren. Wir sind da einen Mittelweg gefahren, als Nachbarschaftshaus Urbanstraße haben wir tatsächlich ausschließlich einen regionalen Bezug innerhalb des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg. Es ist für uns auch klar, dass wir nicht in Lichtenberg eine Kita übernehmen würden, wir würden uns dafür auch gar nicht bewerben, weil wir sagen, dass es dem Bild eines Kreuzberger Nachbarschaftshauses nicht gut tut. TN: Was wird aus den Vereinen, die wirklich von den Mitgliedern getragen werden? Was Thomas geschildert hat, dass sich 170 Leute Gedanken darüber machen, wie sie ihr Umfeld verbessern können, ist eine rückläufige Sache. Andererseits ist klar, wenn ein Nachbarschaftshaus ein Was zusammen gehört ...
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Träger ist, der einen sozialen Betrieb mit verschiedenen Sparten führen muss, dann kann das nicht von Vereinsmitgliedern gesteuert und auch nicht mal durchblickt werden. Ich denke, das sind Sphären, die früher oder später auseinander gehalten werden müssen. Hat jemand Erfahrung damit, Vereinsstruktur in eine andere Form zu überführen, Förderverein oder so, und die als Nachbarschaftshaus oder Stadtteilzentrum, also als Träger, mit zu pflegen? Miriam Ehbets: Ich wollte auf den Gedanken zurückkommen, ob man selbst gewählt wächst oder ob man sich ausdrücklich dagegen entscheidet. Natürlich ist es auch so gewesen, dass man sich bestimmte Sachen nicht hat aussuchen können. So wie du gesagt hast, man hat manchmal Glück gehabt, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle gewesen zu sein. Wir hatten als Nachbarschaftshaus im Osten, in Treptow-Köpenick, große Schwierigkeiten, überhaupt die sozial-kulturelle Sichtweise, was ein Nachbarschaftshaus ist, bei den Anwohnern deutlich zu machen. Gerade der ressortübergreifende Ansatz hat ganz viel Verwirrung gestiftet und ganz viele Schwierigkeiten gebracht. Weil jedes Mal, wenn man sich irgendwo mit integrieren wollte und irgendwo mittun wollte, oder sich um Fördertöpfe bewerben wollte, immer gesagt wurde: wieso bewirbst du dich bei Kultur, ihr seid doch sozial. Wenn wir bei Soziales waren, hieß es, ihr seid doch aus einem Kulturverein gegründet worden und macht eher Kultur, wenn wir was mit Jugend machen wollten, sagten sie: nee, nee, geht mal zur Kultur und bewerbt euch bei denen. Wir wurden ständig hin- und hergeschoben, sodass wir immer Schwierigkeiten hatten. Dabei wollten wir bei allem Anteil haben, um das in den Stadtteil wieder zurückzugeben. Erst über ewig lange Beziehungsarbeit mit der Verwaltung hat man dort inzwischen verstanden, was wir wollen und erkennt das an. Auch indem man solche Fachtage organisiert wie zum Thema „Rahmenstrategie soziale Stadtentwicklung“. Ganz langsam entsteht ein Verständnis für den ressortübergreifenden Ansatz unseres Nachbarschaftshauses. Also auch so was behindert einen in der Expansion.
Monika Schaal: Pfefferwerk Stadtkultur. Wir sind mit unserer Nachbarschaftsarbeit bzw. mit unserem Nachbarschaftshaus einen ganz anderen Weg gegangen. Unsere Ursprungsgeschichte ist allerdings ähnlich wie bei euch: dass da auch eine Gruppe von Leuten war, die aus dem Kulturbereich kamen, die trafen sich 1991 in einem Wohnzimmer und wollten Nachbarschaftsarbeit bzw. Stadtteilarbeit machen. Dann gab es irgendwo ein Haus, dann wurde die Finanzierung verhandelt, ähnlich wie bei euch. Es gab bei uns Leute, die Jugendarbeit gemacht haben, andere Bereiche auch. Das Nachbarschaftshaus und der Verein waren nicht mehr das Zentrum, sondern das war ein Bereich und nach Fachkriterien wurden eigene Einrichtungen gegründet, Jugendhilfe, irgendwann kamen Kitas dazu. Wir sind in den Jahren seit 1991 auch sehr schnell gewachsen, wir haben inzwischen 400 Mitarbeiter. Dann haben wir Ausbildung angefangen. Wir sind jetzt ein Unternehmen, eine gGmbH, für die Stadtteilarbeit und Gemeinwesenarbeit aber nach wie vor zentral sind, auch in unserem Leitbild. Wir sind eine gemeinwesenorientierte Organisation, Kooperation statt Konkurrenz, ganz viele dieser wichtigsten Aussagen sind nach wie vor für uns unverzichtbar, aber wir gehen das jetzt anders an. Ich bin zuständig für die Abteilung Stadtteilarbeit. Das Nachbarschaftshaus ist immer noch eine ganz zentrale und wichtige Einrichtung für alle, wo wir versuchen, über viele Kooperations-Ansätze den Gedanken von Unterstützung durch Stadtteilarbeit in alle unsere Projekte zu tragen: in alle unsere Kitas, in den Bereich der Ausbildung, in den Bereich der Jugendhilfe, und dort diesen Ansatz weiter zu entwickeln. Im Moment ist ein Beispiel das Nachbarschaftsprojekt, das in einer Jugendhilfeeinrichtung für Kinder in einem anderen Stadtteil untergebracht ist als in dem, in dem wir das Nachbarschaftshaus haben. Über die Freiwilligenagentur soll die Arbeit vor Ort im Stadtteil entwickelt werden, aus dieser Jugendeinrichtung heraus, mit Unterstützung durch das Nachbarschaftshaus. Soweit erst mal zum Hintergrund. Stadtteilorientierung ist nach wie vor eine unserer wichtigsten Grundlagen. Was mich aber interessiert: für uns ist in all diesen
unterschiedlichen fachlichen Entwicklungen, Gremien, Kooperationen, Verbindungen, der Zugriff auf aktuelle Informationen wichtig, um zu sehen was läuft und um schnell mit am Platz zu sein, wenn sich was ergibt. Das ist schon extrem schwierig für uns, wo es Leute gibt, die sich spezialisieren und in Kooperation arbeiten. Es gibt eine Abteilungsleitung für die Jugendhilfe und für die Stadtteilarbeit, für die Kitas. Wir merken, dass es gar nicht so einfach ist, in so vielen Bereichen präsent zu sein, die Entwicklungen zu verfolgen, gut zu reagieren, geschweige denn mitzugestalten, was dort passiert, die Rahmenbedingungen selber mitzugestalten. Mich würde interessieren, wie ihr das macht? Ausgehend von dem, was im Stadtteil passiert, was die Bedarfe sind, welche Ideen die Leute haben, die mitentwickeln, aber andererseits dann diese Einrichtungen zu haben, wo wieder ganz andere Anforderungen sind, die auch nach anderen Gesetzen funktionieren oder deren Erfolg nach anderen Gesetzen funktioniert, nicht unbedingt nur nach dem zu spüren, was vor Ort gewollt ist. Wie kriegt ihr das zusammen? Wir sind gerade in einem Organisationsentwicklungsprozess, der gar nicht einfach ist, weil wir auch immer der Geschichte verhaftet sind, was wir mal gemeinsam wollten, und zugleich auf die fachspezifischen Managementanforderungen achten müssen. 20 Jahre sind zwar eine lange Zeit, aber das war trotzdem ein schnelles Wachstum, wenn wir jetzt 400 Mitarbeiter haben. Wie kriegt man das auf die Reihe, wenn eine Eichrichtung nicht so naturwüchsig entstandenen ist wie ein Stadtteilzentrum, das seit 50 Jahren existiert? Renate Wilkening: Ich knüpfe mal am Pfefferwerk an. Anfang der 90er begann es mit dem Nachbarschaftshaus Pfefferwerk. Ich hatte damals engen Kontakt zu den Kolleginnen aus dem Ostteil der Stadt, die in der Christinenstraße in einer klitzekleinen Altbauwohnung mit Ofenheizung das Nachbarschaftshaus gegründet haben. Ihr erstes Anliegen war, auf dem Teutoburger Platz, der vor ihrem Haus lag und eine grässliche Brache war, mit den Anwohnern zusammen Nachbarschaftsarbeit zu machen und diesen Platz für alle schön zu machen, für Familien, für alte Leute, für alle Nachbarn, damit jeder etwas davon hat. Was zusammen gehört ...
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Das war ihre Ursprungsidee. Ich finde es sehr spannend, wie aus dieser Initiative und aus dieser Idee, für die Nachbarn und für sich selber etwas zu schaffen, nun fast schon ein sozial-kultureller Konzern im Stadtteil geworden ist, mit vielen Dependancen und Initiativen. Da muss man sehr achtsam sein, dass da bestimmte Dinge und Menschen nicht unter die Räder kommen. Und man muss sehen, welche Möglichkeiten man sich schafft. Du hast das Stichwort Organisationsentwicklung genannt: was schafft man, wer will das, wer bewegt das, hat das einen Selbstlauf? Organisiert sich das von selber? Da kommt eine Anfrage, dann wird das gemacht. Oder wie funktioniert das alles? Oder da winkt Geld und dann springen wir da drauf. Also diese Frage können wir wahrscheinlich heute gar nicht erschöpfend behandeln, sondern wir können nur ein paar Beispiele geben. Der Pfefferberg ist mir immer noch sehr nahe aus dieser Entwicklung heraus. Ich selber komme aus der ganz und gar basisdemokratischen Bewegung. Ich bin vom Nachbarschaftsheim der Ufa-Fabrik im Westen Berlins. Ich bin Geschäftsführerin dort, darüber hinaus bin ich im Internationalen Verband der Settlement- und Nachbarschaftszentren und im Verband für sozial-kulturelle Arbeit Vorstandsmitglied.. In der Ufa-Fabrik haben 1979 hundert Leute ein 18.000 qm großes Gelände besetzt. Das heißt Ufa, weil es ein Gelände von den Universal-Filmstudios war, auf dem sie ihre Kopierwerke hatten. In den 70er Jahren und Anfang der 80er Jahre gab es in Berlin eine große Hausbesetzerbewegung, weil in dieser Stadt viele Spekulanten Häuser, die eigentlich noch gut bewohnbar waren, abreißen ließen. Es gab auch nicht genügend Wohnraum, insofern gab es die Besetzungen, um sich Häuser anzueignen. Die 100 Leute aus der Ufa-Fabrik waren Studenten, Handwerker, Künstler, es waren Kinder mit dabei. Die hatten für sich schon einen Verein für Kunst, Kultur und Handwerk gegründet, das Soziale spielte keine große Rolle, weil die sagten: sozial sind wir selber, wir leben in Gemeinschaft in sozialen Bezügen. Es gibt uns jetzt 30 Jahre lang, wir haben gerade das 30jährige Jubiläum gefeiert. Die Prinzipien am Anfang waren: wir sind offen für alle, wir wollen miteinander leben, wohnen und arbeiten, jeder einzelne kann alles
mitbestimmen. Das führte dazu, dass wir manchmal mit 120 Leuten im Raum saßen und bestimmte Dinge nicht machen konnten, weil wir das Konsensprinzip hatten, dass jeder überzeugt „ja“ sagen musste. Die Zeit war spannend, aber auch furchtbar anstrengend und wir haben viele Federn gelassen. Wir sind von diesem Prinzip mehr und mehr dazu übergegangen, Mitbestimmungsgremien zu schaffen. Es musste nicht mehr jeder zu jeder Sache gehört und gefragt werden oder zustimmen. In den ersten acht Jahren ging das noch, weil alle einen irrsinnigen Enthusiasmus hatten. Es stand auch immer die Frage im Raum, ob wir geräumt werden oder nicht. Dann gab es Verhandlungen mit dem Senat, das Gelände konnte behalten werden, das war alles gemeinsames Gut. Aber dann gab es die Frage, okay, jetzt haben wir acht Jahre bewusst gesagt, dass wir keine Fördergelder nehmen. Wir wollten unabhängig bleiben, weil in dem Moment, in dem man Fördergelder annimmt, muss man darüber Rechenschaft ablegen und ist vom Geldgeber abhängig. Keiner gibt Geld, wenn er nicht bestimmte Interessen damit verfolgt, auch der Senat möchte bestimmte Interessen umgesetzt sehen. Das war für uns der Beweggrund, dass wir die ersten Jahre kein Geld genommen haben. Dann haben wir gesagt, okay, das ist eine schöne Haltung, aber wir benötigen auch Geld für die gute Arbeit, die wir machen. Mittlerweile ist die Ufa-Fabrik in 30 Jahren gewachsen. Wir haben angefangen mit Leuten, die dort gelebt und gearbeitet haben. Zuerst war Kunst und Kultur ein ganz wichtiger Punkt, die Kunst von den Leuten selber, die gesagt haben, wir sind Artisten, auch wenn wir es nicht gelernt haben, sondern wir machen das über learning by doing. Sie haben Theateraufführungen zusammengestellt, der Ufa-Zirkus ging nach Hongkong und überall in die Welt, eine Band wurde gegründet, die es immer noch gibt. Die Ufa-Fabrik hat inzwischen eine Kinder-Zirkusschule, wo junge Artisten ausgebildet werden, was ein großer Schwerpunkt ist. Außerdem bespielen wir das ganze Jahr über vier Bühnen, da kann jeder Künstler oder jede Gruppe aus der ganzen Welt kommen, aber das möchten wir doch vom Kultursenat bezahlt bekommen, was auch geklappt
hat. Also eine Förderung geht über den Kultursenat, eine Förderung über den Stadtteilzentrumsvertrag. Unser Wachstum hat dazu geführt, dass wir teilen mussten. Wir können nicht sagen, dass es nur einen einzigen Verein gibt, der mit seinen 120 Mitgliedern bis ins letzte Detail mitbestimmt, sondern wir sagen, wir teilen nach Sparten, nach Kultur, nach sozial-kulturellen Dingen, nach Wirtschaftsbetrieben. Wir haben einen Laden, wir haben eine Bäckerei, die kann man gar nicht vereinsmäßig machen, weil uns das Kopf und Kragen kosten würde. Der Verein ist natürlich Hauptgesellschafter, aber das sind sozusagen die Details. Wir haben ein Restaurant, was im Einzelbesitz ist. Einer hatte den Mut für das Risiko, er hat einen sehr großen Kredit aufgenommen, damit war das Restaurant seins. Mittlerweile hat er dort 30 Arbeitsplätze geschaffen, fest Angestellte, was auch eine ganze Menge ist. Das Nachbarschaftszentrum ist der sozial-kulturelle Verein, in dem wir auch mit Mitgliedern und dem Vorstand arbeiten, den ich jedes Jahr anflehe, dass er wegen der Kontinuität bleibt. Mitglieder und Vorstände können in der Regel bei solchen Organisationen gar nicht mehr durchblicken, unsere Leute wussten nicht, was eine Bilanz ist oder dass man die machen muss. Die meinten, lasst uns einfach eine Ausgaben-/Einnahmenrechnung aufschreiben. Was ein ganz wichtiger Punkt ist: wenn man ein Verein bleibt, sollte der Vorstand nicht zu groß sein. Ich finde es gut, dass ihr reduziert habt. Ich plädiere für wenige Vorstände, aber diese Vorstände müssen fit gemacht werden. Die haben eine hohe Verantwortung und sie haften auch an manchen Punkten persönlich. Das wissen manche Vorstände gar nicht, sondern sie denken, ja, macht das mal mit dem Millionen-Projekt, ist schon in Ordnung. Und: Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser. Vorstände sind nicht nur Aushängeschilder, sondern man muss ihnen das nötige Rüstzeug verschaffen, also dass sie zu Fort- und Weiterbildungen gehen, dass sie mit der Organisation wachsen können und sich in den Bereichen auskennen. Bei den Mitgliedern denke ich mittlerweile: wer Mitglied werden will, das ist schön, aber dieses totale Mitbestim-
mungsmodell – nein. Ich sehe es wie Thomas, dass wir verpflichtet sind, unsere Kunden, das sind die NutzerInnen, die MitarbeiterInnen, die Zuwendungsgeber, die Vereinsmitglieder, zufrieden zu stellen. Bei uns sind die 120 Mitglieder aufgeteilt in mehrere Vereine und GmbHs. Wir gehen pragmatisch davon aus, dass dort, wo sie ein echtes Interesse haben, etwas zu tun, da sind die Leute auch gut aufgehoben, nicht als Karteileiche. TN: Euer Prinzip war, dass ihr euch aufgeteilt habt? Renate Wilkening: Wir sind von dem großen Verein, der alles abgedeckt hat, auf zwölf unterschiedliche Rechtsformen gegangen. Markus hatte angesprochen, wann und warum Nachbarschaftszentren aus ihren Stadtteilen herausgehen. Ein kleines Beispiel dafür: Wir haben im Nachbarschaftszentrum Ufa-Fabrik eine Schrei-Baby-Ambulanz als Modell, mit Unterstützung des Senats, Anfang der 90er Jahre gegründet. Es geht nicht, dass die Leute aus allen Stadtteilen Berlins immer in die Ufa-Fabrik nach Tempelhof fahren müssen. Wir wollten gerne, dass sich andere Nachbarschaftszentren anschließen, also der Träger Nachbarschaftszentrum Ufa-Fabrik bleibt für die Schrei-Baby-Ambulanz verantwortlich, aber sie soll auch in anderen Stadtteilen stattfinden können. Im Wedding, Osloer Straße, in Kreuzberg und Zehlendorf waren Nachbarschaftseinrichtungen bereit, das mitzutragen und mitzumachen. Wenn eine Nachbarschaftseinrichtung eine gute, wichtige und modellhafte Sache hat, dann soll sie auch mit den anderen geteilt werden. Das ist auch für mich ein Grund, warum es so einen Verband gibt und solche Austauschmöglichkeiten. Wo es schwache Einrichtungen in Bezirken gibt, wo wir aber für die Idee der Gemeinwesenarbeit, der Nachbarschaftsarbeit und der Sozialraumorientierung eintreten, dort können wir vorübergehend die Trägerschaft übernehmen. Es gibt also durchaus Dinge, für die ein Nachbarschaftszentrum den Bezirk verlassen kann. Thomas Mampel: Wenn wir feststellen, früher 150 oder 175 Mitglieder, jetzt nur noch 30, wo sind die geblieben? Was zusammen gehört ...
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Ich vermute, die sind nicht weg, sondern die sind noch da. Nur müssen wir gucken, wie wir andere Wege finden, um sie zu erreichen. Alles, was ich hier in dieser Diskussion höre, finde ich total spannend, weil es mich darin bestätigt, mich weiter mit diesem Thema auseinanderzusetzen, wie wir mit dieser Identitätskrise, die uns ja alle umtreibt, umgehen. Eigentlich wissen wir alle, mehr oder weniger stark ausgeprägt, dass wir Unternehmen leiten, aber das wird nie so richtig benannt. Wir benutzen noch andere Begriffe und andere Denkmodelle, stellen aber fest, dass die auf unsere Wirklichkeit überhaupt nicht mehr passen. Mit einem e.V. ein Unternehmen mit 400 Leuten und vielen Abteilungen zu gründen, das ist irgendwie ein Spagat, den man kaum noch hinkriegt. Ein erster guter Schritt wäre, wenn wir in einem anderen Zusammenhang oder in einer anderen Tagung darüber reden könnten, wie wir soziale Unternehmen bauen und wie wir mit unserer Identität umgehen, wie wir sie ins 21. Jahrhundert mitnehmen und weiterentwickeln können. Ich vermute, dass wir dauerhaft nicht lebensfähig sind, wenn wir an den Organisationsmodellen des vorigen Jahrhunderts festhalten. Es ist interessant, dass das Nachbarschaftsheim Neukölln und das Stadtteilzentrum Steglitz die einzigen beiden Nachbarschaftseinrichtungen in Berlin sind, die twittern. Wir bewegen uns in sozialen Netzwerken, wir versuchen, andere Wege zu finden mit Menschen zu kommunizieren, sie irgendwie auf uns aufmerksam zu machen, sie einzuladen irgendwie teilzuhaben. Das habe ich mit Open Source-Organisation gemeint. Das ist zur Zeit mein Lieblingsthema. Ich fand es sehr schön, dass Georg Zinner gesagt hat, er macht seit fünf oder sechs Jahren eine Stadtteilzeitung. Wir machen das seit 14 Jahren, genau aus diesen Gründen, weil es Leute im Umfeld gibt, die Themen haben. Unsere Aufgabe ist es, ihnen eine Bühne oder eine Plattform zu geben, wo sie diese Themen bearbeiten und kommunizieren können. Was ich mit Strukturen öffnen meine: es gibt Bürger-Initiativen im Umfeld, denen haben wir gesagt, nutzt unsere Geschäftsstelle wie eure eigene Geschäftsstelle, nutzt unsere Strukturen wie eure Strukturen, nutzt unsere Öffentlichkeitsarbeit als eure Öffentlichkeitsarbeit. So werden wir wahrscheinlich auch
wieder eine andere Form von Beteiligung für die Organisation realisieren, als wir das jemals mit diesem klassischen Vereinsmodell mit Mitgliederversammlung und Vorstand hätten realisieren können. Aber da sind wir erst am Anfang. Wenn wir uns ganz klar darüber sind, dass wir soziale Unternehmen bauen, kommen wir vielleicht zu der Frage, an welchem Organisationsmodell wir uns orientieren. Ich habe für mich irgendwann beschlossen, dass wir uns für das Unternehmen, was wir da bauen, von der Struktur her nicht mehr an dem altehrwürdigen Nachbarschaftsheim orientieren. Da kann ich nichts abgucken. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit des Nachbarschaftsheims Mittelhof, aber es taugt für mich nicht als Vorbild, wie ich ein Unternehmen entwickle. Ich muss gucken, wie sind Unternehmen im privatwirtschaftlichen Bereich – in einem ganz anderen Feld – aufgebaut, wie organisieren die interne und externe Kommunikation, wie entwickeln sie Produkte, wie verlaufen deren Produktzyklen, solche Sachen muss ich wissen, wenn ich mein soziales Unternehmen entwickeln will. Da sind wir alle ganz am Anfang, aber wir werden letztendlich nicht darum herum kommen, wenn wir den Leuten im Stadtteil dauerhaft vernünftige Angebote machen wollen. Das hat zur Folge, dass wir noch mal sehr bewusst gucken müssen, wie wir die unterschiedlichen Funktionen trennen. Trennen ist das Stichwort. Natürlich muss ich die Unternehmenssteuerung professionalisieren, als Geschäftsführer bin ich dafür verantwortlich, aber ich kann von meiner Kita-Leiterin nicht erwarten, dass sie die Kita unter Aspekten von Produktzyklen entwickelt, sondern wir müssen diese Funktionen Unternehmenssteuerung und fachliche Arbeit trennen. Ich muss gucken, wie die unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben in der Organisation miteinander kommunizieren. Bei uns führt das dazu, das kann man lustig finden oder nicht, dass unsere Projektleiter mit einem Blackberry herumlaufen – das funktioniert. Damit kommen Informationen, die immer mehr und komplexer werden, in Echtzeit bei den Leuten an, die damit arbeiten müssen. Da komme ich mit meiner China-Kladde aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr richtig weiter.
TN: Ich habe den Eindruck, dass immer mehr Nachbarschaftshäuser ihre Vorstände auch unter strategischem Gesichtspunkt wählen. Ich glaube, die Heerstraße hat letztes Jahr auch Barbara John in den Vorstand geholt. Es wird also nicht mehr geguckt, ob das Nachbarn aus dem unmittelbaren Umfeld sind, mit der Identifikation aus der Nachbarschaft, sondern wer kann mir strategisch in der Entwicklung meiner Einrichtung weiterhelfen, den hole ich rein. Wir sind eher noch rückwärts gewandt und haben nach wie vor einen Vorstand, der aus Nachbarn besteht. Vielleicht wäre ein Förderverein ein Modell, in den man strategisch Leute reinholt, die über Beziehungen dann Perspektiven schaffen. TN: Ich komme aus der Fabrik Osloer Straße und bin da auch schon sehr lange, nämlich seit den 80er Jahren. Wir haben einen ähnlichen Gründungshintergrund wie ihn Renate eben ausführlich geschildert hat. Wir waren sehr basisdemokratisch mit Vorstand, geschäftsführendem Vorstand und Fabrikrat der immer freitags, wenn alle mit der Arbeit fertig waren, stattfand. Bis tief in die Nacht, wurde diskutiert, bis es einen Konsens gab. Ganz so schlimm ist es heute nicht mehr. Wir haben einen Vorstand und eine Geschäftsführung, aber wir haben nach wie vor drei- bis viermal im Jahr eine Mitgliederversammlung, wo jeder seinen Senf beiträgt, vor allen Dingen zur Nachbarschaftsarbeit. Wir sind aus der Ehrenamtsschiene entstanden, die Pfadfinder sind aufs Gelände gegangen, weil es immerhin auch 4.500 qm hat, fingen dort an mit ehrenamtlicher Jugendarbeit, sie haben Jugendliche betreut, unter dem Motto „leben und arbeiten in der Fabrik Osloer Straße“. Sie haben dann angefangen die Fabrik mit anderen Projekten zu beleben, also wir haben Ausbildungsprojekte, Gas-Wasser-Installateur und Metallbauer, wir haben die Gäste-Etage, wir haben ein betreutes Wohnen, wir haben privates Wohnen. Das größte Projekt der Fabrik ist das Labyrinth-Kindermuseum, das wohl auch am bekanntesten ist, das wir als Wirtschaftsbetrieb abtrennen mussten. Wir haben zurzeit noch einen dreiköpfigen Vorstand, zu dem ich auch seit zehn Jahren gehöre. Der Vorstand arbei-
tet ehrenamtlich gemeinsam mit dem Geschäftsführer. Und genau diese Positionen sind im Moment ein großes Thema der Auseinandersetzung. Es gibt Streit darüber, ob man mit der alten Vereinsform noch existieren kann. Die Mitglieder haben entschieden, dass sie sich nicht vergrößern wollen, sondern dass wir das Gelände ausfüllen bis es aus allen Fugen platzt, aber wir gehen nicht raus aus dem Gelände. Das ist eine Diskussion über die Öffnung nach außen, die schon fast 30 Jahre geführt wird. Wir als Nachbarschaftsetage sind der Verein Fabrik Osloer Straße. Wir haben den Auftrag, die Arbeit des Vereins nach außen zu tragen. Wir bemühen uns da auch redlich. Wir haben vier fest angestellte Kollegen und Kolleginnen. Im letzten Jahr sind wir mit dem Nachbarschaftshaus Prinzenallee fusioniert worden, weil das abgewickelt wurde. Petra Kindermann kam als vierte Mitarbeiterin mit zu uns ins Boot. Dieser Fusionsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Wir bauen zur Zeit noch Räume dafür aus. Aber diese Basisdemokratie ist bei uns immer noch ein Ansatz, der uns große Probleme bereitet. Wir haben 30 Vereinsmitglieder, die alle auf dem Gelände wohnen oder arbeiten, der Vorstand sind fünf Leute und wir haben kein strategisches Mitglied, sondern es ist wirklich so, wie es früher war. Diese Art der Organisation ist sehr zeitintensiv. TN: Und das kostet Nerven. TN: Ja, sehr. TN: Thomas meinte, dass wir mittlerweile zwar soziale Unternehmen geworden sind, aber noch in Strukturen denken und reden, die vorher waren. Diejenigen, die dieses Wachstum mitgemacht haben und sehen, was sie damit in ihrem Stadtteil gestalten können, müssen sich auf der anderen Seite aber auch klar über die Gefahr sein, dass die Dynamik außer Kontrolle geraten kann. Es kann eine relativ anonyme Organisation entstehen, wo wir uns fragen müssen, welches die Identität solch eines Verbandes oder solcher Einrichtungen ist, was wir davon vertragen und was nicht. Ist das nur Historie, so fing es mal an, aber jetzt sind wir ein Dachverband moderner SozialWas zusammen gehört ...
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unternehmen? Oder gibt es so etwas wie einen Kern, der bei allem Wachstum, bei allen neuen Aufgaben, bei aller Vergrößerung, zur Identität gehört? Du hast darauf hingewiesen, dass man darauf achten muss, wenn man über den lokalen Bereich hinausgeht, welche Bedrohung das für die eigene Identität beinhalten kann. Alles andere finde ich vollkommen in Ordnung, dass man die gesamte Organisationsstruktur überdenkt und auch den momentanen Notwendigkeiten anpasst. Der Kerngedanke muss aber immer erhalten bleiben, dass nämlich die Menschen im Stadtteil Unterstützung zur Umsetzung ihrer Anliegen bekommen sollen. Was das heute heißt, an dem Punkt sollten wir weiter arbeiten. Thomas Mampel: Ich kriege mit, dass wir als Stadtteilzentrum, auch als Verband, vielleicht gerade Gefahr laufen, eine Entwicklung zu verpassen. An diesem Wochenende findet in Berlin zum dritten oder vierten Mal dieser Vision Summit statt. Da laufen Leute rum, die in unseren Strukturen wahrscheinlich ganz unbekannt sind. Die kommen mit einem ganz anderen Weltbild, das sind soziale Unternehmer, auch in ihrem Selbstverständnis, und entwickeln für soziale Problemlagen oder für Fragen der Nachhaltigkeit unternehmerische Lösungen. Sie wollen eine bessere Welt und damit Geld verdienen. Die kommen gar nicht klar mit einem bestimmten Ballast, den wir mit uns herumtragen, dass wir alles unter einen Hut kriegen wollen. Deren Bereich wird immer größer. Was ich damit sagen will ist nicht, dass wir dieser Entwicklung hinterher hecheln und alles über Bord schmeißen sollen, was wir bisher für richtig und erhaltenswert fanden. Sondern dass wir diese Themen aufnehmen sollten, dass wir gucken, sind unsere Häuser, unsere Einrichtungen, eigentlich für die Fragen, die da draußen eine Rolle spielen, gut gerüstet und bieten wir inhaltlich und strukturell, organisatorisch und von unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit her eine Struktur, die zukünftig eine Rolle spielen kann? Das ist ein Thema für einen eigenen Kongress. Ich vermute, dass das jetzt so eine spannende Zwischenphase ist. So wie du sagst, da geht irgendwann ein Zeitfenster zu, plötzlich wird man wach und die Landschaft ist
eine andere. Da sollten wir wirklich gucken, dass wir den Anschluss nicht verlieren. Mit dem, was wir alles haben, fragen wir: was ist eigentlich unsere Vision oder Mission, wie soll Gemeinwesen, wie soll der Sozialraum, wie soll eine Stadt aussehen, dass wir was in diese neue Zeit einbringen, und das Nachbarschaftsheim 2.0 entwickeln. TN: Mir gibt es einen kleinen Stich, wenn gesagt wird, dass diese ganzen basisdemokratischen Sachen von damals nur eine Belastung und zeitaufwändig und nervig sind. Das ist so. Andererseits wünsche ich mir immer noch eine Einrichtung, die von einer lebendigen und kompetenten Mitgliedschaft getragen wird, aber das haben wir in der Regel nicht, das ist wohl nicht so einfach. Einen Auftrag haben wir, auch im Vertrag Stadtteilzentren beschrieben, das ist die Förderung von Partizipation von Menschen. Also wo bleibt die Partizipation in einem Unternehmen, was natürlich in gewisser Weise diese breite Partizipation gar nicht mehr möglich macht? Ich denke, dass das in die Richtung gehen wird, dass wir wirklich Unternehmen sind, wir müssen uns dessen bewusst sein. Aber es sind soziale Unternehmen, die hier entstehen, und dafür muss man Organisationsstrukturen aufbauen, damit dieser Apparat funktioniert. Auf der Vereinsebene können wir zur Umsetzung unserer umfangreichen Aufgaben nicht bleiben. Also machen wir Vereine, die juristisch funktionsfähig sind, kleiner, acht bis zehn Leute, die alle hoch kompetent sind, und so ein Unternehmen führen können, daraus sind vier oder fünf Vorstände gewählt. Die Partizipation der Menschen, mit denen wir arbeiten, muss in davon abgetrennten und noch zu entwickelnden Strukturen passieren. TN: Ich bin ja viel unterwegs in der Welt und gucke mir Nachbarschaftszentren in anderen Ländern an. Wenn ich zurückkomme, dann denke ich jedes Mal, dass es uns hier doch verdammt gut geht. Wir waren in Israel und haben uns viele Community-Centers angeguckt. Ein besonderes Community-Center ist im arabischen Teil im Norden Israels, in einem arabischen Dorf. Das Haus wurde von der Gemeinde zur Verfügung gestellt. In diesem Haus begegneten uns zwei Drusen, ein Mann und
eine Frau. Drusen, das ist eine religiöse Richtung in den arabischen Ländern und auch in Israel. Die haben uns berichtet, unter welchen Voraussetzungen und wie sie die Arbeit in ihrem Center gestalten. Ein wesentlicher Punkt, den die beiden dort machen, ist, dass sie ein Theater für taubstumme Menschen gegründet haben. Mit diesen Menschen machen sie Theateraufführungen. Wichtig dabei ist, dass jeder Mensch, der behindert ist, in der arabischen Welt versteckt wird. Das ist ein Grund für Familien, sich zu schämen. In einem Film haben wir die Entwicklung gesehen, da meinten Familienmitglieder, dass sie hoffen, dass ihr Kind eine Stunde vor ihnen tot ist, weil sie ihr Kind nicht in dieser Welt lassen wollen. Das Kind saß daneben, war 18 Jahre alt und hat voll mitbekommen, was gesagt wurde. Da haben diese beiden Menschen die Vision entwickelt, dass sie mit diesen behinderten Menschen ein für sie lebenswertes Leben in der Nachbarschaft organisieren. Das ist ihnen gelungen – mit so gut wie gar keinen Mitteln. Die sind weit entfernt von einem Nachbarschaftszentrum 2.0, die haben nicht mal einen Computer. Diese Idee und diese Vision und das, wofür diese beiden brennen, was die bewegen, ich finde, das ist lernenswert, also sich davon eigenen Enthusiasmus zu holen. Das ist eine gute Sache. Als Hintergrund noch ein anderer wichtiger Punkt: Neda, eine Frau, Mittvierzigerin, ist eine junge Witwe gewesen, hat mit 16 geheiratet und ihr Mann starb im Krieg, als sie 23 war, sie hatte zwei Kinder. Für eine Frau dort heißt das, dass sie keinerlei gesellschaftlichen Kontakt mehr pflegen darf. Entweder zieht sie zu den Schwiegereltern oder die Schwiegereltern zu ihr, sie darf sich nur noch im Haus aufhalten und sich um die Kinder kümmern. Neda ist es gelungen, in dieses Community Center zu gehen, mit dem Einverständnis ihrer Schwiegereltern, dort zu arbeiten und andere Frauen, denen es genauso wie ihr geht, die zu Hause sitzen und völlig weggeschlossen sind, deren Leben eigentlich mit 23 vorbei ist, dorthin zu holen und mit ihnen zu arbeiten. Sie hat ihnen sogar Arbeit verschafft, indem sie in Heimarbeit zum Beispiel Adressen schreiben können. Das Beispiel für Nachbarschaftsarbeit hat mich sehr berührt, genährt von dem Lebenswillen und dem Enthusiasmus der Menschen, die das machen.
Ich war 1996 in Rumänien und habe dort ein Nachbarschaftszentrum, so kann man das eigentlich gar nicht nennen, ein kleines in einem Hinterhof gelegenes Zimmerchen mit Außenklo, besucht. Eine alte Frau, eine junge Frau und zwei Jugendliche hatten dort eine Einrichtung und wollten etwas für Familien im Umkreis und für die Straßenkinder aufbauen. Sie hatten dieses kleine Zimmerchen und waren von niemandem akzeptiert. Sie hatten durch eines unserer Mitglieder Kontakt zum IFS gewonnen und durch die Tagung und das Seminar, die wir dort gemacht haben, konnten wir sie unterstützen. guckt mal, die sind auf internationalem Gebiet unterwegs, was in Rumänien viel galt. Durch ihre langjährige, geduldige, hartnäckige Art und Weise hatten sie erreicht, dass sie jetzt von der örtlichen Gemeinde ein Haus zur Verfügung gestellt bekamen, ihre Arbeit ist anerkannt. Miorita, die mittlerweile an die 70 ist, ist zur Ehrenbürgerin dieser Stadt ernannt worden. Denen war wichtig nicht aufzugeben, sondern zu sagen: für uns ist diese Arbeit wichtig und wir wollen sie machen, wir geben nicht auf, egal, was passiert. Und wir schaffen uns starke Verbündete in unserem eigenen Kreis, aber auch darüber hinaus. Das ist für mich das Plädoyer dafür, nicht nur alleine für sich als Organisation da zu sein, sondern sich mit anderen zusammenzutun, sich auszutauschen, zu geben und zu nehmen, und auch das Gute, was man hat, woanders hinzutragen. Und das nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch durchaus international, denn das bringt einen auch immer wieder auf den Boden. Wenn man weiß, was woanders los ist ... bei mir führt das immer dazu, dass ich sehr bescheiden und dankbar bin für das, was uns hier ermöglicht wird. Wir haben übrigens alle unsere Reisen, die wir über den Verband für sozial-kulturelle Arbeit machen, mit Fotos und Reisetagebüchern dokumentiert und zwar auf der Seite www.stadtteilzentren.de.
Was zusammen gehört ...
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Workshop
Gründungs-Impulse Neue Initiativen begegnen „alten Hasen“
Input: Georg Zinner Nachbarschaftsheim Schöneberg Peter Stawenow ehem. Gründer Nachbarschaftszentrum Bürger für Bürger (Mitte) Ben Eberle Begegnungszentrum Adalbertstr. (Kreuzberg) Hella Pergande ehem. Rabenhaus (Köpenick) Moderation: Reinhilde Godulla Reinhilde Godulla: Fangen wir gleich mit dem Input von Hella Pergande an, heute Mitarbeiterin von Outreach in der „Mobilen Kinderarbeit“, vor 20 Jahren war sie Mitbegründerin des Rabenhauses in Berlin-Köpenick. Hella Pergande: 20 Jahre zurück – wenn ich mein Leben im Nachhinein betrachte, dann bin ich ein unheimliches Glückskind. Die Mauer ist gefallen, Peter Stawenow und ich waren wahrscheinlich, wie sich herausstellte, die einzigen DDR-Bürger, die nicht im aktiven Widerstand waren. Auf einmal konnte man Dinge machen, die man vorher nie machen konnte. Wir haben zum Beispiel ein Kindertheater gegründet, auf einmal bin ich Geschäftsführerin geworden, weil die ABM-Maßnahmen ausliefen und die ursprünglichen Geschäftsführer erfahren haben, dass der Senat nicht so gut zahlt, dann waren sie alle weg. Geschenke, Geschenke, Geschenke – die Zeit war einfach total toll. Man konnte erst mal machen und alles hat viel Spaß gemacht.
Herbert brachte schon das kurze Hesse-Zitat in der Einladung „…und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“, aber ich lese Hermann Hesse (Stufen) einfach mal vor: Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. In dem Sinne muss man halt weiter gehen, tun. Reinhilde Godulla: Wie war eure Neugründung im Rabenhaus? Oder warst du da gar nicht dabei? Hella Pergande: Doch, natürlich. Das waren 20 ABMKräfte, keiner von denen wusste wirklich, was er tun sollte. Da haben wir gesagt, dann gründen wir mal einen Verein – und saßen plötzlich da mit einem Haufen Kohle. Da konnten wir uns „goldene Wasserhähne“ (Zitat H. Scherer) kaufen. TN: Wie kamt ihr auf die Idee, ein Nachbarschaftsheim zu gründen? Hella Pergande: Die Idee wurde uns zugetragen. Wir saßen in einem netten Haus, irgendwann kamen auch Leute vom Senat und haben geguckt, was sich lohnt. Ein Häuschen, das ist ganz nett, ... aber es hat nicht uns gehört, sondern wurde von der Treuhand verwaltet. Wir sind dann trotzdem irgendwie in die Förderung reinge-
rutscht. Die Treuhand wollte dann 8.000 DM Miete, da sind wir in eine Wohnung gezogen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass sie das Rabenhaus nicht geschlossen haben. TN: Und nach der Wohnung? Hella Pergande: Eine neue Wohnung, dann noch eine Wohnung, Theater eingeräumt, Theater ausgeräumt, also immer auf Achse, und immer geguckt, wie kommt man mit dem bisschen klar, was der Senat ausspuckt. Nach etwa 3 Jahren stellte eine Kollegin fest: „Ich glaube, jetzt ist die Wende vorbei, schade.“ Ehrenamtliche hatten auch einfach Mitleid mit uns und haben enorm viel geholfen. Das war eine schöne Zeit. Wir sind von diesem Haus mit Garten in eine Wohnung gezogen und von der in den Laden. TN: Nachdem die Wende vorbei war? Hella Pergande: Genau. TN: Wie viele sind von damals noch mit dabei? Hella Pergande: Der Vorstand ist noch da, einige andere auch. Reinhilde Godulla: Du hast also die Erfahrung der Neugründung. Georg Zinner: Es hat immer neue Initiativen gegeben, auch in den 70er und 80er Jahren. Wir waren auch am Anfang eine neue Initiative aus Sicht der alten Nachbarschaftsheime, denn als ich beruflich ins Nachbarschaftsheim eingestiegen bin, zu der Zeit gab es sieben in Berlin. Die waren eigentlich am Ende mit ihren fachlichen Themen, die waren alle gleichzeitig am Ende und wussten nicht, was sie machen sollten, um die Leute zu erreichen und welche Angebote man macht. 1978 habe ich da angefangen, das war eine depressive Phase, in Westdeutschland hatte es die Studentenbewegung gegeben, anschließend kam die Sozialarbeiterbewegung, Diskussion um Gemeinwesenarbeit, es entstanden die Bürger-Initiativen, dann kam die Kinderladen-Bewe-
gung. Die Nachbarschaftszentren hatten daran irgendwie keinen praktischen Anteil, obwohl sie an der Diskussion sehr stark beteiligt waren. Ich habe das so erlebt, dass man sich nicht entscheiden konnte zwischen dem Alten und dem Neuen. Als ich im Nachbarschaftsheim Schöneberg anfing, da war das einzige, was funktioniert hat, die Altenarbeit. Das war Arbeit mit Ehrenamtlichen, mit Gruppen in einer sehr autoritären Struktur, aber sie hat funktioniert. Alles andere hat praktisch nicht funktioniert, es gab einen Stadtteilarbeiter, aber der wusste gar nicht, was er den ganzen Tag über machen sollte. Es gab einen Kindergarten bzw. eine Kindertagesstätte voller Orientierungslosigkeit, weshalb die Nachbarschaft ihre Kinder gar nicht geschickt hat. Für mich war das aber gleichzeitig die Chance, etwas Neues anzufangen. Dieses Neue war schon überall sichtbar, überall waren die Kinderläden entstanden, die Bürger-Initiativen waren da, später haben sich Selbsthilfe-Gruppen etabliert und suchten Anlaufstellen. Man musste nur versuchen, das alles zusammen zu bringen, also die eigene Einrichtung dafür zu öffnen, dass diese Initiativen andocken konnten. Man musste nur konkrete Angebote machen, die einen unmittelbaren Nutzen für die Bürger hatte, also nicht nur offene Arbeit, sondern konkrete Angebote machen. Man musste sozusagen immer was machen. In unserem Fall sind türkische Familien zugezogen. Und weil wir ein Haus für alle sein wollten, mussten wir etwas für die türkische Bevölkerungsgruppe machen. So entstand der türkische Frauenladen, und nach und nach kam dann alles andere. Es war der Versuch, ganz praktische konkrete Angebote zu schaffen, und der Versuch, Transparenz herzustellen, in die Öffentlichkeit zu gehen, zu werben, Flyer bzw. das Faltblatt zu verteilen und sich wieder bekannt zu machen, dann lief das eigentlich alles von selber. Die Diskussion im Verband, die gestern auch in einer Arbeitsgruppe zum Thema Gemeinwesenarbeit in den Einrichtungen aufgeflammt ist, hat das ein bisschen widergespiegelt, was es da für eine Haltung gab. Ich war ein absoluter Anhänger davon, Einrichtungen zu schaffen, wo Bürger sich treffen können, wo Bürger ihre Sachen Was zusammen gehört ...
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machen können, also wo wir eine dienende Struktur sind. Ich verwende gerne das Wort Dienstleister, Treuhänder, wir müssen uns zur Verfügung stellen. Wir dürfen auch vorhandene Initiativen stärken, Kinder und Jugendliche müssen gefördert und unterstützt werden, Erwachsene muss man ernst nehmen, also da gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Aber letztlich geht es immer darum, die Fähigkeiten und Potenziale der Menschen zu wecken, zu fördern, Initiativen zu ermöglichen und Räume dafür zu schaffen. Das war das, was in den 80er Jahren umgesetzt wurde und uns wieder ins Gespräch gebracht hat. Das gilt auch für die Wendezeit. Der Senat hatte inzwischen gemerkt, welche umfangreichen Potenziale sich auftun, wenn man ehrenamtliche Arbeit fördert, Initiativen von Menschen unterstützt, Sozialarbeit nicht als Pflaster auffasst, sondern mit den Stärken der Menschen arbeitet. Wofür wir manchmal auch belächelt worden sind. Wir heißen Verband für sozial-kulturelle Arbeit, aber wer hier die Kulturarbeit einführte, der hat eins auf den Deckel gekriegt, das kann man nachlesen. Ich habe das nicht immer kapiert, aber es war so. Diese Entwicklung in den 80er Jahren, die einige Nachbarschaftsheime hier in Berlin genommen haben, die hat uns nach der Wende in die Position gebracht, dass der Senat ein Modell vorzeigen konnte, hinter dem Nachbarschaftszentren standen als eine moderne Form, die mit Sicherheit der Bürgerschaft entgegenkam. Warum ist diese Form so modern gewesen? Weil die herkömmlichen gesellschaftlichen Institutionen ihre Bindungskraft verloren hatten, ob das Familie war, Kirchengemeinden, Parteien, Gewerkschaften, Sportvereine, die Leute müssen sich dort festlegen. Sie haben immer in bestimmten Lebenslagen Orte gesucht, wo sie Rat und Unterstützung bekommen, was Nachbarschaftsheime in dem Moment nicht bieten konnten. Deswegen war die neue Struktur so wichtig. Dann konnte ganz schnell in der Wendezeit von den Nachbarschaftsheimen ausgehend auch eine Beratung geleistet werden, die dann auch in anderen Stadtteilen angeboten werden konnte. Speziell die Alten freuten sich darüber, dass in ganz Berlin eine sehr interessante neue Debatte entstanden war. Und dass die im Ostteil der Stadt sehr schnell auf-
gegriffen, akzeptiert und angenommen wurde, hat uns erheblich voran gebracht. Da war zur richtigen Zeit die richtige Idee da, so würde ich das sagen, die viele Leute annehmen konnten. Peter Stawenow: Es gibt Meilensteine oder Entwicklungsabschnitte in jedem Leben, wo jeder über sich selber nachdenkt: Was habe ich erreicht? Wie weit bin ich gekommen? Was habe ich geschafft oder wie geht es weiter? Dafür gibt es verschiedene Anlässe, normalerweise wenn man die Schule verlässt, die Ausbildung abgeschlossen hat, krank wird oder auch eine einschneidende gesellschaftliche Veränderung, wie es beim Zusammenbruch der DDR war. Das war auch so ein Punkt, wo man sich selber gefragt hat, ob das, was man bisher gemacht hat, richtig oder falsch war. Oder ob die Werte, an die man geglaubt hat, noch aktuell sind. Man hat sich selber hinterfragt und musste sich auch selber wieder einen Platz suchen. Zur Wendezeit war ich 26/27 Jahre alt und war hauptamtlich im Jugendverband der FDJ tätig, bin also kein „Widerstandskämpfer“ gewesen, war aber immer bemüht, etwas zu verändern und zu bewegen. Ich hatte die Vorstellung, je höher man in einer Funktion ist, umso mehr kann man verändern oder bewegen. 1988 bin ich nach Berlin in den Zentralrat geschickt worden, um dort die Fragen der Berufsausbildung, Lehrlingswohnheime, Informatikausbildung voranzubringen und Kurse einzurichten, wofür ich viele Gespräche mit Lehrlingen in den Wohnheimen geführt hatte. Dann kam die Wende 1989 und man hat gesehen, wie die führenden Funktionäre dort alle fluchtartig die Plätze verlassen haben. Ich sagte, das kann doch nicht sein. Das Kapitel muss man ordentlich zu Ende bringen. 1991 hatte ich dieses Kapitel abgeschlossen, ohne dass eine Insolvenz erfolgen musste, und habe mich dann als letzter Hauptamtlicher dort selber entlassen. Dann war dieser Punkt erreicht, dass ich mich fragte, was ich nun mache und wie es weitergeht. Es war unheimlich viel Neues, was sich 1991 in dieser ersten Periode der Nachwendezeit alles entwickelt hat. Es war viel Verunsicherung da, für die Menschen war alles neu, angefangen bei einer Lohnsteuerkarte, die man sich besorgen musste,
oder einen Lohnsteuerjahresausgleich zu machen, sich bei der Krankenkasse anzumelden. Viele sind aus der Kirche ausgetreten, um keine Kirchensteuer zu bezahlen, obwohl sie irgendwann mal getauft wurden. Es gab viele, viele Dinge, die anders waren. Dieses Nachdenken, was man tun kann, doch auch mit dem Anspruch, etwas zu bewegen und zu verändern, kann man alleine machen, wobei fraglich ist, ob man dann zu den richtigen Ergebnissen oder Antworten kommt. Oder man sucht sich Menschen, mit denen man darüber reden kann, um mit ihnen gemeinsam den richtigen Weg zu finden. Auf der Suche nach Veränderung bin ich dann auf den Verband für sozial-kulturelle Arbeit gestoßen, ich traf interessante Menschen wie Georg Zinner, Herbert Scherer und andere. Was habe ich aus diesen Gesprächen mitgenommen? Einerseits, dass es wirklich wichtig ist, in den Diskussionen ein eigenes Selbstverständnis zu finden. Ich komme noch darauf zurück, dass es natürlich aktueller denn je ist, diese Diskussion zu führen. Ich musste ein bisschen schmunzeln über das, was Georg jetzt erzählt hat, weil das genau die Argumente waren, mit denen wir überlegt haben, wie man das, was man als Idee hat, umsetzen kann. Wir brauchen Einrichtungen, wir brauchen Menschen, die mitmachen. Auch der Gedanke, nicht den Menschen etwas bieten zu wollen, sondern die Menschen sollen sich selber etwas bieten, sich als Diener zu verstehen, Leute zum Handeln zu motivieren. Dann stellt sich natürlich die Frage, wie man das umsetzt, denn die Idee ist das eine, das andere ist die Realisierung. Ich habe dann als ABM-Kraft angefangen und ein Konzept für einen Nachbarschaftsladen entwickelt, auf das wir alle stolz waren. Die vier B’s dieses Konzeptes waren: Beratung, Betreuung, Begegnung und Bildung, das sind vier wichtige Komplexe, die den Menschen helfen konnten, in dieser Zeit klarzukommen. Bildung verstanden wir in unterschiedlichsten Formen, nicht nur Berufsbildung, Weiterbildung oder Qualifizierung, wobei ja viele einen Weg finden mussten, nach ihrer Arbeitslosigkeit überhaupt in einem Beruf unterzukommen. Sondern auch Bildung in Form von Berufsorientierung, Bildung in Form von Reisen, denn man bildet sich, indem man andere
Kulturen und andere Länder kennen lernt. Das war ja in der DDR nicht so möglich. Oder auch Bildung in Form von Nachhilfeunterricht, wo sich Menschen generationsübergreifend helfend Lesen, Schreiben und Rechnen beige-
bracht haben. Ich könnte das jetzt weiter fortsetzen, also Bildung, Beratung, Begegnung und Betreuung. Um diese Idee umzusetzen, mussten wir Räumlichkeiten finden. Wir haben lange gesucht. In der Strelitzer Straße lag das Gebäude, das wir schließlich gefunden hatten, und zwar genau dort, wo es einen Fluchttunnel zwischen Ost und West gegeben hatte. Mensch, dachten wir, als wir dieses Gebäude sahen, das hat für uns etwas Symbolisches. Die Gegend war zugleich Ost und West, also Mitte und Wedding, die dort aufeinanderprallen. Wir haben überlegt, ob wir wieder dasselbe machen wollten, wie es zu DDR-Zeiten war, nämlich was Fertiges hinzustellen und zu warten, bis die Leute kommen. Oder sagen wir nur: das sind die Räume, die ihr nutzen könnt, wie Georg Zinner gesagt hat. Damit haben wir angefangen; eine Befragung in der Nachbarschaft gemacht;Leute konnten sich ehrenamtlich engagieren, Handarbeitszirkel, Nachhilfeunterricht oder im Kulturbereich. Die Bürger haben dann dieses Zentrum selber ausgestattet. Der Malzirkel hat Bilder gemalt, die dort aufgehängt wurden. Der Handarbeitszirkel hat Gardinen genäht. Damit haben die Menschen das als ihre Einrichtung angenommen, als ihr Zentrum, was Was zusammen gehört ...
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wichtig wurde im späteren Überlebenskampf, weil vieles als ABM-Maßnahme zeitlich begrenzt war. Ich will nur noch zwei wichtige Episoden schildern, die mich geprägt haben. Wir haben nicht nur offene Türen vorgefunden. Sondern bei manchen Gesprächspartnern war auch eine tiefe Distanz zu spüren – in zwei Richtungen: im Westteil der Stadt, nach dem Motto: jetzt kommen Neue, jetzt wollen die auch noch was von dem Finanzkuchen abhaben. Aber teilweise auch bei den neuen Initiativen untereinander im Ostteil der Stadt, weil nur sieben Einrichtungen von der Senatsverwaltung gefördert wurden. Es gab aber viel mehr Initiativen. Da spielte Konkurrenz eine Rolle. Wir gehörten nicht zu den sieben geförderten Einrichtungen. Der Bezirk Lichtenberg, das war der Wahlbezirk des Jugendsenators Krüger, der als nackter Mann auf einem Plakat zu sehen war. Der Jugendsenator wollte, dass in seinem Wahlkreis ein Nachbarschaftszentrum entstehen sollte. Dann wurde eben gleich eins aus dem Boden gestampft, bzw. es wurde zunächst mal ein Zelt aufgebaut.
Reinhilde Godulla: Aber das war ja schon 1995/1996. Peter Stawenow: Ja, das gehört zu dieser Überlebenskampfphase. Da hat sich dann ausgezahlt, dass die Bürger schon so verwurzelt und aktiv waren. Wir waren wie in unserer Startphase wieder an dem Punkt angekommen,
wo man darüber nachdenken musste, was Gemeinwesenarbeit, Nachbarschaftszentren oder Stadtteilzentren zur Verbesserung eines Sozialraums beitragen können. Ben Eberle: Mein Sohn war gerade geboren, er war vier Monate alt, als mich Freunde anriefen, dass die Mauer gefallen ist. Mein Kopf sagte, dass das ein großes Ereignis ist, aber emotional war ich nicht so dabei. Ich sagte, ja, das ist toll, aber mein Sohn, Gott sei Dank, der schläft gerade, ich habe ein bisschen Ruhe. Dann kamen viele Freunde vorbei, die zur Mauer wollten, ich war so froh, dass ich endlich schlafen konnte, dass ich nicht mitgegangen bin. Dann habe ich 1994 bei der Arbeiterwohlfahrt angefangen, das Begegnungszentrum zu leiten. Das ist eine Einrichtung, die aus der Immigrationssozialarbeit entstanden ist, ein Beratungszentrum für türkische Mitbürger. Die waren auch eine Kultureinrichtung, fokussiert auf die Immigrationssozialarbeit. Das hat alles nicht mehr so wie gewollt funktioniert, darum wurde ein neues Konzept entwickelt. Das hatte noch nicht mit meiner Arbeit zu tun, aber das war mein Einstieg. Damals war das große Thema die Arbeit mit älteren Migranten. Ich habe mit der damaligen Koordinatorin ein neues Konzept für das Haus geschrieben. Das Haus ist am Mariannenplatz, ungefähr 20 Meter von der ehemaligen Mauer entfernt. Das war ein recht großes Haus, das heißt, auch mit viel Potenzial, aber es war im Gemeinwesen nicht verankert. Das Haus war sehr bezogen auf die Situation der türkischen Migranten. Wir überlegten, welche Ressourcen wir haben und was man tun könnte. Es hat sich angeboten bzw. es hat geradezu danach geschrien, sich in Richtung Gemeinwesenarbeit zu orientieren, also den Schwerpunkt auf die türkischen Migranten beizubehalten, aber die Einrichtung im Stadtteil mehr bekannt zu machen bzw. zu etablieren, so ähnlich, wie Georg das beschrieben hat. Das war nicht so leicht bei der AWO umzusetzen, weil für sie die Gemeinwesenarbeit ein wenig fremd war. Das hat etwas mit dem zentralistischen Blick auf die Arbeit zu tun. Irgendwann sagten sie aber: gut, mach mal, mal schauen, was daraus wird. In der Wendezeit fühlten sich teilweise die Migranten, mit denen wir zu tun hatten, erst mal als Opfer. Plötzlich war
die Fokussierung auf Ost und West und nicht mehr auf die Integration der Migranten. In Ostberlin gab es auch viele Angriffe durch Rechtsradikale, weswegen mich Leute davor gewarnt haben, in den Osten zu fahren. Die Migranten fühlten sich überrollt von der Wende. Das ist eine Haltung, mit der sich die Gemeinwesenarbeit auseinander setzen musste. Wir haben versucht, dieses Bild zu überwinden und geschaut, wo es im anderen Stadtteil schöne Sachen gibt, wie man Leute kennen lernen kann, denn Begegnungen sind sehr wichtig. Aber sie sind auch problematisch wegen der Hemmschwellen und Vorurteile. Unsere Erfahrung war, dass die Menschen oft mit inneren Bildern und nicht mit eigenen Erfahrungen arbeiten. Wir versuchten, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Eine andere relevante Entwicklung für die Gesellschaft war, dass die großen Wohlfahrtsverbände an Macht eingebüßt haben. Die großen Wohlfahrtsverbände haben zwar noch einen zentralen Stellenwert, aber durch die Zusammenführung der beiden Teile Deutschlands hatten sie im Osten nicht diese festen Strukturen wie im Westen. Das alles führte dazu, dass Stück für Stück die institutionelle Förderung für die großen Wohlfahrtsverbände … abgebaut wurde. Das werte ich nicht, das ist einfach eine historische Tatsache. Die Idee der Nachbarschaftshäuser brachte zu diesem Zeitpunkt eine Veränderung des sozialpolitischen Blickwinkels. Sie führte dazu, dass nicht mehr so sehr institutionelles Fachwissen die Arbeit bestimmte. Sondern man ging jetzt davon aus, dass es vor Ort unterschiedliche Bedürfnisse gibt, unterschiedliche Notwendigkeiten, schließlich können die Menschen vor Ort das am besten einschätzen, wie man vorgehen muss, um genau die erforderliche Struktur zu finden. Mit der Wende kamen für uns neue Möglichkeiten, um neue Projekte zu machen, neue Kooperationen einzugehen. Ein positives Beispiel war für uns damals ein für den 11. September 2001 geplantes Treffen zwischen älteren Mitgliedern türkischer Gemeinden und älteren jüdischen Menschen. Die große Frage war, ob angesichts der Auswirkungen des 11. September in New York das Treffen klappen würde, aber es sollte trotzdem stattfinden. Daraus wurde inzwischen eine lebendige Kooperation zwischen
dem jüdischen Kulturverein und dem AWO Begegnungszentrum. Die älteren Menschen konnten teilweise schlecht Deutsch sprechen, aber wir werden weiterhin regelmäßig zu Treffen eingeladen und die älteren Türken gehen dorthin. Es finden nicht immer die großen Gespräche statt, aber man hat nach wie vor Interesse aneinander. Das ist ein Beispiel für die Erweiterung unserer Gemeinwesenarbeit, die auch dadurch möglich wurde, dass die Strukturen nach der Wende aufgebrochen wurden. Reinhilde Godulla: Hast du Erfahrungen mit Einrichtungen im Ostteil der Stadt? Oder Diskussionen geführt? Ihr wart ja ganz dicht an der Grenze. Ben Eberle: Wir haben mehrere Kooperationen mit einer großen Einrichtung in Pankow, aber da geht es nicht um die Grundsätze der Gemeinwesenarbeit, sondern immer um die Schnittstellen Integration, Begegnung, Leute kennen lernen, Bürgergesellschaft. Da finden wir immer wieder sehr gute Kooperationspartner, die Möglichkeiten sind unbegrenzt, das ist immer eine Frage der Bereitschaft und der Beteiligung von Bürgern. Peter Stawenow: Ich kann das aus eigenem Erleben nur bestätigen. 1991 und 1992 gab es eine Phase, in der die traditionellen Nachbarschaftseinrichtungen nachdenken mussten, wie diese neuen Entwicklungen genutzt werden könnten. Wir haben durch unsere Fragestellungen und unsere Neugier das Nachdenken über sich selbst mit angeregt. Ein Beispiel dazu: Ein türkisches Mädchen aus dem Wedding und ein deutscher Junge aus Mitte haben gemeinsam mit einer Nachhilfelehrerin, die 70 Jahre alt war, die deutsche Sprache und Rechnen geübt. Da hat man sehr schnell gemerkt, dass die Menschen alle dieselben Probleme haben, egal, ob aus Ost oder West, auch was Arbeitslosigkeit und andere Dinge betrifft. Wenn man sich begegnet und darüber spricht, kann man Vorurteile und die geistige Mauer in den Köpfen abbauen. Die Politik hat das damals noch gar nicht verstanden. Wenn Stadträte oder der Bürgermeister in unsere Einrichtung kamen, fragten sie, was wir eigentlich machen. Was zusammen gehört ...
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Da sagt man: hier ist Kinderarbeit, Jugendarbeit, das ist Seniorenarbeit, das ist Gesundheit und das Soziales. Da habe ich dem damaligen Sozialstadtrat, jetzt Bürgermeister von Mitte, gesagt: Sagen Sie mir doch, was das ist, wenn ein türkisches Mädchen und ein deutscher Junge mit einer älteren Frau Mathe-Nachhilfeunterricht machen? Ist das generationsübergreifende Arbeit? Ist das Ost-West-Integration? Ist das Ausländer-Integration? Ist das Gruppenarbeit? Ist das Einzelfallhilfe? Ist das Selbsthilfe? Ich habe einfach ein paar Fragen gestellt, um das Nachdenken über die Antworten anzuregen. Das waren gute Gespräche, die wir miteinander hatten. Das sind auch Dinge, die den Entwicklungsprozess auf beiden Seiten beeinflusst haben. Durch diese gesellschaftlichen Veränderungen haben sich türkische Mitbürger aus Westberlin zurückgesetzt gefühlt, so nach dem Motto, jetzt kommen die Ostdeutschen als „Ausländer“ 1. Klasse, und das hat Empfindlichkeiten ausgelöst.
Arbeitskreis Selbsthilfe/Ehrenamtlichkeit für die neuen Bundesländer aufgebaut. Wir haben uns ganz stark vom Paritätischen aus bemüht, die Gemeinschaft zwischen Ost und West herzustellen. Gerade auch für ältere Menschen gilt, dass sie nicht genügend in der Gesellschaft repräsentiert sind. Sie haben nicht den Stellenwert, den ich mir wünsche. Wir sind ganz stark auf Selbsthilfe und Ehrenamtlichkeit angewiesen. Wir hatten Seniorenfreizeitstätten vor 25 Jahren in Berlin aufgebaut, jetzt schlafen diese Freizeitstätten so langsam ein, ohne dass dies groß bekannt wurde. In einigen Bezirken gibt es noch welche, in einigen gibt es sie kaum oder gar nicht mehr. Das ist etwas, was wir Älteren sehr stark kritisieren. Ich habe inzwischen, nach 40 Jahren verantwortlicher ehrenamtlicher Tätigkeit, viele Kämpfe durchgestanden, wie z.B. auch den Kampf um unser Haus, wofür wir belächelt wurden, weil so was ja gar nicht mit voller Ehrenamtlichkeit funktionieren kann – und es funktioniert doch.
TN: Was war denn das Selbstverständnis der neuen Initiativen, mit dem ihr angetreten seid? Und was war das Selbstverständnis der „alten Hasen“, auf die ihr damals getroffen seid? Wie hat sich das gegenseitig beeinflusst? Welche Werte sind diskutiert worden? Und was ist seit damals passiert, das ist ja 20 Jahre her?
Gisela Hübner: Der Titeltext dieser Arbeitsgruppe ist schön, „jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“. In einer anderen Runde sagte ich schon, ich denke, die Wendezeiten waren für die westlichen Leute noch mal eine neue Herausforderung. Wie funktionierten die neuen Einrichtungen? Beratung, Unterstützung und Kontakte gab es, ausgestattet waren sie zunächst mit ABM-Kräften und – bis auf einige wenige - überhaupt nicht abgesichert. Tatsächlich kam es darauf an, dass die Menschen Gemeinschaftseinrichtungen, die in DDR-Zeiten unter fragwürdigen Vorzeichen existiert haben, irgendwie in die neue Zeit hinein nehmen und mit neuen Inhalten und Werten ausstatten konnten. Und dann passierte es, dass sich dort sehr viele Menschen ehrenamtlich und freiwillig beteiligt haben. Die Debatte zwischen den Professionellen, also den Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, Erziehern, darüber, was ehrenamtliche Einbindung in unsere Arbeit bringen konnte, war damals noch am Anfang. Das war aber ein Punkt, der lange Zeit heiß umstritten blieb. Ich höre immer noch Georg Zinner sagen, wenn die Mitarbeiter nicht dahinter stehen, wird es mit der ehrenamtlichen
Käthe Tresenreuter: Ich bin die Gründerin und Vorsitzende des Sozialwerks Berlin. Wir haben das damals alle erlebt. Herr Zinner war damals ja der Vorsitzende vom Paritätischen, ich war seine Stellvertreterin. Wir haben damals sehr gut zusammengearbeitet. Manchmal gab es verschiedene Meinungen, Herr Zinner war eben Hauptamtlicher, ich war ehrenamtlich. Ich habe selber die Fachgruppe Ältere Menschen gegründet, die heute 36 Jahre alt ist. Ich habe sofort dafür plädiert, dass die Senioreneinrichtungen aus dem Osten in den Paritätischen aufgenommen werden. Das war nicht so ganz einfach, weil nicht alle dafür waren. Sie haben auch gleich Seminare für den östlichen Teil der Stadt und die Umgebung eingeführt. Da waren sehr viele, die wir später begleitet haben. Wir haben einen
Arbeit nichts. Die Mitarbeiter müssen davon überzeugt sein, dass das einen Wert hat, dass ihnen nichts weggenommen wird, dass das also eine Bereicherung ist. Dass an diesem Punkt bei uns langsam eine Bewegung in Gang kam, hatte wirklich was damit zu tun, dass man plötzlich merkte, wie erfolgreich das ehrenamtliche Element war und wie lebendig, was da neben uns entstand. Es war manchmal mühsam, seine MitarbeiterInnen und Kollegen dazu zu bringen, das auch zu sehen und da in neue Bewegung zu kommen. Diese Erweitung der Arbeit, die Übernahme von neuen Aufgaben, war ja auch in den westlichen Einrichtungen in dieser Zeit mit Lernen und neuem Denken verbunden. Auf einander zuzugehen war für mich immer leicht, weil ich das Unterschiedliche von Ansätzen auch respektieren und anerkennen konnte. Ich habe auch in diesem Sinne geworben für die Arbeit. Das hat bei uns sehr viel ausgemacht.
unsere Multiplikatoren gegenüber der Politik, die besten Fürsprecher. Aber darum geht es ja nicht nur, sondern um ihre gesellschaftliche Teilhabe, um die Erhaltung ihrer
Georg Zinner: Ich will noch einmal auf Frau Tresenreuter zurückkommen und auf dieses Selbstverständnis. Was Frau Tresenreuter geleistet hat, war, dass sie in einer Gruppe von Ehrenamtlichen mit ihrem unbändigen Willen dafür gekämpft hat, dass man einen Treffpunkt schaffen kann, unabhängig von finanzieller Förderung, aus der Kraft der Ehrenamtlichkeit, aus der Idee heraus. Das haben wir im Wohlfahrtswesen der 80er Jahre ganz entschieden abgelehnt. Wir wollten eine ordentlich finanzierte Projektförderung vom Senat, wir fühlten uns sozusagen nur als eine Unterabteilung vom Senat und wollten die sichere Staatsknete haben. Eigentlich ist ja alle Sozialarbeit irgendwann mal in Bürger-Initiativen entstanden, so dass ich glaube, dass nicht wir die Treibenden sind, sondern die Initiativen kommen immer von den Bürgern, von den Ehrenamtlichen, da, wo was nicht stimmig ist, da melden sie sich zu Wort. Es ist unsere Aufgabe, das aufzugreifen und aufzunehmen, die Struktur bereitzustellen, damit sich das etablieren kann. Ich bin davon überzeugt, dass beides zusammen das Ideale ist, die professionelle Kompetenz in Verbindung mit dem bürgerschaftlichen Engagement macht uns eigentlich unschlagbar und etabliert uns fest. Die Ehrenamtlichen sind unsere besten Vertreter in der Öffentlichkeit,
energiegeladenen Ansprüche an die Gesellschaft. Die Werte damals liefen teilweise darauf hinaus, dass wir ausreichend finanziert sein wollten, um normal arbeiten zu können und sichere Stellen zu haben – und das reichte uns eigentlich. Es gab einige wenige, die darüber hinaus gedacht haben. Erst später entstanden Initiativen zu einer Veränderung, das Geschäft finanziell unabhängig zu machen und zu etablieren. Diese Unabhängigkeit habe ich auch auf anderen Ebenen versucht für unsere Einrichtung zu schaffen, daran habe ich über Jahre gearbeitet und bin stolz darauf, dass wir das heute sind. Man könnte uns heute alle Zuwendungen streichen, das Nachbarschaftsheim würde weiter existieren. Diese Fähigkeit erwirbt man sich nur über eine breite Verankerung durch ehrenamtliches Engagement. Unabhängigkeit ist in meinen Augen für uns sehr wichtig, das ist ein sehr wichtiges Gut. Damit kann man Sachen initiieren und machen, die man sonst nicht machen könnte. Reinhilde Godulla: Frage an Evelyn: Ihr habt auch nach der Wende aufgebaut, wie war das? Wie habt ihr Ideen aufgegriffen und eigene Ideen eingebracht?
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Evelyn Ulrich: Wir hatten natürlich einerseits den Vorteil, dass unsere damalige Geschäftsführerin in der Gründungsphase sofort geguckt hat, was kann ich wo lernen. 1991 hat sich der Verein gegründet, ab September haben wir die ersten Mitarbeiter eingestellt. Sie hatte ein Studium für Sozialmanagement angefangen und hat sich dadurch eine Menge an theoretischem Wissen angeeignet, was man auch braucht, um standfest zu sein. Das war auch die Phase, wo jeder davon geträumt hat, dass man wirklich alles, was an Möglichkeiten da ist, nutzen kann, sowohl aus dem Ostteil als auch aus dem Westteil. Also dass man Dinge, die man für würdig hielt, behalten kann, und Dinge, die man aus dem anderen Teil toll fand, dass man das irgendwie zusammenstecken kann. Das ist dann irgendwann doch ein Stück verloren gegangen. Was es Gutes auf der Ostseite gab, das wurde ja erst mal wirklich alles zerkloppt. Da muss ich den Leuten aus der DDR erst mal ein großes Kompliment machen, denn sich von einem Tag auf den anderen auf eine total neue Gesellschaft einzustellen, das will ja erst mal gemacht sein. Aber trotzdem war es ja so, dass man das Neue wollte. Eigentlich war in der DDR für mich gesellschaftliches Engagement eine Selbstverständlichkeit. Natürlich war das auch politisch geprägt, aber schon als Kinder in der Schule haben wir selber die Nachhilfe organisiert. Wir haben immer geguckt, ob der andere in der Schule mitkommt oder nicht. Das war auch dann in der Jugendorganisation so, dass man nicht nur den Blick auf die Kleinen hatte, sondern immer auch darüber hinaus, wie geht es dem anderen, wie kann man den mitnehmen. Zumindest in der sozialen Arbeit war das immer so, schon zu DDRZeiten. Aber das wurde eigentlich dann nach der Wende erst mal alles zurückgefahren. Wir haben uns glücklicherweise an dem Projekt für bürgerschaftliches Engagement, das Birgit Weber initiiert hat, beteiligt. Das war 1995, wo wir sehr viele Leute befragt haben, was sie von bürgerschaftlichem Engagement heute halten. Wir haben über 100 Leute befragt, die uns bestätigt haben, dass bürgerschaftliches Engagement in der DDR total normal war, obwohl sie es nicht als solches empfunden haben, sondern sie haben es einfach gemacht. Heute sehen sie es eher als schwierig an sich
zu engagieren, weil sie nicht das Gefühl haben, dass ihr Engagement wirklich gesellschaftlich gewollt ist, weil es immer als Konkurrenz von anderen Institutionen empfunden wird. Wir haben aber glücklicherweise die Erfahrung gemacht, auch in unserem Verein, dass sich Leute von Anfang an gefunden haben, die diesen Verein mit begleitet haben, weil der sonst heute nicht mehr existent wäre. Es gab immer Menschen, die den Verein als Mitglieder unterstützen wollten, natürlich auch als ehrenamtliche Begleiter. Das ist ein spannendes Feld, wie man sich neu sortiert und auf eine völlig andere Art engagiert. Ehrenamt hat für mich inzwischen ein völlig anderes Gewicht bekommen. Reinhilde Godulla: Aber wie war das zu Beginn, gab es eine Neugierde zu schauen, wie die Nachbarschaftsheime im Westteil der Stadt sind? Habt ihr Kontakt aufgenommen? Seid ihr dort hingegangen? Evelyn Ulrich: Ja. Wir haben uns in der Wendezeit sehr viel angeguckt. Sehr schön war auch das Hospitationsprojekt, als ich 14 Tage im Nachbarschaftshaus in Bremen sein konnte und alle Facetten da miterlebt habe. Eigentlich wollte ich im Nachbarschaftshaus schlafen, aber die Wohnung wurde gerade renoviert. Dann hat ein Kollege gesagt: du kommst einfach mit zu mir. Dann haben wir im Ehebett geschlafen – deutsche Einheit bzw. Wiedervereinigung mal anders. Das hat noch mal deutlich gemacht, dass die Neugier aufeinander sehr groß war, dass das Lernen voneinander wirklich gewollt war. Man ist immer mit offenen Armen empfangen worden, alle haben mir erzählt, wie gut sie mit einander reden konnten, was die alles wussten, was wir auch wissen sollten. Und sie waren auch an unserer Geschichte interessiert: wo kommst du her, warum bist du gerade jetzt auf der Suche nach Nachbarschaftsarbeit? Diese Zeit habe ich sehr genossen, auch die Anregung und Inspiration für meine Arbeit. Gisela Hübner: Ist diese Offenheit, dieses Aufeinanderzugehen, Unterschiede zu würdigen, die Öffnung nach außen usw., wirklich ein besonderes Merkmal der Nachbarschaftsheime?
Evelyn Ulrich: Ich muss eindeutig sagen – ja, weil diese offenen Arme habe ich nicht überall in der Gesellschaft gefunden, aber dort in den Nachbarschaftseinrichtungen sehr wohl. TN: Als Kind war ich Mitglied im Club der internationalen Freundschaft, da haben wir selber Treffs mit ausländischen Kindern organisiert, ein bisschen Englisch gesprochen, also echt Kontakt gekriegt, das war ganz normal. In der Schule hast du dich engagiert, Schüler haben Nachhilfe gemacht. Während des Studiums war ich Übungsleiter für Leichtathletik, es gehörte einfach dazu und man wollte es auch. Es hat mir keiner gesagt, du musst das machen, sondern man wollte nicht bloß studieren, sondern sich irgendwo am Leben beteiligen. Oder dann in der Hausgemeinschaft, ich wohnte in Berlin in einem Haus mit 36 Familien bzw. Mietparteien. Da haben wir gemeinsam die Grünanlagen gepflegt, die eine hat Suppe gekocht, der nächste Salat gemacht, Kinderfest haben wir gefeiert, Weihnachten bzw. Nikolaus gab es Geschenke. Es gab eine Entsorgungsaktion für Altpapier, dafür gab es auch Geld. Das waren ganz normale Aktivitäten und ein Teil des Normalen. Das wurde von vielen Menschen nach der Wende einfach weitergemacht. Was für mich leider eine Enttäuschung war, dass ein Teil der Menschen sich zunehmend aufgegeben hat, also auch Leute, die vorher sehr aktiv waren. Ich arbeite jetzt im Nachbarschaftsheim Bürger für Bürger in Mitte seit über sieben Jahren. Wir haben zunehmend auch Leute aus dem Wedding, die sich ehrenamtlich engagieren, aber es gab irgendwo bei einem Teil unserer Bürger einen Bruch, zum Teil auch altersbedingt, zum Teil aus Resignation. Man muss bei manchen Menschen erst mal das Interesse für ehrenamtliche Arbeit wieder wecken. Ich habe auch mal im Nachbarschaftshaus Am Berl in Hohenschönhausen gearbeitet, danach in Mitte. Die Bevölkerung ist überall anders, also es gibt unterschiedliche Bedingungen, es gibt verschiedene Anforderungen, bei den Besuchern gibt es Niveau-Unterschiede. In der Nachhilfearbeit ist es inzwischen so, dass wir in der Woche ca. 50 Schüler haben, damals waren es sechs bis acht. Mehr als diese 50 verkraften wir auch nicht. Inzwi-
schen kommen 95 % der Schüler mit Migrationshintergrund. Insofern haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Reinhilde Godulla: Ich würde gerne noch mal auf die Neugierde aufeinander kommen, wie man voneinander gelernt hat, das Annehmen von Ehrenamtlichkeit.
Hella Pergande: Wir haben nicht da weitergemacht, wo wir was hatten, sondern wir haben geguckt, was gibt es Gutes. Also diese Herzenswärme, Herzlichkeit, Offenheit, Wissbegierde, daraus wollten wir was machen. Aber mit Demokratie haben wir Ossis keine Erfahrung gehabt, wir hatten keine Demokratie, aber gerade deshalb und umso mehr eine genaue Vorstellung davon,. Das wollten wir einsetzen und es dann demokratisch machen. Wir waren keine ausgebildeten Sozialarbeiter, wir waren unter uns, die Ehrenamtlichen hatten den gleichen Stand wie wir, bloß dass wir eben immer ein bisschen Geld für unsere Tätigkeit gekriegt haben, aber es war eine Gleichwertigkeit. Ich glaube, das war gut an unserem Start. Wir haben zusammen gelernt, wir haben gemeinsam die anderen Einrichtungen angeschaut, Ehrenamtliche und Hauptamtliche. Wir wollten alle etwas wissen und lernen, das war einfach wunderbar. Man ist einfach losgezogen und hat sich viel erzählen lassen. Was zusammen gehört ...
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Aber man war natürlich auch misstrauisch, oh, Gott, ein Verband schon wieder, da hat man sich sein Leben lang um FDJ und so gedrückt, jetzt kommen die Verbände mit irgendwelchen Satzungen und Statuten. Was wir an Nachbarschaftshäusern gesehen haben, das hat uns gefallen: so leben wir, wir leben hier in der Nachbarschaft, mit Nachbarn, egal, wer sie sind, was sie sind, und wir machen mit denen was gemeinsam, das war wichtig. Aber in manchen Häusern waren wir auch total schockiert über die Üppigkeit der Ausstattung, die uns schon in der Eingangshalle entgegenschlug. Da dachten wir: so was erreichen wir nie.
Gisela Hübner: Bei den Besuchen, die stattfanden, waren die Gespräche zwischen uns immer sehr gut. Aber einmal hörte ich im Anschluss eine Bemerkung in dieser Richtung: die schwimmen hier im Geld - und wir haben noch nicht mal Klopapier. Hella Pergande: Das finde ich interessant, wie war das denn für euch nachher, als das Geld geteilt werden musste? Wir kommen einmal zu Besuch und dann sollt ihr schon von eurem „Spielzeug“ abgeben. Ich kenne noch die Diskussionen, in denen man im Westen sagte: ach, jetzt sind wir auch noch die Putzfrau los. Ich fragte dann: Welche Putzfrau? Wir haben selber saubergemacht.
TN: Ich war von Anfang an mit dabei, als die Nachbarschafts- und Begegnungsstätte Club Spittelkolonnaden gegründet worden ist. Ich war in einem ABM-Projekt, das damit anfing, sich erst mal zu informieren. Ich hatte keine Ahnung von Sozialarbeit, wir kamen alle beruflich aus völlig unterschiedlichen Richtungen und waren da zusammengewürfelt, einem Verein angeschlossen, den es jetzt nicht mehr gibt. Wir haben in der Leipziger Straße in Mitte geguckt, weil da viele Leute von der Wende betroffen waren, im negativen Sinne. Also Wissenschaftler und Künstler, die Leute, die in den Ministerien gearbeitet haben, sie waren alle weg vom Fenster und ohne Arbeit. Unsere Aufgabe war, eine Möglichkeit zu finden, den Leuten dort irgendwo eine Heimstatt zu geben, damit sie sich erst mal treffen konnten, aber auch an ihre Bereitschaft anzuknüpfen, ein Ehrenamt zu übernehmen, um dort etwas entstehen zu lassen, was vielleicht auch für die Bevölkerung im weiteren Sinne von Nutzen ist. Wir haben dort relativ schnell 29 Interessengemeinschaften ins Leben gerufen. Wir haben ihnen erst mal nur Räume zur Verfügung gestellt, was ja auch wichtig war. Direkt vor Ort gab es wenig Möglichkeiten, sich anders zu orientieren. Nach und nach ist dazugekommen, dass man eigene Möglichkeiten für sich erschlossen hat. Wir waren jetzt nicht der Verein, der sich eine Satzung gegeben und sich das auf die Fahne geschrieben hat, sondern wir haben einfach soziales Engagement gemacht, mit den Bürgern, die dort gewohnt haben. Wir haben für ihre Interessen etwas geboten, sie zusammengeführt. Jetzt haben wir das Stadtteilaktiv gegründet, was eigentlich auf den Anfang zurückzuführen ist. Die, die sich damals aus dem Wohngebiet schon aktiv mit eingebracht haben, für andere eine Heimstatt zu sein, die sind zum Teil heute in diesem Stadtteilaktiv, das für die Oma von nebenan, für den Opa auch da ist und ihre Probleme aufgreift. Mit der Zeit sammelt man Erfahrungen, indem man mit anderen ins Gespräch gekommen ist und viel Austausch hatte. Mit Elke haben wir viel gemacht, weil wir auch auf der Suche waren, wie man so etwas machen kann, auch wenn man keine soziale Ausbildung hat. Ich habe zwar einen normalen Menschenverstand und Gefühl, ich kann danach auch urteilen, aber wichtig
war ja die Handhabung, wie man das macht, damit es auch effizient ist. Ich denke, da haben wir schon einen ganz großen Schritt nach vorne getan. Seit 2000 ist das Sozialwerk des DFB unser Träger und gemeinsam haben wir dort sehr, sehr viel erreichen können. Also ich muss sagen, auf der Grundlage dessen, was bei uns vorhanden ist, also zwei Räume, und das dann zu verbinden mit den vielen unterschiedlichen Aktivitäten, die sich herausgebildet und den Wünschen nach Betätigung entsprochen haben, ob das die Sprachkurse für unsere Senioren sind, die ohne Ende genutzt werden, da könnte ich immer wieder noch anbauen, überhaupt kein Problem. Aber dass wir jetzt ganz kleine und junge Menschen zu uns haben ziehen können, ist eine Bereicherung, wo wir immer wieder neu zufassen. Also diese Foren jetzt hier sind für mich so ein Grund, wo ich vieles höre und überlege, was ich für uns davon mitnehmen kann. Das finde ich ganz toll. TN: Ich möchte noch mal bekräftigen, wie toll unser Ansatz ist, also dass das, womit wir als Nachbarschaftshaus arbeiten, also unsere Werte, unsere Haltungen und unsere Methoden so etwas von zeitgemäß und fortschrittlich sind. Wir haben uns vor 20 Jahren als Bürger-Initiative gegründet, der Moabiter Ratschlag: Stadterneuerung, Bürgerbeteiligung, es ging um Gemeinwesenarbeit. Wir haben Mitte der 90er Jahre angefangen, eigene Projekte zu machen. Vorher waren wir ein Dachverband und haben dann angefangen zu gucken, welche Ressourcen und Potenziale es in Moabit gibt. Wir haben ganz viel entdeckt, wo man anknüpfen und etwas aufbauen kann, und zwar mit Menschen, die irgendwo aktiv sind. Daraus sind Projekte entstanden, aber auch Einrichtungen. Es haben Menschen aus unterschiedlichen Berufen mitgemacht, die aber das Engagement verbunden hat und der Wille, in Moabit etwas zu bewegen. Was wir dann noch brauchten, das waren eben sozialarbeiterische Methoden, die haben wir uns noch geholt und dann auch Einrichtungen gegründet. Ich bin der Meinung, dass die zum Teil sehr erfolgreich sind, weil wir nicht den rein sozialarbeiterischen Ansatz verfolgen, sondern das Ganze, wie man eben in der Nachbarschaftsarbeit so arbeitet. Die Verbindung dessen zu
finden, das ist ein Wahnsinnserfolg. Und Sozialraumorientierung …, das machen wir längst, wir sind wirklich hier mit die Spitze der Bewegung, und das ist ein Ansatz, der sich bestätigt hat, denn die anderen kommen langsam nach und versuchen auch, sich in diese Richtung zu entwickeln. Reinhilde Godulla: Dann seid ihr praktisch auch aus der Nachwende? TN: Ja, ja, aber wir haben uns nicht so eingeordnet. Heute mit unseren 20 Jahren sind wir ein Baustein aus der anderen Richtung. TN: Ihr habt das einfach gemacht. TN: Ich möchte noch andere Generationen von Gründungs-Initiativen erwähnen. Ich habe in Berlin Nachbarschaftsarbeit in der Prinzenallee angefangen. Nach ein paar Jahren habe ich das Nachbarschaftshaus Prinzenallee geleitet. Das hatte seinen Ursprung in der Hausbesetzerbewegung, die gerade in Berlin auch für die Nachbarschaftshäuser eine wichtige Bewegung gewesen war. Durch die Hausbesetzerbewegung wurden viele Impulse gesetzt und in die Stadtteile getragen wie z.B. das Thema Demokratie – oder wie sollen wir uns im Stadtteil organisieren. Beim Nachbarschaftshaus Prinzenallee und bei der Fabrik Osloer Str., das sind die beiden aus der Zeit, die ich am besten kenne, war das zentrale Thema Basisdemokratie und in diesem Zusammenhang Räume, Strukturen und Personen zur Verfügung stellen, die die Leute im Stadtteil darin unterstützen, zu befähigen und zu ermuntern, sich selbst zu organisieren, für ihre Interessen zu streiten und einzutreten. Das lief damals nicht unter dem Schlagwort „bürgerschaftliches Engagement“, aber es ging auch hier darum, sich für den Stadtteil zu engagieren, was ja ein ganz klassisches bürgerschaftliches oder zivilgesellschaftliches Engagement ist. Ich leite jetzt das Nachbarschaftshaus Pfefferberg, eine klassische Gründungs-Initiative der Nachwendezeit. Ich hatte damals von der Prinzenallee aus schon viel mit dem Pfefferwerk zu tun, auch mit dem Was zusammen gehört ...
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Workshop Gründungs-Impulse
Nachbarschaftshaus. Ende der 90er Jahre haben wir eine ganz große Nähe genau an diesem Punkt Basisdemokratie wieder gefunden, Organisierung im Stadtteil, und ein
politisches Selbstverständnis von Nachbarschaftsarbeit. Das ist für uns immer noch sehr wichtig und ein tragendes Element, dass wir an vielen Punkten sagen, wir wollen nicht einfach nur Ehrenamt fördern, sondern wir wollen das zivilgesellschaftliche Engagement fördern. Uns ist das nach wie vor eine zentrale Aufgabe, dass wir eine Infrastruktur sind, die wir zur Verfügung stellen, und in der wir Menschen dazu ermutigen und Ressourcen zur Verfügung stellen, dass sie für ihre eigenen Belange eintreten. Ich kann das längst nicht für alle in dieser Gründungs-Initiative zur Wendezeit sagen, für den Moabiter Ratschlag könnte ich es sagen, weil ich die auch noch ein bisschen näher kenne, für das Pfefferwerk kann ich das sagen, bei dir habe ich es rausgehört, das Schlagwort Demokratie, da habe ich mich schon gefreut, dass das mal endlich jemand sagt. Das war doch ein zentrales Thema und sollte es doch immer noch sein. Georg Zinner: Das ist schon ein sehr wichtiger Punkt. Es kommt darauf an, die Einrichtungen den Bürgern zurück zu geben. Die soziale Arbeit fängt eigentlich immer ehrenamtlich, bürgerschaftlich, zivilgesellschaftlich an. Es gibt einen Mangel, daran entzündet sich Engagement. Dann
wird es irgendwann institutionalisiert. Etwas anders war es nach dem zweiten Weltkrieg, als die Amerikaner die Initiative ergriffen, Nachbarschaftsheime zu gründen, weil sie den Deutschen die Demokratie bringen wollten. Allerdings haben sich die Nachbarschaftsheime damals erst einmal auf die Hilfe bei der dringendsten Not konzentriert. Die Leute brauchten etwas zu essen, sie brauchten Wärme und Kleidung. Aber später haben sie sich natürlich mit den anderen Fragen auch auseinandergesetzt. Zur Krise der Nachbarschaftsheime kam es, als sie nicht mehr ausreichend wahrgenommen haben, was um sie herum an demokratischen Bestrebungen entstanden ist. Überall in der Gesellschaft gärte es, Bürger-Initiativen schossen aus dem Boden. Die Neuorientierung ging dann im Kern darum, sich diesen Impulsen zu öffnen. Das ist weitgehend gelungen und wir konnten eine unserer Hauptstärken entwickeln, die darin besteht, dass Bürger, die sich engagieren, bei uns eine unterstützende Infrastruktur zur Verfügung gestellt bekommen und nach ihrer eigenen Facon selig werden können. Das Nachbarschaftsheim kann durchaus eigene Impulse setzen, aber den Bürgern wird nichts vorgeschrieben. Ich möchte noch etwas sagen zu der Kombination zwischen Ost und West und zwischen neuen und alten Einrichtungen, warum die funktioniert hat. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir uns als Nachbarschaftsheim immer auch beschränkt haben auf unseren Einzugsbereich. Deswegen waren wir keine Konkurrenten. Wir mussten keine Einrichtungen im Ostteil der Stadt und im Umland gründen. In dieser Frage gab es Differenzen innerhalb der Wohlfahrtsverbände. Der Paritätische, dessen Vorsitzender ich damals war, hat aber eine klare Haltung eingenommen. Wir wollten dem Osten nichts überstülpen, sondern ermuntern und befähigen. Für die Nachbarschaftshäuser war das auch ganz klar. Das wäre ja auch ein Widerspruch zu all unseren Grundideen gewesen und hätte niemals funktionieren können, wenn wir z.B. ein Nachbarschaftshaus in Köpenick gegründet hätten ... Von daher war es eigentlich relativ einfach und unkompliziert. Wir waren daran interessiert, dass neue Nachbarschaftseinrichtungen im Ostteil der Stadt entstanden, weil wir
davon überzeugt waren, dass wir dadurch an sozialpolitischer Bedeutung gewinnen würden. Das war nicht immer so gewesen, im Verband für sozial-kulturelle Arbeit hatte es in den vorausgegangenen Jahren auch die Haltung gegeben, sich für neue Initiativen zu verschließen, weil man fürchtete, die Fördertöpfe, die zu dieser Zeit unter sieben Einrichtungen aufgeteilt wurden, mit weiteren Häusern teilen zu müssen. Da hatte es bittere Debatten gegeben, aber als es zur Wende kam, hatten sich bei uns schon die Position durchgesetzt, dass wir von einer Öffnung nur gewinnen könnten. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon eine ganze Reihe neuer Nachbarschaftsprojekte aus dem Westen in unseren Verband aufgenommen. Reinhilde Godulla: War in dieser Hinsicht die Wende auch ein Gewinn für den Verband, für die Nachbarschaftsheime? Ben Eberle: Zwei Sachen fallen auf – für mich persönlich und für meine Arbeit. Bei den KollegInnen aus dem Osten war jetzt viel die Rede von einer sehr unaufgeregten, einer selbstverständlichen Art des bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagements: sie waren einfach aktiv, es gehörte eben dazu. So nehme ich das auch sehr stark bei den Migranten wahr. Die fühlen sich nicht angesprochen, wenn die Forderung erhoben wird, dass sie sich bürgerschaftlich engagieren oder ehrenamtliche Arbeit machen sollen. Sie tun es einfach – in Moscheen, in Sportvereinen, bei der Hilfe für ihre Nachbarn, das gehört selbstverständlich dazu. Es ist manchmal schade, dass das nicht mehr wahrgenommen wird. Meine Aufgabe bei der Arbeiterwohlfahrt ist die Integration, also nicht die Stadtteilarbeit an sich, sondern die Integration. Diese Stadtteilarbeit ist ja ein normales Instrument, um diesen Gedanken der zivilen Gesellschaft oder Bürgergesellschaft voranzubringen. Aber die Aufgaben einer Zivilgesellschaft verändern sich immer. Was sind die Instrumente, die wir momentan brauchen? Was sind die Herausforderungen einer Zivilgesellschaft? Wir müssen auch immer gucken, wie wir die Leute beteiligen, die keinen so leichten Zugang dazu haben.
Ich glaube, das nimmt die Nachbarschaftsheimbewegung auch als Wert wahr, dass auch die weniger Bemittelten einen Zugang dazu haben müssen. Wie schafft man das, dass die auch die Kulturtechniken haben, die sie brauchen, um sich äußern und einbringen zu können und sich als aktiv Beteiligte an Demokratie und Zivilgesellschaft zu erfahren. Peter Stawenow: Es wurde gefragt, was sich bei uns verändert hat, was sich in den traditionellen Nachbarschaftseinrichtungen verändert, welche Veränderungen haben wir auch gemeinsam bestritten oder erreicht. Da wurden jetzt viele Beispiele gebracht. Wenn man das noch mal auf die Einrichtungen im Osten oder auf die Einrichtung, in der ich war „Bürger für Bürger“ bezieht, dann ist die erste Erkenntnis, dass die Menschen selber wissen, was für sie gut ist. Das war für mich ein Umdenkungsprozess. Nicht, dass jemand anderes ihnen sagt, was gut oder notwendig ist, sondern die Menschen bestimmen selber, was sie für notwendig erachten, ob es Nachhilfe ist oder eine Bürger-Initiative, ob sie einen Malzirkel haben wollen oder was auch immer. Sie haben das Bedürfnis und wir bieten die Rahmenbedingungen dazu. Ein weiteres Umdenken war auch, dass man Territorialgrenzen ziehen muss, also einen Einzugsbereich für eine Einrichtung, weil man nicht überall sein kann. Dann sind inhaltliche Grenzen zu ziehen, das war für mich auch ein wichtiger Lernprozess. Georg hat auch gesagt, dass es Quatsch gewesen wäre, wenn das Nachbarschaftsheim Schöneberg in Wilmersdorf oder in Pankow versucht hätte, eine Einrichtung anzupflanzen. Man muss inhaltliche Grenzen ziehen, wodurch die Angebote bei jeder Einrichtung anders aussehen, weil die Bevölkerung anders ist und sie anders mitwirkt. Die inhaltliche Begrenzung ist auch sinnvoll, weil man nicht alles machen kann, obwohl man vielleicht denkt, es wäre etwas notwendig oder wichtig. Auch die Erwartungshaltung der Bürger ist zu begrenzen und irgendwelche eigenen Ansprüche, weil man nicht die ganze Welt verändern kann. Und man muss auch persönliche Grenzen erkennen, weil man nicht sich und andere psychisch und physisch überlasten kann. Was zusammen gehört ...
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Workshop Gründungs-Impulse
Ganz wichtig war auch, an dem Konzept und am Inhalt dranzubleiben und nicht bei der Jagd nach Finanzen, weil ja jede Menge Fördertöpfe aufgemacht worden sind, den Grundgedanken zu verraten, indem man sagt, jetzt mache ich mal das, weil es Fördergeld dafür gibt. Was hat sich aus Ostsicht in den West-Einrichtungen verändert? Durch die Fragestellungen, durch die Entwicklung, die vorangegangen ist, war die Frage auch da, sich über Qualitätskriterien zu verständigen. Ich weiß noch, wie wir im Verband große Diskussionen geführt haben über Qualitätsentwicklung, „Offen für alle“, „Hilfe zur Selbsthilfe“, Verbindung von haupt- und ehrenamtlicher Arbeit, partnerschaftliches Zusammenarbeiten, generationsübergreifende Arbeit usw., das sind alles Arbeitsgrundlagen, die 1995, 1996 und 1997 in diesem gemeinsamen Entwicklungsprozess herausgearbeitet wurden.
eigenes Anliegen und selbst bestimmte Aufgaben. Aber uns herum wachsen die Aufgaben, die von anderen nicht mehr erledigt werden. Zwar ist es richtig, dass sich die Nachbarschaftseinrichtungen zu Stadtteilzentren weiterentwickeln – und dass sie Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement fördern, dass sie sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen, Jugendarbeit machen und vieles mehr. Dabei muss man aber aufpassen, dass man sich nicht unter Wert verkauft, weil das Bezirksamt oder der Senat sagt, ja wir sparen eine Jugendeinrichtung ein oder machen eine Seniorenfreizeitstätte zu. Da sparen wir Geld. Da sparen wir 5 Euro und dafür erhält das Nachbarschaftszentrum 2 Euro mehr, damit es die Arbeit mit macht. Auch auf diesem Weg der Finanzierungsmathematik kann man in Gefahr geraten, seine Grundidee aufzugeben. Diese Schlussbemerkung ist von meiner Seite auch nicht polemisch gemeint: Dadurch, dass wir uns überall umschauen konnten, hatten wir einen unglaublichen Vorteil. Wir brauchten Fehler oder Fehlentwicklungen, die Einrichtungen im Westteil oder die länger existierenden Einrichtungen gemacht haben, nicht zu wiederholen und konnten diese vermeiden. Das hat auch dazu geführt, dass wir bestimmte Entwicklungsprozesse schneller gemacht haben. Reinhilde Godulla: Sabrina, wie nimmst du das wahr, diese „alten Hasen“ im Westteil der Stadt und die frischen Initiativen im Ostteil der Stadt, du kommst ja aus BadenWürttemberg.
Aus diesen Bemühungen, die Grundidee nicht zu verraten, hat man dann überlegt, wie kann man sich finanziell unabhängiger machen, weil die Gefahr bestand, von der Georg Zinner vorhin gesprochen hat, dieser Drang nach der Sicherheit institutioneller Förderung oder reglmäßiger Förderung aus dem Staatshaushalt. Das kannten wir aus der DDR auch. Man hat vom Staat Geld bekommen, den Auftrag erfüllt und zum Jahresende das Ganze abgerechnet. Diese Gefahr bestand jetzt wieder. Auf der anderen Seite gibt es auch eine andere Gefahr. Wir haben wir ein
Sabrina Blum: Ich komme aus Biberach, zwischen Ulm und Ravensburg, also ganz aus dem Süden. Für mich sind das hier alles „alte Hasen“, weil unser Haus erst 2000 gegründet wurde. Ich weiß nicht, ob es eines gibt, was noch später gegründet wurde, aber wenn ich diese Geschichte anhöre, dann sind das hier für mich alles „alte Hasen“. Reinhilde Godulla: Ich glaube, das Haus am Lietzensee in Berlin wurde nach 2000 gegründet.
Sabrina Blum: Ich habe jetzt diese Diskussion verfolgt und auch schon gestern versucht, mich in die Situation in Berlin rein zu versetzen, weil ich auch noch sehr jung bin, also ich war 6 Jahre alt, als die Mauer gefallen ist. Ich habe eigentlich davon gar nichts mitbekommen, auch weil ich weit vom Schuss gewesen bin und im Süden nicht mitbekommen habe, wie das hier in der Hauptstadt zugegangen ist. Aber ich habe den Eindruck, dass Westberlin und Ostberlin sehr stark von der Situation profitiert haben, dass eben im Osten bürgerschaftliches Engagement sehr stark betrieben worden ist. Ich denke, dass der Westen davon einfach stark profitiert hat und dadurch sehr viele Ehrenamtliche gewinnen konnte. Wir haben dagegen eine komplett andere Situation, denn für uns ist es wahnsinnig schwer, Ehrenamtliche zu finden. Dieses Selbstverständnis ist bei uns einfach nicht vorhanden. Die Leute gehen zur Arbeit, sind froh, wenn sie zu Hause sind und nichts mehr machen müssen. Die Senioren, zumindest bei uns im Haus, sind mittlerweile zu alt geworden und können nichts mehr machen, weil es zu anstrengend ist. Unser Haus ist ja auf Initiative von Senioren gegründet worden, das waren neun oder zehn Jahre Kampf. Es ist schließlich gebaut worden, aber inzwischen sind sie wirklich zu alt, um aktiv noch etwas zu bewerkstelligen. Sie kommen immer noch zum Handarbeitstreff oder zum Begegnungscafe, aber das war’s dann auch schon, also die Situation ist eine völlige andere und ich kann leider nichts auf mich übertragen.
Jahre lang bzw. über Jahrzehnte Erfahrungen haben, wir wurden ja überhaupt nicht in diese neuen Aktionen bürgerschaftliches Engagement mit einbezogen. Wenn ich an die Eröffnung denke, da saßen neun Personen, davon waren sieben Professoren, also von der Praxis war da nix zu sehen. Ich finde das so gut, dass wir hier auch gespürt haben, wie schwer es doch für einige war, und dass wirklich viel in der ehemaligen DDR vorhanden war. Ich bin ein bisschen unbedarft hier zur Tagung gekommen. Da Herr Stawenow jetzt bei uns aktiv ist, wir planen ein neues Modell, für das er zuständig ist, bin ich sehr dankbar, dass mir klar geworden ist, dass Sie es bei dem Anfang nach der Wiedervereinigung teilweise sehr schwer hatten. Wir hatten eine ganz andere Basis hier und versuchten, wirklich die Türen zu öffnen und den Kontakt ganz bewusst herzustellen. Ich gebe zu, nur in der Arbeit für ältere Menschen. Und eins darf ich noch sagen: Bitte sehen Sie nicht nur die Ehrenamtlichkeit, sehen Sie auch die Selbsthilfe als Zukunft. Das ist genauso wichtig, da kann man mit Selbsthilfe noch mehr Menschen motivieren als teilweise mit Ehrenamtlichkeit.
TN: Mal sehen, vielleicht doch. Gisela Hübner: Sie sollten Frau Tresenreuter erst mal gleich einladen! Käthe Tresenreuter: Mich hat sehr beeindruckt, dass es doch viele Bürger-Initiativen und auch bürgerschaftliches Engagement in Ihren Reihen gegeben hat. Offiziell wurde ja das bürgerschaftliche Engagement erst vor fünf Jahren von den staatlichen Stellen „entdeckt“. Darüber habe ich mich immer ein bisschen geärgert. Ich meine, wir, die wir Was zusammen gehört ...
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Workshop
Berufs-Bilder Ausbildung begegnet Praxis
TN: Ist die Wissenschaft schneller oder langsamer als die Praxis? Stephan Wagner: Das hat schon Hegel gesagt: die Eule der Weisheit beginnt ihren Flug am Ende des Tages. Wissenschaft kann immer nur erkennen, was geschehen ist. Der Versuch, zu antizipieren, was in der Zukunft ist, funktioniert nur selten.
Input: Prof. Dr. Stephan Wagner Paritätische Bundesakademie Sarah Steiner Outreach (Karow) Moderation: Herbert Scherer Herbert Scherer: Wir besprechen heute ein wichtiges Thema. Unser Gast ist Prof. Dr. Stephan Wagner, der seit gestern neues Vorstandsmitglied unseres Verbandes ist. Stephan Wagner: Ich bin Sozialarbeiter von Beruf, den habe ich in den 70 er Jahren an einer FH gelernt, das ist die Ausbildung, die ich sozusagen mit dem Herzen gemacht habe. Ich habe dann in den 80er Jahren an der FU Soziologie studiert, weil es damals in der Sozialarbeit keine Aufstiegsmöglichkeiten in Richtung Kombination von Praxis und Wissenschaft gab, das ging nur über die Referenzwissenschaften. Das ist heute anders, da sind wir ein Stück weiter. Ich bin also Soziologe und bin in diesem Fach Professor geworden. Als Professor an Fachhochschulen machte ich die Erfahrung, dass sich deutsche Fachhochschulen in einem rasanten Tempo von der Praxis entfernen. Man nimmt nur noch die Wissenschaft wahr.
Herbert Scherer: Stephan Wagner war Professor in Jena, ist Geschäftsführer der Paritätischen Akademie. Er hat gleichzeitig in einem Kooperationsprojekt mit der staatlichen Fachhochschule für Sozialarbeit in Berlin, der Alice-Salomon-Hochschule, einen Master-Studiengang berufsbegleitend aufgebaut und dabei ein naturgemäß ein neues Verhältnis zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Wir sind eine überschaubare Gruppe, deswegen schlage ich vor, dass wir eine kleine Vorstellungsrunde machen, um festzustellen, was jeden mit dem Thema des Workshops verbindet. TN: Ich habe Stadtplanung studiert und bin über die Jugendarbeit zur Gemeinwesenarbeit und Stadtteilarbeit gekommen, mein nebenberufliches Steckenpferd ist Sozialraumorientierung. Ich arbeite in einem Projekt mit, das deren Grundsätze in den Bezirken vermittelt. Sabine Weskott: SOS-Familienzentrum Berlin/Stadtteilzentrum Hellersdorf-Nord. Beim Umzug der Alice-Salomon-Hochschule von Schöneberg nach Hellersdorf gab es viele Vorbehalte gegen das neue Umfeld. Gemeinwesenarbeit ist an der ASH leider kein Schwerpunkt, es hängt eher an einzelnen Personen, was in diesem Bereich angeboten wird. Mittlerweile öffnet sich die Hochschule immer mehr für die Arbeit im Stadtteil. Wir haben gemessen an der kurzen Entfernung vergleichsweise wenige Praktikanten von dort, aber es sind mehr geworden. Ich bin Sozialarbeiterin und bin relativ früh in die Stadtteilarbeit reingerutscht.
Herbert Scherer: Ich habe Germanistik studiert und bin nach meinem Studium in die praktische Jugendarbeit eingestiegen, weil ich plante, an einer Fachhochschule zu unterrichten. Dafür brauchte man neben einem theoretischen wissenschaftlichen Hintergrund auch praktische Erfahrung. Das Leben ist dann etwas anders gelaufen. Ich wurde Geschäftsführer eines Jugendverbandes und bin darüber vor 20 Jahren in die sozial-kulturelle Arbeit gekommen. Da bin ich dann Geschäftsführer geworden. Zwischendurch hatte ich an der Alice-Salomon-Hochschule in Schöneberg für zwei Jahre Lehraufträge und von daher Einblick in die Ausbildung dort. In den nächsten Wochen beginne ich einen Lehrauftrag an der Katholischen Hochschule. Insofern bin ich jetzt sehr neugierig auf das Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Praxis. Und auch darauf, wieder neue Studentengenerationen kennen zu lernen. Margret Staal: Ich komme von der Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren. Ich habe in den 70er Jahren einen der ersten Diplom-Pädagogik-Studiengänge absolviert mit der Aussicht, damit keinen Arbeitsplatz zu bekommen, außer an der Hochschule. Wir waren zwar hoch qualifiziert, hatten aber von Praxis keine Ahnung und für diese Berufsfelder wollte man uns nicht einstellen. Ich habe mir einen anderen Weg gesucht, ich habe dann als Sozialarbeiterin hier in Berlin in einer Kindertagesstätte gearbeitet. Dann bin ich aufs Land gegangen und habe dort ein sozio-kulturelles Zentrum mit aufgebaut, habe also in der praktischen Arbeit all das gelernt, was man braucht, um so eine Geschäftsführung und die inhaltliche Arbeit eines sozio-kulturellen Zentrums zu betreiben. Ich habe den Landesverband mit aufgebaut, bin da im Vorstand, jetzt bin ich auch viel auf Bundesebene unterwegs. Mich interessiert das Thema besonders, weil wir, die kulturpolitische Gesellschaft und die Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren, gerade auf Bundesebene Befragungen und eine Untersuchung gemacht haben: zur Wirkungsweise von Sozio-Kultur. Wie unterscheidet sich Sozio-Kultur von sozial-kulturellen Zentren? Wo überlappen sich die Bereiche? Wo gibt es Berührungspunkte oder Gemeinsamkeiten? Der Blickwinkel bezog sich auch auf
die Studiengänge in den Hochschulen. Was muss in den Studiengängen in den Hochschulen geändert werden? Kulturwissenschaft, Management, es gibt ja viele verschiedene Titel mit gleichem Inhalt oder gleiche Titel mit ähnlichen oder unterschiedlichen Inhalten, es ist ja viel passiert in dem Bereich. Was muss die Ausbildung dort beinhalten, um tatsächlich vorzubereiten für die Mitarbeit oder die Geschäftsführung in einer solchen Einrichtung? Dieter Oelschlägel: Ich habe eine andere Geschichte, die parallel läuft, also Gemeinwesenarbeit und Ausbildung. Ich war bis 2004 Hochschullehrer in Duisburg, habe in Berlin studiert, da war ich der dritte Diplom-PädagogikStudent, den es in Deutschland gab. Dann habe ich im Nachbarschaftsheim Heerstraße-Nord gearbeitet, bin dann von Berlin nach Kassel, danach an die Universität in Duisburg. Vorwiegend habe ich auch an der Universität Kassel Projektstudien gemacht, sehr stark mit dem Versuch, die Theorie mit der Praxis zu verbinden. Ich bin heute u.a. ehrenamtlich in einem Quartiersmanagement tätig. Sarah Steiner: Ich arbeite seit Juli bei Outreach in Karow und bin Berufsanfängerin. Ich habe in Holland Sozialpädagogik studiert. Ursprünglich komme ich aus Krefeld, das ist am Niederrhein, also relativ nah an der holländischen Grenze. Ich soll über mein Studium berichten, das war an der Hogeschool van Arnhem en Nijmegen in Nijmegen. Herbert Scherer: Sarah Steiner ist Impulsgeberin, weil wir hören wollen, was gerade aktuell in Holland läuft. Selda Karacay: Ich bin seit dem 1. Oktober beim Pfefferwerk Stadtkultur angestellt. Ich habe Sozialpädagogik studiert, auch in Holland, in Enschede. Ursprünglich komme ich aus Nordrhein-Westfalen. Damals habe ich in Rheine gewohnt, das liegt in der Nähe von Enschede. In Holland wird sehr praxisnah ausgebildet, also ich habe berufsbegleitend studiert, nebenbei arbeitete ich in einer Grundschule. es gibt dort einen Studiengang für Studierende aus Deutschland, der auf Deutsch läuft. Wir mussten viel aus der Theorie mit der Praxis verknüpfen. Was zusammen gehört ...
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Workshop Berufs-Bilder
TN: Ich arbeite jetzt in der Stadtentwicklung und habe in Frankfurt Soziologie und Erwachsenenbildung studiert.
Herbert Scherer: Die staatliche Anerkennung hat es dann gegeben?
Sarah Steiner: Mein Studienfach heißt übersetzt „Kulturelle Sozialpädagogik“. Das Studium hat einen sehr hohen Praxisanteil, die Schwerpunkte liegen bei der aktivierenden Arbeit mit Gruppen und im Projektmanagement. Im ersten Jahr ist ein 3-monatiges Praktikum von 24Wochenstunden vorgesehen, im zweiten Jahr ein 8-monatiges Praktikum von 8-Wochen-Stunden, das dritte Jahr findet komplett als Voll-Praktikum von 10 Monaten statt. Das Bachelor-Studium dauert insgesamt vier Jahre, der Abschluss wird in Deutschland als äquivalent zum Diplom Sozialpädagogik FH anerkannt. Das ist vielleicht interessant, dass ein holländischer Bachelor in Deutschland einem Diplom entspricht.
Selda Karacay: Ja, ja, auf jeden Fall.
Herbert Scherer: Das ist gleichgestellt? Sarah Steiner: Genau. Ich habe einen Bachelor of Social Work. Man kriegt aber zu diesem Bachelor eine Unterlage, die besagt, dass er in allen Bereichen gleichgestellt ist mit dem Diplom Sozialpädagogik FH. Das wird in Kooperation mit einem deutschen Institut in Köln, das internationale Vergleiche von Studiengängen und Studienabschlüssen anstellt, definiert. Herbert Scherer: Ist das bei Ihnen auch so? Selda Karacay: Ja, also Bachelor, das war 2005 nicht so ganz klar. Ich hatte als Diplom-Sozialpädagogin zum Beispiel in Berlin das Problem, dass ich eine staatliche Anerkennung meines in Holland gemachten Bachelor beantragen musste. Das brauchte ich aber in NordrheinWestfalen nicht, weil sie da die Schule in Holland sehr gut kennen. Jedenfalls musste ich hier zur Senatsverwaltung und die Anerkennung beantragen, was ich überhaupt nicht verstanden habe. Und ich musste nachweisen, dass sich der Unterricht über das Rechtswesen, z.B. zur Sozialgesetzgebung, auf deutsche Gesetze bezog.
Sarah Steiner: Einer der Schwerpunkte war das sozialpädagogische kreative Arbeiten: Es wurden Fächer angeboten wie Sport, Tanz und Bewegung, Drama, künstlerische Gestaltung, audiovisuelle Medien und Musik. In diesen Fächern wird man darin ausgebildet, sie mit Gruppen anzuwenden und das als Mittel der sozialpädagogischen Arbeit zu benutzen. In der ersten Zeit lernt man diese Fächer erst mal kennen. Im zweiten Jahr entscheidet man sich für zwei Fächer, im vierten Jahr hat man dann nur noch das Hauptfach. Man wird spezialisiert, aber man wird nicht als Dozent oder Tanzlehrer oder ähnlich ausgebildet, sondern wirklich um diese Fächer als Mittel anzuwenden. Der holländische Leitsatz bei diesem Studium heißt: Mit Kopf, Herz und Hand für Menschen arbeiten, auf diese Verbindungen legen die Holländer besonders großen Wert. Der andere Schwerpunkt ist das leitende Projektmanagement, dass man Organisation und Finanzierung von Projekten lernt, was von Anfang an in Teamarbeit erarbeitet wird. Teamarbeit ist auch das Thema Nummer 1 während des Studiums, in jedem Jahr muss man sich mit acht verschiedenen Gruppen auseinandersetzen. Wobei ich sagen muss, dass ich dabei sehr viel gelernt habe, also die Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Menschen, jedes Mal eine neue Rolle in einer neuen Gruppe zu finden. Ich würde sagen, das Studium ist zweigeteilt, nämlich einerseits diese anleitende und begleitende Funktion in den Fächern, andererseits das Projektmanagement und die organisatorische Seite. Das Studium ist eher im soziokulturellen Sektor angesiedelt, was bedeutet, man schaut in die Sektoren Kunst und Kultur, Tourismus, Sport, soziokulturelle Arbeit und Bildungsarbeit in der Erwachsenenbildung hinein. An diese Sektoren wird man herangeführt, dann entscheidet man sich im zweiten Jahr für einen Sektor, bei mir war das Kunst und Kultur, was dann wiederum eher zu Bildungsarbeit führt.
Die Stärken des holländischen Studiums sehe ich vor allem in dem Reflektieren und Analysieren der eigenen persönlichen Struktur und des persönlichen Werdegangs. Teilweise hat es fast schon therapeutische Aspekte, weil man gezwungen wird, immer wieder auf seine eigenen Kompetenzen zu schauen, die zu reflektieren und eine persönliche Zielsetzung nach jedem Block zu definieren. Das holländische Jahr ist in vier Blöcke eingeteilt. Nach jedem Block schaut man zurück: was habe ich erreicht, was habe ich nicht erreicht? Die Ziele werden dann in das weitere Studium mitgenommen. Stephan Wagner: Das ist ausgesprochen praktisch orientiert. Sarah Steiner: Genau. Man wird in einem Fach angeleitet, was ungefähr übersetzt „persönliche Weiterentwicklung“ heißt. Da werden die jeweiligen Ziele besprochen, es wird auch reflektiert: wie ist es in dem konkreten Fall, bist du sicher, dass du die Kompetenz erreicht hast, usw. Es wird ganz genau geschaut und auch an ganz kleinen Zielen gearbeitet. Viele Sachen werden anhand der praktischen Arbeit erklärt, die dann in der Theorie noch reflektiert werden. Es gibt eine klare Struktur, der Unterricht ist sehr verschult und findet in kleinen Gruppen statt. Diese klare Struktur nimmt man dann auch ins spätere Arbeitsleben mit, zum Beispiel, dass man bei jeder Sitzung, die man hat, wechselnd einen Protokollschreiber und einen Sitzungsleiter benennt. Insofern lernt jeder, eine Sitzung zu leiten. Ich merke jetzt, dass so etwas einen großen Wert hat. Im Nachhinein beurteile ich eine gewisse Oberflächlichkeit als schlecht. Es hat mir in Holland die inhaltliche Vertiefung von praktischen Zielen gefehlt. Es wird vieles nur angerissen, was teilweise durch die praktische Erfahrung ausgeglichen werden kann. Aber es liegt eben an einem selber, ob man bei interessanten Themen noch eigene Recherchen anstellt, um ein Thema gut zu erfassen. TN: Können Sie noch etwas zur Abschlussarbeit sagen?
Sarah Steiner: Ganz unterschiedlich, man macht viele Prüfungen – also einmal die praktischen Arbeiten in der Gruppe, die bewertet werden. Man macht Projektarbeiten, das sind einerseits fachliche Themen. Die werden an fiktiven oder auch realen Projekten erarbeitet, die man organisiert und initiiert, und die dann auch bewertet werden. Und auf der anderen Seite ganz normale, theoretische Klausuren und auch die ganz normale mündliche Prüfung. Die Abschlussarbeiten sind auch sehr unterschiedlich, sie werden auch in Gruppen gemacht. Das sind reale, praktische Fragestellungen, die von Organisationen an die Hochschule herangetragen werden und die in der Projektgruppe gelöst werden sollen. Ich habe zum Beispiel mit meiner Gruppe für eine Organisation für internationale Zusammenarbeit ein Thema in Richtung Organisa-
tionsentwicklung bearbeitet, und zwar deren Corporate Identity analysiert und dazu ein Empfehlungsschreiben entwickelt und auch ein praktisches Teambuilding entwikkelt und mit ihnen durchgeführt. Stephan Wagner: Wird das auch schriftlich niedergelegt? Sarah Steiner: Ja, das wird schriftlich beschrieben. Auf der einen Seite steht die ganze Entwicklung dieses Prozesses, mit der qualitativen Auseinandersetzung, also der qualitativen Untersuchung, mit unserer Empfehlung, plus Was zusammen gehört ...
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die praktische Durchführung des Teambuilding, was dann auch als Implementierungsansatz für die Organisation gelten sollte. Herbert Scherer: Das war jetzt schon ein Hinweis. Wurde das in holländischer Sprache geschrieben? Sarah Steiner: Ja, ich habe auf Holländisch studiert. Herbert Scherer: Sie sagten, Sie hätten einen deutschsprachigen Studiengang besucht. Selda Karacay: Mein Studium in Holland verlief anders, sehr praxisorientiert. Es gab auch viel Theorie, aber die musste man in die Praxis umsetzen. Wir haben auch sehr viel in Gruppen gearbeitet, wo wir uns mit unseren unterschiedlichen Meinungen auseinandersetzen mussten. Es gab immer eine Moderation und einen Protokollführer, immer abwechselnd. Nach jedem Modul gab es Prüfungsbogen mit Multiple Choice. Wir wurden immer überprüft. Das alles fand ja berufsbegleitend statt. Herbert Scherer: War es inhaltlich das gleiche Studium? Selda Karacay: Nein, das unterscheidet sich. Zum Beispiel Gesprächsführung hat oft stattgefunden, auch theoretisch. Ich fand immer sehr interessant, dass wir viel mit Rollenspielen gearbeitet haben, auch das Fach Drama hatten wir über drei Monate. Aber wir mussten immer dazu Arbeiten schreiben, entweder in der Gruppe oder einzeln. Die Abschlussprüfung beinhaltete, dass man eine Diplomarbeit zu viert oder fünft geschrieben hat, aber je mehr Leute, desto umfangreicher und umso mehr Seiten musste die Arbeit haben. Ich habe meine Diplomarbeit alleine geschrieben. In die Diplomarbeit fließt alles das ein, was man in den vier Jahren an theoretischem Wissen beigebracht bekommen hat. Stephan Wagner: Es gibt aber nicht wie in Nijmegen eine Praxisaufgabe, die man lösen muss?
Selda Karacay: Nein, solche Aufgaben hatten wir bereits die ganzen vier Jahre. Stephan Wagner: Ich habe mit den Leuten in Enschede gesprochen. Wenn ich die richtig verstanden habe, ist es bei ihnen im berufsbegleitenden Studium so, dass sie während des Studiums auch ganz eng mit den Arbeitsstellen zusammenarbeiten. War das bei Ihnen auch so? Selda Karacay: Um berufsbegleitend in Enschede zu studieren, muss man im sozialen Bereich ein Praktikum machen oder angestellt sein. Ich war in einer Grundschule angestellt, die in einem sozialen Brennpunkt lag. Das muss im sozialen Bereich stattfinden, damit man die Theorie von der Schule in die Praxis umsetzen kann. Ich fand das manchmal sehr schnell, wenn man ein Thema hatte, das man schriftlich und praktisch umsetzen musste. Danach gab es immer noch mal eine Reflektion. Es gab auch Studenten, die nicht reflektieren wollten. Wir hatten einen Studenten aus Münster, der hatte schon in Deutschland studiert und konnte sich praktisch nicht in unser Studiensystem integrieren. Der musste ausscheiden, weil die Holländer viel Wert auf die Reflektion legen. Herbert Scherer: Was waren Ihre Motive, zum Studium nach Holland zu gehen? Sarah Steiner: Bei mir war das Motiv ganz einfach. Ich bin mit einer Freundin zufällig an die Hochschule gegangen, weil die einen Tag der offenen Tür hatte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch gar nicht, was ich beruflich machen wollte. Ich war künstlerisch sehr engagiert und wollte gerne in dem Bereich etwas machen. Mir gefiel es dort gut und ich hatte keine bessere Idee, was ich machen wollte, also habe ich mich dafür entschieden. Das hat sich aber dann für mich auch als richtig erwiesen, also ich war da von Anfang an sehr zufrieden und es hat mir gefallen. Diese Entscheidung hatte aber keinen tieferen Sinn. Selda Karacay: Ich hatte mit einem Hauptschulabschluss meine erste Ausbildung als Kinderpflegerin gemacht. Dann habe ich lange in Kitas usw. gearbeitet. Irgendwann hörte
ich sehr viel Gutes über die Hogeschool von Enschede, dass man dort sehr praxisorientiert arbeitet. Aber ich hatte kein Abitur. Dann habe ich, was in Deutschland nicht möglich ist, dort eine Aufnahmeprüfung machen müssen. Stephan Wagner: Die Zugänge sind offener. Selda Karacay: Ja. Ich wollte noch was draufsetzen, weil mir das nicht reichte, was ich bis dahin gemacht hatte. Deshalb habe ich dann in Holland studiert. Erst plante ich, dass ich noch mein Abitur mache, hatte mich auch bei den Abendschulen angemeldet, aber dann hätte ich noch acht Jahre zusätzlich gebraucht. So dachte ich, dass ich es in Holland probiere, weil ich nichts verlieren kann, entweder ich bestehe oder nicht. Ich hatte ja sowieso meinen unbefristeten Vertrag an der Grundschule. Aber ich bestand die Aufnahmeprüfung.
Stephan Wagner: Und Sie hatten Ihren Arbeitsplatz in Deutschland? Selda Karacay: Ja. Von uns wurde verlangt, dass wir sehr viel selbstständig arbeiten, die Selbstständigkeit war das A und O. Ganz wichtig war die Gruppenarbeit und das flexible Denken, das Kooperative. TN: Wie war das zeitlich strukturiert? Selda Karacay: Einmal in der Woche waren wir Studenten dort. Und für jede Woche bekamen wir immer Aufgaben für zuhause mit, also es war schon ein bisschen stressig. Aber meine Arbeit mit den Kindern gestaltete sich dadurch sehr interessant. Wir hatten auch ein ganzes Jahr Supervision, was ich vorher in Deutschland nicht kannte, im Team zum Beispiel, oder für die Bearbeitung von Themen.
TN: In welche Richtung ging diese Prüfung? Selda Karacay: Es wurden extra Bücher vorgegeben, zum Beispiel von Hermann Hesse, die mussten wir analysieren, Inhaltsangaben machen, auch was wir daraus erkennen usw., also zu Deutsch. Die Prüfung ging sechs bis acht Stunden, ich weiß es nicht mehr, in den verschiedenen Fächern, in Politik wurde auch ein Buch vorgegeben. TN: Die Bücher wurden vorher benannt und man konnte sich darauf vorbereiten?
Stephan Wagner: Was haben Sie beide für das Studium bezahlt? Selda Karacay: Das wurde immer teurer. Im ersten Studienjahr habe ich ungefähr 800 Euro bezahlt, im zweiten Jahr waren es um die 1.000 Euro, das ging dann bis 1.250 Euro. Stephan Wagner: Also insgesamt ungefähr 4.000 Euro. Selda Karacay: Ja, in den vier Jahren.
Selda Karacay: Genau, ja. Es gab noch ein anderes Fach, wo man auch analysieren musste, also es wurde überprüft, ob man analysieren kann, ob man Zusammenhänge erkennt Herbert Scherer: Gab es in dem Studiengang viele Quereinsteiger? Selda Karacay: Ja, in meiner Klasse waren z.B. alle berufstätig, viele in der Jugendhilfe, eine hat in einer Kita gearbeitet, sie hatte eher Schwierigkeiten, wir kamen aus verschiedenen Bereichen.
Sarah Steiner: Bei mir waren es jährlich 1.500 Euro, wobei man als deutsche Studentin beantragen konnte, dass man 2/3 wieder zurückbekommt, weil das zu Zeiten war, als es in Deutschland noch keine Studiengebühren gab. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber dadurch war es so geregelt, dass die Holländer die ausländischen Studenten gefördert haben. Ich glaube, das war von der Europäischen Union so geregelt, dass alle Europäer, die in Holland studierten, diese Rückerstattung beantragen konnten. Das heißt, ich habe unter dem Strich 500 Euro im Jahr bezahlt. Diese Möglichkeit ist jetzt weggefallen. Was zusammen gehört ...
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Stephan Wagner: Es gibt inzwischen im deutschen Grenzbereich zu Enschede Landkreise, die Verträge mit der Hogeschool Enschede haben und die die komplette Ausbildung ihres Personals in Holland machen, weil sie in Deutschland mit den Fachhochschulen nicht zufrieden sind, denn es wird das bevorzugt, was die Hogeschools an Praxisbezug liefern. Da ist eine Entwicklung im Grenzbereich spürbar, wo die Holländer, obwohl sie teurer sind, den deutschen Schulen Konkurrenz machen.
dem Unterricht zu folgen. Das hat vor allem das erste Jahr sehr anstrengend gemacht, also vom ersten Block habe ich inhaltlich wenig verstanden. Das musste ich dann durch Nachlesen nacharbeiten, weil es natürlich schriftlich etwas einfacher ist, wenn man die Unterlagen vor sich hat. Dann kommt man auch relativ schnell in die Sprache rein.
TN: Haben Sie vorher schon Holländisch gekonnt?
Sarah Steiner: Ja. Viele deutsche Studenten gehen auch deshalb nach Holland, weil es dort an der Hogeschool keinen Numerus Clausus gibt. Das Studium der Sozialpädagogik wurde damals auch schon in Teilzeit angeboten, wir hatten noch Vollzeit. Das Studium, was ich gemacht habe, also die „Kulturelle Sozialpädagogik“, wird mittlerweile auch in Teilzeit auf Deutsch angeboten. Das war damals noch nicht so. Ich fand es auch sehr spannend, über diesen Weg noch eine andere Sprache zu lernen, insofern hat mich das nicht abgeschreckt. Ich dachte mir, so schwierig kann es nicht sein. Dann fand ich die Sprache zwar nicht so einfach wie ich dachte, aber es hat ja irgendwie gepasst.
Sarah Steiner: Nein, ich musste das lernen. Ich bin zwar grenznah aufgewachsen, aber ich hatte nie Bezüge nach Holland. Es gibt eine Firma, die praktisch die Monopolstellung hat zum Erlernen des Holländischen. Dort muss man einen Test absolvieren, woraufhin man eingestuft wird, ob man zwei, vier oder sechs Wochen Holländisch lernen muss. Bei mir waren es sechs Wochen, ich konnte kein Wort. Ich fand auch Holländisch nie einfach. Viele sagen, die Sprache erinnert an das Deutsche, aber für mich war das völlig Chinesisch. Bei dem Test habe ich überall a) angekreuzt, weil ich nichts verstanden habe. Dann absolviert man eben diesen 6-Wochen-Kurs, was bedeutete, dass ich fünf Tage in der Woche von 8 bis 16 Uhr Unterricht hatte. Am Ende hat man fünf verschiedene Prüfungen, schriftlich, mündlich, man wird im Hören geprüft, also es wird eine Kassette abgespielt und dazu muss man Fragen beantworten. Herbert Scherer: Haben Sie während des Studiums in Holland gewohnt? Sarah Steiner: Ich habe erst in einem Dorf auf deutscher Seite gewohnt, weil ich damals in Nijmegen nichts gefunden habe. Es ist dort teuer und ganz schwierig, da überhaupt ein Zimmer zu bekommen, weil die eine große Wohnungsnot haben. Das dritte Jahr habe ich in Berlin verbracht, mein praktisches Jahr, im vierten Jahr habe ich dann in Holland gewohnt, da hatte ich ein Zimmer. Ich hatte also diese Sprachschule absolviert, danach hatte ich Grundkenntnisse, aber es war doch schwierig,
TN: Waren viele deutsche Studenten da?
Selda Karacay: Meine Ausbildung war zwar in Teilzeit, aber ich kann von mir sagen, dass es sich zwar Teilzeit nennt, aber es ist absolut nicht Teilzeit, weil da wirklich viel gemacht werden muss. Man arbeitet ja die ganze Woche. Am Anfang fiel mir dieses ganze Reflektieren sehr schwer, das war anfangs schon eine Umgewöhnung. Das hat auch eine kulturelle Komponente, weil wir nicht so gerne reflektieren. Aber irgendwann bist du dann an dem Punkt, wo du automatisch reflektierst, auf der Arbeit denkst du mit, dann kommen diese ganzen Berichte, die du schreiben musst, das war alles Arbeit und Studium in einem. Sarah Steiner: Bei uns war es so, dass sich die deutschen Studenten am Anfang sehr darüber lustig gemacht haben, ja, wir reflektieren, wir schreiben wieder eine Reflektion. Im Nachhinein merkt man erst, dass es für die Arbeit schon viel gebracht hat, und dass es doch für
den persönlichen Werdegang etwas ganz Wertvolles war. Zu dem Zeitpunkt war mir das nicht so bewusst, da war das eher lästige Zusatzarbeit, dass man im Job arbeitete und hinterher auch noch alles reflektieren muss. Was ich bei den Gruppenarbeiten auch extrem fand, man musste sich am Ende gegenseitig bewerten, was sehr heftig war. Da wurde knallhart gesagt, du kriegst fünf Punkte, weil du einen Fehler gemacht hast, ich gebe mir selber zehn. Oder auch dass ein Holländer sagte: ich sehe meine Arbeit in dem Block nicht als 100 %ig an, ich gebe mir nur sechs Punkte.
Jahren auf einmal massenweise gut ausgebildete Wissenschaftler, Theoretiker, die aber an den Universitäten keine Chance hatten, Karriere zu machen. Dann sind die über Umwege gegangen, ich habe das selber erlebt. Als Berufungsvoraussetzung an den Fachhochschulen ist die
TN: Waren die holländischen Studenten das eher gewohnt? Ist Selbstreflexion und Selbstbewertung dort eher ein Thema? Sarah Steiner: Das Gefühl hatte ich schon, dass die das schon gewöhnt waren, mehr als wir hier, das war da schon in der Schule so. Selda Karacay: Also es gibt immer Feedback-Runden da, auch dieses gegenseitige Loben oder wir mussten auch viel Selbstkritik üben, das fand ich sehr fremd. Sarah Steiner: Man lernt, wie man ein Feedback gibt. Herbert Scherer: Das hat mit einer Kultur zu tun, die in diesem Land und unter den Leuten gepflegt wird. Ist es denn so, dass man in Deutschland einen reflektierenden Mitarbeiter gar nicht haben will, sondern der soll gehorchen und das machen, was die Geschäftsführung sagt? Was für einen Hintergrund hat es, dass die Ausbildung in Deutschland anders ist? Stephan Wagner: Der Hintergrund ist wohl, dass wir eine andere Geschichte haben in der Entwicklung der Ausbildung der sozialen Arbeit, die sich wenig auf die Praxis bezogen hat. Wir hatten Anfang der 70er Jahre den Übergang von den Höheren Fachschulen zu den Fachhochschulen. Das ist in den ersten Jahren ganz gut gegangen. Dann hatten wir, das war eine Katastrophe in meinen Augen für die Ausbildung, in den frühen 70er
Habilitierung weggefallen, stattdessen wurden fünf Jahre Praxis verlangt, dann wurden also Praktika, Mitgliedschaft in Jugendverbänden, usw., das wurde auf einmal alles gerechnet, obwohl das überhaupt nichts damit zu tun hatte. Wir haben dann einen massiven Einfluss von theoretischen Wissenschaftlern in den Fachhochschulen gehabt. Das bedeutete, dass wir ganz stark in Richtung Theorie gegangen sind, wir sind weggegangen von der Praxis. In der Regel haben wir in den Fachhochschulen, wenn es hochkommt, bei 30 bis 60 Professoren nur fünf oder sechs Leute, die mal einen Klienten als Sozialarbeiter gesehen haben. Das ist auch ein widersprüchlicher Prozess. Wir haben jetzt auf der einen Seite den Vorteil, dass die Fachhochschulen in Deutschland Masterstudiengänge machen, dass wir eine Öffnung Richtung Promotion kriegen. Das hat aber die Ausrichtung in Richtung Theorie gefördert, was der Nachteil daran ist. Wir haben eine Sache nie diskutiert, die alle kennen. Wenn man mit Kollegen aus der Praxis spricht, ist denen in der Regel allen der Praxisschock bekannt. Die Leute, die wir am Ende der AusWas zusammen gehört ...
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bildung in die Praxis entlassen, sind geschockt von dem, worauf sie stoßen. Das kann nur der Fall sein, wenn Theorie und Praxis auseinander fallen. Wir sind also einen völlig anderen Weg als die Holländer gegangen. Heute haben wir dadurch eine Situation, dass wir sehr praxisfern und sehr theoretisch ausbilden. Selda Karacay: Ich habe ja ein Diplom ausgehändigt bekommen, auf dem steht, dass ich Diplom-Sozialpädagogin bin. Dann habe ich auch noch mal ein interna-
oder nicht bestanden. Wir konnten damit erst mal nicht so richtig umgehen, weil wir eine Note wollten. Wir wollten, dass da 8, 9 oder 10 steht, weil wir aus Deutschland kommen. Deutsche sind daran gewöhnt, dass sie Noten wollen – natürlich gute Noten. Aber bei den Holländern ist das eben anders. Sie gucken nicht auf Noten, sondern für sie zählt bestanden oder nicht bestanden. TN: Ich habe den Eindruck, dass deutsche Studenten in den letzten Jahren verstärkt nach Holland zum Studium gehen. Selda Karacay: Die Ausbildung an der Hogeschool gibt es schon seit über zehn Jahren. TN: Aber vor 20 Jahren war es nicht so attraktiv, vor 10 Jahren auch noch nicht, jedenfalls kannte ich zu der Zeit noch niemanden, der in Holland studiert hat.
tionales Diplom bekommen, wo ich auch international zum Beispiel meinen Master noch draufsetzen kann und berechtigt bin, auch außerhalb von Deutschland zu studieren. In Holland gibt es keine Noten mehr. Im ersten Studienjahr haben wir noch Noten bekommen, 10 war ein sehr gut plus. Irgendwann wurde das in der Hogeschool abgeschafft, zwischendurch kommt das auch mal wieder vor, aber am Ende heißt es immer bestanden oder nicht bestanden. Sarah Steiner: Bei mir war das nicht so. Bei uns gab es immer Noten von 1 bis 10, bis 5,5 war alles bestanden, darunter fiel man durch. Selda Karacay: Genau, bei 5,5 war das so. Aber das wurde mit dem zweiten Jahr anders gemacht, bestanden
TN: Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass hier der Andrang auf die Hochschulen immer weiter zugenommen hat und der Numerus Clausus verschärft wurde. Da fragt man sich: wozu muss man theoretisch so viel draufhaben, damit man praktisch mit Menschen arbeiten kann? Das wird ja in den Studiengängen auch weiter entsprechend fortgesetzt, weil unglaublich viel Theorie vermittelt wird, von der man dann nicht weiß, wie man sie in der Praxis anwenden soll. Herbert Scherer: Dieter Oelschlägel, siehst du diese Etappen, von denen Stephan Wagner gesprochen hat, auch so? Dieter Oelschlägel: Ich sehe sie an manchen Stellen vielleicht noch schärfer. Dazu kommt noch die Konkurrenz zwischen den universitären Ausbildungen und den Fachhochschulausbildungen, was dazu geführt hat, dass die Fachhochschulen immer mehr universitäre Interessen vertreten haben. Ich habe es oft erlebt, dass die Fachhochschul-Kollegen viel wissenschaftlicher geredet haben als die universitären Kollegen. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist aber nicht das Problem, sondern dass die
Theorie, die gelehrt wird, nicht zu der Praxis passt. Das sind abgehobene Theorien, ohne Bezug zur Praxis. Theorie braucht man. Zu einer richtigen Praxis gehört eine gute Theorie, aber das muss gemeinsam wirken. Bei uns wurden Theorie und Praxis ohne jeden Bezug zueinander unterrichtet. Stephan Wagner: Ich habe das in der eigenen Ausbildung auch so erlebt. Es hat viele kleine Bausteine gegeben, die die Ausbildung bei uns in Richtung Theorie verändert haben. Holland hat den Schwerpunkt der Ausbildung in Richtung Praxis verlagert. TN: Es wurde gesagt, dass bei uns etwa 10 % der Lehrkräfte Klienten gesehen haben. Wie ist in Holland die Einbindung der Lehrkräfte ins Praxisfeld? Sarah Steiner: Wir hatten keine Professoren, sondern Dozenten. Die meisten Dozenten waren noch praxisnah eingebunden, also viele – vielleicht 60 % - hatten einen Job in der sozialen Arbeit und haben zusätzlich unterrichtet. Es gab natürlich auch welche, die nur Dozenten waren, aber die hatten meistens auch in ihrer Karriere schon in der Praxis gearbeitet. Darauf wird sehr viel Wert gelegt. TN: Ich erlebe Praktikanten in verschiedenen Einrichtungen vor Ort, und erlebe Betreuer von Jugendlichen, denen Selbstreflexion in der Regel völlig unbekannt ist. Bei Praktikanten, die aus den Studiengängen kommen, erlebe ich, dass sie unglaublich viel Wissen angesammelt haben, aber in der Praxis völlig hilflos sind, auch in der Arbeit mit Gruppen. Nicht zu 100 %, es gibt welche, die Erfahrungen mit Gruppenarbeit haben, wo sie eingebunden waren und die schon von daher was mitbringen. Aber was sie von der Hochschule mitnehmen, das ist relativ wenig. Das Schlimme ist, dass die Ausbildung an der Hochschule so völlig losgelöst ist von der praktischen Sozialarbeit. Diese Art von Wissen im Kopf verschwindet einfach irgendwann wieder. Du sagst, dir fehlt manchmal theoretisches Wissen bei Sozialarbeitern. Ich denke, wenn man in der Praxis darauf
gestoßen wird, dann liest man das nach, dann sucht man sich die Punkte, durch die man den theoretischen Hintergrund kriegen kann, weil man in der Praxis einfach einen anderen Bezug dazu bekommt. Herbert Scherer: Wir haben jetzt die Situation in Deutschland und Holland ein bisschen verglichen. Wie ist es in anderen Ländern? Stephan Wagner: Die Amerikaner bilden eher theoretisch aus. Sie haben Praxisphasen, da besteht aber eine andere Verknüpfung. Ich habe dort den Bereich ehrenamtlicher Arbeit erforscht. Wenn wir uns amerikanische Projekte ansahen, haben wir uns über die hohe Anzahl an gut ausgebildeten Ehrenamtlichen mit Hochschulausbildung gewundert. Das erklärt sich dadurch, dass in Amerika auch obligatorische Praktika von Studenten als ehrenamtliche Arbeit gelten. In Amerika gibt es eine andere Verortung von Ausbildungsinhalten im gesamten System des Berufsfeldes. Die Engländer und Holländer haben viel stärkere Praxisanteile in ihrer Ausbildung. Wenn man in Deutschland z.B. mit einem Migrationshintergrund das Schulsystem durchlaufen hat, dabei aber nur einen geringen Schulabschluss erreicht hat, dauert es sehr lange, bis man das Abitur erreicht und dann erst zum Studium zugelassen wird. In England und Holland dagegen sagt man: wir gucken uns die Leute an, schauen, ob sie über Lebenserfahrungen oder andere Qualifikationen einen Stand erreicht haben, von dem aus sie fähig sind zu studieren, dann lassen wir sie zu. Herbert Scherer: Das habe ich auch auf der Ebene der Erzieherausbildung mitgekriegt, weil diese berufsbegleitende Erzieherausbildung eben auch so ein Einstieg war, über die Menschen mit praktischer Erfahrung die ansonsten höheren Einstiegshürden überwinden konnten. Eines Tages war damit Schluss und das Sozialpädagogische Institut, das diese berufsbegleitende Erzieherausbildung angeboten hat, konnte in der Regel ohne Abitur nicht mehr zulassen, weil das vom Senat so vorgeschrieben wurde. Was zusammen gehört ...
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Stephan Wagner: Ich habe im Fachausschuss der LIGA für Fort- und Weiterbildung hier in Berlin gesessen und die Debatte von der Seite verfolgt. Das ist sehr widersprüchlich. Es gibt eine generelle Diskussion, auch unter den tätigen Sozialarbeitern und Sozialpädagogen, die in die Richtung geht, dass die Ausbildung besser werden muss. Nun passiert etwas Merkwürdiges. Es wird gesagt, dass die Ausbildung besser werden muss, dann meint man, die Berufsbezeichnung müsse auf Hochschulniveau gebracht werden, dann würde die Ausbildung besser. Es gibt also eine Verkoppelung in der Diskussion zwischen besserer Ausbildung und Hochschule. Dann wird das Ausbildungsniveau angehoben, aber man sieht nicht, dass man damit unten was kaputt macht und das Hochziehen des Niveaus die Ausbildung nicht unbedingt besser und vor allem nicht praxisbezogener macht. Wir glauben, dass es über ein Hochziehen der Niveaus nur in den Hierarchien besser wird. Es entstand eine Diskussion darüber, dass Erzieher auf Hochschulniveau ausgebildet werden müssten. In dem Zusammenhang hat man zum Beispiel nach Italien geguckt und hat damit argumentiert, dass in Italien mittlerweile die Erzieherausbildung grundsätzlich eine Hochschulausbildung ist. Das ist formal richtig, aber in der Praxis ist es nicht richtig. Ich kenne das in Tirol ganz gut, weil ich da viel mit der Landesregierung gemacht habe. Wenn man in Südtiroler Kindergärten geht, sind da ein oder zwei Erzieher, der Rest sind Assistenten, die von sogenannten Fachschulen genau auf dem Niveau, wie es auch bei uns war, ausgebildet wurden. Aber die haben eben den Titel nicht. Das heißt also, wir gucken nicht richtig, ziehen blind die Systeme hoch und machen dabei noch dicht. Das ist nicht nur der Senat, wir können den Schwarzen Peter nicht der Administration zuschieben und die Verantwortung von uns abwälzen. Da waren wir ganz massiv selbst mit beteiligt, indem wir gesagt haben, dass wir besser ausgebildete Erzieher brauchen und die bessere Qualität vom Hochschulniveau erwartet haben. TN: Die Ergebnisse der PISA-Studie sind ja durchgeschlagen bis runter in die Kindergärten, also in die Erzieheraus-
bildung. Jetzt führt diese Ausbildung quasi in ein Studium, das sehr theoretisch ist. Jetzt geht die Ausbildung in eine Richtung, die mit der Tätigkeit vor Ort nichts mehr zu tun hat. Nur Basteln, das kann es nicht sein, aber nur Theorie im Kopf genau so wenig. TN: Das sind ja Probleme, die wir generell hier mit dem Ausbildungssystem haben. Mir fällt aber darüber hinaus auf, dass die Studierenden wenig mit Themen zu tun haben, die ich für Stadtteilarbeit relevant finde. Projektmanagement ist ganz oft nicht vertreten, aber auch Sozialraumorientierung, Gemeinwesenarbeit, Bürgerbeteiligung. Und dass sie auch selbstständiges Arbeiten nicht unbedingt lernen. Warum stehen innerhalb der Ausbildung von Sozialarbeitern diese Themen in der Ecke? Dieter Oelschlägel: Wir hatten bei uns Projektstudium und das war eine gute Sache. Das war vier Semester lang, da gingen die Studenten in die Praxis und konnten sich aus der Praxis heraus die Fragestellungen erarbeiten, dann gab es die Theorie dazu. Das heißt, wir haben nicht einfach als Theorie gelehrt, sondern sie haben gefragt und die verschiedenen theoretischen oder methodischen Fragestellungen wurden dann zu den Projekten entwickelt. Das ist dann abgeschafft worden, weil nur noch wenige Hochschullehrer diese Praxis machen wollten. Das hat keine Anerkennung gefunden. Wir haben immer mehr Theorie, Theorie, Theorie, die Praxis ist dann abgeschafft worden. Dann kam bei uns die Einführung von Bachelor dazu. Da ist das wirklich falsch gelaufen, denn da ist die Praxis ganz rausgefallen und es wurde kein Platz für diese Sachen gelassen, sondern es wurden nur noch theoretische Module aneinander gereiht. Meines Erachtens liegt das eben daran, dass die Hochschullehrer nicht aus der Praxis kommen, für die sie ausbilden sollen. Es kommt ja niemand aus der Stadtteilarbeit, die paar Kollegen, die jetzt wirklich noch Gemeinwesenarbeit machen, das sind aussterbende Generationen. Herbert Scherer: Sobald eine Lücke in der Ausbildung zur Sozialarbeit entsteht, wird sie durchaus auch von anderen Berufsfeldern, z.B. Stadtplanern, besetzt.
TN: Ich hatte ein Jahr Praktika hinter mir, hatte mich schon sehr früh für den Studiengang Stadtplanung interessiert, der sehr projektbezogen ist. Man arbeitet teilweise selbstständig an den Projekten. Stadtentwicklung, Landschaftsplanung. Da ist auch Theorie dabei, aber da kann man sich durchbeißen, wenn man auch die Praxis dazu hat. In Weißensee habe ich z.B. mit 256 Kindern und Jugendlichen Fragebögen erstellt zur Sozialraumorientierung. Und wir haben Stadtteilerkundungen gemacht. Ich habe eine Freundin, die hatte angefangen, Sozialpädagogik zu studieren und sie hat auch eine Krise gekriegt von der ganzen Theorie, die sie nicht anwenden kann. Jetzt ist sie in der Ausbildung zur Erzieherin gelandet, damit geht es ihr besser. TN: Als ich studierte, konnte ich mich zwischen verschiedenen Fakultäten entscheiden, dem architektonischen Bereich, dem wissenschaftlichen Bereich und dem Bereich der Sozialwissenschaften. Ziemlich früh habe ich mich entschieden, welches von diesen Themenspektren ich als Schwerpunkt wählen wollte. Ist das heute immer noch so? TN: Nein, schön wäre es natürlich, aber das ist ja auch ein Bachelor und ist eher ein schmales Programm. Stephan Wagner: Wissenschaftliche Felder entwickeln oft eine eigene innere Dynamik. Für das Bild von sozialer Arbeit sind ein paar Eckpunkte erkennbar, die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie unflexibel sind und sich nicht mehr verändern. Etwa dass Sozialarbeiter gestandene Leute sein müssen, mit einem enormen Wissen. Wenn sie in ihre so vielfältigen Arbeitsfelder rausgehen, sollen sie immer alles können. Wir haben uns geweigert, Spezialisierungen zu machen, wie sie in Amerika und in England schon längst gelaufen sind, wo es etwa für Community Work eine Spezialausbildung gibt. Das wurde bei uns dem Bachelor zugeschlagen. Wir haben jetzt im Bachelor-Studiengang eine hochgradige Spezialisierung. Dieter Oelschlägel: Hochgradig spezialisiert und praxisfern.
Stephan Wagner: Das ist eine Bewegung, die man erkennen kann, die aber nicht vernünftig gelaufen ist. Eine zweite Bewegung ist, woran machen sich wissenschaftliche Gegenstände fest? Ganz oben im Bewertungssystem stehen zur Zeit Stadtplaner und Kulturwissenschaftler. Kulturwissenschaften sind im Augenblick der Bereich, wo ganz viele unterschiedliche Inhalte gelernt werden, auch in Bezug auf Migration usw.. Hier entwickeln sich Fachgebiete weiter, die in der Sozialarbeit fast verschwunden sind oder nicht mehr wahrgenommen werden. Dann kommt hinzu, dass es Moden gibt. Es gibt immer bestimmte Sachen, die „in“ sind, die laufen gerade gut, und Gemeinwesenarbeit wird im Augenblick tendenziell als überholt oder als sehr veränderungsbedürftig angesehen. Die heute vorangetriebene Form von Community Work ist das Quartiersmanagement. Solche Moden machen der praktischen Sozialarbeit zu schaffen. Hinzu kommt, dass sich die Referenzwissenschaften, die Erkenntnis führend sind, verschieben. Die soziale Arbeit in den 80er Jahren hatte als Hintergrund Soziologie und Politologie, da kamen die Informationen her. Wenn Sie heute lesen, was Soziologen schreiben, das ist altmodisch. Wenn Sie spannende Sachen lesen wollen, dann müssen Sie zur Ökonomie gehen. Die wesentlichen Erkenntnisse, also zum Beispiel im Bereich der Diskussion, wie man Schule organisieren kann, wie muss Kinderversorgung organisiert werden, um Beteiligung von Frauen in der Gesellschaft zu ermöglichen, um die Geburtenraten zu steigern, usw., diese ganzen Diskussionen kommen aus der Ökonomie, die liefern die Daten. In der sozialen Arbeit beziehen wir uns im Augenblick noch auf Referenzwissenschaften, die altmodische Ergebnisse liefern. Es sind Verschiebungen im Gang und es tauchen neue Leute im Feld auf. Da müssen wir gucken, wo das endet. TN: Eine Nachfrage zu der These, dass die Praktiker nicht mehr vorhanden sind oder nicht mehr wahrgenommen werden: Die Arbeitgeber, also die Einstellungsträger, bemängeln die schlechte Ausbildung. Gleichzeitig sind die Studenten mit dieser Ausbildung unzufrieden. Es gibt eigentlich einen Druck auf eine Veränderung und ich will das mit der Frage verbinden, ob nicht die These berechWas zusammen gehört ...
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tigt ist, dass nur eine Kaste von Hochschullehrern das schlechte Ausbildungssystem am Wachsen hält, um ihre Pfründe zu sichern? Und dass deshalb da keine Bewegung drin ist? Dieter Oelschlägel: Den Druck gibt es, aber die Lösungen laufen auch bei den Kritikern immer darauf hinaus: mehr Theorie. Die Entscheidung lautet nie, mehr in die Praxis zu gehen oder Theorie und Praxis besser zu verbinden. Das gilt auch für die Seite der Studenten, die eine bessere Ausbildung wollen. Herbert Scherer: Ich glaube, dieser Theorie-Druck hängt mit der Praxis-Angst zusammen. Ich erinnere mich an einen Professor an der Alice-Salomon-Fachhochschule, der seinen Studenten gesagt hat, dass es total blöd ist, wenn sie als Sozialarbeiter arbeiten, weil man in diesen oder jenen Bereichen viel mehr Geld bekommt als ein Sozialarbeiter. Das, was da deutlich wird, das erleben wir die ganze Zeit: dass nämlich der Überbau ständig wächst, während es immer weniger Leute in der Praxis gibt. Das finde ich absurd, weil das Andere ja viel mehr Spaß macht. Stephan Wagner: Vor zwei Wochen war ich in den USA und habe mir Projekte angeguckt. Da ist mir eine Sache noch mal sehr deutlich geworden, die mir auch während meiner Arbeitszeit in den USA aufgefallen ist: in Deutschland wurden in den 60er Jahren Schulen der sozialen Arbeit
aus dem kirchlichen Bereich zu staatlichen Schulen. Dabei ist das Feld der Ethik und auch die Frage, warum jemand Sozialarbeiter geworden ist, verloren gegangen. Dadurch war eine Berufung zum Beruf aufgehoben, nämlich dass ich Sozialarbeiter werde, weil ich gerade das machen will, weil das mein Ding ist. Das ist ein Moment der inneren Beteiligung, das über das rein wissenschaftliche Interesse hinaus geht, ein Interesse am Menschen und seinem Zustand und dem Zustand menschlicher Gesellschaft, mit dem Ziel positiver Veränderung hat. Das wird in den englischen und amerikanischen Schulen gelehrt und erlernt. Wir haben das aus der Ausbildung gestrichen, bis auf einzelne Ausnahmen, wo Kollegen das wieder eingebracht haben. Das heißt, wir haben den Kern geräumt. TN: Wie ist die Wertevermittlung in Holland? Sarah Steiner: Ich habe ja schon angedeutet, dass mir eine Vertiefung der Theorie fehlte. Praxisnähe und Wertevermittlung hatten wir aber genügend. TN: Nach dem Studium frisch in der Praxis? Ich weiß nicht, wie lange du jetzt in der Praxis bist. Sarah Steiner: Vielleicht vier Monate. Ich würde sagen, dass es gut geht, aber das liegt auch immer an dem eigenen Anspruch, Wissen und Theorie über das, was man macht, anzuhäufen. Das praktische Arbeiten geht jedenfalls gut. Bei einigen Sachen merke ich, dass ich noch einen Hintergrund bräuchte, dann lese ich eben Sachen nach oder spreche mit Leuten darüber. Herbert Scherer: Von amerikanischen Kollegen habe ich gehört, dass sie die deutschen SozialarbeiterInnen aus einem ganz besonderen Grund für relativ unprofessionell halten. Sie meinen wahrgenommen zu haben, dass die deutschen SozialarbeiterInnen immer „nett“ sein wollen, sie wollen gemocht werden. Das heißt, die sehen sich nicht so sehr als Akteur eines Wandlungsprozesses, in dem sie bestimmte Ziele erreichen wollen. Die Theorie, mit der sie ausgebildet sind, wird nicht im wirklichen
Leben ständig aktualisiert als Teil von dem, was sie tun und durch Theorie besser verstehen. Sondern die Theorie wird einfach irgendwann abgehakt. Ansonsten will ich in der Praxis, dass die Leute nett zu mir sind, weil ich nett zu ihnen bin. Es ist nicht das Gefühl, dass ich an etwas arbeite und etwas erreichen will. Stephan Wagner: Eine amerikanische Kollegin, die gut Deutsch spricht und wahrnehmen kann, was hier los ist, hat das mir gegenüber so ausgedrückt: wenn sie unsere Leute drüben in der Praxis sieht, hat sie immer das Gefühl, sie hat Studenten aus dem dritten oder vierten Semester vor sich. Die wollen nett sein zu den Leuten, die wollen dem Klienten ein Freund sein, aber das ist nicht ihre Aufgabe, das ist unprofessionell. Unser Ausbildungssystem wird von Kollegen aus dem Ausland als ein sehr weiches System wahrgenommen, das sehr klientenfreundlich ist, das aber an vielen Stellen unprofessionell abläuft. TN: Die Studenten, die zu uns kommen, sagen ganz oft, dass sie großes Interesse daran haben zu lernen, was in der Praxis passiert. Der wissenschaftliche Teil ist eine Pflichtschuldigkeit dem gegenüber, was von den Universitäten oder den Ausbildungsstellen gefordert ist. Das ist nicht unbedingt ihr ureigenstes Interesse, sondern einfach das Gefühl: wenn sie sich dem System nicht unterordnen, dann haben sie keine Chance. Dieter Oelschlägel: Ich finde es gut, dass Sie von der Ethik gesprochen haben, denn Theorie, Praxis und Ethik im weitesten Sinn müssten sich verbinden lassen, warum man das macht und wie macht man das. Wenn die Studenten sagen: ich will wissen, was in der Praxis geschieht, dann fragen sie eigentlich auch schon, wie die Praxis erklärt wird und warum sie das machen. Wenn man das zusammenkriegen würde ... - aber das sind getrennte Angelegenheiten, das ist der Fehler. Selda Karacay: Ich denke, dass in Deutschland die Sozialpädagogik oder die Sozialarbeit nicht ernst genommen wird. Meine Eltern kommen aus der Türkei. In der Türkei ist es ganz wichtig, was man für einen Beruf hat. Wenn
ich dort gefragt werde und sage, dass ich Sozialpädagogin bin, wow, das ist für die was ganz Besonderes. Auch in Holland ist das etwas ganz Besonderes. Ich glaube, dass es in Deutschland noch nicht angekommen ist, dass soziale Arbeit einen großen Wert hat. Zu Beginn meines Studiums sagte ich: ich gebe Deutschland zehn Jahre, bis das soziale System abstürzt. Ich denke, es ist nicht mehr so lange hin, weil da echt was gemacht werden muss, weil Sozialpädagogen, Erzieher und überhaupt Pädagogen nicht ernst genommen werden. Immer wieder werden die Mittel gekürzt. Es ist nicht angekommen, wie wichtig Menschen im sozialen Bereich sind, dass die ein Instrument für das System sind. Sarah Steiner: Das schlägt sich ja letztendlich auch in der Bezahlung nieder. Warum wird ein Sozialpädagoge nicht wie ein Lehrer bezahlt? Solche Sachen stellen ja auch Werte in der Gesellschaft dar. TN: Das gilt auch für Erzieher und Grundschullehrer. Selda Karacay: In Holland wird man schon im Studium dazu ermutigt, dass man sich hinstellt und sagt, dass wir wichtig sind, ich bin wichtig, ihr braucht mich, nicht ich euch. Hier dagegen ist meine Beobachtung, dass man als Sozialpädagoge ein bisschen gedrückter ist. Ich leite derzeit zwei Projekte an einer Oberschule. Ich gehe zu den Lehrern und fordere, was ich als notwendig ansehe. Wie es in der Ausbildung in Holland vermittelt wird. Sie brauchen mich, nicht ich sie. Sarah Steiner: Damit man weiß und deutlich macht, was man wert ist und was man kann. TN: Ich glaube, dass man das zum Teil durchaus so machen kann. Aber ich weiß, dass z.B. in England Leute mit einem deutschen Abschluss viel, viel besser eingeschätzt werden als hier bei uns. Eine Freundin von mir besucht regelmäßig Seminare in England. Da unterrichten Leute, die noch die alte Ausbildung in Deutschland gemacht haben, sie lehren Sozialpädagogik. Das ist da total hoch anerkannt. Und sie sehe dort zum Teil auch Was zusammen gehört ...
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die Mängel, die wir haben, z.B. in den kurzen BachelorStudiengängen. Ich glaube, an manchen Stellen wurde das deutsche Ausbildungssystem durch Nachahmung von etwas reformiert, wovon die anderen schon wieder abkommen. TN: Ich wollte darauf zurückkommen, dass in der sozialen Arbeit und in der sozialpädagogischen Arbeit viel in Kooperation geleistet werden muss. Das funktioniert an manchen Stellen ganz gut, aber an manchen Stellen leider nicht. Etwa in Schulen werden Sozialarbeiter oder Sozialpädagogen leider nicht als gleichberechtigt wahrgenommen. Wo das der Fall ist, erschwert das unglaublich die Arbeit. Dieses Hierarchiedenken in unserer Gesellschaft, auch in der Lehrerausbildung. Wie sollen Lehrer mit Schülern in einer gleichberechtigten Form, auch wenn sie die Autorität im Unterricht sind, umgehen, also auf Augenhöhe, wenn sie bis zum Ende ihrer Ausbildung von oben gedeckelt werden? Das hat System und da tritt jeder den, der seiner Meinung nach eine Stufe tiefer ist. Die Bedeutung der Erzieher ist in der pädagogischen Arbeit unverhältnismäßig viel größer als dieser Berufsstand an Wertschätzung erfährt. Das ist einfach eine Haltung, die wir hier in der Gesellschaft haben, wie es sie z.B. in der Schweiz nicht gibt. Das hat auch mit unserer inadäquaten Ausbildung zu tun. Herbert Scherer: Stephan ist auch als Akteur in dem Feld tätig, deshalb die Frage: Was kann man realistischerweise tun? Hast du irgendwelche Ideen? Stephan Wagner: Das könnte der Sozial-ManagementMaster sein, den wir zusammen mit der Alice-SalomonHochschule anbieten. Da muss man die Alice-Salomon-Hochschule wirklich loben, dass sie damals den Mut hatte, sich auf eine Kooperation mit der Praxis und mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband einzulassen. Sie hat zugestimmt, dass in sehr hohem Maße Praktika in die Ausbildung genommen werden. Inzwischen sind die Kritiker verstummt, weil sich gezeigt hat, dass es funktioniert. Das ist heute mit 80
Leuten, die pro Jahr anfangen, der größte Studiengang, der auf Leitungsaufgaben im sozialen Bereich vorbereitet. Wir haben es dabei im Prinzip so wie in Holland gemacht. Wir machen das berufsbegleitend, wir gucken, dass wir Leute haben, die schon in der Praxis sind, und deren Berufspraxis ist in hohem Maße Thema in der Ausbildung selber, wird immer auf die theoretischen Themen bezogen. Da ist etwas Positives gelaufen. Wir werden an vielen Punkten ein bisschen relaxter sein müssen. Ich denke, wir werden auf Dauer vierjährige Bachelor-Studiengänge machen müssen. Das war bisher sehr verkürzt. Inzwischen gibt es dazu die Bereitschaft. Wir sollten ein Stück weit Richtung Holland gehen, also in die Bachelor-Ausbildung wieder Praxisphasen integrieren. Man sollte sich auch in der Abschlussarbeit am holländischen Modell orientieren, also die Abschlussarbeit koppeln mit einem Praxisteil, der bewertet wird. Das heißt auch für die Kollegen an den Hochschulen, wobei ich da an einem ganz wunden Punkt bin, dass man der Praxis Einfluss einräumt. Die Praxis muss auch auf die Hochschulen zugehen, hier gibt es bei vielen Kollegen in den Hochschulen inzwischen eine große Bereitschaft, mit Praxisvertretern wieder zu reden. Da dreht sich gerade der Wind. Wir sponsern zum Beispiel als Paritätische Akademie den Fachkreis für soziale Arbeit, also den Zusammenschluss der Hochschulen, damit es organisatorisch ein bisschen besser läuft und die Kommunikation besser wird. Ich sehe viele Möglichkeiten, eine positive Entwicklung zu bewirken, aber wir werden das System verändern müssen. Herbert Scherer: Wir werden das System verändern müssen – das ist ein Super-Schlusswort. Vielen Dank für die aktive Beteiligung.
Abschlussplenum
Woher wir kommen und wohin wir gehen Herausforderungen, Problemlösungen, Chancen
Vortrag: Konrad Hummel Vielen Dank für die Einladung! Ich versuche zu kommentieren, wie ich Entwicklungen verstehe, beobachte und in Solidarität zu diesem Verband wahrnehme. Ich fand das Programm in seinem Aufbau und in seinem Bild vom Zusammenwachsen ausgesprochen interessant und werde mich an die Themen der Arbeitsgruppen in Stichworten halten, weil ich die für sehr geeignet halte, paradigmatisch etwas über die Zukunft zu sagen. Berlin wächst zusammen - oder wer wächst eigentlich zusammen? Das weiß man nicht so genau, wenn man das Programm liest. Es ist eine Riesenchance, dass diese Stadt nicht nur zusammengewachsen ist, sondern dass sie attraktiv ist für junge Menschen in der ganzen Republik. Das ist einer der ganz großen Pluspunkte, dass Berlin so attraktiv ist, das bewirkt eine Verjüngung, der Zuwachs von Studenten an den Universitäten macht die Stadt bunter und vielfältiger. Berlin hat nach außen das Image von Sonderbarkeit und Skurrilität, und es scheint mit diesem Bild erfolgreich zu sein. Hier und heute empfehle ich dennoch, dieses Bild politisch ein bisschen kritischer zu wenden und die Frage zu stellen: Was ist es denn wirklich, was zusammenwach-
sen soll? Man arbeitet an Toleranz zwischen Ost und West, am Verstehen zwischen Mann und Frau, es gibt zahlreiche Initiativen zu allen möglichen Schwierigkeiten im Leben. Aber das bloße Moderieren von Gegensätzen reicht für ein Zusammenkommen nicht aus. Das reicht nicht für eine moderne Gesellschaftsvision. Aus diesem Grund ist für mich die Frage, warum der Nachbarschaftsgedanke hier und in ganz Deutschland so wichtig ist. Nachbarschaft ist ja nicht nur als Heimat oder Gemeinschaft bis heute attraktiv. Sondern sie wurde damals bewusst als eine Antwort auf den Faschismus organisiert. Nachbarschaft war eine Antwort auf die Blockkontrolle. Also mit anderen Worten: Nachbarschaft ist im Geist dieses Verbandes so etwas wie bewusste Wahrnehmung unterschiedlicher Menschen auf engem Raum. Ich finde es ganz wichtig, dass dieses Kernerbe des Verbandes nicht zerredet wird. Aber wie gestalten wir eigentlich Nachbarschaft, die sich ganz bewusst nicht als eine beliebige Nachbarschaft, sondern als eine strategisch gewünschte Nachbarschaft versteht? In den letzten 20 Jahren haben sich nicht nur Nachbarschaften verändert, sondern auch das Verständnis von Staat unterliegt einem dramatischen Wandel. Stichworte: Ende der DDR und Entwicklung von Europa. Ich finde, die sozial-kulturelle Arbeit muss auf dieses veränderte Staatsverständnis in einem höchst aufmerksamen Prozess reagieren. Eine Arbeitsgruppe hat darüber diskutiert, dass wir laufend Aufgaben des Staates übernehmen, Staatsaufgaben also privatisiert werden. Betrachten wir die Entwicklung der letzten 12 Monate: Dieser sich reduzierende Sozialstaat bäumt sich plötzlich auf und übernimmt Garantien für Finanzschulden wie nie zuvor im Staatswesen. Also mit anderen Worten: Der vermeintlich schwache Staat ist plötzlich wieder zum Garanten geworden. So schwankt er hin und her und die Menschen sind verunsichert, doch insgeheim hoffen sie, der Staat und die Politik würden es schon richten. Was zusammen gehört ...
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wird, im Sinne von Kundenorientierung, auch machen. Ob das richtig ist, stets das, was dort gewollt wird, umzusetzen, ist eine Frage, die man diskutieren muss. Wenn Mittelstandseltern Privatschulen wollen, dann können wir uns ja eigentlich dahinter klemmen. Ob das richtig ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Da habe ich erhebliche Bedenken. Nachfrageorientierung muss nicht immer das Richtige sein, sondern wir müssen damit ringen.
Ich plädiere dafür, an diesem veränderten Staatsverständnis zu arbeiten. Ich habe damals schon vor Jahren – wahrscheinlich unpopulär als Sozialdezernent – in Augsburg für den Kerngedanken von Hartz IV geworben, weil ich fürchtete, und ich denke, so ist es auch bald eingetreten, dass nur die Kürzungsdiskussion übrig bleibt, wie viel und wie wenig Leistungen passieren. Mein Kerngedanke zur Rolle des Staates im sozialen Bereich und in der Bildung ist, dass man weg muss von einer pauschalen staatlichen Förderung hin zu einem ernst gemeinten Fordern und Fördern in allen Bereichen. Das Staatsverständnis muss anders werden. Und der Verband müsste mit seinen Einrichtungen immer wieder daran arbeiten: Wie können wir mit dem Staat, gegen den Staat, in Abgrenzung zum Staat unsere Art von Nachbarschaftsarbeit weiter entwickeln?
Drittes Stichwort: Vielfalt und Integration. In allen deutschen Großstädten gibt es faktisch Eltern von Grundschulkindern mit Migrationshintergrund. Berlin ist übrigens empirisch gar nicht an erster Stelle, in München und in Stuttgart sind die Zahlen weitaus höher. Aber wie gehen die Städte damit um? Sie reden von Integration. Was heißt eigentlich Integration, wenn wir 51 % der Kinder mit Migrationshintergrund haben? Wer soll sich eigentlich wohin integrieren? Integration taugt als Begriff nicht mehr.
Zweites Stichwort: Nachfrageorientierung. In der zweiten Arbeitsgruppe tauchte der Gedanke auf, ob man die Wünsche der Menschen erfüllt oder etwas tut, was eigentlich notwendig sei, also Schulungen und Angebote schafft. Auch dort erweist sich der Verband als ausgesprochen zeitgemäß, weil der gesellschaftliche Trend in den 20 Jahren sich eindeutig zum individuellen Bedarf hin entwickelt hat.
Dazu kommt die Arbeit mit Behinderten als integrierter Teil der Gesellschaft – gut, aber das löst das Dilemma nicht. Gemeint ist eigentlich das Verpflichten auf ein gemeinsames, vielgestaltiges Bild. Wie soll diese Vielfaltsgesellschaft aussehen? Deutsche Leitkultur her oder hin – fest steht, dass alle Menschen, die bei uns leben, die gleichen Grundrechte haben. Wie wägen wir aber die Religionsfreiheit gegen die Gleichheit von Mann und Frau ab? Zum Beispiel der Umgang mit Frauen und Mädchen aus Migrantenmilieus lässt noch sehr zu wünschen übrig. Wir müssen diese Frage der Vielfalt – gerade in sozialkultureller Arbeit – offensiv angehen. Beim Sommerfest türkische Dönerbuden zu machen, das reicht nicht, aber das muss ich hier nicht sagen. Auch Wahlergebnisse haben oft mit Argumenten wenig zu tun, sondern mit den Lebensweisen. Wie gehen wir mit regional sehr unterschiedlichen Lebensweisen um? Wie können wir sie füreinander öffnen? Denn da liegen die neuen Grenzen, die wir in der Gesellschaft haben.
Die Verbände und Einrichtungen haben sich eindeutig in die Richtung entwickelt, dass sie das, was gewünscht
Nächster Punkt: Die Ambivalenz von Kultur, Bildung und Lernen. Ihr bemüht euch um die Annäherung von sozio-
kultureller Arbeit an sozial-kulturelle Arbeit. Wir haben tatsächlich ein riesiges Bildungsproblem, nicht nur auf Bundes- und Länderebene, sondern inzwischen, seit der Aachener Erklärung des Deutschen Städtetages vor zwei Jahren, auch auf kommunaler Ebene. Stichwort: Kommunale Bildungslandschaften. Das ist ein Thema, bei dem wir am Anfang stehen. Ich habe die erste Bildungswelle in den 70er Jahren mitbekommen, mehr Demokratie wagen, Bildungsreform, etc.. Nach meinen Erfahrungen ist das fast gescheitert oder zumindest nicht viel davon umgesetzt worden. Wir stehen heute in Deutschland vor dem Dilemma, dass wir in eine Bildungsdebatte mit einem ungeheuren finanziellen Aufwand hineintappen. Ein Beispiel: Die saarländische Regierung ist völlig pleite. Das Einzige, woran sie nicht spart, ist die Bildung. Das klingt gut. Aber wohin geht das eigentlich? Sind mehr Lehrer auch mehr Bildung? Ist Ganztagsunterricht zivilgesellschaftlich etwas Erfreuliches? Was ist eigentlich gerade los in den Schulen? Sie sagen, dass sie ihre Probleme mit Schulsozialarbeit lösen. Ist das die Antwort, dass ein System seine Probleme durch Sozialarbeiter löst, die sie in die Schule holen? Das einzige Thema, das von der Bevölkerung über 75 % Zustimmung hat und wofür die Bevölkerung bereit ist, Opfer zu bringen, sind die Bildungsausgaben. Der Verband muss dort mitmischen und die Frage diskutieren: Was bedeutet Bildung und Lernen unter sozial-kulturellen Gesichtspunkten? Ich will kein Unterrichtsfach „Sozialverhalten“. Alleine die bürgerschaftliche Beteiligung an Bildung einmal durchzudenken, zum Beispiel auch die Rollenlosigkeit der Migranten in deutschen Schulen. Was machen sie als Antwort? Sie gründen laufend neue Schulen, türkische und russische Schulen. Aus meiner Sicht ist das eine katastrophale Entwicklung. Es ist ein wichtiger Gesichtspunkt, ob eine Republik für sich sagt, das Lernen im öffentlichen Raum, das Lernen des Miteinanders, das Lernen mit neuer Technologie muss einen zentralen Stellenwert haben. Wie soll ich denn Energie- und Feinstaubentwicklung zum Beispiel angemessen angehen, ohne dass ich lerne, wie ich mit dem Öffnen der Fenster, mit der Heizung und anderen Dingen umgehe? Das sind Lern-
vorgänge. Wer die auf den Schulunterricht reduziert, hat verloren. Es wird deutlich, wie viel bei dem Thema Bildung und Lernen drinsteckt. Bildung fördert oder verhindert Gerechtigkeit. Denn die Chancen hoch qualifizierter junger Menschen - heute global unterwegs – sind hoffnungslos weit entfernt von den Chancen derjenigen, die nur einen Realschulabschluss haben, gar nicht zu reden von Hauptschul- oder gar keinem Abschluss. Die Verortung der sozialen Frage in bestimmten Sozialräumen ist das nächste wichtige Thema. Seit zehn Jahren unterstützt der Bund die Förderung belasteter Quartiere. Was zusammen gehört ...
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Übrigens auch ein bisschen verspätet wurde das Programm Soziale Stadt aufgelegt. Heute kämpfen Nachbarschaftshäuser mit den Quartiersmanagern in Folge der Umarmung und Abgrenzung. Die ganze Frage der Quartiersentwicklung ist nach deutscher Art schnell fast zum Berufsbild geworden. Die Wohnungsgesellschaften haben in Nordrhein-Westfalen dafür einen Lehrstuhl eingerichtet. Ich persönlich halte es eigentlich für ein bisschen fatal, weil wir inzwischen erkennen, dass wir mit der reinen Miet- und Sanierungsentwicklung in bedrohten Wohnquartieren den Problemen nicht beikommen. Wir haben das, was Soziologen eine Verräumlichung von Verarmungsproblemen nennen. Armut, Migration, Schulstandard und die ganzen Benachteiligungen kommen zusammen, mit dem Ergebnis, dass Unternehmen nach der Wohnadresse entscheiden können, ob sie einen Bewerber nehmen oder nicht. Das ist eine Katastrophe. Es hat schon gereicht, wenn ein Bewerber arm oder Migrant war, aber jetzt hat er auch noch das Wohnquartier als Problem, aus dem kaum jemand rauskommt. Wenn in Neukölln anspruchsvolle junge Familien eine bessere Schule haben wollen, dann ziehen sie gleich über die Spree und verlassen die Gegend. Warum soll die Wohnungsbaugesellschaft dann noch sanieren? Sie merken, die Verräumlichung hat Folgen bis zu den Planungsstrategien und wir gehen zu wenig auf die neuen Fragen zu, sind immer noch gefangen in den klassischen baulichen Sanierungsgebieten. Dann das Stichwort: Grenzen der Dienstleistungsideologie. Das Angebot von sozialen Dienstleistungen ist nicht das Problem, sondern die Ideologie, die hinter diesem Begriff steckt. Nehmen Sie mal das Wort „Kunde“. Ist Ihnen klar, was das kommunalpolitisch heißt, wenn alle Städte ihre Bürger als Kunden behandeln? Wissen Sie, was Kunden tun, wenn sie mit dem vorhandenen Angebot an Dienstleistungen unzufrieden sind? Sie ziehen um! Das heißt, wir produzieren ein unpolitisches Bewusstsein bei Menschen, die keinen Einfluss auf vorhandene Zustände nehmen. Das ist das Gegenteil von dem, was wir in der Kommunalpolitik wollen. Kommunalpolitisch wollen wir
aktive Nachbarschaften, wir wollen Teilhabe und Mitgliedschaft. Also mit anderen Worten: Wenn Ausweitung der Dienstleistungen, was ich in Berlin gut finde, dann muss das begleitet werden, damit der Prozess weg vom Kunden geht, hin zu Teilhabe- bzw. Mitmachstrukturen, zu Verbindlichkeitsstrukturen. Ich komme zu dem Punkt der Modernisierungsbrüche, die es in der Gesellschaft noch stärker geben wird. Es ist sicher, dass es nicht einfach so weitergeht wie bisher. Und wenn dann einmal wir alle, die wir hier versammelt sind, ins Altenheim gehen, werden wir uns dort nicht bayerische Rumsmusik anhören, sondern die Rolling Stones. Denn jeder nimmt sein Milieu und damit seine Werte mit. Das heißt, auch auf dem Sektor wird sich drastisch viel ändern, weil sich die zukünftig alten Menschen nicht gleich verhalten werden wie die heute Alten. Sie werden vielleicht Auswahlvarianten nutzen, Zeitvarianten – 2 Monate auf Mallorca, 10 Monate in Deutschland, das ist schon Wirklichkeit. Würden das mehr Leute machen können, dann würden sie es auch tun. Wir kommen in neue Verhaltensweisen hinein, die nicht nur gut oder schlecht sind, sondern vor allem anders. Und das letzte Stichwort: Ausbildung und Beruf. Hier geht es um veränderte Kompetenz und auch um demografischen Wandel. Durch den demografischen Wandel werden wir völlig neue Berufsgruppen und Berufsstrukturen bekommen, wir werden auch auf andere Verhaltensweisen bei Menschen stoßen. Demografischer Wandel bedeutet nicht nur, alte Menschen zu sehen. Sondern auch: wer heute mit 20 Kindergärtnerin ist, hat die gruselige Vorstellung, bis 67 Kindergärtnerin zu sein. Das ist eine schwierige Perspektive. Und soziokulturell ein bemühter Animateur zu sein, ist nach 15 Jahren auch schwierig, dann fehlt einem ein bisschen der Pep. Aber wir brauchen alle Generationen. Nur, es wird Berufsbilder auch verändern, nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Bachelor- und Master-Debatte in der Ausbildung, sondern warum nicht mutiger ein paar Schulungselemente aus dem Leben der Menschen im Stadtteil einbringen? Unter solchen Voraussetzungen ist jede Verschulung positiv.
Wenn wir das als begleitendes Denken verstehen, dann sieht die Welt anders aus, dann bin ich daran interessiert, dass diese Entwicklung nicht zu lange auf sich warten lässt. Wir stecken ja mitten im demografischen Denken, diese Republik ist im Durchschnitt 49 Jahre alt, während alle, die zu uns kommen, im Durchschnitt 21 Jahre alt sind. Das heißt, hier entwickeln sich noch gewaltige Veränderungen in unserer Gesellschaft. Die Frage ist jetzt: Wohin? Ich möchte ein Bild benutzen für die sozial-kulturelle Arbeit. Ich habe immer an eurer Arbeit bewundert, was ich das David-Prinzip nenne. David und Goliath, dabei ist David der siegreiche Kleine. Das hat einen Charme. Auf die Arbeit bezogen heißt das: Sie sind ein bisschen in der Nähe des Staates, aber autonom. Sie sind ein bisschen an der Zivilgesellschaft dran, aber sind nicht ganz der Schrebergartenverein wie die Caritas. Sie sind nicht ganz im unternehmerischen Bereich, aber doch selber betriebswirtschaftlich verantwortlich. Sie bewegen sich soziologisch gesehen, mitten im trisektoralen Dreieck. Manche nennen das Bermuda-Dreieck. Sich in diesem Dreieck zu bewegen, das heißt, dass man immer die Balance halten muss zwischen Animation und Bürger. Gleichzeitig betriebswirtschaftliche Verantwortung übernehmen, eine rentable Betriebsgröße erreichen, aber doch nicht so groß werden, dass man als ein Konzern behandelt wird. Das alles ist eine permanente Kunst des Ablehnens und Annehmens, wenn Sie bei Dienstleistungen Verantwortung tragen. Wenn dieser Balanceakt erfolgreich ist, kann man stolz darauf sein. Wohin gehen wir? Kann David in einer modernisierten Welt überleben? David ist eine gute und wertvolle Gestalt. Aber David alleine reicht nicht als politische Strategie. Da ist die Frage: Wie stellt sich dieser Verband in den nächsten 5 oder 10 Jahren auf? Der Verein sollte den Mut haben, über Berlin hinaus, dann doch wirklich bundesweit auf kommunaler Ebene mehr Präsenz anzustreben und sich nicht nur mit ein paar Freunden aus Wuppertal, Bremen und anderswo zu begnügen.
Ich sehe auf kommunaler Ebene ein großes Problem: Deutsche Städte haben ja etwas sehr Wichtiges in die europäische Bewegung einzubringen, nämlich Selbstverwaltung. Die haben nicht alle Länder. Diese Selbstverwaltung haben aber unsere Kommunen zunehmend an Bund und Länder verkauft. Sie können zwar die Durchführung von Projekten steuern, sind aber nicht wirklich zuständig, weil sie abhängig sind von den Förderungen. Schauen Sie sich die Steuersituation an. Sie ist in den Kommunen immer dramatischer. Wen treffen die Kürzungen auf kommunaler Ebene? Unmittelbar Projekte und Bürger. Wir müssen auf kommunaler Ebene die Frage der Demokratie, der Bürgerbeteiligung, der Stadtentwicklung, der Was zusammen gehört ...
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Inter-Generationsprojekte, der sozial-kulturellen Projekte praktisch angehen, weil dort alles zusammenfließt. Mein Wunsch ist, dass wir mit den Akteuren, die dort organisiert sind, stärker eine gemeinsame Arbeit schaffen. Ich bin Mitgründer des Bundesnetzwerkes Bürgerengagement. Wir haben dort einen Arbeitskreis Kommunales. Der dümpelt häufig vor sich hin. Auch das macht keinen Sinn. Ich plädiere dafür, dass wir auf Bundesebene mit dem Bundesnetzwerk Bürgerengagement, auch mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit, mit den Quartiersmanagern, mit den Agenturen gemeinsam beratschlagen, was uns auf kommunaler Ebene zusammenführen könnte, was da strategisch zusammengehört. Vielleicht wäre es überlegenswert, ob man sich nicht zusammentut mit Stiftungen und mehr Stipendien für Nachbarschaftsarbeit vergibt. Vielleicht schaffen wir mit anderen Stiftungen zusammen eine kommunale Plattform, wo die sozial-kulturelle Arbeit in den Städten zusammengeführt wird, damit es eine gemeinsame Richtung gibt. Diesen Dialog gibt es noch nicht. Im Moment läuft es so, dass die Kommunen sagen: Ihr könnt auf Landesoder Bundesebene alles beschließen was ihr wollt, wenn ihr es bezahlt, dann machen wir es. Wenn ihr es nicht bezahlt, dann machen wir es nicht. Das ist eine völlige Selbstkastration. Der Städtetag prüft nur noch, ob eine neue Reform vom Bund oder Land oder der EU durchfinanziert ist. Aber so kann Demokratie nicht funktionieren. In der Demokratie werden die Fragen unten gestellt und dann suche ich die Lösungen. Deshalb gibt es das Bemühen, die kommunale Ebene aufzuwerten. Wir brauchen das Vertrauen der kommunalen Ebene. Dort spielen die Nachbarschaftshäuser eine unglaublich wichtige Rolle. Dort ist die große Chance, glaube ich, mit all dieser Kunst, die David aufbringt, mit der Klugheit, der Frechheit und dem Mut, all diesen Tugenden, die David hat, die notwendigen Balancen herzustellen, geduldig anzuschauen, auszudiskutieren und auszuhalten. Diese spezielle Kunst, als kleiner Verband zwischen den Fronten zu überleben, sich zu positionieren, wenn auch mit
Schwerpunkt in Berlin, die gilt es einzubringen in einen kommunalen Dialog über das, was Kommunen zusammenhält in den nächsten 20 Jahren. Das wird zuerst eine Offensive des Lernens sein, es wird eine Frage der Vielfalt sein, eine Frage der Demografie. Das sind die zentralen Fragen, die die Kommunen überall haben. Die Frage ist nicht, wer es finanziert, sondern wer sich zusammentut auf dem Gebiet, wer hat eine ähnliche Auffassung von einer Bürgerschaft, die nicht mehr harmonisch-idealistisch zusammen zu bekommen ist, so wie die Milieus auseinanderdividiert worden sind. Es gilt auf jeden Fall, mit diesen sehr unterschiedlichen Lebensweisen dynamisch zu arbeiten. Dafür sind die Nachbarschaftshäuser eine sehr gute Voraussetzung. Das erfordert von den Beteiligten ein großes Stück Selbstbewusstsein. Ich plädiere dafür, dass der Verband für sozial-kulturelle Arbeit mehr kommunale Vernetzung im nachbarschaftlichen Sinne durch systematische Dialoge mit allen Beteiligten anstrebt, eine offensive Politik, damit man über Berlin hinaus in deutsche Städte kommt.
Wendezeiten Fotografien von Harald Hauswald
Was zusammen gehรถrt ...
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Teilnehmerliste Vorname
Name
Institution / www-Adresse
Ingrid
Alberding
Nachbarschaftsheim Mittelhof - www.mittelhof.org
Caroline
Barrera
Grünheide
Irene
Beyer
Nachbarschaftshaus Pfefferberg - www.pfefferwerk.de
Eva
Bittner
Theater der Erfahrungen - www.nbhs.de
Theda
Blohm
Kreativhaus - www.kreativhaus-tpz.de
Sabrina
Blum
Stadtteilhaus Gaisental, Biberach - www.stadtteilhaus-biberach.de
Katharina
Brachmann
Nachbarschaftshaus Pfefferberg - www.pfefferwerk.de
Hans
Buchholz
Arbeitskreis Berliner Senioren - www.senioren-berlin.de
Ruth
Ditschkowski
Fabrik Osloer Str. - www.nachbarschaftsetage.de
Heidemarie
Dreyer-Weik
Paritätische Akademie - www.akademie.org
Benjamin
Eberle
AWO Begegnungszentrum Adalbertstr. - www.begegnungszentrum.org
Miriam
Ehbets
Rabenhaus Köpenick - www.rabenhaus.de
Johannes Franz
Erpenbeck
Weyhe OT Dreye
Willy
Eßmann
Outreach - www.outreach-berlin.de
Elke
Fenster
Moabiter Ratschlag - www.moabiter-ratschlag.de
Gabriele
Fichtner
Ball e.V. - www.ball-ev-berlin.de
Andris
Fischer
Verband für sozial-kulturelle Arbeit - www.stadtteilzentren.de
Gunter
Fleischmann
Jugendwohnen im Kiez - www.jugendwohnen-berlin.de
Ralf
Gilb
Outreach Neukölln - www.outreach-berlin.de
Walli
Gleim
Gemeinwesenverein Heerstr. Nord - www.gwv-heerstr.de
Reinhilde
Godulla
Network - www.spinnenwerk.de
Angelika
Greis
Nachbarschaftshaus Urbanstr. - www.nachbarschaftshaus.de
Wolfgang
Günther M.A.
NETZ eG, Berlin
Angela
Happel
Nachbarschaftsheim Schöneberg - www.nbhs.de
Jens
Hartwig
Quäker Nachbarschaftsheim, Köln - www.quaeker-nbh.de
Harald
Hauswald
Ostkreuz Fotoagentur - www.harald-hauswald.de
Bernhard
Heeb
Nachbarschaftsheim Neukölln - www.nbh-neukoelln.de
Karin
Höhne
Nachbarschaftsheim Schöneberg - www.nbhs.de
Angelika
Höhne
Nachbarschaftstreff des dfb - www.frauen-dfb.de
Gisela
Hübner
Verband für sozial-kulturelle Arbeit - www.stadtteilzentren.de
Gabriele
Hulitschke
Quartiersrat Magdeburger Platz - www.tiergarten-sued.de/quartiersrat.4371.0.html
Konrad
Hummel
Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung - www.vhw.de
Heiko
Jähnig
Freizeithaus in Weißensee - www.frei-zeit-haus.de
Ralf
Jonas
Bürgerhaus Oslebshausen, Bremen - www.bghosl.de
Karci
Kadriye
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung - www.stadtentwicklung-berlin.de
Joanna
Kalkowski
Kiezoase Schöneberg - www.kiezoase.de
Selda
Karacay
Pfefferwerk Stadtkultur - www.pfefferwerk.de
Siegfried
Kaschke
Neues Wohnen im Kiez - www.nwik.de
Petra
Kindermann
Fabrik Osloer Str. - www.nachbarschaftsetage.de
Steffen
Kindscher
Outreach Oberschöneweide - www.outreach-berlin.de
Annette
Knobloch-Minlend
Berlin
Ursula
Köcher
Nachbarschaftstreff „Club Spittelkolonnaden“ - www.frauen-dfb.de
Marianne
Konermann
Nachbarschaftsheim Schöneberg - www.nbhs.de
Dirk
Lashlee
Outreach Pankow - www.outreach-berlin.de
Timm
Lehmann
Mehrgenerationenhaus Zehlendorf-Süd - www.nachbarschaftsheim.de
Wolfgang
Leppin
Berlin
Christoph
Lewek
Freizeithaus in Weißensee - www.frei-zeit-haus.de
Thomas
Mampel
Stadtteilzentrum Steglitz - www.stadtteilzentrum-steglitz.de
Heike
Marx
Nachbarschaftsheim Schöneberg - www.nbhs.de
Annette
Maurer-Kartal
Stadtteilverein Schöneberg - www.stadtteilvereinschoeneberg.de
Ingrid
Müller
NBZ „Bürger für Bürger“ - http://www.volkssolidaritaet-berlin.de/begegnung/bg_bz_mitt_02.html
Prof.Dr. Dieter
Oelschlägel
Forum Lohberg, Dinslaken - www.forum-lohberg.de/
Elke
Ostwaldt
Outreach Treptow-Köpenick - www.outreach-berlin.de
Hella
Pergande
Outreach Schöneberg-Nord - www.outreach-berlin.de
Stephan
Preschel
Outreach Oberschöneweide - www.outreach-berlin.de
Christina
Putze
Kreativhaus - www.kreativhaus-tpz.de
Barbara
Rehbehn
Bürgerhaus am Schlaatz, Potsdam - www.buergerhaus-schlaatz.de
Tanja
Ries
Berlin - www.tanjaries.de
Markus
Runge
Nachbarschaftshaus Urbanstr. - www.nachbarschaftshaus.de
Bahar
Sanli
Nachbarschaftshaus Urbanstr. - www.nachbarschaftshaus.de
Monika
Schaal
Nachbarschaftshaus Pfefferberg - www.pfefferwerk.de
Tina
Schenck
Nachbarschaftshaus Centrum - www.nachbarschaftshaus-centrum.de
Herbert
Scherer
Verband für sozial-kulturelle Arbeit - www.stadtteilzentren.de
Elena
Scherer
Verband für sozial-kulturelle Arbeit - www.stadtteilzentren.de
Gerd
Schmitt
Kiezoase Schöneberg - www.kiezoase.de
Viola
Scholz-Thies
Gemeinwesenverein Heerstr. Nord - www.gwv-heerstr.de
Elke
Schönrock
Gemeinwesenverein Haselhorst - www.gemeinwesenverein-haselhorst.de
Enver
Sen
Stadtteilverein Schöneberg - www.stadtteilvereinschoeneberg.de
Petra
Sperling
Gemeinwesenverein Heerstr. Nord - www.gwv-heerstr.de
Margret
Staal
Bundesvereinigung sozio-kultureller Zentren - www.sociokultur.de
Peter
Stawenow
Sozialwerk Berlin - www.sozialwerk-berlin.de
Sarah
Steiner
Outreach Pankow - www.outreach-berlin.de
Haroun
Sweis
Network „Orientexpress“ - http://jugendserver.spinnenwerk.de/~orientexpress/
Eva-Maria
Täubert
Theater der Erfahrungen - www.nbhs.de
Bernhard
Thies
NBZ „Bürger für Bürger“ - http://www.volkssolidaritaet-berlin.de/begegnung/bg_bz_mitt_02.html
Käthe
Tresenreuter
Sozialwerk Berlin - www.sozialwerk-berlin.de
Evelyn
Ulrich
Nachbarschaftshaus am Berl - www.vav-hhausen.de
Birgit
Vietzke
Prof. Dr. Stephan Wagner
Stadtteilkoordination Nürnberg - http://www.stark-gostenhof.de/Stadtteilkoordination.html Paritätische Akademie - www.akademie.org
Joachim
Walther
Grünheide - www.taulos.de
Birgit
Weber
Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen - www.bagfa.de
Conny
Weiland
Nachbarschaftshaus Pfefferberg - www.pfefferwerk.de
Volker
Welz
Freizeithaus in Weißensee - www.frei-zeit-haus.de
Sabine
Weskott
SOS-Familienzentrum Berlin - www.sos-fz-berlin.de
Nele
Westerholt
Stadtteilmanagement Düttmann-Siedlung - www.duettmann-siedlung.de
Renate
Wilkening
Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum ufafabrik - www.nusz.de
Matthias
Winter
Nachbarschaftshaus Urbanstr. - www.nachbarschaftshaus.de
Torsten
Wischnewski
Pfefferwerk Stadtkultur - www.pfefferwerk.de
Birgit
Wulff
TAEKS e.V. - www.taeks.de
Hüseyin
Yoldas
Gangway - www.gangway.de
Djamila
Younis
Kreativhaus - www.kreativhaus-tpz.de
Georg
Zinner
Nachbarschaftsheim Schöneberg - www.nbhs.de
Sigrid
Zwicker
Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum ufafabrik - www.nusz.de
Was zusammen gehört ...
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Impressum
Impressum Der Rundbrief wird herausgegeben vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Tucholskystraße 11, 10117 Berlin Telefon: 030 280 961 03 Fax: 030 862 11 55 Email: bund@sozkult.de Internet: www.vska.de Redaktion: Herbert Scherer Gestaltung: Hulitschke Mediengestaltung Druck: Agit-Druck Berlin Der Rundbrief erscheint halbjährlich Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand