ISSN 0940-8665 43. Jahrgang / September 2007 5,00 Euro
Rundbrief 1
2007
• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit • • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •
In dieser Ausgabe: •
60 Jahre Quäker-Nachbarschaftsheim in Köln
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30 Jahre Bürgerhaus Oslebshausen in Bremen
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Sperrmüllmarkt in Moabit
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Modellprojekt „Sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit“
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Trio-Projektverbund für eine lebendige Zivilgesellschaft
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Modelle der Partizipation auf dem Prüfstand
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Fachaustausch mit Lettland
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Jugendforschung im Soldiner Kiez
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Ehrenrettung einer Supermama
Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.
Der Rundbrief wird herausgegeben vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Tucholskystr. 11, 10117 Berlin Telefon: 030 280 961 03 Fax: 030 862 11 55 email: bund@sozkult.de internet: www.vska.de Redaktion: Herbert Scherer Gestaltung: Direct Smile GmbH Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin Der Rundbrief erscheint halbjährlich Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand
Titelbild:„Quäkermännchen“, zum 60. Jubiläum hergestellt von Kindern aus dem QuäkerNachbarschaftsheim in Köln
Inhalt Herbert Scherer Zum 60jährigen Bestehen des Quäker-Nachbarschaftsheims in Köln
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Conny Wiedemeier Zum 30jährigen Bestehen des Bürgerhauses Oslebshausen in Bremen
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Dr. Norbert Kopytziok Der Moabiter Sperrmüll-Markt
9-12
Elke Ostwaldt / André Schmidt
Das Modellprojekt “Sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit (SoFJA)”
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Karin Stötzner trio: Selbsthilfe , Ehrenamt und Nachbarschaft - für eine lebendige Zivilgesellschaft
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Prof. Dr. Roland Roth Moderner Staat und Bürgerkommune - Modelle der Partizipation auf dem Prüfstand
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Lettland-Reisegruppe Besuch im Weißen Haus von Livani - aus den Protokollen eines Fachaustausches
23-29
Thomas Kilian Freundschaft, Feiern und an Ecken stehen -Jugendforschung im Soldiner Kiez
30-31
Herbert Scherer Das Medium und die Message - Ehrenrettung einer Supermama
32-39
Vorwort 2007 ist ein gutes Jahr für die Nachbarschaftszentren. Mit den „Mehrgenerationenhäusern“, die das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch ein breit angelegtes Förderprogramm unterstützt, entstehen in der ganzen Bundesrepublik Hunderte neuer multifunktionaler und stadtteilbezogener offener Treffpunkte mit einem Profil, das dem der „Nachbarschaftsheime“,„Bürgerhäuser“,„Stadtteil-„ oder „Gemeinwesenzentren“ sehr vergleichbar ist. Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit und seine Mitgliedseinrichtungen haben sich bereit erklärt, ihre Erfahrungen mit allen zu teilen, die sich jetzt neu auf den Weg machen, in diesem Sinne ihr Leistungsspektrum und ihre Zielgruppen zu erweitern. Gerade in diesem Jahr, in dem die ersten Mitgliedseinrichtungen in Köln, Frankfurt und Berlin ihr 60jähriges Bestehen erinnern wir uns daran, dass auch unsere Einrichtungen bei ihrer Gründung, aber auch immer wieder im Laufe ihrer bewegten Geschichte von den Erfahrungen anderer profitieren konnten. Dabei ging es nicht um Kopien sondern um Aneignungen, bei denen Problemlösungen gefunden werden mussten, die der jeweiligen konkreten Situation vor Ort entsprachen. Der hier vorliegende Rundbrief will mit seinen Rückblicken auf die Geschichte, mit seinen Praxisberichten, seinen Auswertungen und Reflexionen zu diesem Erfahrungsaustausch beitragen. Wir sind uns dabei dessen bewusst, dass das gedruckte Wort den kollegialen persönlichen Austausch nicht ersetzen kann, den wir gerne auch über unsere Verbandsgrenzen hinaus organisieren. Wir haben uns gefreut, dass unsere diesbezüglichen Angebote Resonanz gefunden haben. Gruppen aus Schleswig-Holstein, Sachsen und Thüringen haben Mitgliedseinrichtungen unseres Verbandes besucht und nützliche Anregungen für die eigene Arbeit mitgenommen. Hier sind wir gerne weiter behilflich! Herbert Scherer
Herbert Scherer
Redebeitrag bei der Feier zum 60jährigen Bestehen des QuäkerNachbarschaftsheims in Köln am 04.05.2007 Liebe Festgäste, Ich überbringe Ihnen die allerherzlichsten Glückwünsche des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit, der vor 55 Jahren als Verband Deutscher Nachbarschaftsheime gegründet wurde und bis heute als Dach- und Fachverband der Nachbarschaftsheime, Bürgerhäuser und Stadtteilzentren tätig ist. Der Geburtstag des Quaeker Nachbarschaftsheims hat für uns eine ganz besondere Bedeutung. Das wird dadurch unterstrichen, dass der gesamte Vorstand des Verbandes aus allen Himmelsrichtungen angereist ist, um heute mit dabei zu sein. Hier stehen wir gewissermaßen in doppelter Weise an der Quelle unserer Bewegung. Zum einen ist das Quäker-Nachbarschaftsheim das ERSTE Nachbarschaftsheim, das nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland ins Leben gerufen wurde – es eröffnet in diesem Jahr den Reigen der Einrichtungen, die seit 60 Jahren bestehen. Zum anderen erinnert uns der Name dieses Nachbarschaftsheims daran, aus welchem Geist / aus welcher Motivation unsere Häuser geschaffen wurden – und was für Menschen es waren, die uns nach den finsteren Jahren der Nazizeit und aus dem Nachkriegselend wieder auf die Beine geholfen haben.
Mit den Quäkern verbinden die meisten Menschen in Deutschland, wenn überhaupt etwas, dann wohl am ehesten die Quäkerspeisung, die groß angelegte Hilfsaktion aus dem Ausland zur Linderung der unmittelbaren materiellen Not nach den beiden Weltkriegen. Das Quäker-Nachbarschaftsheim ist der erkennbare Beweis dafür, dass wir den Quäkern insbesondere auf dem weiten Feld des Sozialen sehr viel mehr verdanken.
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Schon vor dem Ende des Krieges hatten die amerikanischen Quäker ein Memorandum zu der Frage ausgearbeitet, wie die soziale Infrastruktur in Deutschland nach dem Krieg aussehen sollte und hatten die Gründung von Nachbarschaftsheimen nach dem Vorbild der englischen und amerikanischen Settlements und Neighbourhood Centres vorgeschlagen. Das könne eine Form sein, in der es den Deutschen nach einer Zeit, in der auch im Sozialwesen das Führer- und Gefolgschaftsprinzip eingezogen war, möglich sein würde, wieder einen anderen Umgang miteinander zu lernen, sich nachbarschaftlich zu begegnen, Entscheidungen unter gleichberechtigter Teilnahme und nach demokratischen Grundsätzen zu fällen, Selbstverantwortung und Selbstvertrauen zurück zu gewinnen. Dies Memorandum ist ein radikaler Gegenentwurf zu den gleichzeitig diskutierten Morgenthau-Plänen, in denen Deutschland vorsichtshalber zum Agrarland umgewandelt werden sollte, weil man den Menschen hier keinerlei Vertrauen zu schenken bereit war. Die Quäker geben keinen Menschen auf. Sie haben das tief verwurzelte Zutrauen zu dessen „gutem Kern“, zu dem inneren Licht, das in jedem Menschen brennt und das es freizulegen gilt, wenn es von anderem überdeckt ist. So glauben die Quäker auch an die Möglichkeit des Friedens und der Versöhnung in dieser absolut nicht friedfertigen Welt. Das ist allerdings ein sehr tätiger Glaube. Die Quäker legen nicht die Hände in den Schoß, um auf den Eingriff eines höheren Wesens zu warten, sondern sie packen mit großer Energie an. Im Jahre 1947 haben die Quäker dafür den Friedensnobelpreis bekommen, im gleichen Jahr, in dem das Quäker-Nachbarschaftsheim gegründet wurde. Interessant ist, wem wir nicht nur das Quäker-Memorandum von 1943 verdanken sondern auch dessen kluge und entschlossene Durchsetzung gegenüber der realen Politik der amerikanischen und britischen Administration. Es war eine Frau, die in Köln in den zwanziger Jahren eine zentrale Rolle in der Sozialpolitik gespielt hat. Ich spreche von Hertha Kraus.
Hertha Kraus, geb. 1897 in Prag, aus einem jüdischen Elternhaus stammend, Studium 1919 mit der Promotion abgeschlossen, war in Berlin in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg als Mitarbeiterin der damaligen Quäkerhilfe in die soziale Arbeit eingestiegen und hatte dabei sowohl die Quäker als auch die Ideen der internationalen Settlementbewegung kennengelernt, die in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost unter der Leitung von Friedrich Siegmund-Schultze auch in Deutschland praktisch umgesetzt wurden. Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, war von dieser jungen Frau – sie war gerade 25 Jahre alt, als er sie als Rednerin auf einer Konferenz kennen lernte – so beeindruckt, dass er ihr anbot, Leiterin der Sozialbehörde im Range einer Stadtdirektorin zu werden. Dies Amt trat sie im April 1923 tatsächlich an und war damit die jüngste Inhaberin eines solchen Amtes in ganz Deutschland. Das war in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich und stieß deswegen in der Kölner Lokalpresse auf Unverständnis und Ablehnung: War doch Hertha Krauss weder kölnisch noch katholisch – und dann noch eine ausländische Herkunft ... Es sollte noch mehr dazu kommen: ihre sozialdemokratische politische Ausrichtung und ihre Mitgliedschaft in der Arbeiterwohlfahrt. Adenauer hat seine Wahl dennoch nicht bereut. Er hatte eine Frau gewonnen, die mit großer Tatkraft und teilweise schon zu dieser Zeit internationaler Bewunderung Innovationen in der sozialen Arbeit umsetzte: die Riehler Heimstätten sind dafür noch heute in Köln sehr wahrnehmbare bauliche Denkmäler. Hier gibt es übrigens auch eine Hertha-Kraus-Str. Das dreistufige Wohnkonzept für ältere Menschen – rüstige in selbst bewirtschaften Appartements – leicht hilfsbedürftige in einem weiterhin weitgehend selbst bestimmten betreuten Wohnen – und ein Pflegeheim – als integriertes Gesamtprojekt, verbunden mit Wohnen für Menschen anderer Generationen und entsprechenden Infrustruktureinrichtungen wie Kindertagesstätten und (ja tatsächlich) Nachbarschaftszentren, die der geselligen Begegnung im Freizeitbereich dienen sollten. – und das alles realisiert durch den Umbau ehemaliger Militärkasernen – Schwerter zu Pflugscharen in bester Quäkermanier. Hertha Kraus, Quäkerin, Sozialdemokratin, Jüdin nach Definition der neuen Machthaber, musste 1933 aus Deutschland fliehen. Sie emigrierte in die USA, deren Staatsbürgerin sie wurde. Sie fand herzliche Aufnahme in Quäkerkreisen, die ihr ermöglichten, in die Ausbildung für soziale Berufe einzusteigen, wo sie sich rasch auch mit theoretischen Beiträgen zu Methoden der sozialen Arbeit hohe Anerkennung erwarb.
Diese Anerkennung bewirkte, dass ihre Vorschläge zur sozialen Arbeit im künftigen Deutschland ernst genommen wurden. Vor dem Hintergrund der Biographie dieser Frau, die jede Menge Gründe gehabt hätte, den Deutschen zu misstrauen, ist diese Initiative noch bemerkenswerter und ein besonderer Beweis für die Tragfähigkeit der inneren Überzeugung, die die Quäker leitet. Die soziale Arbeit der Nachbarschaftshäuser in Deutschland ist, auch wo sie sich dessen in der täglichen Arbeit nicht immer bewusst sind, ganz grundsätzlich von dieser Haltung beeinflusst worden. Viele dieser Einrichtungen sind wie das Kölner Heim unmittelbar durch Quäker gegründet worden, andere haben sich aus eigenem Antrieb den gleichen Grundideen angeschlossen. In unserem Verband, der heute Verband für sozial-kulturelle Arbeit heißt, fühlen wir uns diesem Erbe in besonderer Weise verpflichtet und tragen die Ideen • des Vertrauens auf die Menschen • der gleichen Augenhöhe von Helfern und solchen, die Hilfe brauchen • der Hilfe zur Selbsthilfe • des freiwilligen sozialen Engagements • und des nachbarschaftlichen Zusammenlebens über die Grenzen von Generationen, Herkunft und Weltanschauung hinein in das breitere Umfeld von Bürgerhäusern, sozio-kulturellen Zentren, Gemeinwesenprojekten, Stadtteilzentren und – mit Sicherheit auch – den gerade neu entstehenden sog. Mehrgenerationenhäusern. Das Quäker-Nachbarschaftsheim in Köln hat dabei für unseren Verband wegen seiner besonders intensiven Verbindung zur Tradition, die nach der Gründung durch die langjährigen Leiter/inn/en Hildegard Loos (selbst Quäkerin ) und Josef Berners weitergetragen wurde, die Funktion eines LEUCHTTURMS, eines Orientierungslichtes. Köln verfügt mit seinen 11 Bürgerzentren über ein vergleichsweise dichtes Netz solcher Einrichtungen und hat auch insofern aus unserer Sicht einen gewissen Vorbildcharakter gegenüber anderen Städten in der Bundesrepublik. Allerdings freuen wir uns darüber, dass Köln in dieser Hinsicht nicht allein auf weiter Flur steht. Insbesondere zwischen den Stadtstaaten Bremen, Hamburg und Berlin gibt es einen friedlichen Wettstreit darum, wer die Nase vorn hat. So hat die Stadt Köln schon 1977 ein richtungsweisendes Konzept zum stadtweiten Ausbau von sozial-kulturellen Bürgerzentren beschlossen. In Bremen wurde etwa gleichzeitig der Verband Bremer Bürgerhäuser gegründet, mit dem der Stadtstaat Bremen ein ver-
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Ich empfehle dem Quäker-Nachbarschaftsheim, bei seinem Namen zu bleiben, gerade weil er hier in Köln so etwas wie ein Markenzeichen geworden ist. Wenn man sagt, wir gehen zu „Quäkers“, ist ja einfach nur das Quäker-Nachbarschaftsheim gemeint und nicht die religiöse Gruppe, der das Nachbarschaftsheim seine Gründung verdankt. gleichbares Programm umzusetzen begann. In Berlin gibt es den Vertrag zum landesweiten Ausbau von „Stadtteilzentren“ seit 1999. Mit 35 solchen „Stadtteilzentren“ liegt Berlin zur Zeit, wenn man das Verhältnis der Bevölkerungszahlen zu Grunde legt (3,5 zu 1 Mio.), mit Köln etwa gleichauf. Es wäre nicht schlecht, wenn das für beide Städte einen (wechselseitigen) Ansporn darstellen würde, sich mit zusätzlichen Anstrengungen an die „Spitze der Bewegung“ zu setzen. Unser Verband und das Quäker-Nachbarschaftsheim haben, wie ich gehört habe, noch ein gemeinsames Problem: die immer wieder aufflammende Debatte um den „richtigen Namen“. Unser Verband hat sich nach einer solchen Debatte Anfang der siebziger Jahr von „Verband Deutscher Nachbarschaftsheime“ in „Verband für sozial-kulturelle Arbeit“ umbenannt. Der traditionelle Begriff „Nachbarschaftsheim“ wurde von einigen als zu verstaubt empfunden. Es gibt in unseren Reihen Einrichtungen, die sich in den letzten Jahren aus ähnlichen Überlegungen heraus zum „Stadtteilzentrum“ oder zum „Nachbarschaftshaus“ umbenannt haben, andere halten sehr selbstbewusst an dem traditionellen Begriff fest.
Aus der Kommunikationswissenschaft wissen wir, dass so etwas unter Marketing-Gesichtspunkten das höchst erreichbare Ziel darstellt: die Sache schiebt sich vor den Namen und übernimmt dessen Bedeutung. So wie bei den Amerikanern das „hoovern“ Staubsaugen bedeutet, obwohl es sich ursprünglich nur aus der Markenbezeichnung für eine Staubsaugerfirma herleitet.„Fridge“ ist die Kurzbezeichnung für einen Kühlschrank geworden, auch wenn er nicht von der Firma „Fridgidaire“ produziert wurde. Und wer eine Internet-Suchmaschine benutzt,„googelt“ mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Aber ab und an ist es für Mitarbeiter/innen, Freunde und Förderer des Quäker-Nachbarschaftsheims allerdings auch nicht schlecht, sich der Traditionen und Ansprüche zu vergewissern, die in dem Namen enthalten sind. Dazu wollte ich heute einen Beitrag leisten. Herbert Scherer Geschäftsführer des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit
Conny Wiedemeier
Rede zur Feier des 30jährigen Bestehens des Bürgerhauses Oslebshausen in Bremen am 22.06.2007 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Freunde des Bürgerhauses Oslebshausen, 30 Jahre Bürgerhaus Oslebshausen sind für uns nicht nur ein Grund zum Feiern, sondern auch eine gute Möglichkeit, Ihnen unsere Arbeit vorzustellen, auch wenn das im Rahmen dieser Veranstaltung nur ein kleiner Auszug sein kann. Zu einem solchen Anlass gehört auch immer ein kurzer Rückblick – doch keine Angst, ich werde nicht die gesamten 30 Jahre Bürgerhausarbeit referieren. Die meisten von Ihnen sind uns über Jahre eng verbunden und erinnern sich sicherlich noch an die Feierlichkeiten zum 25jährigen Jubiläum. Im Wesentlichen werde ich mich daher auf die Highlights der vergangenen 5 Jahre beschränken.
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Doch wie kam es eigentlich zum Bürgerhaus Oslebshausen? Im Jahr 1973 entschieden die Oslebshauser auf einer Einwohnerversammlung:„…das bewilligte Geld für den Bau eines Badesees im Park am Nonnenberg solle lieber für ein Bürgerhaus verwendet werden.“ So entstand 1977 das 6. Bremer Bürgerhaus. Vorstand, Hausversammlung und Programmbeirat werden Gremien der demokratischen Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Mit Ralf Jonas als Leiter seit Januar 1988 ändert sich das Leben im Bürgerhaus: sein Schwerpunkt ist die Arbeit mit Jugendlichen. Bis heute ist die Arbeit des Bürgerhauses davon geprägt, dass Jung und Alt hier gemeinsam aktiv sind. Ganze Generationen von Familien sind hier im Haus aufgewachsen, bilden miteinander
die große Bürgerhausfamilie von mittlerweile über 100 Ehrenamtlichen, die sich regelmäßig engagieren. Nach Auflösung der zentralen Geschäftsstelle des Verbands der Bremer Bürgerhäuser wagte der Vorstand 1993 den Schritt in die finanzielle und rechtliche Selbstständigkeit. Der Leiter wurde zum Geschäftsführer, der Vorstand zum Arbeitgeber. Die kontinuierliche Weiterentwicklung unserer Arbeit führte dazu, dass das Bürgerhaus aus allen Nähten platzte. Außerdem standen nach 25 Jahren erhebliche Sanierungsarbeiten an. Im Jubiläumsjahr 2002 war es dann so weit, die Mittel für den erforderlichen Umbau und die Sanierung konnten eingeworben werden. Besonders geholfen haben uns dabei die vielen kleinen und großen Spenden unserer Unterstützer.
Das Jahr 2003 war geprägt von der baulichen Umgestaltung des Bürgerhauses, ein wahres Mammutprojekt. Das gesamte Haus musste mit allen Aktivitäten für viele Monate ausgelagert werden. Bereits im Januar wird der große Umzug vorbereitet und die Suche nach angemessenen Ersatzräumen für die vielen Gruppen des Bürgerhauses abgeschlossen. Unterschlupf fanden unsere Gruppen bei Einrichtungen in Oslebshausen und Gröpelingen, von der Kirche, über Kultureinrichtungen bis hin zur Polizei. Das Projekt Silent Battle ist eine der zentralen Aktivitäten im Jahr 2004 gewesen. Erstmalig versuchte sich das Bürgerhaus in der Rolle des Produzenten. Nach vielen Jahren der Jugendarbeit im Breakdancebereich hat sich im Bürgerhaus eine hochprofessionelle multikulturelle Tanzformation entwickelt. Diverse Weltmeistertitel und Preise drücken die Qualität dieser Truppe aus. Durch eine überregionale Berichterstattung und verschiedene Fernsehbeiträge wurde dieses Projekt bundesweit bekannt. Ebenfalls im Jahr 2004 wird die Begegnungsstätte in die Trägerschaft des Bürgerhauses überführt. Gefördert wird die Begegnungsstätte vom Senator für Soziales mit einem Zuschuss für Miete, Nebenkosten und anteilige Personalkosten. Das Programm der Begegnungsstätte finanziert sich durch Einnahmen aus
Kaffeeverkauf und Teilnehmerbeiträgen. Der Ältestenrat und die ehrenamtlichen Helfer organisieren das Programm vollkommen selbständig und erhalten von uns lediglich Hilfen in Haustechnik und Buchhaltung. Über 100 Stammbesucher im Alter von 70 – 95 Jahren zählt die Begegnungsstätte. Das Internationale Jugendcircusfestival ist ein Höhepunkt des Jahres 2005 gewesen. In Kooperation mit dem Lidice Haus, dem Service Bureau für internationale Jugendarbeit, der Circusschule Jokes, dem Kindercircus Turnini und Bambini und Circus Spektakolo aus Bremerhaven organisierten wir das Festival. Zu Gast waren Gruppen aus Schweden, Belgien und Polen. Finanziert wurde das Projekt aus Mitteln für die Internationale Jugendbegegnung. Auch dieses Projekt ist ein gutes Beispiel für Synergieeffekte in der Kulturarbeit. So stellten wir die gesamte technische Ausstattung inklusive unseres Circuszeltes zur Verfügung. Der Circus Bambini aus dem Bürgerhaus Mahndorf organisierte das Auftrittszelt, das Service Bureau sorgte für die Teilnahme der ausländischen semiprofessionellen Gruppen und das Lidice Haus brachte die 100 Jugendlichen für 10 Tage unter. Mit diesem schlagkräftigen Team meisterten wir sogar eine echte Katastrophe. Ein unerwartetes Sommerhochwasser überflutete unsere beiden Zelte am Osterdeich, wir konnten in letzter Minute unser Equipment vor den Fluten retten. Bis zu den Hüften standen die Helfer dabei im Wasser. Innerhalb von Stunden rettete uns dann das Theater am Leibnizplatz mit der Möglichkeit, die restlichen Auftritte dort aufzuführen. EMNI – Mein unsichtbarer Freund sorgte im Jahr 2006 von Januar bis Mai im Bürgerhaus für einen Ausnahmezustand. 60 Jugendliche aus Oslebshausen, Bremen, Bremerhaven, Hude, Ottersberg und Oldenburg produzierten unser erstes eigenes Tanztheaterstück. Das Besondere an diesem Projekt war, dass außer Arton Veliu als Choreograf kein Erwachsener an dem Projekt beteiligt war. In Kooperation mit dem Qualifizierungsprojekt Act von Quartier e.V. wurden von Jugendlichen Kostüme entworfen und geschneidert, wurden Bühnenbilder gebaut, Requisiten hergestellt, das technische Konzept entwickelt, Texte geschrieben und Szenen entwickelt. In der Endphase des Projektes wurde schließlich täglich trainiert, manchmal bis in die Nacht hinein. Das Ergebnis war überwältigend: 800 Zuschauer im Pier 2 feierten die jungen Künstler mit anhaltenden stehenden Ovationen. Der WeserKurier brachte am nächsten Tag eine sehr gute Kritik im Kulturteil. Ermöglicht haben die Produktion die Spenden der "Waldemar-Koch-Stiftung", der "Karin und Uwe Hollweg Stiftung", ein Zuschuss des Stadtteilbeirats und das Entgegenkommen von Heiner Hellmann vom Pier und der Firma Jochen Mäding, Veranstaltungstechnik. Ideen für Nachfolgeprojekte gibt es reichlich, für neue Projekte müssen wir aber erst neue Geldgeber oder Mäzene finden.
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Gefördert durch das Programm „Wohnen in Nachbarschaften“ und den Beirat haben wir in den Osterferien 2006 Kindern und Jugendliche aus dem Quartier Wohlers Eichen die Chance gegeben, ihre kreativen Möglichkeiten zu entdecken. Unter dem Motto „Circus meets Hip-Hop“ trainierten eine Woche lang ca. 40 Kinder und Jugendliche Circus und Tanz. Am 6. Tag wurden die Ergebnisse in einer Gala der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Ergebnisse waren faszinierend. Innerhalb von nur einer Woche konnte man erleben, wie Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten bei entsprechender Förderung ein großes kreatives Potential entwickeln.
Aus diesem Grund haben wir im Bürgerhaus die ArtOne-Agentur mit jungen Künstlern mit Migrationshintergrund gegründet. Eine richtige Firma ist hier entstanden. Im Vordergrund steht die Vermittlung von jungen Künstlern aus dem Hip-Hop Bereich, das Entwickeln von eigenen Produktionen und das Entwerfen von Werbematerialien. Mit Unterstützung der Karin und Uwe Hollweg Stiftung konnten zwei Rechner angeschafft werden, durch die Einnahmen im Jahr 2006 konnten notwendige Arbeitsmittel wie Programme, Kamera und eine Büroeinrichtung realisiert werden. Die Firma hat sich durch einige große Aufträge, z.B. Hip-Hop meets Fußball sehr gut entwickelt. Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass diese Firma 2-3 jungen Menschen eine Existenzgrundlage bieten kann. Das Büro der ArtOne-Agentur haben wir im Bürgerhaus in einem Raum im Keller eingerichtet. Hier arbeitet nicht nur die Firma, sondern die Jugendlichen helfen sich auch gegenseitig. Das Jubiläumsjahr 2007 ist geprägt durch viele Jubiläumsaktivitäten. Im Januar trafen sich 50 Aktive im Bürgerhaus, um das Jubiläumsjahr vorzubereiten. Es wurden 4 AG´s gegründet: für eine eigene Filmproduktion über das Bürgerhaus, die Fertigstellung ist zum Ende des Jahres geplant; für die Teilnahme am Freimarktsumzug; für dieses Jubiläumswochenende und dem bereits erfolgreichen „Betriebsausflug“ mit viel Bewegung, Spiel und Spaß für Jung und Alt.
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Außerdem wird zurzeit das Bürgerhausumfeld verschönert: in Kooperation mit „Spielräume schaffen“ e.V. wurden von den Kindern des Bürgerhauses auf dem Vorplatz wunderschöne Mosaiken geschaffen, die die bisher unansehnliche Mauer schmücken. Ein lebensgroßer Esel der Bremer Stadtmusikanten hat seinen Platz vorm Bürgerhaus bezogen und unser Injobber hat mit den Kindern einen Lehmofen im Garten gebaut, der auch an diesem Wochenende eingeweiht werden soll. Zum Ende dieses Jahres wird es eine Neuauflage von EMNI im Pier 2 geben – das rechtzeitige Sichern von Eintrittskarten ist aufgrund der großen Nachfrage zu empfehlen. Doch erst einmal steht dieses Wochenende im Bürgerhaus ganz im Zeichen des Jubiläums. Bei allen Anwesenden möchte ich mich recht herzlich für das Interesse an unserer Arbeit bedanken. Nach einigen kurzen Grußworten erleben Sie ein ca. einstündiges Bühnenspektakel von verschiedenen Gruppen aus unserem Hause, bevor Sie sich dann bei einem kleinen Imbiss in gemütlicher Runde austauschen können. Nutzen Sie die Gelegenheit auch zu einem Rundgang durch unser Haus. Alle Räume sind von den Kindern des Bürgerhauses liebevoll dekoriert worden. Für den Imbiss haben die Eltern der Kindergruppen gesorgt. Und bleiben Sie uns auch für die Zukunft gewogen! Wir wissen um die finanziellen Sorgen im Lande, sind aber selbstbewusst genug, neben Respekt für unsere Arbeit auch die materiellen Grundlagen einzufordern, um unsere Arbeit auch zukünftig fortsetzen zu können. Das Bürgerhaus hat bisher einen stetig steigenden Eigenbeitrag durch wirtschaftliche Aktivitäten, Sponsoren und hohes ehrenamtliches Engagement geleistet, diese Anstrengungen werden wir fortsetzen. Wir überzeugen durch unsere Arbeit und leisten einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt. Als Kultureinrichtung fürchten wir uns nicht vor Controlling und Benchmarks – wir wünschen uns jedoch endlich die seit langem angekündigten, mehrjährigen Kontrakte, um eine höhere Planungssicherheit für unsere ehrgeizigen Projekte zu haben. Dabei setzen wir auf Jens Böhrnsen, unseren Präsidenten des Senats, der zukünftig auch für Kultur zuständig sein wird.
Conny Wiedemeier ist die 1. Vorsitzende des Vereins „Bürgerhaus Oslebshausen“ e.V.
http://buergerhaus-oslebshausen.bremer-buergerhaeuser.de
Seit 1999 führt das Nachbarschaftshaus Urbanstr. in Berlin mit großem Erfolg sog. „Sperrgutmärkte“ durch. Andere Nachbarschaftseinrichtungen haben die Idee aufgegriffen. Der Bericht von Dr. Norbert Kopytziok macht deutlich, was bei der Vorbereitung und Durchführung einer solchen Aktion alles zu beachten ist. Dr. Norbert Kopytziok
Der Moabiter Sperrmüll-Markt Am 6. Mai 2006 fand zum dritten Mal ein Sperrmüll-Markt in Moabit statt. Bislang wurde er „Sperrmülltauschmarkt“ genannt. Unsere Überlegungen zur Namensänderung führten zu Begriffen wie „Gerümpel“ und „Altgeräte“. Allerdings konnten wir keinen besseren Begriff als „Sperrmüll“ finden. Die Vorbereitungen Die Vorbereitungen dauerten über zwei Monate. Sie begannen mit dem Erfahrungsaustausch jener Personen, die die bisherigen Sperrmüll-Märkte organisiert hatten: Frau Pfeiffer, QM-Büro Beusselstraße; Herr Dombrowsky, Dodohaus. Als erstes mussten Termin und Veranstaltungsort festgelegt werden. Für die Terminplanung mussten sowohl das Wetter (im April kann es noch kalt sein) sowie andere Großveranstaltungen (1.Mai, Turmstraßenfest) bedacht werden. Als mögliche Veranstaltungsorte wurden der bisherige Platz in der Rostocker Straße, der Platz beim Moabiter Ratschlag e.V., der Parkplatz vom Haus der Weisheit, der Rathausplatz, der Ottoplatz sowie der Platz vor dem SOS-Kinderdorf in Erwägung gezogen. Anschließend wurde eine Firma mit den nötigen Straßenabsperrmaßnahmen beauftragt. Es folgten Anträge auf Genehmigungen beim Grünflächenamt. Das Gespräch mit dem Umweltamt ergab, dass ein zusätzlicher Antrag wegen Lärm nur gestellt werden müsste , wenn entsprechende Lärmquellen zu erwarten seien. Auftragserteilung Zur reibungslosen Abwicklung des Sperrmüll-Marktes mussten Aufträge zur Restmüllentsorgung, für das Rahmenprogramm sowie für den Abholservice erteilt werden. Zur Restmüllentsorgung wurde die Berliner Stadtreinigung (BSR) in Erwägung gezogen, die allerdings weder E-Schrott noch Sondermüll hätte abholen können. Daraufhin nahmen wir mit den für solche Abfälle zuständigen Firmen Verhandlungen auf, die aber nur extrem teure Angebote unterbreiteten. Deshalb mussten wir mit erheblichem fachlichen und politischen Druck auf die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sowie die BSR einwirken, bis sich schließlich die BSR doch zur kostenlosen Abholung vom E-Schrott bereit erklärte. Der möglicherweise anfallende Sondermüll konnte allerdings nicht von ihr entsorgt werden. Die Entsorgung des übrigen Sperrmülls wurde zu den normalen Abhol-Tarifen der BSR vereinbart.
Öffentlichkeitsarbeit Unsere Öffentlichkeitsarbeit bestand aus Pressearbeit, Entwerfen von Plakaten und Verschicken von Ankündigungen über die Email-Verteiler. Die Ankündigung des Sperrmüll-Marktes in Printmedien wurden auf regionale Medien begrenzt. Dabei mussten wir bedenken, dass das Informationsheft des Bezirksamtes „stadt.plan.moabit“ sowie das Initiativ-Info des Tauschrings Mitte „Zwischendrin“ nur monatlich erscheinen. Deshalb haben wir diesen Medien schon 8 Wochen vor Beginn der Veranstaltungen alle wesentlichen Informationen mitgeteilt. Die regionalen kostenlosen Wochenblätter erhielten die Informationen etwa 4 Wochen vor dem Termin. Besonders erfolgreich war die, mit einem Sperrmüll-Bild versehene Berichterstattung im Berliner Abendblatt etwa 10 Tage vor dem Sperrmüll-Markt. In der Woche der Veranstaltung berichtete auch die „Berliner Woche“ (ebenfalls eine kostenlose Wochenzeitung, die an alle Haushalte verteilt wird) von dem Sperrmüll-Markt. Darüber hinaus druckte die Berlinweite „BZ“ eine Kurzinfo zum Markt ab. Zu der Wirkung, den die Ankündigungen im Tauschmarkt-Info sowie in der Bezirksamt-Zeitung hatten, können wir keine Einschätzung machen. Der Versuch auch türkische und arabische Medien einzubinden blieb leider erfolglos. Die Plakate waren etwa 4 Wochen vor dem Sperrmüll-Markt fertig. Etwa 100 A-4- und. A-3 große Plakate wurden umgehend in Schaukästen, Kneipen, Kommunikationszentren und ausgewählten Lokalen ausgehängt. Über 1000 A-5 Flugblätter wurden in o.g. Einrichtungen verteilt. Darüber hinaus befestigten die Kiezläufer 10 Tage von dem Sperrmüll-Termin weitere 600 Info-Zettel an allen Hauseingängen in Moabit West. Pressegespräch Ebenfalls 10 Tage vor dem Termin wurde die Presseinformation über verschiedene Email-Verteiler (Moabiter Ratschlag, moabitwest-Newsletter) verschickt. 5 Tage vor dem Sperrmüll-Markt wurde Berlinweit die Presse zu einem Vor-Ort-Pressegespräch eingeladen. Zusätzlich wurde über den kompletten Presseverteiler des Moabiter Ratschlags am Tag des Sperrmüll-Marktes eine Pressemitteilung verschickt. Die Einladung zu einem Pressegespräch vor Ort stieß aber leider auf wenig Resonanz. Von über 20 eingeladenen Medien war lediglich ein Vertreter des „Neuen Deutschland“ anwesend, der allerdings sehr interessiert war.
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Der Sammelplatz Der Sammelplatz in der Waldstraße 23/24 vor dem SOS Kinderdorf liegt relativ zentral im Westen von Moabit. Er konnte gut mit PKWs und LKWs angefahren werden. Da er die meiste Zeit unbenutzt ist, konnte durch den Sperrmüll niemand behindert werden, so dass der Platz ideal war. Für den vorderen und für den hinteren Bereich des Platzes haben wir Parkverbote beantragt. Im Endeffekt hätte ein Parkverbot nur im vorderen Bereich auch ausgereicht. Im hinteren Bereich standen zwar am Tag des Sperrmüll-Marktes noch einige Fahrzeuge, was aber den Ablauf nicht störte. Mit dem Abschleppen eines im Parkverbot stehenden und uns behindernden Fahrzeugs hätten wir über die Polizei das Ordnungsamt beauftragen müssen. Für störende Fahrzeuge, die allerdings schon vor dem Aufstellen der Parkverbotsschilder am Sammelplatz waren (siehe Information der Firma, die die Parkverbotsschilder aufgestellt hat), hätten wir die Abschleppkosten übernehmen müssen. Im anderen Fall hätte der Fahrzeughalter die Abschleppgebühren zahlen müssen. An den Kreuzungen Turmstraße / Waldstraße sowie Siemensstraße / Waldstraße hatten wir ca. A-1 große Wegweiser zum Sperrmüll-Markt aufgestellt. Außerdem hingen zwei große Transparente mit der Aufschrift „Sperrmüll-Markt“ vor und hinter dem Sammelplatz. Den Sammelplatz hatten wir zweigeteilt. Auf der einen Seite wurde der E-Schrott abgestellt, auf dem anderen Teil wurde der übrige Sperrmüll gelagert. Da der Sammelplatz einen eigenen Fahrweg hatte, wurde der allgemeine Straßenverkehr während der Veranstaltung nicht behindert. Beim nächsten Sperrmüll-Markt sollte wir möglichst noch eine dritte Ablagerungsstelle für unbrauchbaren Sperrmüll bereit stellen. Abholservice Da in Moabit weniger als 50 % der Haushalte über einen eigenen PKW verfügen und da es darüber hinaus für einen Großteil der Bevölkerung nicht möglich war, ihren Sperrmüll selbst zum Sammelplatz zu bringen, wurde ein Abholservice eingerichtet. Dafür konnten wir, wie bereits beim vergangenen „Sperrmülltauschmarkt“, die Projektgruppe „MoaMove“ gewinnen. Das Projekt „MoaMove“ war zuvor beim Jugendprojekt „OlleBurg“ tätig und ist jetzt beim Jugendzentrum „Schlupfwinkel“ angesiedelt. Um sowohl das finanzielle Risiko für „MoaMove“ wie auch die Abholkosten für den Sperrmüll niedrig zu halten, haben wir „MoaMove“ die Grundfinanzierung in Höhe einer LKW Tagesmiete, über die Projektmittel des SperrmüllMarktes zugesichert. Alle weiteren Kosten, wie Honorare für die Jugendlichen sowie den Fahrer sollten sie über geringe Abholgebühren selbst erwirtschaftet. „MoaMove“ berechnete für die Abholung des Sperrmülls rund 5 Euro, manchmal mehr oder weniger, je
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nachdem wie viel und aus welchem Stockwerk Sperrmüll abgeholt werden musste. „MoaMove“ akquirierte über 30 Abholaufträge und war damit den ganzen Tag über gut beschäftigt. Nach eigenen Angaben zufolge war ihr Einsatz ein voller Erfolg und sie würden es beim nächsten Mal gerne wieder machen. Neben den 100 Euro, die sie vom Moabiter Ratschlag erhielten, nahmen sie weitere 230 Euro ein. Davon mussten sie die vorhergehenden Arbeiten, den Telefondienst, die Automiete, Sprit und 4 Einsatzkräfte am Sperrmüll-Tag bezahlen. Zeitpunkt und Zeitrahmen Für den Sperrmüll-Markt haben wir uns für einen Zeitraum am Samstag von 10 bis 16 Uhr entschieden. Dieser Zeitraum war zwar für die Anwohner/innen sehr günstig, aber für uns aus diversen organisatorischen Gründen problematisch geworden. Das Hauptproblem stellten die Öffnungszeiten der BSR Recyclinghöfe dar, weil sie vom Zeitraum des Sperrmüll-Marktes abwichen. Da die BSR mit ihren Presscontainern weder E-Schrott noch Sondermüll vom Sammelplatz mitnehmen konnte, mussten wir diese Abfälle anders entsorgen. Den angefallenen E-Schrott holte die Firma BRAL gegen relativ hohe Kosten ab. Noch teurer war die Abholung des Sondermülls, von einer dafür legitimierten Firma. Die kostengünstigste Variante wäre es gewesen, die Abfälle selbst zu einem BSR Recyclinghof zu bringen. Allerdings hätten wir dazu einiges berücksichtigen müssen, wie zum Beispiel die Anlieferzeit bei einem BSR Recyclinghof und die Tatsache, dass nicht alle BSR Recyclinghöfe Sondermüll annehmen. Darüber hinaus können nur haushaltsübliche Sperrmüllmengen kostenfrei angenommen werden. Die BSR stellte jedoch in Aussicht, uns eine Sondergenehmigung, für die große Menge des Sperrmülls auszustellen. Es gab aber noch andere Probleme bezüglich der BSR. Da die Müllwerker nicht stundenlang ohne was zu tun rumstehen und warten wollten, bis der Markt vorbei war, wollten sie lieber schnell alles in den Container pressen, um frühzeitig Feierabend machen zu können, was zu Auseinandersetzungen führte, die später noch erläutert werden. Auf eine weitere Problematik machte uns unser Abholservice aufmerksam. Für „MoaMove“ wäre das Abholen des Sperrmülls am gleichen Tag sehr stressig geworden, weil ja darüber hinaus viele Besucher/innen des Sperrmüll-Marktes ihre Gebrauchsgegenstände auch am gleichen Tag nach Hause bringen lassen wollten.„MoaMove“ schlug deshalb vor, die Abholung schon einen Tag vor dem Sperrmüll-Markt durchzuführen und die gesammelten Sperrmüll über Nacht am Sammelplatz zu lagern. Ideal wäre es aber gewesen, wenn wir ein abgeschlossenes und überdachtes Gelände dafür gehabt hätten.
Rahmenprogramm Das Rahmenprogramm wurde diesmal auf abfallbezogene Informationsstände vom BSR, dem Grünem Punkt sowie auf einen Info-Tisch des Veranstalters und ein Kaffee- und Kuchenangebot der Diakoniegemeinschaft Bethania beschränkt. Während auf dem Sperrmüll-Platz ständig etwas los war, interessierte sich jedoch kaum jemand für das kleine Informationsangebot. Lediglich für Kaffee und Kuchen war das Interesse etwas größer. In Zukunft sollt vielleicht von den Informationsständen etwas Animierendes z.B für die Kinder kommen oder man verzichtet ganz auf Informationsstände. Verhalten der Besucher/innen Schon zu Beginn des Sperrmüll-Marktes gegen 10 Uhr waren einige Besucher/innen vor Ort.„MoaMove brachte schon sehr früh eine erste Ladung an Möbeln vorbei, so dass sich das Stöbern gleich lohnte. Es gab aber auch viele Besucher, die mit eigenen Transportmitteln ihren Sperrmüll brachten bzw. ihre Fundsachen mit nach Hause nahmen. Eine kleine Gruppe von vier Personen fiel sehr auf, weil sie sich zielgerichtet nur auf Wertvolles stürzte. Schnell kam der Verdacht auf, sie seien Händler. Auf meine Nachfrage hin, wurde dies von ihnen auch nicht geleugnet. Ich bat sie, sich im weiteren Verlauf des Marktes zurückzuhalten, was sie aber nicht taten. Mit der Unterstützung von den Kiezläufern und der Polizei, konnten sie schließlich des Platzes verwiesen werden. Das war deshalb möglich, weil wir als Veranstalter das „Hausrecht“ hatten. Bis ca. 15 Uhr waren ein ständiges Kommen und Gehen und viele zufriedene Gesichter zu beobachten. In der letzten Stunde lichtete sich die Besucherzahl zunehmend, so dass die Aufräumarbeiten durch die BSR beginnen konnten. BSR-Presscontainer Die Berliner Stadtreinigung brachte pünktlich um kurz nach 9 Uhr zwei Presscontainer. Die Müllwerker machten uns auch sofort klar, dass sie um 16 Uhr Feierabend machen wollten. Obwohl mit der BSR vereinbart war, dass die Müllwerker erst nach 16 Uhr mit dem Entsorgen des übriggebliebenen Sperrmülls beginnen sollten, starten die Müllwerker schon um 13 Uhr mit der Entsorgungsoffensive. Da half auch mein Einreden auf die Müllwerker nichts. Zunächst wollten sie nur völlig unbrauchbare Abfälle in ihre Container quetschen. Dann sollten nur die Fahr- und Gehwege frei gemacht werden, anschließend nur nutzlose Sperrholzbretter usw. Dabei war dies nur ein Vorwand für sie, um den Sperrmüll so schnell wie möglich zu beseitigen. Entweder wollten die Männer nicht lange rumstehen und warten oder die BSR hatte großes Interesse daran, so viel Sperrmüll wie möglich mitzunehmen. Denn schließlich berechnet die BSR ihre Arbeit nach der Tonnage in den Pressecontainern und nicht nach der Arbeitszeit. . Hauptgrund mag
aber gewesen sein, dass die Müllwerker rechtzeitig Feierabend machen wollten. Lobend sollte aber auch erwähnt werden, dass die Müllwerker freundlich und hilfsbereit waren sowie auffällig gut und schnell gearbeitet haben. Punkt 16 Uhr war der Platz vom Sperrmüll befreit. Sie haben sogar alle Reste vom Boden aufgefegt. Insgesamt entsorgte die BSR für uns 6,18 Tonnen Sperrmüll. Hinzu kamen ca. 2 Tonnen Elektroschrott. Die Besucher/ innen nahmen schätzungsweise 3 bis 4 Tonnen Gebrauchtwaren mit, so dass umgerechnet 12 Tonnen Sperrmüll an dem Tag zum Sammelplatz gebracht wurde. Das zu frühe Entsorgen des Sperrmülls im Presscontainer sollte künftig verhindert werden. Entweder sollten die Container erst später gebracht werden, oder man muss die Müllwerker anderes vom verfrühten Entsorgen abhalten. Elektro-Schrott Aufgrund neuer Vorgaben zur Entsorgung elektrischer Altgeräte seit dem Inkrafttreten des Elektrogesetzes im März 2006, kann die BSR im Rahmen ihrer Sperrmüllsammlung keine elektrischen Geräte mehr annehmen. Die Richtlinie besagt, dass die Kommunen für Privatpersonen eine kostenfreie Annahme von Elektro-Altgeräten gewährleisten müssen. Die BSR wird dieser Regelung soweit gerecht, dass sie die Altgeräte auf ihren Recyclinghöfen in haushaltsüblichen Mengen kostenfrei annimmt. Vor dem Inkrafttreten dieser Regelung hat die BSR den E-Schrott (außer Kühlschränke) bei Sperrmüllsammlungen gegen eine Tonnagengebühr von 61,50 Euro pro Tonne entsorgt. Hätte also die Entsorgung des E-Schrotts, der bei unserem Sperrmüll-Markt angefallenen ist, nach der alten Regelung stattgefunden, dann hätten wir nur ca. 120 Euro bezahlen müssen. Seit April 2006 übernimmt eine Tochterfirma der BSR und der Firma Alba namens BRAL die E-SchrottEntsorgung. Sie berechnet nun auch Anfahrts- und Stückgebühren, wodurch die Entsorgungskosten für Sperrmüll-Sammelaktionen steigen. Das widerspricht allerdings dem Sinn der EU-Elektroschrott-Richtlinie (WEEE) sowie dem bundesdeutschen Elektrogesetz. Vor diesem Hintergrund konnte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung die BSR dazu bewegen, uns für die Sperrmüllsammlung eine kostenfreie Lösung anzubieten. Die BSR betonte allerdings, dass die Kostenübernahme der Gebühren der E-Schrott-Abholung für uns als Veranstalter des Sperrmüll-Marktes lediglich eine einmalige Ausnahme sei. Bei unserem Sperrmüll-Markt sind im Endeffekt 35 gebührenpflichtige, elektrische Altgeräte zu je 5 Euro angefallen. Hinzu kamen 3 Kühlschränke zu je 10 Euro sowie die Anfahrkostenpauschale von 25,50 Euro. Die Gesamtkosten beliefen sich somit auf 230,50 Euro.
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Kosten Für die Durchführung des Sperrmüll-Marktes standen 1500 Euro zur Verfügung. Folgende Ausgaben wurden getätigt (in Euro) Straßenbeschilderung (BSG) Plakatentwurf Plakatdruck (laserline) Sperrmüllentsorgung (6,2 t durch die BSR) E-Schrottentsorgung (230,50) Abholservice MoaMove div. Einzelausgaben (Stifte, Kopien, Fotos) private Botendienste Fotodokumentation
255,20 250,00 125,28 380,07 0,00 100,00 113,82 50,00 50,00 Summe 1324,37
Zusammenfassende Beurteilung Der Sperrmüll-Markt erfuhr eine sehr große und gute Resonanz durch die anwesende Moabiter Bevölkerung. Besonders hervorragend waren die Plakate, die Ankündigung im Berliner Abendblatt, die Organisation, der Sammelplatz und das Wetter. Eine Wiederholung bietet sich an.
Ein Dank gilt allen Beteiligten: Moabiter Ratschlag, Quartiersmanagement, Kiezläufer, Moa- Move, Diakoniegemeinschaft Bethania, BSR und Team Grüner Punkt Dr. Norbert Kopytziok ist Ingenieur, Lehrbeauftragter an der Berliner Universität der Künste und wissenschaftlicher Projektleiter beim Moabiter Ratschlag, dem Träger des „Stadtschloss Moabit, Nachbarschaftshaus Rostocker Str.“
Elke Ostwaldt / André Schmidt
Das Modellprojekt „Sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit (SoFJA)“ 1. Einleitung Bei der Vorstellung des SoFJA-Modellprojektes im Jugendhilfeausschuss (JHA) Treptow-Köpenick leitete die Jugendamtsdirektorin unseren Beitrag ein mit den bezeichnenden Worten:„Anfangs dachte ich: die Zusammenarbeit von mobiler Jugendarbeit und aufsuchender Familientherapie – das klappt nie“… Und tatsächlich ist die Kombination von mobiler, sozialraumorientierter Jugendarbeit und aufsuchender Familientherapie eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Kopplung von unterschiedlichen Arbeitsansätzen, Methoden und Settings. In dem Bundesmodellprojekt „Sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit“ hatten wir – die Mitarbeiterin von „Outreach“ und der Mitarbeiter des Diakonischen Werks Neukölln-Oberspree“– als Tandem-Team die Möglichkeit, diesen neuen, innovativen Arbeitsansatz zu erproben. Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Zur Zeit ist das Modellprojekt für ein Jahr in die Regelfinanzierung des Bezirks übernommen worden. In dem vorliegenden Bericht soll der Versuch unternommen werden, konzeptionelle Grundüberlegungen mit Erfahrungen aus der praktischen Fallarbeit
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zu verbinden. Vor dem Hintergrund der Elternarbeit wird die Motivation der Sozialarbeiterin, sich auf das Modellprojekt zu bewerben, dargestellt. Der Beschreibung der SoFJA-Modellphase folgen zwei Falldarstellungen aus der praktischen Arbeit des Tandem-Teams. Abschließend sollen Wirkungen und Effekte von „SoFJA“ verdeutlicht werden. 2. Mobile Jugendarbeit und Elternarbeit Die Erfahrungen der Mobilen Jugendarbeit in Treptow-Köpenick zeigen, dass die komplexen und kollektiven Problemlagen unserer Zielgruppen gerade in sozial belasteten Wohngebieten nicht ausschließlich durch die Mobile Jugendarbeit zu bewältigen sind. Im Kontext von aufsuchender Arbeit und niedrigschwelliger Beratung werden von den MitarbeiterInnen der Mobilen Teams Kontakte zu Jugendgruppen aufgebaut und Bedarfe im Sozialraum ermittelt. Nach der Kontaktaufnahme geht es um den Aufbau von vertrauensvollen Beziehungen. Eine gelungene Beziehungsarbeit zu den Jugendlichen kann dann entstehen, wenn die MitarbeiterInnen in der Lebenswelt der
Jugendlichen (Freizeit, Schule, Ausbildung, Familie) präsent und ansprechbar sind. Stabile Beziehungen und Vertrauen werden aufgebaut, indem die pädagogischen Fachkräfte sich für die Jugendlichen interessieren und sie ernst nehmen. Durch Gesprächsangebote, niedrigschwellige Aktivitäten im Freizeitbereich und Unterstützung bei der alltäglichen Lebensbewältigung können verbindliche Formen der Zusammenarbeit entstehen. Die einzelfallbezogene Arbeit ermöglicht es uns, auf die individuellen Problemlagen der Jugendlichen einzugehen und gemeinsam mit ihnen Handlungsstrategien zu entwickeln. Dabei ist es notwendig, die psychischen Strukturen sowie die Handlungs- und Verhaltensstrukturen des/der Einzelnen zu berücksichtigen. Ursachen und problemstabilisierende Faktoren liegen in den Familienerfahrungen der Jugendlichen. Um diese zu bearbeiten, ist es notwendig das Gesamtsystem Familie zu erreichen und in die Hilfeplanung mit einzubeziehen. Unsere Erfahrungen in der Elternarbeit zeigen, dass Mobile Jugendarbeit durch Veranstaltungen und Elternabende sowie im Rahmen von Einzelfallbegleitung in der Lage ist, Kontakt zu den Eltern aufzubauen und zu intensivieren. Darüber hinaus können die MitarbeiterInnen im Bedarfsfall vermittelnd zwischen Jugendlichen und Eltern einwirken. Unsere Beobachtungen belegen, dass junge Menschen sich einerseits von den Eltern abgrenzen (müssen), andererseits nach Vertrauenspersonen suchen, die eine vermittelnde Rolle zwischen ihnen und den Eltern einnehmen. Um eine vertiefende Familienarbeit zu leisten, bedarf es einer beratend therapeutischen Methodik, auf welche die Mobile Jugendarbeit nicht zurückgreifen kann. Da die aufsuchende Familietherapie über ein entsprechendes Methodenrepertoire verfügt, war es für die OUTREACH – Mitarbeiterin nahe liegend, sich auf das Bundesmodellprojekt „SoFJA“ zu bewerben. 3. Das Bundesmodellprojekt SoFJA Träger des Bundesmodellprojektes „Sozialräumliche Familien- und Jugendarbeit“ (SoFJA) war das Diakonische Werk der EKD. Gefördert wurde es durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. SoFJA war an vier Projektestandorten im Bundesgebiet (Hamburg, Schwerin, Glauchau, Berlin) verortet. Der Projektzeitraum erstreckte sich über fünf Jahre (30 Monate Handlungsphase). Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Im Hinblick auf den Standort Berlin wurde der Bezirk Treptow-Köpenick ausgewählt, die Bewerbung der Mitarbeiterin des Mobilen Teams erfolgte auf Anfrage der Jugendförderung im November 2002. Das Tandem-Team (Sozialarbeiterin/Familientherapeutin) wurde Anfang 2003 gebildet und nahm die praktische Arbeit in der Mitte des Jahres auf.
Zielsetzung Ziel des Projektes war es, durch die Kooperationsbeziehungen von zwei unterschiedlichen Handlungsansätzen – der Mobilen Arbeit als sozialarbeiterisches und der aufsuchenden Familientherapie als beraterisch-therapeutisches Konzept – möglichst hohe Synergieeffekte bei der sozialen Integration von benachteiligten Jugendlichen und ihren Familien zu erzielen. Aufsuchende Familienarbeit als systemisch orientierter Handlungsansatz konzentriert sich auf problemstabilisierende Familienkonstellationen und bearbeitet diese in einem therapeutischen Setting im Wohnbereich. Mobile Jugendarbeit als gemeinwesenorientierter Handlungsansatz richtet den Blick auf problemauslösende strukturelle Faktoren. Dabei werden im Rahmen von Gemeinwesenarbeit verbesserte Aufwachs- und Lebensbedingungen von Jugendlichen angestrebt. Zielgruppe Zielgruppe waren/sind Jugendliche im Alter von 1117 Jahren mit gravierenden sozialen Schwierigkeiten, die mit deviantem und/oder delinquentem Verhalten einhergehen. SoFJA war/ist dort angezeigt, wo Jugendliche für Beratungsgespräche schwer zu erreichen oder zu motivieren sind, hingegen eine Arbeit an problemauslösenden und –stabilisierenden Muster im Rahmen der Familie sinnvoll erscheint. Arbeitsgrundsätze Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit des Tandem-Teams war die Erarbeitung von gemeinsamen Arbeitsgrundsätzen. Folgende Grundsätze bildeten den Rahmen für die aufsuchenden systemischen Beratungsgespräche: 1.
SoFJA arbeitet lebenswelt- und sozialraumorientiert. Der Zugang zu den Zielgruppen erfolgt über den lebensweltlichen Kontakt, der durch die mobile, sozialraumorientierte Jugendarbeit geleistet wird. Mobile Jugendarbeit verbindet klassische Streetwork mit sozialräumlicher Netzwerkarbeit und ist daher in der Lage, Kontakt und Vertrauen zu benachteiligten Jugendlichen und deren Familien aufzubauen. 2. SoFJA arbeitet lösungs- und ressourcenorientiert. Ressourcen von Einzelnen und Familien werden analysiert, aktiviert und gestärkt. Schwierigkeiten werden im Kontext vorhandener Fähigkeiten bearbeitet und sollten in einem kontinuierlichen Feed-back-Prozess gespiegelt werden.
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3. SoFJA arbeitet präventiv. SoFJA dient auch als Frühwarnsystem, um drohende Gefährdungen von Jugendlichen rechtzeitig zu erkennen und zu bearbeiten.
4. SoFJA bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Aufgabe der Fachkräfte ist es, das Selbsthilfe potential bei Kindern, Jugendlichen und Familien zu aktivieren und zu stärken sowie die Selbstverantwortung der Erziehungsbe rechtigten zu wecken
5. SoFJA arbeitet auf der Grundlage gemeinsamer Arbeitsprinzipien wie Niedrigschwelligkeit, Freiwilligkeit und Vertraulichkeit
4. Kooperation des Tandem-Fachteams Treptow-Köpenick
Sozialarbeiterin der Mobilen Jugendarbeit
Systemischer Familientherapeut
Erhebung der Bedarfe
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Kontaktaufnahme zu Jugendlichen der Zielgruppe durch Präsenz im Sozialraum, dann Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung.
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Motivationsklärung bei der/dem Jugendlichen und ihrer/seiner Familie für die Aufsuchenden Familiengespräche nach vorheriger Information über SoFJA.
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Falldiskussion im Tandem: Einschätzung der Erfolgsaussichten für die Arbeit mit der Familie, gegebenenfalls Terminvereinbarung. Beginn der Aufsuchenden Familiengespräche im Tandem •
Auftragsklärung/ Zielvereinbarungen/ Kontrakt
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Gesprächsführung in den Aufsuchenden Familiengesprächen Verantwortung für den therapeutischen Prozess/ Dokumentation
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•
Bindung der/des Jugendlichen im Beratungsprozess
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Ansprechpartnerin im Sozialraum zwischen den Familiengesprächen und alltagsnahe sozialpädagogische Hilfeleistungen
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Kontinuierlicher fachlicher Austausch im Tandem über den Beratungszeitraum, gemeinsame Vorbzw. Nachbereitung, Supervision
Nach Abschluss der Aufsuchenden Familiengespräche •
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Nachsorge: Kontakt halten zur/m Jugendlichen, Unterstützung bei alltagsnahen Fragestellungen/ Problemen.
5. 6. Fallarbeit 6.1. Caro (Vorname verändert) Eckdaten Alleinerziehende Mutter Frau M. (38 J), arbeitslos, mit zwei Kindern, Caro (17 J.) und Melanie (12 J.), Trennung vom leiblichen Vater Caro 12 Jahre zuvor, Tod des leiblichen Vaters von Melanie ein Jahr zuvor. Ausgangssituation/Kontakt Caro ist langjährige Besucherin des „OUTREACH-Jugendcontainers“ und wohnt in unmittelbare Nähe der Jugendeinrichtung. Sie engagiert sich im kreativkünstlerischen Bereich der Einrichtung, sie singt in einer Band und schreibt Gedichte. Caro besucht die Realschule, schwänzt aber oft den Unterricht. Seitdem Caro ihren Stiefvater durch einen tragischen Unfall verloren hat, wirkt sie sehr in sich zurückgezogen und traurig. Sie hat große Schwierigkeiten, sich gegenüber ihren Freunden und Freundinnen zu öffnen und lebt zunehmend in ihrer eigenen Phantasiewelt. Nur die Musik scheint Caro zu trösten. Von der Mutter fühlt sich Caro unverstanden und allein gelassen. Oft verschwindet sie für einige Tage, um bei ihrer Oma Ruhe und Geborgenheit zu finden. Auf Wunsch von Caro versucht die Mitarbeiterin des Mobilen Teams zwischen Tochter und Mutter zu vermitteln. Da diese Versuche auf Grund des Verhaltens der Mutter scheitern, verlässt Caro ihr Elternhaus und bricht den Kontakt zur Mutter über Wochen ab. Caro sucht Zuflucht bei ihrem leiblichen Vater, übernachtet später bei Freunden oder der Oma. In dieser Situation hält Caro weiterhin den Kontakt zu der Sozialarbeiterin und bittet sie, eine Mittlerfunktion zwischen ihr und der Mutter einzunehmen. Die Sozialarbeiterin empfiehlt Caro die Familiengespräche von SoFJA. Caro willigt ein unter der Bedingung, dass diese einzeln geführt werden und sie der Mutter nicht begegnen muss. Caros Mutter ist bestürzt und wütend über das Verhalten ihrer Tochter. Sie wirkt völlig aufgelöst und weint häufig in den Gesprächen mit der Sozialarbeiterin, zeigt aber Bereitschaft, an den Familiengesprächen teilzunehmen. Verlauf Im Zeitraum von fünf Monaten finden zwanzig Sitzungen statt, von denen zehn mit einzelnen Familienmitgliedern und zehn gemeinsam geführt werden. Ort der Familiengespräche ist ein Gruppenraum in der Jugendeinrichtung Ortolfstraße, da es für alle Beteiligten wichtig ist, auf neutralem Terrain miteinander zu sprechen. Im Prozessverlauf ist es gelungen, die wichtigen Akteure des Konflikts (Kindsvater, Oma, Schwester) mit einzubeziehen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Ressourcen im Sozialraum wie z.B. Nachbarn werden aktiviert und genutzt, um die Situation der Mutter, die mitunter völlig hilflos und am Ende ihrer Kräfte erscheint, zu verbessern. Während der Gesprä-
che wird deutlich, dass die Mutter die alltäglichen Arbeiten ohne ihre Tochter kaum verrichten kann. Es wird sichtbar, dass sie die Verantwortung für sich und ihre andere Tochter an Caro übertragen hat. Sie wehrt sich vehement gegen die Autonomiebestrebungen ihrer Tochter. Caro möchte einerseits frei und unabhängig sein, andererseits fühlt sie sich gegenüber der Mutter schuldig. Im Prozessverlauf formuliert sie den Wunsch nach einem eigenen Platz, an dem sie Ruhe und Geborgenheit finden kann. Während ihrer Trebezeit verschlechtert sich ihre Situation zusehends, so besucht sie die Schule nicht mehr und hat kaum noch Kontakt zu ihrem Freundeskreis. In dieser Situation kann sie ihre Oma als wichtige Ressource gewinnen, um sich allmählich ihrer Mutter anzunähern. Die Intervention der Oma bewirkt, dass Mutter und Tochter sich während eines Beratungsgespräch begegnen. In mehreren Sitzungen wird der Kontakt zwischen Tochter und Mutter langsam aufgebaut und intensiviert. Ergebnisse Nach ihrem 18. Geburtstag zieht Caro zurück zu ihrer Mutter und Schwester. Gemeinsam mit dem SoFJATeam wird verabredet, dass Caro ihr Zimmer nutzen kann, ohne sich gegenüber ihrer Mutter verpflichtet zu fühlen. Für Caro ist ihr Zimmer der Ort, wo sie sich zu Hause und aufgehoben fühlt. Da sie jetzt volljährig ist, fühlt sie sich in der Lage, ihre Rechte gegenüber der Mutter konsequent durchzusetzen. Caro will ihre Mutter im Haushalt entlasten, hat aber dafür gesorgt, dass die Aufgaben gerecht verteilt werden und ihre Schwester in diesen Prozess mit einbezogen wird. Durch die Intervention der Sozialarbeiterin kann Caro trotz vieler Fehltage an ihrer Schule bleiben. Mittlerweile hat sie ihren Realschulabschluss gemacht und eine Ausbildung aufgenommen. In den Beratungen ist deutlich geworden, dass sich Caro die Schuld gibt für den Tod ihres Stiefvaters. In den Sitzungen konnte dieses Thema nicht hinreichend bearbeitet werden. Das SoJA-Team hat Caro eine Einzeltherapie empfohlen. Die psychische Situation von Frau M. hat sich während der Beratungszeit derart stabilisiert, dass sie ihre alltäglichen Aufgaben erledigen kann, ohne sich überfordert und kraftlos zu fühlen. Des Weiteren ist sie auf der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Fazit Sozialarbeiterin und Therapeutin bewerten den Beratungsprozess und die Ergebnisse als erfolgreich. So ist es nicht nur gelungen, den Kontakt zwischen Mutter und Tochter wieder herzustellen, sondern für beide Seiten konnte ein Agreement ausgehandelt werden, das für alle Beteiligten befriedigend ist. Der Mutter ist deutlich geworden, dass sie die Verantwortung für sich und ihre Kinder übernehmen muss. Gefühle wie Trauer, Schmerz und Wut bei Mutter und Tochter konnten benannt und bearbeitet werden. Sowohl Caro als auch ihre Mutter haben Kontakt zu der Sozialarbeiterin gehalten und geben ihr in unregelmäßigen
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Abständen ein Feed-back. Zur Zeit hat Caro eine Einzeltherapie aufgenommen. Die Rahmenbedingungen für den ersten SoFJA-Fall waren optimal: Caro und ihre Mutter waren der Sozialarbeiterin seit mehreren Jahren bekannt und vertraut. Aufgrund der intensiven Beziehung zwischen Sozialarbeiterin und Jugendlicher konnte Caro gut in den Beratungsprozess eingebunden werden. Der Leidensdruck der Mutter bewirkte ihre Bereitschaft zur Veränderung. Der Beratungsraum im Jugendhaus lag im unmittelbaren Nahgebiet der Familie und bot ein gutes Setting für die Gespräche. Die Ressourcen im Stadtteil konnten für die Familie aktiviert werden. Für die Sozialarbeiterin war die Kooperation mit der Familientherapeutin entlastend, da sie sich auf die Situation von Caro konzentrieren konnte, während die Therapeutin das Augenmerk auf die Mutter richtete. Die Sozialarbeiterin konnte von der Methodenvielfalt der aufsuchenden Familientherapie (Genogrammarbeit, Reflekting-Team, zirkuläres Fragen) profitieren und in Absprache mit der Kollegin neue Methoden erproben. Für die Therapeutin war es anfangs schwierig, die Unverbindlichkeit von Caro auszuhalten, die die verabredeten Termine bzw. Zeiten oft nicht einhalten konnte. Gewöhnt an das eher unverbindliche Setting im offenen Bereich bedurfte es einiger Telefonate und Erinnerungen, um sie für eine verbindliche Teilnahme an den Gesprächen aufzuschließen. 6.2. Max (Vorname verändert) Eckdaten Alleinerziehende Mutter Frau S. ( 42 J.), beschäftigt als Küchenhilfe, mit zwei Kindern, Jenni (17 J.) und Max (14 J.); Trennung und Scheidung vom Vater der Kinder zwei Jahre zuvor, jetzt mit neuem Partner liiert. Ausgangssituation/ Kontakt Die verzweifelte Mutter Frau S. wendet sich an die im Sozialraum bekannte Mitarbeiterin des Mobilen Teams. Ihr 14-jähriger Sohn Max hätte sie und ihre Tochter aus der Wohnung vertrieben. Er wäre seit einem halben Jahr nicht mehr zur Schule gegangen und würde sich mit im Sozialraum wegen verschiedener krimineller Delikte berüchtigten Freunden herumtreiben. In der Wohnung würde er alles verkommen lassen. Er würde überhaupt nicht mehr auf sie hören. Ihre Tochter wäre deshalb zu einem befreundeten Paar gezogen, sie selbst wäre aus dieser Notsituation heraus vorerst zu ihrem Lebenspartner gezogen. Von der Mitarbeiterin des Jugendamtes fühle sie sich völlig unverstanden, dort hätte sie keine Hilfe zu erwarten, ob Frau Ostwaldt ihr nicht weiterhelfen könne. Durch Vernetzung mit den anderen KollegInnen der Kinder- und Jugendarbeit im Sozialraum ist Frau Ostwaldt mit der Situation von Max vertraut. Er hat in mehreren Einrichtungen Hausverbot erhalten. Die Sozialarbeiterin empfiehlt Frau S. eine Zusammenarbeit im Rahmen von SoFJA. Frau S. willigt ein, ebenso Max.
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Verlauf In der Folge werden im Zeitraum eines halben Jahres 12 Familiengespräche im Co-Team Mobile Jugendarbeiterin/Familientherapeut durchgeführt. Von Seiten der Familie werden neben Max, seiner Mutter und seiner Schwester auch der neue Lebenspartner der Mutter sowie der Vater der Kinder einbezogen. Deutlich wird, dass nicht Max seine Mutter vertrieben hat, sondern dass die Mutter aus der Familie und ihrer Verantwortung strebt. Max wirkt verwahrlost und im Stich gelassen. Die 17-jährige Jenni eröffnet im dritten Familiengespräch eine erwartete Schwangerschaft. Als vermeintlicher Vater wird der Mann des befreundeten Paares angesehen. Die Schwangerschaft bestätigt sich nicht, das Risiko für Jenni aber wird deutlich. Auch sie benötigt mehr Halt und Unterstützung durch die Mutter. Durch die Beratungen wird der Vater der Kinder als Ressource sichtbar. Er hat sich durch die von seiner Frau ausgehende Trennung auch von den Kindern zurückgezogen, zeigt sich aber willens, Max bei sich aufzunehmen. Ergebnisse Als Folge der Beratungen zieht Max zu seinem Vater. Frau S. und Jenni ziehen wieder zurück in die gemeinsame Wohnung. Max bekommt vom Jugendamt einen Einzellfallhelfer, der ihn dabei unterstützt, eine geeignete Schule zu finden. Ein halbes Jahr nach Abschluss von SoFJA geht Max wieder regelmäßig zur Schule und strebt einen Schulabschluss an. Sein Freundeskreis hat sich verändert, er hat eine Freundin und fällt nicht mehr durch Delikte im Sozialraum auf. Fazit Die Familienberatungen werden auf Wunsch von Frau S. zu einem Zeitpunkt beendet, den das SoFJA-Team für verfrüht hält. Gerne hätte das Team bei der Etablierung einer stabilen Umgangsregelung zwischen Max und seiner Mutter sowie zwischen Jenni und ihrem Vater geholfen. Auch das Zusammenleben zwischen Max und seinem Vater wird langfristig als nicht unproblematisch eingeschätzt. Herr S. erscheint im Gegensatz zu seiner sich im Hinblick auf die Kinder unterlegen fühlenden Exfrau als ausgesprochen autoritär. Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn werden zukünftig erwartet. 7. Wirkungen und Effekte SoFJA erreicht bislang „nicht erreichte“ sozial desintegrierte Jugendliche und deren Familien. Durch die niedrig schwelligen Zugangswege der Mobilen Jugendarbeit werden Jugendliche und deren Familien erreicht und in einen systemischen Beratungsprozess eingebunden, für den sich die Zielgruppe bisher nicht oder nur in Ausnahmefällen gewinnen ließ.
SoFJA schafft wesentliche Voraussetzungen für eine Verbesserung der sozialen Integration der Zielgruppe. Folgende Wirkungen und Effekte von SoFJA sind zu erkennen: •
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Ressourcenaktivierung: Gestärktes bzw. wiedergefundenes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen bei Jugendlichen und deren Eltern, Einbeziehung von wichtigen Personen/Akteuren in die Familiengespräche, die bis dato nicht berücksichtigt werden konnten Musterarbeit: Veränderung problemauslösender und problemerhaltender familiärer Muster Empowerment-Idee: Aktivierung der Familien dahin, sich selbst Unterstützung im Sozialraum zu erschließen Auflösung negativer Selbstbilder / Entwicklung positiver Gegenbilder Konfliktklärungen bzw. –lösungen Verhaltensveränderungen bei Jugendlichen und Eltern Veränderungen existenzieller Rahmenbedingungen (Wohnung, Schule, Ausbildung) Verbesserung der Kooperation der professionellen Akteure im Sozialraum.
SoFJA erzeugt in hohem Maße Synergieeffekte, die die soziale Integration der Zielgruppe befördern. So erhöht sich die Qualität der systemischen Beratung während der Familiengespräche durch die alltagsund lebensweltlichen Informationen hinsichtlich der Lebenslage der Zielgruppe (z.B. Wissen um Alltagsund Freizeitgestaltung der Jugendlichen). Eingebracht wird dieses Wissen von der Mobilen Jugendarbeit. Umgekehrt eröffnet sich der Mobilen Jugendarbeit durch ihre Teilnahme an den Familiengesprächen die Chance auf eine verbesserte Einzelfallhilfe. Darüber hinaus wird die sozialräumliche Vernetzung durch SoFJA intensiviert bzw. gestärkt. SoFJA erzeugt langfristig eine stabilisierende Wirkung durch Nachsorge. Die Möglichkeit der Nachbetreuung ist von Seiten der Mobilen Jugendarbeit gegeben. Die Mobile Jugendarbeit kann in Krisensituationen unterstützen und ist in beratungsfreien Intervallen vor Ort, um Konflikte bzw. Problematiken aufzufangen und zu bearbeiten. 8. Umsetzung des Modellprojektes in TreptowKöpenick Nach der Beendigung des Bundesmodellprojektes im Juni 2006 ist SoFJA als zunächst einjähriges Modellprojekt mit zwei halben Stellen (Familientherapeut/ Sozialarbeiterin) in die Regelfinanzierung des Bezirks übernommen worden. Gegenstand des Zuwendungsvertrages ist die Erbringung von Leistungen im Rahmen sozialer Integration in Verbindung von Mobiler
Jugendarbeit - § 13.1 SGB VIII- und Aufsuchender Familienberatung - § 16.1 SGB VIII – für Kinder, Jugendliche und deren Familien. Vereinbart wurde die Bearbeitung von zehn „Fällen“ in Oberschöneweide und Altglienicke innerhalb eines Jahres. Die Bedarfserhebung kann über die Mobile Jugendarbeit und/oder den Regionalen Sozialpädagogischen Dienst geschehen. Betont wird das präventive Potential und der entformalisierte Zugang zur Hilfe von SoFJA:„Ziel des Modellprojektes ist, die von gravierender sozialer Desintegration bedrohten Kinder und Jugendlichen und deren Familien über die Verbindung mit der Mobilen Jugendarbeit frühzeitig zu erkennen und eine entformalisierte und flexible Hilfe anzubieten.“ Nach einem Jahr soll das Modellprojekt gemeinsam mit dem Jugendamt evaluiert werden. Die Kombination von Familientherapeut und Sozialarbeiterin im Tandem Team Treptow-Köpenick hat sich als effektiv erwiesen. Notwendig für eine gute Kooperation der Fachkräfte ist eine fundierte und intensive Vorbereitungszeit, in der gemeinsame Arbeitsprinzipien vereinbart und Haltungen wie Parteilichkeit der Sozialarbeiterin, Allparteilichkeit des Familientherapeuten abgestimmt werden. Des Weiteren ist es aus der Perspektive der Sozialarbeit notwendig, sich in das Methodenrepertoire der aufsuchenden Familienarbeit einzuarbeiten und es praktisch zu erproben. Die Kooperation und das Vertrauen der Fachkräfte werden im Rahmen der Supervision, fachlichem Austausch und Sozialraumerkundungen geschaffen. Parallel werden erste gemeinsame Erfahrungen in der praktischen Arbeit gemacht, die supervidiert und inhaltlich reflektiert werden. Nach Beendigung der aufsuchendensystemischen Familiengespräche ist der Familientherapeut wieder nur im Hintergrund, ggf. beraterisch tätig und die Sozialarbeiterin kann nachsorgend im Sozialraum den Beratungserfolg sichern. Zu den AutorInnen: Elke Ostwaldt, 44 Jahre, Dipl. Pol., arbeitet seit 14 Jahren bei „OUTREACH“ - Mobile Jugendarbeit, Projekt im Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V., Regionalleiterin des Teams Treptow-Köpenick, Sozialarbeiterin im SoFAJ –Tandem-Team. Andrè Schmidt, 39 Jahre, Dipl. Päd., Familientherapeut (S.G.) beim Diakonischen Werk Neukölln-Oberspree e.V., Aufsuchender Familientherapeut im SoFJA-TandemTeam.
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Karin Stötzner:
trio: Selbsthilfe , Ehrenamt und Nachbarschaft Projektverbund für eine lebendige Zivilgesellschaft in Berlin gegründet
trio-Partner Mit der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung wurde am 15. Juni 2007 die Zusammenarbeit von SEKIS (ihrem Träger selko e.V.), Verband für sozialkulturelle Arbeit und Treffpunkt Hilfsbereitschaft auf eine formale Grundlage gestellt. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit steht die Förderung des Engagements in Berlin an den Schnittstellen zwischen Selbsthilfe, Ehrenamt und Nachbarschafts- und Gemeinwesenarbeit. Die trio-Partner wollen für eine Gesellschaft arbeiten, die von ihren Bürgerinnen und Bürgern aktiv mitgetragen und gestaltet wird. Daher stärken sie die Menschen in der Stadt, • die sich mit konkretem Engagement in der Nachbarschaft für die Verbesserungen im Zusammenleben der Menschen einsetzen • die in Selbsthilfe und gegenseitiger Hilfe hre Anliegen in die eigene Hand nehmen • die sich als Freiwillige engagieren. Und deswegen unterstützt trio • die Einrichtungen in den Stadtteilen, die die Infrastruktur für die praktische Umsetzung dieser Zielsetzung vor Ort darstellen. Im Mittelpunkt der landesweiten Angebote der trioPartner steht die Idee einer von Bürgern und Bürgerinnen aktiv mitgetragenen Gesellschaft, von Vielfalt und Bewegung bestimmten Landschaft örtlicher Träger und Unterstützungsangebote und auf Beteiligung und Teilhabe angelegten Engagementförderung. Die trio-Partner verständigen sich auf folgende Ziele • Rahmenbedingungen für Eigeninitiative und Engagement sichern und verbessern
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• Stadtteilzentren, Selbsthilfekontaktstellen und Freiwilligenagenturen als lebendige Orte des Engagements weiterentwickeln • Beteiligungsmöglichkeiten aufzeigen - Partizipation entwickeln • zum Engagement ermutigen - Aktionsfelder sichtbar machen • Engagement anerkennen - Anliegen von Aktiven aufgreifen • Zusammenarbeit stärken - Vernetzungspotentiale nutzen Zu den ersten gemeinsamen Aktivitäten gehört die verantwortliche Mitarbeit in der Redaktion von Bürger_Aktiv, der Internetseite für das Bürgerschaftliche Engagement des Landes Berlin: http://www.berlin. de/buergeraktiv/ Einen ersten Eindruck davon, wie ein solcher Dialog angestoßen werden kann, war die Fachtagung Engagement, Beteiligung und Mitwirkung , die am 8. Juni 2007 im Abgeordnetenhaus stattfand. Ein ausführlicher Tagungsbericht wird im Herbst im Rahmen der „best practice-Reihe“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin erscheinen. Ansprechpartner: SEKIS Karin Stötzner Tel. 030 890 285 37 Treffpunkt Hilfsbereitschaft Carola Schaaf-Derichs Tel. 030 20 45 06 36 VskA Dr. Herbert Scherer Tel. 030 280 961 03
Karin Stötzner ist Leiterin von Sekis, der zentralen Berliner Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle und Geschäftsführerin von Selko, dem Dachverband der Berliner Selbsthilfekontaktstellen.
Prof. Dr. Roland Roth
Moderner Staat und Bürgerkommune Modelle der Partizipation auf dem Prüfstand. Anregung für eine Belebung der Kiezperspektive Redebeitrag auf dem „TRIO“-Fachtag am 8.06.2007 1. Ausgangssituation Mein Eindruck ist: wir befinden uns in einem Zustand der Ermüdung und Gewöhnung an die Begrifflichkeit, was ehrenamtliches Engagement angeht. Dieser alltägliche leichte Überdruss deckt sich mit der wissenschaftlichen Diskussion über Zivilgesellschaft. Wir haben nicht mehr die großen Erwartungen an die „ungehobenen Schätze“ des BE, an Sozialkapital, das die Gesellschaft integriert, Demokratie festigt und die ökonomische Innovationsfähigkeit aufblühen lässt (Putnam). Zivilgesellschaft ist nicht die Lösung für alles und jedes, sondern hat mit Blick auf Arbeitsmärkte und staatliche Regulierungen eindeutige Grenzen. Sie ist auch nur begrenzt politisch steuerbar (s. Fremdenfeindlichkeit, Bundesprogramme). Dass es auch in Zivilgesellschaften Macht und Herrschaft, Ungleichheit und Ausgrenzung gibt, hat sich inzwischen herumgesprochen. Die Förderung von Zivilgesellschaft kann auch zu schlechten Ergebnissen führen, von Korruption bis Rechtsextremismus. Aus meiner Sicht ist es bisher gelungen, bürgerschaftliches Engagement auf niedrigem Niveau zu stabilisieren, ohne jedoch politische Durchbrüche zu erzielen – zumindest gemessen an dem Leitbild Bürgerkommune, oder dem Leitbild eines ermöglichenden Staats, der zivilgesellschaftliche Akteure in ihrem Eigensinn stärkt. Es ist bisher nicht gelungen, diese Leitbilder in der Politik zu verankern. Sie werden von der großen Politik zwar für schön, aber für nebensächlich und nicht belastbar gehalten. Förderung findet nur in Randbereichen statt wie etwa in dem Programm „Soziale Stadt“. Auch die Parteien vernachlässigen das Thema Zivilgesellschaft. Ein Beispiel ist die Linkspartei, die mit ihren kommunalpolitischen Leitlinien vom Dez. 2005 „Eine starke Bürgergesellschaft in starken Kommunen“ eine Spitzenstellung in der Umsetzung des Konzepts Bürgerkommune erreicht hat. Auch sie wirbt nicht offensiv mit diesem Konzept. Oder die CDU: sie hat sich 2004 zur „Netzwerkpartei“ ausgerufen. Das hat allerdings nicht zu einer Diskussion über bürgerschaftliches Engagement in der Partei geführt. Den gleichen Mangel an Interesse kann man in der Wirtschaft sehen, die es nicht nötig zu haben scheint, sich an ihrem bürgerschaftlichen Engagement messen zu lassen. Die Konsequenz ist Überdruss. Nicht etwa, weil es nur
noch weit offene Türen einzurennen gäbe, die Themen Selbstläufer wären, sondern weil die Kluft zwischen Diskurs und Realität irgendwann unerträglich wird. Es wäre eine vergleichsweise leichte Übung, nach den gesellschaftlichen und politischen Ursachen zu fahnden, die Blockaden in der Politik (aber auch in der Wirtschaft) zu identifizieren. Ich möchte dies hier und heute nicht tun, sondern eine andere Debatte anregen: Worin besteht eigentlich unser Beitrag - der Beitrag der Wohlmeinenden, die auf BE und Beteiligung setzen - zur Marginalisierung des Themas? Wie könnten wir diesen Zustand überwinden? Welche Aufgaben sind dabei vordringlich? 2. Aktuelle Erfahrungen mit Engagementund Beteiligungspolitik Erste Beobachtung: dies hat mit realen Problemzonen zu tun, die durch die Anrufung von Beteiligung und BE nicht so einfach bewältigt werden können. Wir wissen heute – dank der Freiwilligensurveys und vieler anderer Studien - sehr viel genauer, wie BE in unserer Gesellschaft funktioniert. Die Ausgangsthese der Tagung, wer sich beteiligt, will auch mitbestimmen, ist gut bestätigt. Modernes BE lebt von den Gestaltungsmöglichkeiten im Nahbereich, dies ist das stärkste Motiv, man möchte etwas zu sagen haben, während Geselligkeit, Spaß und Verpflichtung deutlich geringer wirken. Beteiligung, Mitbestimmung und Koproduktion sind nicht zu trennen. Wer Engagementpotentiale erschließen will, muss das zentrale Motiv für Engagement ernst nehmen und mehr Gestaltungsmöglichkeiten anbieten! Hier geht es um Macht, um Handlungsspielräume und wie es darum bestellt ist. Es gibt einige beunruhigende Befunde und Problemzonen: a. Bürgerschaftliches Engagement hat nach wie vor einen „Mittelschichtenbauch“, einen sozialen Bias, wo Unterschicht und Migranten kaum vorkommen. Das ist eine große Gefahr, denn Beteiligungsförderung wirkt dann als Privilegierung der ohnehin Privilegierten, mit der Folge, dass viele nicht mitmachen. Zu den sozialen Ungleichgewichten möchte ich ei-
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nen Bereich vorstellen, der am meisten integrierend wirkt und zugleich am meisten verbreitet ist. Das sind die Sportvereine, sie sind der größte Träger bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik. Die hohen Erwartungen, die mit dem Engagement in Vereinen verbunden werden, legen die Frage nahe, in welchem Umfang Vereine heute wirksam werden und wen sie eigentlich erreichen. Sind sie wirklich etwas für alle? Einige ausgesuchte Daten zur Entwicklung der Vereinsmitgliedschaft sollen in unserem Zusammenhang genügen. Das Interesse am Vereinssport ist beachtlich und zunehmend.„Die Mitgliederzahl des Deutschen Sportbundes betrug 2005 ca. 23,6 Millionen, die Anzahl der Vereine lag bei rund 89 870. Für den Vereinssport begeistern sich mehr Männer als Frauen“ (im Verhältnis 60 % zu 40 %). Besonders bemerkenswert ist das große Interesse von Jugendlichen an den Sportvereinen.„So sind von den Mitgliedern 24 % jünger als 15 Jahre und 42 % unter 26 Jahren“. (Im Vergleich dazu sind die Parteienstrukturen fast jugendfrei.) Dabei dominieren Fußball- und Turnvereine.„Mit rund 6,3 Millionen Mitgliedern stellen die Fußballvereine 27 % aller Beitragszahler des deutschen Sportbundes. Der Frauenanteil in den Fußballvereinen liegt bei 13,7 %. In Turnvereinen, im Tanzsport und im Reiten dominieren zahlenmäßig die Frauen“ (Statistisches Bundesamt 2006: 154f.). Die geschlechtsspezifische Verteilung von Vereinsmitgliedschaften verdeutlicht unterschiedliche Präferenzen. Von den 12- bis 15-Jährigen sind nach Angaben des DJI-Jugendsurveys von 2003 knapp 65 Prozent der Jungen bzw. 50 Prozent der Mädchen in Sportvereinen aktiv,„21 Prozent der Jungen und 25 Prozent der Mädchen in kirchlichen Jugendgruppen sowie immerhin 11 Prozent der Jungen und 8 Prozent der Mädchen in einem Heimatverein“ (BMFSFJ 2005: 377). Andere Studien kommen zu ähnlich gelagerten Ergebnissen. Selbst ohne die Sportvereine ist noch knapp ein Fünftel der 15- bis 17-Jährigen in Jugendorganisationen (Vereinen, Verbänden, Initiativen etc.) eingebunden. Zur altersbezogenen Entwicklung von Vereinsmitgliedschaften wissen wir vergleichsweise wenig. Sie setzt früh ein, denn „laut Kinder- und Jugendsportbericht sind Kinder im Alter von 4 bis 12 Jahren bis zu 70 Prozent ehemalige oder aktuelle Mitglieder in Sportvereinen“ (BMFSFJ 2005: 380). Im Vor- und Grundschulalter ist die Tendenz deutlich ansteigend, mit der Volljährigkeit nimmt der Aktivitäts- und Organisationsgrad wieder ab. Beträgt die aktive Vereinsmitgliedschaft bei den 16- bis 17-Jährigen noch 59 Prozent, so sinkt sie kontinuierlich bis auf 45 Prozent bei den 27bis 29-Jährigen ab (Gille u.a. 2006: 258). Dennoch sind dies eindrucksvolle Zahlen, die schon rein numerisch die Bedeutung von Vereinen als Lernorten bestätigen. Neben dem Geschlecht wirkt vor allem der Bildungshintergrund nachhaltig auf die Beteiligung an
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Sportvereinen. So sind nach der Kinder- und Jugendsportstudie „62 % aller Jungen an einem Gymnasium im Sportverein, aber nur 18 % der Mädchen an Hauptschulen“ (BMFSFJ 2005: 383). Zu ähnlichen Aussagen kommt der DJI-Jugendsurvey von 2003. Bei den 12- bis 15-Jährigen sind nur 36 Prozent der Hauptschülerinnen, aber 69 Prozent der Gymnasiasten in Sportvereinen aktiv (BMFSFJ 2005: 383). Fazit: auch in diesen sehr integrativ wirkenden Organisationen gibt es einen Mangel an Integration. Mehr noch als der bloßen Mitgliedschaft und auf sich selbst bezogenen Aktivitäten kommt der Übernahme von ehrenamtlichen Funktionen (Übungsleiter, Vereinsaufgaben etc.) ein besonderes Gewicht zu. Jugendliche erfahren sich dabei als Ko-Produzenten, können weitergehende Qualifikationen erwerben und durch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit zu weitergehendem Engagement in anderen Lebensbereichen im Sinne der Beteiligungsspirale angeregt werden. Dieser Kompetenzerwerb dürfte umso deutlicher ausfallen, je länger und je intensiver sich die Jugendlichen ehrenamtlich engagieren. Trotz heterogener Datenlage (BMFSFJ 2005: 384) gilt übergreifend, dass Jugendliche im Vergleich mit anderen Altergruppen nicht weniger engagiert sind und dieses Engagement auch nicht im Sinken begriffen ist. Der Freiwilligensurvey weist sowohl für 1999 wie für 2004 für die 14- bis 21-Jährigen einen Anteil ehrenamtlich Engagierter von 37 Prozent aus. Auch hier spielt der Bildungshintergrund eine wichtige Rolle. So sind 46 Prozent der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien freiwillig engagiert, aber nur 23,4 Prozent an Hauptschulen. Die Autoren des 12. Kinder- und Jugendberichts kommen zu folgendem Fazit:„Freiwilliges Engagement in der Jugendarbeit ist als eine besondere Bildungsform überwiegend ein Betätigungsfeld von Jugendlichen mit höherer Schulbildung“ (BMFSFJ 2005: 386). Selbst wenn hier nicht zwischen den verschiedenen Engagementkontexten differenziert wird, scheinen auch Vereine – als zentrales Feld - in sozialer Sicht nicht als ausgleichende Sozialisationsinstanzen zu wirken.„Die vorherrschende nachfrageorientierte Angebotsform der Jugendarbeit korrigiert von sich aus soziale Ungleichheitsstrukturen nicht, sondern setzt diese tendenziell fort“ (BMFSFJ 2005: 390). Auffällig sind die noch immer erheblichen Ost/WestUnterschiede (Vortkamp 2005). Während im Westen 52 Prozent der Befragten des DJI-Jugendsurveys in Vereinen aktiv sind, engagieren sich im Osten nur 38 Prozent (Gille u.a. 2006: 258). Auch bei Aktivitäten in informellen Gruppen liegt der Westen, wenn auch mit geringerem Abstand, vorne. b. Institutionelles Beteiligungsprofil: Beteiligung ist im wesentlichen begrenzt auf kleine Inseln wie Jugendhäuser und Stadtteilzentren. Sie wird aber nicht auf breiter Ebene installiert und eingeübt, z.B. in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern
etc., also jenseits der „Beteiligungsinseln“. Frühes Beteiligungslernen, demokratische Schulkultur und die Öffnung der Schulen nach außen sind kaum politisch verankert. Es gibt zwar wunderbare Einzelfälle, in der Breite aber sind Schulen keine Lernorte für Beteiligung und sie sind nicht verknüpft mit Orten des Engagements in den Stadtteilen, was mit der vermehrten Einführung von Ganztagsschulen wichtig wäre. Positives Beispiel Stuttgart: Die Stadt hat den größten Migrationsanteil in Deutschland, 60 % der Kinder haben einen Migrationshintergrund. Als Konsequenz daraus hat die Stadt flächendeckend Stadtteilzentren aufgebaut, die hochintegrativ sind. Es ist alles vorhanden: von der Betreuung schwangerer Mütter bis zum Altentreff für Migranten. Die Zentren sind relativ groß, verfügen über gute räumliche Möglichkeiten und fördern den Zusammenhalt der Generationen. Die Schulen stellen nachmittags Lehrer frei, die in den Zentren Hausaufgabenbetreuung übernehmen. Zu Sportvereinen gibt es über Breitensportangebote im Stadtteilzentrum eine enge Vernetzung. Die dahinter liegende Philosophie ist, dass die Politik sagt: wir genehmigen keine Seniorenheime ohne Kinder – und umgekehrt. Der Effekt hiervon ist, dass es ein enormes Maß an freiwilligem Engagement gibt. Gleichzeitig sind die Häuser sehr gut professionell geführt, mit einem festen Personalstamm, der über Jahre die Qualität entwickelt. Dies ist ein Beispiel dafür, dass es institutionell möglich ist, hochintegrative Stadtteilpolitik zu machen, wenn das politisch gewollt ist. Beispiel Kinder- und Jugendbeteiligung: Kinderund Jugendbeteiligung findet zwar – teils rechtlich normiert, teils freiwillig - an vielen Orten statt,„die vorhandenen Angebote leiden jedoch oftmals an mangelnder struktureller Absicherung, geringer Nachhaltigkeit und begrenzter Wirksamkeit. Hier lässt sich noch viel verbessern“ (Bertelsmann 2006: 40f.). Diese Einschätzung wurde durch eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung im Kontext des Projekts bestätigt, an der sich in 42 Städten und Gemeinden mehr als 12 000 Schüler, über 1 000 Lehrer und Schulleiter sowie Vertreter der Kommunen beteiligten (Fatke/Schneider 2005). Während drei Viertel der befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren angaben, zu Hause viel oder sehr viel mitbestimmen zu können, sahen nur 14,5 Prozent eine ähnlich positive Beteiligungssituation in der Schule und nur 13,6 Prozent im lokalen Gemeinwesen gegeben. Mehr als zwei Drittel der Befragten forderten, dass Jugendliche in der Politik mehr zu sagen haben sollten. Nur knapp jeder zehnte Jugendliche fühlt sich von den Politikern ernst genommen. Wie kommt diese Kluft zustande zwischen geringer Beteiligung und hoher Motivation? Eine Erklärung ist, dass die befragten Lehrer, Schulleiter und Kommunalpolitiker sich selbst wesentlich bessere Noten gaben für die Er-
möglichung von Beteiligung als sie von den Schülern erhielten. Ihnen fehlt es weithin an einer realistischen Einschätzung der faktischen Beteiligungssituation in der Kommune und ihren Schulen (Hinweis: die Ausgaben für Beteiligung liegen in den Kommunen bei unter 1000 Euro im Jahr.). Diese Kluft hat jedoch bei den befragten jungen Menschen (noch) kein allgemeines politisches Desinteresse provoziert.„Vielmehr geben 78 Prozent der Befragten an, sich bei attraktiveren Beteiligungsangeboten und besseren Rahmenbedingungen stärker einbringen zu wollen“ (Fatke u.a. 2006: 30). c. Ein weiteres Problem liegt auf der Schnittstelle Arbeit/Ehrenamt/Engagement. Es hält sich hartnäckig der Mythos, dass Erwerbsarbeit und bürgerschaftliches Engagement sich ausschließen. Diese Zwei-Welten-These hat nie gestimmt und stimmt heute noch viel weniger. Deutlich ist hingegen, dass speziell in Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit die Beschäftigungsmöglichkeiten rund um bürgerschaftliches Engagement zu einem dritten Arbeitsmarkt geworden sind, an dem besonders junge Leute und Frauen stark interessiert sind.. In der Praxis sieht das häufig so aus, dass über ABM oder 1-EuroJobs zeitweise feste Arbeitsverhältnisse geschaffen werden. Wenn die auslaufen, hält man sich durch ehrenamtliches Engagement in der Nähe und versucht, eine neue bezahlte Arbeit zu schaffen. Die Gefahren sind überdeutlich: Pseudofreiwilligkeit, Qualitätsmängel, Landschaft von Projektruinen. Die Frage ist: wie kann man die zahlreichen Beschäftigungsmodelle, die oft nebeneinander in einer Einrichtung bestehen, vernünftig in Zusammenhang bringen, um die Qualität der Arbeit langfristig abzusichern? Was brauchen die Projekte, was brauchen die Engagierten, was brauchen die „Kunden“? Ein positives Beispiel ist die Diakonie in Halberstadt, Sachsen-Anhalt. Sie hat aus dem Kreis von Hartz-IVEmpfängern Freiwillige gesucht, die für eine Aufwandsentschädigung im Bereich 1-Euro-Job unbefristet tätig werden können. Dafür gab es rege Nachfrage, mit der Folge, dass die Diakonie Halberstadt die beste Vermittlungsquote im Land hat. Das Interesse der Freiwilligen rührt auch daher, dass sie auf diese Weise langfristig in Bereiche einsteigen können, in denen sie vorher nicht tätig waren. Und: es gibt eine hohe Übernahmequote. Das Prinzip der Freiwilligkeit stellt sicher, dass nicht Menschen in diesen Bereich sozialer Arbeit gehen, die damit eigentlich nichts zu tun haben wollen. d. Problem der Unterpolitisierung Es gibt im Bereich von Beteiligung und Engagement das Problem der Unterpolitisierung, denn dieser Bereich hat mit Macht und Konflikten zu tun, aber Konflikte bieten auch die Chance zu Lernprozessen. Wer Beteiligung will, muss Macht abgeben wollen.
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Die Debatte darum wurde noch gar nicht ernsthaft geführt. Welchen Einfluss können Kommunalpolitiker noch haben, wenn es Bürgern um direkte Mitbestimmung geht? Ein positives Beispiel ist er Jugendstadtrat in Solingen/Niedersachsen: Er besitzt nicht nur einen relativ ansehnlichen Etat für die Umsetzung seiner Projekte. Sondern er ist auch durch Urwahlen in den Schulen gewählt worden. Dadurch vertritt er auch die 40 % der Jugendlichen, die Migrationshintergrund haben. Die Jugendlichen wählen sich selber ihre Themen. So haben sie z.B. entschieden, dass die Bebauung des Bahnhofs-Vorplatzes auch ein Jugendthema ist. Solche Modelle funktionieren, wenn es darüber in der Stadt einen Grundkonsens gibt. e. Transferthesen Es gibt in den sozialpolitischen Bereichen, von denen wir sprechen, sogenannte Transferthesen, die besagen: wenn einmal etwas gut gelaufen ist, dann funktioniert das auch woanders. Das stimmt so überhaupt nicht. In den neuen Bundesländern z.B. wächst das Vereinswesen, während gleichzeitig das politische Vertrauen sinkt. D.h., die Erwartung, dass die Organisierung in Institutionen automatisch das politische Vertrauen stärkt, ist falsch. Oder: In Berlin-Neukölln gibt es hohe Beteiligungsraten von Freiwilligen, daneben steht die Tatsache von niedrigsten Integrationsraten. Die Frage ist also: unter welchen Bedingungen schafft Beteiligung soziale Integration oder politisches Vertrauen? – Oder unter welchen Bedingungen verhindert sie sie? f. Negativ-Beispiel für die Etablierung bürgerschaftlichen Engagements Ein negatives Beispiel für die Etablierung bürgerschaftlichen Engagements hat ein CDU-Landrat im sächsischen Muldetalkreis gegeben. Bei einem Treffen mit NPD-Funktionären und „volkstreuen“ Jugendlichen machte er ein Förderangebot für deren „Heimatarbeit und interkulturelle Arbeit“. 3. Schlussfolgerungen für eine nachhaltige Engagement- und Beteiligungspolitik Freiräume und privilegierte Beteiligungsinseln sind wichtig, aber nicht genug, gefordert ist eine systematische Engagementpolitik. Ich bin sehr dafür, dass die Politik gegenüber den sozialen Akteuren an deren tatsächliche Integrations- und Beteiligungsleistung hohe Ansprüche stellt. Ein gutes Beispiel ist Augsburg: Ausgehend von einer Analyse aller beteiligten Organisationen im Sozialbereich mit harten Indikatoren, wurde die Etablierung einer Sozialkommune in Angriff genommen. Das zugrunde liegende Prinzip ist: es muss große Freiräume von unten geben, gleichzeitig müssen aber auch klare Vorgaben von der Politik gemacht werden. Dies ist eine Ermöglichungspolitik, von der wir wissen, dass sie funktionieren kann, weil sie
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Chancengleichheit in Engagement und Beteiligung herstellt, anstatt nur leicht mobilisierbare Potenziale zu fördern. Engagement lernen: Wir bekommen die soziale Unwucht aus bürgerschaftlichem Engagement nur heraus, wenn Beteiligung zu einem Basiselement schon in Kindergarten und Schule gemacht wird. Ein gelungenes Beispiel hierfür gibt es in Baden-Württemberg, wo es ein themenorientiertes Projekt „Soziales Engagement“ gibt. Die Teilnahme ist obligatorisch für alle Schüler der letzten beiden Realschulklassen. Das hat zu einem breiten Austausch zwischen schulischen und kommunalen Projekten geführt, die Schule hat sich quasi naturwüchsig geöffnet. Solche Projekte sollte es an allen Schulen geben, weil es hier die große Chance informellen Lernens gibt. Das wirkt sich auch in Situationen der reinen Wissensvermittlung aus (die Pisa-Ergebnisse von unten verbessern). Zum Schluss möchte ich festhalten, dass wir auf der einen Seite sehr anspruchsvolle Forderungen zur Umsetzung von sozialpolitischer Bürgerbeteiligung stellen sollten. Aber wir müssen auch deren Grenzen klar sehen. Es werden durch freiwilliges Engagement nicht alle Probleme und Benachteiligungen behoben, die etwa durch niedrigen sozialen Status oder die Wechselfälle des Arbeitsmarktes entstehen. Kieze, Stadtteile und Nachbarschaften sind aber die entscheidende Baustelle, wo die Probleme von Demokratie und Arbeitsmarkt praktisch und von unten angegangen werden können. Man muss dabei aber immer die Gefahren im Auge behalten, die in Exklusion, selektiver Aneignung, in Subventionsmentalität und in politischer Sprachlosigkeit bestehen. Deshalb muss eine Entwicklungsperspektive gefordert und gefördert werden, die von unten durch Freiräume gestützt und durch eine strukturgebende Landespolitik abgesichert ist. Und zwar ohne den notwendigen Eigensinn der Quartierseinrichtungen zu gefährden. „Eine Kunst, die niemand kann?“ – die aber doch immer wieder versucht werden sollte.
Prof. Dr. phil. Roland Roth ist Professor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er war Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ und war an der wissenschaftlichen Begleitung von Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus und zur Förderung der Zivilgesellschaft beteiligt.
Balta Maja, das "weiße Haus" in Livani, Lettland, ist eine Einrichtung, die mit holländischer Unterstützung Mitte der 90er Jahre als Nachbarschaftszentrum in freier Trägerschaft aufgebaut wurde. Diese Einrichtung, die wir als Mitglied unseres internationalen Dachverband IFS kennen gelernt haben, hat große Bedeutung für die ländliche Region rund um diese kleine Stadt an der Grenze Weißrusslands, in der sie vielfältige soziale und wirtschaftliche Selbsthilfeaktivitäten unterstützt. Aber sie hat darüber hinaus eine Ausstrahlung ins ganze Land, weil sie es sehr gut verstanden hat, internationale Kontakte für den know how Transfer zu nutzen und ihre Erfahrungen anderen zur Verfügung zu stellen. Seit 6 Jahren gibt es einen regelmäßigen Fachkräfteaustausch (in beide Richtungen) mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit, der federführend von zwei Mitgliedsorganisationen gestaltet wird: dem FreiZeitHaus in Weißensee und dem Nachbarschaftsheim Mittelhof. Wir veröffentlichen Auszüge aus dem protokollartigen Bericht, der nach der diesjährigen Begegnung von den Teilnehmer/innen verfasst wurde. Wer Interesse an dem ganzen Bericht hat, kann ihn gerne bei unserer Geschäftsstelle (siehe Impressum) anfordern.
Besuch im Weißen Haus von Livani Aus den Protokollen einer Fachaustauschreise nach Lettland Montag, 21. Mai 2007 Am Anreisetag treffen wir uns um 8.15 Uhr am Flughafen Schönefeld, von dem aus uns easyjet in 75 Minuten nach Riga bringt. Dort empfängt uns strahlender Sonnenschein und warme Temperaturen. Zwei Mitarbeiterinnen von Balta Maja holen uns mit Bus und Fahrer ab.
Dienstag, 22. Mai 2007 Die Arbeit von "Balta maja" (das "Weiße Haus") Gegen 9.00 betraten die meisten von uns zum ersten Mal das "Weiße Haus" ("Balta maja") von Livani. Wir wurden von einigen Mitarbeiterinnen begrüßt und nahmen an einem großen Tisch im 1. OG Platz. Auffallend war, dass an einer Wand ein großes Plakat über die deutsche EU-Ratspräsidentschaft prangte, von dem uns Angela Merkel und Horst Köhler anlächelten. Wir erfuhren, dass es sich bei diesem Raum um das "Europa-Informations-Zentrum" handelt: hier können alle Einwohner Livanis Informationen über die EU bekommen, es werden Veranstaltungen durchgeführt und auch die kostenlose PC-Nutzung für Internetre-
cherchen ist möglich. Das aus EU-Mitteln geförderte Zentrum wird insbesondere von Schulklassen genutzt, die hier Projektwochen durchführen, ansonsten interessieren sich Schüler / Jugendliche wenig für das Thema Europa
Bei Kaffee, Mineralwasser und leckerem Gebäck erhielten wir von Lolita Becha einen Überblick über die Arbeit und Geschichte von "Balta maja". Das Haus feierte 2006 sein 10jähriges Jubiläum. Die Renovierung wurde unter anderem ermöglicht durch Gelder der niederländischen "Oranje"-Stiftung der Königin Juliane. Viele ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer waren bei der Renovierung aktiv dabei, vor allem ältere Menschen. Die ersten Aktivitäten im "Balta maja" waren Angebote für alte Menschen, beispielsweise der "Seniorenclub" oder der "Damenclub". Im nächsten Schritt kam die Fürsorge für Menschen mit Behinderungen hinzu. Seit sieben Jahren besteht ein Tageszentrum für behinderte Menschen, seit sechs Jahren gibt es ein (Aus-)Bildungszentrum.
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Derzeit hat die Arbeit drei Richtungen: das Gesellschaftliche Zentrum, das Bildungs- / Ausbildungszentrum sowie das Zentrum für soziale Unterstützung. Gesellschaftliches Zentrum Hier treffen sich unterschiedliche Interessengruppen, zum Beispiel Senioren, Frauen oder Jugendliche. Es gibt auch eine Reisegruppe, den "Club für die Europafreunde", die sich hier treffen und im Anschluss an eine Reise Fotos zeigen und die anderen mit mitgebrachten Köstlichkeiten verwöhnen. Auch eine Bauchtanzgruppe und einen Club für Formationstänze kann man im Gesellschaftlichen Zentrum finden; die Leiterin des Zentrums ist Lolita Becha.
(Aus-)Bildungszentrum Hier arbeitet Sarmite Kucenceire, die mit in der Runde sitzt. Es gibt im (Aus-)Bildungszentrum unter anderem Englisch-Sprachkurse für Anfänger und Fortgeschrittene oder Lettisch-Kurse für die russischsprachigen Bewohner/innen. Im vergangenen Jahr hatte "Balta maja" zwei Freiwillige aus Frankreich bzw. Österreich, die auch Kurse in ihrer Muttersprache gegeben haben. Die Nachfrage war groß, was vermutlich - insbesondere bei den jungen Mädchen - weniger am Interesse für Deutsch und Französisch, sondern vielmehr am guten Aussehen der beiden jungen Männer gelegen haben dürfte... Neben den Sprachkursen finden auch so genannte "Sachbearbeiter-Kurse" und Schulungen zu Buchhaltung oder dem Schreiben von Projektanträgen statt. Das Angebot des (Aus)-Bildungszentrums wird den Bedürfnissen der Nutzer/innen angepasst, der Bedarf wird durch regelmäßige Abfragen ermittelt. Zentrum für soziale Unterstützung Sarmite Kokina, die uns gestern vom Flughafen abgeholt hat, ist die Koordinatorin dieses Zentrums, zu dem ein Tageszentrum für Menschen mit Behinderung sowie das "Spielzentrum für die Kleinsten" gehören. Aus ihrer Arbeit im Tageszentrum berichtet Ludmila Stelmaka, die hier seit sechs Jahren arbeitet. Dieser Treffpunkt wird aus Mitteln der Stadtverwaltung finanziert. Für die Behinderten gibt es verschiedene Aktivitäten, oft und gern wird mit Farbe oder mit Naturmaterialien gearbeitet. Ebenso werden Computerspiele gemacht oder es wird der Umgang mit dem Computer gezeigt.
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Die Menschen mit Behinderung können auch Unterstützung beim Lesen und Schreiben bekommen. Das Tageszentrum hat schon an verschiedenen Festivals teilgenommen, zum Beispiel an einem Theaterfestival. Es gibt eine Gruppe namens "Schritt", in der man Selbstverteidigung erlernen kann. Vor einigen Jahren haben die Nutzer/innen des Tageszentrums gemeinsam mit den Erzieherinnen die öffentlichen Gebäude und Einrichtungen in Livani auf ihre Zugänglichkeit für Körperbehinderte untersucht. Das Tageszentrum wird täglich von etwa zehn Personen genutzt (im Sommer), im Winter sind es mehr. Im Sommer haben einige der behinderten Arbeitsmöglichkeiten, so dass sie nicht ins Zentrum kommen. Im Tageszentrum arbeiten zwei feste Kräfte sowie einige Ehrenamtliche. Im Bedarfsfall können die Freiwilligen angerufen werden und springen dann stundenweise ein. Es gibt in Lettland keinen Zivildienst, aber Menschen mit Behinderung haben Anspruch auf "Hausversorgung", die Erbringung von Pflege-Dienstleistungen im eigenen Haushalt. Diese Leistungen zahlt die Stadtverwaltung, die potenziellen Pflegerinnen erhalten eine vorbereitende Schulung. Die Pflegerinnen sind dann gewissermaßen selbstständig tätig, sie betreuen / begleiten immer mehrere Behinderte. Walentina Gavare, die auch als Erzieherin im städtischen Kindergarten "Rukiši" ("Zwerge") arbeitet, stellt uns das "Spielzentrum für die Kleinsten" vor: Es wurde vor drei Jahren im Rahmen einer Projektfinanzierung gegründet. Im ersten Jahr erfolgte die Finanzierung durch das lettische Familienministerium, seit zwei Jahren trägt die Stadtverwaltung die Kosten. Das Angebot war ursprünglich gedacht für drei- bis sechsjährige Kinder, da es wenig Nachfrage gab, werden jetzt Kinder ab achtzehn Monaten aufgenommen. Die Kinder können ins Spielzentrum gebracht werden, solange die Eltern Besorgungen machen. Die Betreuung muss bezahlt werden, es handelt sich aber um einen symbolischen Betrag und kostet nicht viel. Zu großen Feiertagen wie Ostern oder Weihnachten werden im Spielzentrum Feste ausgerichtet, um den Bekanntheitsgrad in der Nachbarschaft zu erhöhen. Es stellt sich uns eine weitere Mitarbeiterin im "Balta maja" vor: Maria Kalnina: Sie ist zuständig für die Altenarbeit im "Weißen Haus" und arbeitet in einem Gemeinde-Netzwerk mit. Die Treffen dieses Netzwerks und auch der Senioren finden in dem Europa-Raum statt, in welchem auch wir gerade sitzen. Livani hat ca. 10.000 Einwohner, das Gebiet Livanow (bestehend aus der Stadt Livani und zwei weiteren Gemeinden) etwa 12.000 Einwohner. Es wird ein Fahrdienst geplant, um die alten Menschen von zu Hause abzuholen und sie zu Veranstaltungen ins "Balta maja" zu bringen. Es werden derzeit Verhandlungen mit der Stadtverwaltung geführt, um einen Kleinbus gestellt zu bekommen.
Wir stellen weitere Fragen zur Arbeit von "Balta maja": das Zentrum für Soziale Unterstützung wird von der Stadtverwaltung mit jährlich 12.000 bis14.000 LVL (etwa 16.000 bis 20.000 �) unterstützt, ein kleiner Anteil an Eigenmitteln resultiert aus der Vermietung von Räumen (Bildungszentrum). Alle anderen Ausgaben - also auch beispielsweise die Instandhaltung des Hauses - müssen über laufende Projekte / Projektfinanzierungen abgedeckt werden. "Balta maja" stellt jährlich acht bis zehn neue Anträge, um Projektmittel zu bekommen. Fast alles, was in diesem Haus an Angeboten besteht, wird nur kurzzeitig finanziert und muss anschließend neu beantragt werden. Eine Schwierigkeit der Finanzierung ist, dass die Geldgeber immer neue Ideen und Innovationen sehen wollen und sich die Kolleginnen immer etwas ausdenken müssen - in diesem Punkt bestehen durchaus Ähnlichkeiten zu unseren eigenen Erfahrungen. Geldgeber für "Balta maja" sind die EU, Stiftungen (unter anderem eine Stiftung für Integration - EU? und die Stiftung zur Förderung der Lettisch-Amerikanischen Zusammenarbeit), diverse Botschaften anderer Länder und lettische Ministerien (beispielsweise Familien oder Integration). Es gibt eine enge Zusammenarbeit mit zwei Niederländischen Stiftungen (unter anderem die bereits erwähnte Stiftung der Königin Juliane); möglicherweise kann "Balta maja" auch Mittel aus Norwegen bekommen. Mit einem Jahresvolumen von 600.000 � (oder LVL) hatte der Verein vor zwei Jahren sein "bestes Jahr". Die Projektfinanzierungen gelten übrigens auch für den internationalen Austausch, wie wir auf Nachfrage erfahren. Lolita sagt uns dazu: "Es ist schön, wenn man ein Projekt schreibt und weiß, dass man in ein anderes Land fahren kann. Aber wenn das Ganze auf Freundschaft beruht, so wie mit Berlin, dann ist das noch angenehmer. Dann wartet man auf diesen Besuch." Durch ein Gespräch mit der Dolmetscherin Layla auf dem Weg zur Kita erfahren wir, dass das Durchschnittsgehalt einer Lehrerin bei monatlich 100 bis 120 LVL liegt. Layla muss für die Studiengebühren ihrer Tochter jährlich 800 LVL aufbringen, also zwei Drittel des Jahreseinkommens einer Lehrerein... Viele haben zwei bis drei Jobs gleichzeitig oder arbeiten schwarz, um dieses Geld für die Ausbildung der Kinder zu erwirtschaften.) Mittwoch, 23.Mai 2007, Tagesprogramm Unser Projekt "Spiele im Wind" oder livanische Litaneien Gestern haben wir die Aktion schon etwas vorbereitet, die Folien sind zugeschnitten, sie werden ins Gras gelegt. Die Farbe wird auf Teller gegossen, Pinsel und Wasser bereitgestellt, es kann losgehen, auch die Mücken starten.
Die Kinder kommen in Gruppen mit ihren Erzieherinnen, bei den Mädchen fallen die kunstvoll geflochtenen, mit Schleifen und Blüten geschmückten langen Haare auf, vier Kinder malen jeweils an einem Bild, manche überlegen erst bevor sie zaghaft eine Blume malen ,andere streichen wild drauf los, ein kleiner Wink von der Erzieherin "die Sonne kommt immer in die Mitte".
Die fertigen Bilder müssen trocknen, dann wird ein Saum getackert, durch diesen wird eine Schnur gefädelt, jetzt werden die Bilder am Zaun in einer Reihe aufgehängt. Die Arbeit geht schnell voran, 100 Kinder wollen ein Bild malen. Wir sind ein großes Team. Eine Idee wird aufgegriffen, zwei lebensgroße Figuren werden doppelt aus der Folie geschnitten und dann mit der Nähmaschine zusammengenäht und mit frisch gemähtem Gras ausgestopft und bemalt, es entstehen bunte Hüte und Umhänge aus Folie. Damit war das gemeinsame Projekt "Spiele im Wind" erfolgreich beendet und die Abschlussfeier konnte beginnen. Die lettischen Mitarbeiterinnen des Kindergartens und unsere Gruppe trafen sich um 14:30 Uhr im kleinen Saal. Durch das gemeinsame Malen war die Atmosphäre viel gelockerter, als bei der ersten Zusammenkunft (und wurde noch entspannter bei dem sich anschließenden Rundgang durch den Kindergarten). Insgesamt haben neben den über 20 Erzieherinnen auch 7 Gruppen des Kindergartens (über 100 Kinder im Alter von 4-7 Jahren) an dem gemeinsamen Projekt mitgewirkt. Der sich an die Abschlussfeier anschließende Rundgang durch den Kindergarten um 15 Uhr war ein besonderes Erlebnis für alle Teilnehmer. Die Kinder in den einzelnen Altersgruppen warteten bereits auf die Gäste. Überall wurden kleine Geschenke, zum Teil von den Kindern gebastelt, überreicht. Mittwoch, 23. Mai 2007, Abendprogramm Zunächst fahren wir nach Jaunsilavas - ein Dorf etwa zwei Kilometer von Livani entfernt. Dort sehen wir eines von insgesamt zehn Projekten, die derzeit die von der Niederländischen Stiftung der Königin Juliane finanziert werden. Es handelt sich um
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ein Mehrgenerationen-Projekt: die Mieter eines zweigeschossigen Neubau-Blocks in Plattenbauweise haben für die dort wohnenden Kinder und Jugendlichen einen Spielplatz angelegt - es gibt eine Sandkiste, eine Schaukel, ein Spielhaus und einen Holztisch mit Bänken. Lolita, die uns vor Ort begleitet, wollte uns gern noch eine Ansprechperson im Haus vorstellen, aber irgendetwas ist dazwischen gekommen. So gehen wir mit ihr einige Schritte weiter und sehen ein so genanntes "Mikro-Projekt" von "Balta maja": Neben der Schule in Jaunsilavas wurde im Rahmen eines "Umweltprojekts" die Außenanlagen verschönert: Gehwege und Beete wurden angelegt und eine Baumreihe als Schutz vor Wind gepflanzt.
erklären, wie es hier - auf diesem schönen grünen Hof - vorher aussah: Was uns Olga mit "sehr unordentlich" übersetzt, nennt die Frau "kak (russ. "wie") Shanghai". Einer älteren Bewohnerin ist klar, dass wir uns unmöglich ein Bild machen können und holt aus ihrer Wohnung ein kleines Fotoalbum, das uns das "VorherNachher" deutlich zeigt. Aus einer düsteren HinterhofAtmosphäre ist eine grüne Oase für die Bewohner entstanden, die daran selbst mitgearbeitet haben. Das Projekt wurde auch ausgezeichnet und die Bewohner erhielten mit 400 LVL, die aber wieder in das Projekt fließen mussten. Eine Frau zeigt auf die Steinplatten, die als Einfassung der Grünflächen angebracht sind: "Das ist unsere Prämie." Gegen 20.45 sehen wir uns einen Film an, der fünfzehn Projekte von "Balta maja" vorstellt, unter anderem die Einrichtung eines Camping-Platzes, die Verschönerung des städtischen Friedhofs, ein VideoMontage-Studio für Jugendliche sowie einen Treffpunkt unter freiem Himmel mit Grillplatz (vorwiegend für ältere Menschen). Auch die drei eben besuchten Projekte sehen wir wieder. Ein weiterer Film über eine internationale Begegnung von Jugendlichen in Livani schließt den "offiziellen Teil" des Abends ab.
Exkurs: Spätestens heute Nachmittag / Abend merken wir, wie anders ein "Projekt" hier in Lettland definiert wird und wie inflationär dieses Wort in Gebrauch ist... Ein Versuch, den Unterschied zu fassen: "Projekt" heißt hier Wohnumfeldverbesserung für die Menschen und gleichzeitig mit ihnen gemeinsam. Bei uns ist ein Projekt oft ein auf Zeit angelegtes Tun mit einer beschreibbaren Gruppe von Menschen (mit Kindern, mit Jugendlichen, mit Migrant/innen usw.) und auch für sie - das Tun hat einen Nutzen. Ist die Reihenfolge von "mit" und "für" eine andere? Mir scheint, dass wir uns in stärkerem Maß auf eine Zielgruppe festlegen (müssen), während in Livani die ganz fassbaren kleinen Bedürfnisse der Menschen vor Ort zählen. Nach diesen Gedanken zurück zu unserem Programm: Da es erst 18.30 ist und wir bis zum Essen noch ausreichend Zeit haben, entschließen wir uns zu einem spontanen Vorort-Besuch in einem weiteren MikroProjekt. Wir fahren zurück nach Livani und besuchen eine umgestaltete Wohnanlage. Einige Bewohnerinnen, ältere Frauen, empfangen uns, sie sind überrascht von dem Besuch. Die Kontaktperson vor Ort berichtet uns, was hier verändert wurde: Hinter dem 1959 gebauten, zweigeschossigen Wohnhaus (zwölf Wohnungen mit zwei oder drei Zimmern) wurde ein alter Schuppen zur Lagerung von Brennholz abgerissen und durch einen neuen ersetzt. Es sind Rasenflächen und Wege angelegt worden, Sitzgelegenheiten und eine Schaukel wurden aufgestellt, ein alter Brunnen - früher eine Gefahrenquelle für spielende Kindererhielt eine Abdeckung. Die Frau versucht uns zu
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Donnerstag, 24.Mai 2007 Fahrt nach Preili zum Day-Care-Center. Wir fahren mit Lolita und ihrem Mann und Maria der Schuldirektorin. Preili liegt 36 km von Livani entfernt. Die Stadt hat 8000 Einwohner, gemischte Bebauung, Wohnblockviertel älteren Typs, drei- und viergeschossig, gemauert. Wirkt relativ solide. In der Einrichtung werden wir von Yvetta begrüßt. Sie spricht deutsch, hat in Hannover studiert (Germanistik, Geschichte, Psychologie), nach vollzogener Scheidung ist sie nach Preili zurückgegangen und leitet nun das Sozialzentrum. Als erstes gehen wir in die Sozialküche. Dort arbeitet eine Frau als Köchin, die pro Tag vierzig Mahlzeiten zubereitet (drei Gänge - Suppe, Hauptgericht, Kompott). Eine Mahlzeit kostet 0,25 LAT. Die Stadt finanziert ihre Stelle. Die Gäste (Rentner, Arbeitslose, Bedürftige) führen dafür gemeinnützige Arbeiten aus, z.B. Aufräumen des Außengeländes. Wir gehen ins Obergeschoss. In einem Zimmer steht der Friseur zur Verfügung. Daneben ist 'Krankenstation': so eine Art Gemeindeschwester. Die Benutzung ist kostenfrei. Vorrangig Diagnostik (Blutuntersuchung, Cholesterintest, etc.). Es ist eine Art medizinische Grundversorgung, die Ausbildung der Schwester wird mit dem Niveau einer Allgemeinmedizinerin angegeben. Es wird auch erste Hilfe geleistet. Pro Jahr werden circa 600 Patienten versorgt. Im Nebenraum sitzen zwei Damen, die sich mit der Betreuung von Familien mit gefährdeten Kindern befassen: es geht darum, statt der Einweisung in ein
Kinderheim temporäre Ersatzfamilien zu finden. Problemfälle werden begleitet, die Fakten werden für die Gerichtsentscheide zusammengestellt. Die Begleitung erstreckt sich bis über die Grenze zur Volljährigkeit hinaus. Es wird versucht, Ausbildung zu organisieren, staatliche Förderung und Wohnraum zu vermitteln. Die beiden Frauen werden als Sozialarbeiterinnen bezeichnet, sind ausgebildet als Juristen und Pädagogen. Auch diese beiden Stellen werden von der Stadt finanziert. In zwei weiteren Räumen werden Kinder betreut. Für die Kleinkinder steht ein Spielzimmer zur Verfügung, die Älteren sind nebenan untergebracht. Dieses Projekt wird staatlich finanziert. Die Ausstattung ist spendenfinanziert. Hier werden vor allem sozial benachteiligte Kinder betreut. Familien, die keinen Kinderplatz erhalten, können sich hierhin wenden. Die Betreuung erfolgt nach Bedarf, auch stundenweise. Die Einrichtung ist auch in den Ferien geöffnet und betreut im Schnitt 25 Kinder. Das Projekt wird durch EU-Gelder gefördert. Im Erdgeschoss befindet sich ein weiterer großer Gemeinschaftsraum für Veranstaltungen aller Art. Hier sind auch die Büros von Leiterin und Betreuerinnen untergebracht. Zum Teil werden gemeinsame Projekte dieses 'Sozialamtes' und des 'Balta Maja' durchgeführt. Die Einrichtung betreut auch Behinderte außer Haus. In der Einrichtung werden außerdem geistig und körperlich behinderte Kinder betraut, es gibt zurzeit neun Plätze, zwei Lehrerinnen, eine Betreuerin. Die Kinder erhalten hier ihre schulische Grundausbildung bis einschließlich neunter Klasse.
Die Essenversorgung erfolgt über die örtliche Schule. Die Behinderten werden zum Essen begleitet. Somit ist ein kleiner Schritt der Integration getan, weil die Behinderten im öffentlichen Raum wahrgenommen werden. Besonders stolz sind die Mitarbeiter auf einen seit drei Jahren etablierten Hausbesuchsdienst, der von ausgebildeten Pflegerinnen durchgeführt wird. Die Pflegerinnen betreuen je fünf Behinderte. Sie arbeiten auf selbständiger Basis und werden, wie die Gehälter der Erzieherinnen, von der Stadt bezahlt. Zurzeit werden 40 behinderte Menschen betreut. Für die Betreuung muss nichts bezahlt werden, es sei denn die eigenen Einkünfte der Betreuten übersteigen ein gewisses Einkommen (gestaffeltes Zuzahlungsprinzip). In der Einrichtung herrscht eine familiäre, fast schon intime Atmosphäre. Die Behinderten wollen sogar bei Krankheit ins Zentrum gehen. Die Erzieherinnen werden als Autoritätspersonen akzeptiert. Die Behinderten und Erzieherinnen bestehen darauf, dass sich jeder der Gruppe abends gelesen. Freitag, 25. Mai 2007, Nachmittagsprogramm Die Glasfabrik in Livani
Freitag, 25.05.2007 08.00 Uhr Frühstück. 09.00 Uhr - Abmarsch zur Besichtigung des Zentrums für Tagesbetreuung für Behinderte. Das Social Atbalsta Centers befindet sich im "Weißen Haus" von Balta Maja im Erdgeschoß. Eine Mitarbeiterin begrüßt uns und führt uns durch die Räume. Eine herzliche Begrüßung. Wir merken, dass wir sehr willkommen sind. Die gesamte Etage ist mit Arbeiten der Behinderten ausgeschmückt. Es fällt auf, dass viel Naturmaterialien bei den Arbeiten verwendet wurden, die die Besucher selbst gesammelt haben. Der Flur ist besonders reich dekoriert. Im Aufenthaltsraum wird gebastelt, gemalt, am Computer gespielt und gerechnet und geschrieben. Die Ausstattung ist schlicht, aber zweckmäßig. Täglich kommen bis zu 10 Behinderte. Unterschiedlich in den verschiedenen Jahreszeiten. Im Sommer weniger, als im Winter. Im Zentrum arbeiten zwei Erzieherinnen, eine Floristin und eine Sozialarbeiterin, die Leiterin Frau Saunete. Die Besucher sind im Alter von 9 bis 16 Jahren.
Eine junge Frau erwartete uns bereits auf dem geräumigen Platz vor dem Fabrikgelände. Enger hellblauer Rock, eben solches Oberteil. Nicht so recht passend zur heißen schwülen Witterung und ebenso wenig zur staubigen Fabrik. Überraschender Weise aber sprach sie ein flüssiges Deutsch, begrüßte uns im Namen der deutschen Geschäftsführung und der deutschen Direktion, erklärte, dass der Betrieb, nach dem Konkurs als AG vor fünf Jahren, nun eine GmbH sei und seinen Stammbetrieb in Herne habe, und schließlich, dass ihr deutscher Chef seit vier Jahren hier ganz in der Nähe wohne. Im Hauptgebäude ging es durch ein Treppenhaus mit verblassten, doch unverkennbaren sowjetischem Charme zum Glasmuseum. Im Vorraum standen einige Vitrinen mit Dokumenten, Fotos, Diplomen, Preisen und Auszeichnungen aus vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Nebenbei hörten wir, dass der Betrieb derzeit 300 Mitarbeiter habe, vor 20 Jahren wären es 2000 gewesen, dass 95% der derzeitigen Produktion über Herne in den
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Export gingen. Dabei handelt es sich vorwiegend um Beleuchtungsglas. Anderes lohne nicht und die Reste der mehr künstlerischen Produktion gäbe es im Betriebsladen an der Hauptstraße von Livani. Aber es gab einen neuen Ofen, von dem wir bald erfahren sollten, dass er 800 tausend Euro gekostet habe. Das war als wir danach vor dem Gebäude standen, und der Chef aus Herne dazu kam. "Schön mal deutsche Stimmen zu hören", sagte er. Und mit einer weiten Armbewegung: "Wir leisten hier Pionierarbeit. Aber man kann gar nicht so alt werden, um das alles zu schaffen. Ein Fass ohne Boden..." Das größte Problem sei das Personal. Die Fachkräfte, die hier einmal gearbeitet hatten, seien längst nicht mehr da. Sie haben in anderen Regionen Arbeit gefunden. Oft im Ausland. Im Moment versuche man deshalb aus der Ukraine Leute zu bekommen. Dort nämlich hatte gerade eine Glasfabrik die Arbeit eingestellt. Die Anträge seien gestellt, lägen aber bereits seit drei Monaten bei den Behörden. Und das kann noch dauern. Freitag, 25. Mai 2007, abends Abschluss in Livani mit Blick nach vorn Der Abend legte sich an diesem Freitag sanft über die Wiesen, in mitten derer sich vor der Stadt der Garten von Marike, einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin des Nachbarschaftszentrums, lag.
jeder ein paar Worte zu der zurückliegenden Woche und Ideen für die Zukunft unseres Austausches sagen konnte. Lolita: Die wunderbare Woche ging leider so schnell vorbei. Sie möchte sich für Misslungenes entschuldigen und auch für unsere Geduld. Sie findet es so wichtig für Balta Maja, dass die Partnerschaft fortgesetzt wird und über die Zukunft geredet wird. Induna: Die Freundschaft besteht schon so lange. Sie hat die Hoffnung, dass es auch noch lange weitergeht. Es wird Zeit, dass wir etwas Größeres gründen, etwas wo man die Generationen zusammenbringt. Wir haben alle so viele Ideen, auf beiden Seiten, da muss doch was zu machen sein. Samite: Habe euch in Riga empfangen, nun bin ich auch bei der Verabschiedung dabei. Sie findet es so schön, dass jedes Mal andere Berufe mit dabei sind, Leute die sie schon kennt und auch andere. Sie kann sich ein gemeinsames Forum vorstellen, eine Konferenz, bei der ein fachlicher Austausch im Mittelpunkt steht. Claudia: Ist das erste Mal hier und sehr beeindruckt von den Menschen, von der Herzlichkeit und Nähe, und auch von dem Land, den Landschaften. Vieles in der Arbeit ist anders, einiges ähnlich. Sie hofft und wünscht, dass der Austausch weitergeht. Karin: War ebenfalls das erste Mal in Livani und hat so viele offenherzige Menschen getroffen. Sie ist beeindruckt, wie die Behinderte mit ins Leben einbezogen werden. Lernen kann sie von der kreativen Arbeit mit den Kindern.
Unsere Gastgeber grillten kleine schmackhafte Würste und bauten ein Buffet auf, von dem der würzige Käse besondere Erwähnung verdient. Vom nahen Teich erschallte das Froschkonzert und in den Bäumen dahinter schmetterte eine Nachtigall. Jemand sagte, er habe einen Kuckuck gehört und das bringe Glück... passend zu diesem Abend. Nahe dem Zaun blühten die letzten Tulpen. Nur die Mücken stressten zunächst noch und ließen sich auch vom offenen Feuer nicht bewegen, Abstand zu halten. Unsere Freunde aus der Stadt waren zahlreich vertreten. Nicht nur aus Balta Maja, auch Vertreterinnen aus der Kita waren gekommen. Wir nutzen dann die Trägheit der Leute nach dem Essen (nun saßen wieder alle um das Feuer), um eine Runde anzuregen, bei der
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Valentina: Als sie in Berlin war, hatte sie den Eindruck, dass die Arbeit mit den Kindern ähnlich aber auch anders ist. Das macht den Austausch so interessant. Das gemeinsame Gestalten war wunderbar. Ihre Kollegin, ebenfalls aus der Kita: Das gemeinsame Projekt war gut. Könnten wir weitermachen auch in Deutschland. Ihr Dank an Balta Maja auch für die Vermittlung brachte Szenenapplaus. Max: ist froh, dass das lettische Projekt so lange besteht, und nun sogar eine neue Qualität erreicht hat. Dadurch, dass wir etwas gemeinsam machen. Das regt er auch für einen Gegenbesuch in Berlin an.
Peter: geht auf das kontrastreiche Programm ein. Er empfindet das, was in Balta Maja geschieht wunderbar und hat große Achtung davor. Er ist froh, dass das Projekt so gut geklappt hat und einen großen Anklang gefunden hat. Angelika: hat sehr viele Eindrücke zu verarbeiten. Für sie war das Projekt mit den Kindern ein voller Erfolg. Besonders wichtig und bestaunenswert war die Kreativität und der Umgang mit den Naturmaterialien in der Kita, und sehr beeindruckend der Optimismus, mit dem die Menschen hier in Lettland leben. Lutz: Im Prinzip kann er all dem wenig hinzufügen. Außerdem liegt sein beruflicher Bereich im Finanziellen. Und da geht es für ihn wie hier immer wieder um neue Projekte und deren Finanzierung. Er nimmt viele bunte Eindrücke mit, bestaunt die Sorgfalt in der Gestaltung der Dinge, die die Kinder herstellen. Er bedankt sich bei allen für die eindrücklichen Tage und ist froh, dass er mitgekommen ist und möchte auf jeden Fall wieder kommen. Christof: auch bei der zweiten Reise innerhalb des Austausches hat er wiederum viel Neues und Anregendes entdeckt und erlebt. Außerdem wurde ihm deutlich, dass sich einiges in Livani verändert hat. Die Stadt sieht freundlicher aus. Er freut sich auf den weiteren Austausch.
Gisela. In Deutschland gibt es immer weniger Kinder, immer mehr alte Menschen mit viel Lebenserfahrung. Deshalb ist der Austausch zwischen den Generationen zunehmend wichtig. Da gibt es gute Beispiele wie etwa ein gemeinsames Theaterprojekt. In der Zukunft sieht sie da auch für unsere Partnerschaft einen Ansatzpunkt: Machen wir doch ein gemeinsames Projekt mit Alten und Jungen. Und da hat sie auch schon eine Idee: Die Musiklehrerin aus der Kita könnte beim nächsten Mal mit nach Berlin kommen und wir organisieren ein Treffen bei dem die gemeinsame verbindende Musik der Älteren mit Kindern einen Schwerpunkt hat. Schließlich nahm noch der neue Direktor von Balta Maja das Wort, bedankte sich bei allen, die zum Gelingen des lettisch-deutschen Austauschs beigetragen haben. Sowohl bei den Kollegen, die ihm den Rücken frei gehalten haben und das alles so hervorragend organisiert haben als auch bei den deutschen Partnern für den Besuch und das Mitmachen. Nach diesem riesigen Blumenstrauß aus guten Worten folgten die gegenseitigen Geschenke. Und so nahm die Herzlichkeit noch weiter zu. Die Mücken immerhin verloren langsam das Interesse an dem Gemisch aus lettischen und deutschen Blut, doch die Nachtigall schmetterte weiter ihre Grüße über die Wiese.
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Es ist keine repräsentative Umfrage, die die AG Kiezforschung im Soldiner Kiez im Wedding im Jahre 2006 durchgeführt hat, aber die 11 offenen Interviews mit Jugendlichen aus dem Kiez vermitteln vielleicht einen besseren Eindruck von typischen Denk- und Verhaltensmustern dieser Jugendlichen als manche groß angelegte statistisch abgesicherte Untersuchung.
Thomas Kilian
Freundschaft, Feiern und an Ecken stehen Ein Überblick über die Jugendforschung der AG Kiezforschung im Soldiner Kiez
Wenn man über die Jugendlichen im Soldiner Kiez spricht, kommt man schnell zu den unangenehmeren Zeitgenossen. Man redet von den Eckenstehern, die angeblich die Passanten provozieren und anpöbeln, so dass man sich wie beim Spießrutenlaufen fühlt. Die 11 Jugendlichen, die die AG Kiezforschung des Soldiner Kiez e.V. ausführlich befragt hat, lehnen diese Art selbst ebenfalls ab, obwohl einige sich selbst an Pöbeleien und Schlägereien beteiligen oder zumindest beteiligt haben. Man ist eben jung und wild, und das Leben im Soldiner Kiez ist manchmal ziemlich langweilig. Zudem stehen die jungen Leute aus den Unterschichtsvierteln in aller Welt häufig draußen. Aber neben den allgemeinen jugendtypischen Faktoren scheinen auch besorgniserregende Vorbilder dieses Verhalten zu fördern: Die Jungs mit den „dicken Potten“ (Geldbörsen), wie ein Jugendlicher die Tatsache umschreibt, dass manch ein junger Mensch im Kiez durchaus Geld hat, wenngleich häufig aus illegalen Geschäften. Das für sich wäre nicht weiter verwunderlich. Gibt es doch ebenso wenig einen Unterschichtsstadtteil ohne Kleinkriminelle wie ein Villenviertel ohne Steuerhinterzieher. Aber wenn sonst niemand Geld hat, faszinieren die kleinen Ganoven, seien es nun Haschdealer oder Hehler, die perspektivlosen Jugendlichen, von denen viele nach der Schule endlose Runden in Beschäftigungsvorbereitungsmaßnahmen drehen. Auch wenn sie nicht gleich zu Gangstern werden, gucken sich die einen oder anderen die provozierende, frauenfeindliche und gewalttätige Art der kleinen Kriminellen ab. Die Bereitschaft, auf diese Schiene einzuschwenken, wird verstärkt durch einen vernachlässigend-autoritären oder uneindeutigen Erziehungsstil der Eltern, manchmal auch der Lehrer und Sozialarbeiter. Die Folge: Die Jugendlichen hängen schon als Kinder unbeaufsichtigt auf der Straße herum, dürfen unkontrolliert fernsehen und saugen sich mit Gewaltdar-
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stellungen und Konsumbotschaften voll. Schon unter den Kindern gebe es eine regelrechte Hackordnung, berichtet ein 21jähriger. Die aggressive Art und ihre Hintergründe sind die überraschendsten Details, die die AG Kiezforschung entdeckt hat. Sie erklären auch, warum das Leben der Jugendlichen im Kiez wesentlich gewalttätiger ist als das der Erwachsenen. Denn auch die aggressiven Eckensteher sind zu Erwachsenen vergleichsweise friedlich, während sie gegenüber gleichaltrigen Fremden wenig Zurückhaltung kennen. So wird auch von blutigen Auseinandersetzungen mit vermeintlichen oder tatsächlichen Nazis aus Pankow berichtet. Aber in vielen Punkten sind die meisten Jugendlichen zwischen 15 und 21, die die AG Kiezforschung befragt hat, ganz normale Jugendliche mit erwartbaren Problemen, manchmal sogar von einer rührenden Harmlosigkeit. Hinsichtlich des Lebens in der Freizeit und den Freunden gibt man sich individualistisch, die Zukunft scheint unklar. Zwei Institutionen sind zentral: Die Freundschaft und die Feier. Freundschaften, auch in der Clique, zu pflegen, ist ein wesentlicher Bestandteil des Lebens. Am Wochenende und im Urlaub feiert man. Das Herkunftsland, wo man den Urlaub verbringt, ist in erster Linie ein Urlaubsort mit Familien- und Bekanntenanschluss für die jungen Migranten, die befragt wurden. Wichtig ist Musik, im Kiez vor allem Hip-Hop, und Kommunikationsmedien wie Telefon, e-mail, chatten und SMS. Die kindliche Begeisterung fürs Fernsehen verfliegt bei den meisten Jugendlichen. Auffällig ist die unterschiedliche Raumaneignung von Jungen und Mädchen. Während die Mädchen lieber an zentralen Orten in der ganzen Stadt unterwegs sind, bleiben die befragten Jungs in Wohnortnähe in Jugendfreizeiteinrichtungen oder auf dem Bolzplatz. Auch die Wahl der Schulen und Praktikumsplätze weist ein ähnliches Raummuster auf. Zudem möchten Mädchen häufig am Stadtrand in einer „Kleine-Häu-
ser-Gegend“ wohnen, wohingegen die meisten im Kiez geborenen Jungen diesen als Wunschwohnort angeben. Vor allem Letzteres zeigt die stärkere Aufstiegsorientierung der Mädchen, während viele Jungs sich mit einer Zukunft im unteren Drittel der Gesellschaft bereits abgefunden haben. Deshalb sind die Mädchen auch in der Schule motivierter und erfolgreicher. Ihnen steht aber neben dem Aufstieg durch Leistung immer noch die Möglichkeit offen, sich durch eine günstige Heirat zu verbessern, was den Jungs aufgrund des patriarchalen Musters, demzufolge der Mann der Überlegene zu sein hat, versperrt ist. Die weibliche Raumaneignung erhöht diese Chance, spiegelt aber auch wider, dass das Unterschichtsviertel für Mädchen weniger attraktiv ist und der Aufstieg eher angestrebt wird. Ein Leben ohne Autoritäten, vor allem ohne die Eltern, können sich die Jugendlichen nicht vorstellen. Meist werden die eigenen Eltern sehr positiv geschildert, vor allem als vergleichsweise wenig streng. Aber einige äußern sich auch nicht, sondern belassen es bei Floskeln wie:„Eine Familie muss sein wie eine Faust.“, was nichts Gutes erwarten lässt. Ein Jugendlicher berichtet aber auch über massive Vernachlässigung und Missachtung. Die Jugendlichen besuchen teils das letzte Schuljahr (Realschule oder Oberstufe), gehen teils in die darunter gelegenen Klassen oder nehmen an Berufsvorbereitungsmaßnahmen teil. Die Unterrichtsqualität in Wedding ist angeblich schlechter als anderswo, auch wegen Überfüllung und ungünstiger Zusammensetzung der Schülerschaft. Nur eine besser gebildete Minderheit strebt berufliche Selbstverwirklichung an (etwa in der Entwicklungshilfe oder als Autorin), der Mehrheit geht es bei konventionellen Berufsvorstellungen vor allem darum, erst einmal eine Lehrstelle zu finden und Geld zu verdienen. Einzelne Jugendliche erleben zum Zeitpunkt der Befragung gerade ihre erste große Liebe. Man denkt schnell an eine gemeinsame Zukunft, ans Heiraten und eine Familie mit zwei bis drei Kindern. Mädchen wollen vor der Familiengründung erst noch ein paar Jahre arbeiten. Man möchte eine harmonische Partnerschaft mit Freiraum führen. Die meisten Jugendlichen haben keinen festen Partner. Teils gibt man an, auf den/die Richtigen warten zu wollen. Promiskuität wird von den Jugendlichen abgelehnt, wobei diese Norm für Mädchen rigider ist. Wann immer vom Soldiner Kiez die Rede ist, ist auch von den Ausländern hier die Rede. Alle interviewten Jugendliche haben einen Migrationshintergrund. Deutschstämmige Kinder und Jugendliche gibt es im Kiez tatsächlich nur wenig. Die Phänomene der Jugendphase haben damit aber gar nicht so viel zu tun.
Die Jugend der Befragten ist mindestens ebenso wie von ihrem Migrationshintergrund dadurch geprägt, dass sie fast alle aus der Unterschicht stammen. Zunächst einmal existiert der Soldiner Kiez für die Jugendlichen gewissermaßen überhaupt nicht. Sie sprechen meist über den Wedding. Dieser wird als multi-ethnische Familienwohngegend mit guter innerstädtischer Infrastruktur, unattraktivem öffentlichem Raum und schlechtem Ruf beschrieben. Die Jugendlichen stammen sowohl aus Großfamilien als auch aus unvollständigen Familien. Sie sind im Wedding verwurzelt, stammen aus der 2. oder 3. Einwanderergeneration und sprechen gut deutsch. Die Arbeitsmigration führt häufig zu einer zunehmenden Entfremdung von der Verwandtschaft im Herkunftsland. Nur zwei Flüchtlinge haben gar keinen Kontakt zum Herkunftsland und den dortigen Verwandten. Die meist am Äußeren erkennbaren migrantischen Jugendlichen sind häufig Diskriminierungen ausgesetzt, pflegen aber selbst ebenfalls öfters Vorurteile. Dadurch kommt es zu einer Konzentration auf die eigene Ethnie. Der deutsche Pass wird abgelehnt, man will lieber seine Identität wahren und sieht keine Vorteile in der deutschen Staatsangehörigkeit. Durch die gegenseitigen Ressentiments werden die alltäglichen Konflikte in Nachbarschaft, Freizeit und Schule ethnifiziert, bekommen manchmal sogar eine religiöse Tönung. Damit können aber viele der befragten Jugendlichen gut umgehen, selbst wenn sie sich über kleine Schikanen wegen ihrer Hautfarbe beschweren. Für eine Jugendgruppe, die selbst von Türkentum und religiösem Bewusstsein durchdrungen ist, eskalieren diese Konflikte jedoch immer wieder. Anzeigen und Gerichtsverfahren sind die Folge. Aber auch hier sind die Konflikte entscheidend von der sozialen Frage mitbestimmt, wie ein rund dreiminütiges Gespräch einer Jungengruppe über ihre Zukunft und Berufswünsche vom Rechtsanwalt über den Koch bis zum Drogendealer zeigt. Es endet in der Äußerung eines Jungen, er wolle �ehit – also religiöser Märtyrer– werden. Ein 16jähriger aus der Clique erklärt dazu:„Ich hab nicht mal Zukunft, wie ?!!! Wir wissen, dass wir keine Ausbildung haben, wir wissen, dass eh hier keine Arbeit is, in Berlin, oder stimmt's? Wir wissen, dass ich hier nicht auswandern werde, ja!? Was willst Du noch?! Hier – du bist entweder Junkie, ja!? 'n Drogenabhängiger oder Dealer, ja?! (...) Wir werden hoffentlich im Krieg sterben, besser als wenn ich auf der Straße sterbe.“
Thomas Kilian ist Diplom-Soziologe. Er lebt im Soldiner Kiez im Wedding und hat die AG Kiezforschung ins Leben gerufen, die sich mit Geschichte und Gegenwart dieses Wohngebietes befasst.
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Herbert Scherer
Das Medium und die Message Ehrenrettung einer Supermama
Intro Für kritische Geister gehört es zum guten Ton, über mediale „Supernannies“ und „Supermamas“ die Nase zu rümpfen. In diesem Aufsatz wird eine andere Betrachtung versucht. Ich bin dazu nicht zuletzt durch die persönliche Bekanntschaft mit der „Supermama“ Aicha (Katjivena) motiviert worden, die ich als kompetente und engagierte Mitarbeiterin des Jugendprojekts „Outreach“ kennengelernt hatte, für das ich als Geschäftsführer mit verantwortlich bin. Ich finde, dass Aicha nach der Supermama-Episode von ihren Fachkolleg/inn/en in unfairer Weise boykottiert wird. Ich möchte das zurechtrücken und dabei auch der Frage nachgehen, in welchem Verhältnis das abgelichtete Realgeschehen zu dem steht, was später in den einschlägigen Fernsehsendungen verbreitet wird. Dabei geht es darum, wie weit die gemeinte „Botschaft“ durch innere und äußere Zwänge des Mediums (weiter) verzerrt wird. Spontane Empörung von Eltern und Pädagog/inn/en Die Aufregung ist groß, seit sich vor zwei Jahren nahezu zeitgleich zwei Privatsender, die nicht durchgehend im Ruf höchster Seriosität stehen, mit dem Sendeformat einer „reality soap“ dem Erziehungsthema zugewandt haben. In einschlägigen Internet-Foren äußern sich engagierte Eltern und Pädagogen empört: „Also ich schaue mir viele Sendungen zum Thema Kindererziehung im Fernsehen an, z.B. die Supermamas (RTL 2) oder die Nanny (RTL). Ich bin selbst Mutter einer 5-jährigen Tochter und mir graust es, wenn ich die Sendungen sehe.“ (www.yopi.de/rev/186724) „Ich seh gerade die ‚Supermama...’ mich würgt’s“ (www. chefkoch.de - Forum Familie und Kinder)
„Habe mir die Sendung ein paar mal angeschaut ... grausam und unfassbar ... (...) Ich schau mir das an und schlage nur die Hände über’n Kopf zusammen“ (brandy, ebd. 4.3.2005) „Generell halte ich Sendungen, in denen Kinder derart als ‚Monster’ dargestellt werden und die Eltern dafür noch Geld vom Sender kassieren, für sehr bedenklich“ (caro123, ebd. 4.3.2005) Der Landesverband Nordrhein-Westfalen des Deutschen Kinderschutzbundes verfasst zum Pilotfilm der „Super Nanny“ (erste Ausstrahlung am 19.9.2004) eine umfangreiche Expertise, die er nach Abstimmung mit seinen Ortsverbänden und dem Bundesverband schon am 7. Oktober 2004 veröffentlicht. (www.kinderschutzbund-nrw.de/StellungnahmeSuperNanny. htm). Der Kinderschutzbund hält die Serie gerade deswegen für gefährlich, weil sie sich anschickt, ein großes Publikum von verunsicherten Müttern und Vätern zu erreichen, die ein Bedürfnis nach Unterstützung in ihrem Erziehungsalltag haben: „Die Serie ‚Die Super Nanny’ wird jedoch weder in ihrer Form noch in ihren Inhalten diesem Anspruch unter Beachtung der Kinderrechte und der Menschenwürde gerecht.“ (ebd.)
„ich kann nicht glauben, dass es solche Kinder gibt ... dass es solche Eltern gibt ... es erstaunt mich immer wieder“ (stefanie1967, ebd. 3.3.2005)
Dem Kinderschutzbund geht es – seinen Zielsetzungen entsprechend – vor allem darum, die in der Sendung ‚vorgeführten’ Kinder vor einer ‚entwürdigenden’ Behandlung durch das Medium zu bewahren. Die heftigste Kritik gilt deswegen einer Passage im Pilotfilm, in der der 6jährige Max eine Zeit alleine in einem „stillen Zimmer“ verbringen soll, um zur Ruhe zu kommen:
„Was sind das für Eltern??? Ich mag es einfach nicht kapieren! Man sollte doch im Stande sein, dem Kind die geringsten Benimmregeln beizubringen“ (pastagenovese, ebd. 3.3.2005)
„Den Jungen in diesen Situationen zu filmen und dies den Zuschauern vorzuführen, achtet nicht die Privatsphäre des Kindes und ist in besonderer Weise entwürdigend“. (ebd.)
„Ich finde es schon merkwürdig, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder in einer derartigen Sendung vorführen. Wo bleibt das Persönlichkeitsrecht der Kinder?“ (Iphigenie, ebd. 3.3.2005, 3.3.2005)
Kritisiert wird, dass das ‚Problemkind’ fast nur aus der Perspektive der anderen dargestellt wird und selbst nicht zu Wort kommt:
„Meingott, was für eine kranke Sendung ... was für eine kranke Gesellschaft“ (pastagenovese, ebd. 3.3.2005)
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„Leider sieht man so etwas nicht nur im Fernsehen. Wir haben mehrere solcher Fälle im Bekanntenkreis.“ (IrisGl79, ebd. 4.3.2005)
„In der Ausstrahlung kommen einzelne Familienmitglieder und die Super Nanny zu Wort, die Max Verhalten aus ihrer Sicht beschreiben und bewerten. Max selber kommt in dieser Hinsicht niemals zu Wort. Nachdrücklich möchten wir darauf hinweisen, dass die Wirkung und Bedeutung dieser Aussagen für Max aus seiner Sicht berücksichtigt werden muss.“ (ebd.) Kritisiert wird nicht zuletzt die fehlende ‚Fachlichkeit’ der Handlungskonzepte der Super Nanny: Der Deutsche Kinderschutzbund kritisiert aufs Schärfste, dass es keinerlei Nachfragen durch die Super Nanny nach den Gründen für das Verhalten des 6jährigen Max gibt. Somit erhalten auch die Zuschauer keine Erklärungen. (...) Es ist ein Gebot der Fachlichkeit, Verhaltensauffälligkeiten von Kindern gründlich diagnostisch abzuklären, d.h. beispielsweise in medizinischer, neurologischer und psychologischer Hinsicht, um so ggf. andere mögliche Ursachen auszuschließen.“ (ebd.) Während sich in der Pädagogik und in der psychosozialen Beratung der Ansatz der Ressourcenorientierung allgemein durchgesetzt habe, der bei allen Problemlösungen die Betroffenen mit ihren Fähigkeiten und Kompetenzen als Akteure mit einbeziehe, sei in der Sendung ein Rückfall in mechanistische und autoritäre Erziehungsmuster mit einer ausgeprägten SubjektObjekt-Logik festzustellen: „Im Gegensatz zu dieser in der Fachwelt mittlerweile vorherrschenden Methode ist die Super Nanny ausschließlich defizitorientiert. (...) Den Eltern vermittelt die Sendung, dass nicht mehr Reden mit Kindern zur Konfliktlösung angesagt ist, sondern vielmehr hartes Durchgreifen, notfalls auch unter Einsatz von Körperkraft. Der Deutsche Kinderschutzbund hält diese Botschaft für nicht vereinbar mit den Kinderrechten, insbesondere mit dem Recht auf gewaltfreie Erziehung.“ (ebd.) Besonders bedenklich findet der Kinderschutzbund den Hinweis zu Beginn der Sendung, dass sich die Familie wegen ihrer Schwierigkeiten bereits ans Jugendamt gewandt habe, das aber wegen Arbeitsüberlastung keine Hilfestellung habe geben können: „So entsteht der Eindruck, die ‚Super Nanny’ sei die Alternative für Familien zum bestehenden Hilfe- und Unterstützungsangebot, was Beratungsstellen und familienunterstützenden Diensten in keiner Weise gerecht wird. Dazu passt es, dass weder als Einblendung, noch im Abspann, noch auf den Internetseiten des Senders Hinweise auf bestehende Hilfe- und Unterstützungsangebote für Zuschauer erfolgen. Damit hat der Sender eine Chance zur Vermittlung von unterstützungsbedürftigen Eltern in bestehende Hilfeangebote vertan.“ (ebd.)
Motive des Publikumserfolges Zumindest was den vorhergesehenen Publikumserfolg der ‚Erziehungssoaps“ angeht, hat der Kinderschutzbund recht. Beide Serien erweisen sich als Renner. Die „Super Nanny“ von RTL bringt es auf Anhieb auf 5 Mio. Zuschauer, die „Super Mamas“ von RTL2 starten am 23.09.2004 mit 1,5 Mio. Zuschauern, um sich in den kommenden Sendungen auf bis zu 4 Mio. Zuschauer zu steigern. Das bedeutet einen Marktanteil, der fast an den der alltäglichen Quotenkönigin ARD-Tagesschau (ca. 6 Mio. Zuschauer) heranreicht. Allerdings sind die Motive der Betrachter gemischt. Wie die spontanen Zuschauerreaktionen zeigen, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Viele scheinen auch weniger auf der Suche nach Erziehungshilfen zu sein als nach dem wollüstigen Kitzel, der sich beim Blick durchs mediale Schlüsselloch einstellt, wenn sich dahinter exotisch anmutende Abgründe vermeintlich wirklichen Lebens auftun. Einige Zuschauer sind sich dessen durchaus bewusst: „Der Erfolg dieser Formate beruht m.E. hauptsächlich auf der Schadenfreude des ‚Durchschnittsbürgers’, der sich erleichtert seufzend zurücklehnt und kommentiert: ‚Schau dir diese Zustände an! Dagegen läuft es bei uns ja richtig gut!’ “(eggsbertchen in www.chefkoch.de - Forum Familie und Kinder, 4.3.2005) oder: „es interessiert sich kaum noch jemand wirklich für die Belange der anderen Menschen. Anonymität ist das, was gewünscht wird! Das finde ich persönlich sehr traurig, und genau deshalb gibt es solche Sendungen! Da können die Menschen zuhause davor sitzen und sich freuen, dass sie vermeintlich alles richtig gemacht haben und dass es die ‚anderen’ sind, denen es schlecht geht!“ (sonnengruss1803, ebd. 4.3.2005) Den Sendern sind alle Motive recht. Je breiter gestreut das Interesse an ihren Sendungen ist, desto größer ist die Chance, hohe Einschaltquoten zu erzielen, von denen unmittelbar die Werbeeinnahmen abhängen (berechnet nach Tausenderkontakten x Zeiteinheit = 30 sec.). Es ist deswegen wahrscheinlich kein Zufall, dass das Sendeformat der Super-Erziehungs-Show Elemente zusammen bringt, die sich auch in anderen Programmen dieser Sender wiederfinden lassen: -
den Exhibitionismus vor genussvoll angewidert gröhlendem Publikum („Oliver Geissen Show“ / RTL)
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den Voyerismus mit Einblicken in prickelnd inszenierte Realsituationen („Frauentausch“ / RTL 2)
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die reine Schadenfreude ( „Die lustigsten Schlamassel der Welt. Die größten Pechvögel!“ / RTL - „Upps! Die Superpannenshow“ / RTL)
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und alles, was sonst als SUPER angeboten wird: von „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) über „Superfrauchen“ (RTL 2) bis zur „Superhausfrau“ (RTL 2) So weit, so gut. Erlaubt ist, was gefällt. Das ist das Geschäft. Im Gegensatz zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk hat sich das Privatfernsehen nie zu dem Anspruch verstiegen, eine volkspädagogische Instanz zu sein. Aber stellt es nicht doch eine gewagte Grenzüberschreitung dar, wenn es sich nunmehr mit seinem ganz speziellen Repertoire ins heikle Erziehungsgeschehen einmischt? In einem Statement unter der Überschrift „Mut zur Erziehung! Kinder zwischen Elternhaus, Schule und ‚Super-Nanny“ vor der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag (Nov. 2005) sieht Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (DL) dahinter ein gesamtgesellschaftliches Problem, nämlich das Fehlen eines „erzieherischen Ziel-Konsens(es)“, dessen Hauptelement die Glaubwürdigkeit derer sein müsse, die erzieherisch wirken. Und diese Grundlage vermisst er in besonderem Maße bei einem Sender wie RTL, der mit seiner ‚Supper-Nanny’ eine Art „fast education“ propagiere: „Erzieher oder Medien, die alles andere als gute Vorbilder sind, sollten nicht auf Erziehung machen. Das gilt für so manche Eltern, es gilt auch für manche Fernsehsender.“ Er zitiert in diesem Zusammenhang Eduard Spranger mit der These, die ‚hauptsächliche Ursache negativer Prägungen unserer Kinder sei „die innere Unwahrhaftigkeit der Gesellschaft (...), nämlich da erziehen zu wollen, wo echte Erziehungsresultate eigentlich nicht gewollt werden.“ Unter Hinweis auf „den Schrott, den uns diese Gesellschaft medial zumutet“ sind seiner Meinung nach gerade die entsprechenden Sender als Erziehungshelfer gänzlich ungeeignet: Der Adressat dieser Aussage ist für mich auch der Sender RTL, der hinsichtlich Programm ja nun wahrlich keine moralische Anstalt ist, der aber mit seiner Erziehungs-Soap, mit der ‚Super-Nanny’ auf Erziehungsberatung macht. Das ist denn doch reichlich verlogen. Auch die Behauptung, der Konsum des virtuellen RTL-Kindermädchens sei ein Beleg für erzieherisches Bewusstsein, halte ich für hanebüchen. Hier wird den Zuschauern vorgegaukelt, Erziehungsprobleme seien etwas, was man ohne Ursachenanalyse mehr oder weniger mechanistisch regeln könne. Der ‚Konsum’ der einschlägigen Sendungen ist sicher kein ‚Beleg für erzieherisches Bewusstsein’ (hat das wirklich jemand behauptet?), aber das massenhafte Interesse an diesen Sendungen kann bei allen Abstri-
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chen, die der breit gefächerten Motivationslage des Publikums geschuldet sind, gleichwohl als Indiz für einen weit verbreiteten Bedarf gelten, Hilfestellung in Erziehungsfragen zu bekommen. Und wenn die Erwartungen in diesem Zusammenhang eher auf einfache Antworten („fast education“) als auf komplexe wissenschaftliche Analysen gerichtet sind, ist das auch nicht ganz unerklärlich. Unbehagen an der professionellen Pädagogik? Könnte es nicht sein, dass das Publikum damit sein Missbehagen an der Zunft der professionellen Pädagog/inn/en zum Ausdruck bringt, denen es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen ist, ihre Thesen und Postulate auf der Basis eines gewissen, für den Laien nachvollziehbaren Minimalkonsenses zu formulieren, sondern die ihre Differenzen in den Vordergrund gestellt haben, um jeweils mit großer Geste eine Kehrtwende nach der anderen zu fordern und damit zu der Verunsicherung beizutragen, die sie nachgerade beklagen? Auch das ist ja ein Marktmechanismus. Der neueste Erziehungsratgeber verkauft sich besser, wenn er sich als radikale Alternative zu allen anderen profiliert, die bereits in den Regalen der Buchhändler auf Kundschaft warten. Und wenn es den Autor/inn/en gelungen ist, durch provokante Thesen die Aufmerksamkeit der Talk-Shows zu erreichen, gilt der Erfolg als gesichert. Der Markt der Möglichkeiten ist so reich gefüllt, dass einem schon der Kopf schwirren kann: Soll es Waldorf-, Regio, Montessori- oder Summerhill-Pädagogik sein? Hätten Sie es lieber antiautoritär, autokratisch, autoritativ oder emanzipatorisch? Wie wäre es mit emanzipatorischer, demokratischer oder „idealer Erziehung“? Ziehen Sie den laissez-faire oder den permissiven Erziehungsstil vor oder müssen Sie sich vor der „schwarzen Pädagogik“ in acht nehmen? Ist Ihnen der „sozialpädagogische Dienst“ des Jugendamtes angenehmer als die „Familienfürsorge“? Sind Sie sich dessen bewusst, dass Ihr Kind ein „Recht auf Erziehung“ hat und dass es eine Reihe von „HzE-Trägern“ gibt, die Ihnen bei der Durchsetzung Ihres Rechtes auf „Hilfe zur Erziehung“ zur Seite stehen wollen? Haben Sie „Mut zur Erziehung“ oder wollen Sie angesichts dieser Vielfalt lieber erst eine „Elternschule“ besuchen, um vielleicht zum Abschluss einen „Kinderführerschein“ zu erwerben? Die Einschaltquoten für die Erziehungs-Soaps können vor diesem Hintergrund auch als „Abstimmung mit der Fernbedienung“ über die Angebote der professionellen Pädagogik gewertet werden. Dass deren Hilfsangebote im Rahmen der Sendungen nicht erwähnt werden – wir erinnern uns an die Kritik des Kinderschutzbundes – ist unter diesem Gesichtspunkt nur zu folgerichtig.
Aber ist das wirklich so einfach? Werden Super-Nanny und Supermamas nicht auch als professionelle Helferinnen ins Spiel eingeführt? Das ist widersprüchlich. Katharina Saalfrank, die Super-Nanny, wird von RTL als „erfahrene Kindertherapeutin“ vorgestellt. Tatsächlich ist sie Diplompädagogin mit therapeutischer Zusatzausbildung. Als „Nanny“ ist sie dann aber wieder nur ein „Kindermädchen“, eine einfache Hilfskraft. Die mediale Inszenierung spielt hier mit einer Reihe von Assoziationen, die von Mary Poppins bis zu Mrs. Doubtfire gehen. Als stilisierte Gouvernante rückt sie in die Haushalte ein. Im Werbetext von RTL 2 werden auch die Supermamas als „Vollprofis“ mit einer Doppelqualifikation beschrieben: Sie hätten eine „umfassende Ausbildung als Erzieherin genossen“ und seien „selbst Mutter“. Auch das macht eine Spannbreite auf: Die Erziehungsvorschläge der Supermamas werden gegen den möglichen Vorwurf mangelnder Fachlichkeit abgesichert und gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass es sich hier nicht um bloße Theoretikerinnen handelt sondern um Frauen, die Erfahrungen mit eigenen Kindern und insofern eine gemeinsame Ebene mit den Eltern haben, in deren Familien sie gehen. Das Buch zur Serie „Die Supermamas. Einsatz im Kinderzimmer“, als Rowohlt-Taschenbuch im September 2005 erschienen, ist etwas präziser. Im Klappentext schreibt es über eine der beiden Autorinnen (die im titelbewussten Österreich gleich zur „Diplompädagogin“ avanciert war) korrekt:„Aicha Katjivena ist ausgebildete Kinderpflegerin und selbst Mutter.“ Der Gedanke drängt sich auf, dass ein Erfolgsgeheimnis dieser Serien darin liegen könnte, dass die „Super“-Erzieherinnen sich bei ihren Vorschlägen und Handlungen eher von ihrer Lebenserfahrung leiten lassen als von akademischen Erziehungstheorien. Sie säßen dann nicht ‚auf dem hohen Ross’ sondern würden eher als „Peer-Helperinnen“ empfunden, was ihnen den Zugang nicht nur zu den betroffenen Familien sondern auch zu einem breiten Fernsehpublikum erleichterte.
Biographisches Aicha wurde 1968 in Algerien geboren, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens als Tochter eines allein erziehenden (aus Namibia stammenden) Vaters verbrachte. Nach einer abgebrochenen Lehre zur Arzthelferin absolvierte sie von 1988-1990 eine Ausbildung zur Kinderpflegerin. Zwischen 1991 und 1999 hat sie als Kinderpflegerin in der Krippe und als Angestellte in der Tätigkeit einer Erzieherin im Hort gearbeitet. Nach einigen Jahren in der Jugendarbeit war sie gerade arbeitslos, als sie von einer Casting-Agentur auf der Strasse angesprochen wurde, die auf der Suche nach einer Kandidatin für die Serie „Frauentausch“ war. In dieser Serie geht es darum, dass eine Frau aus Familie A) für einige Zeit die Rolle der Frau aus Familie B) übernimmt und zeitgleich die Frau aus Familie B) zu Familie A) wechselt. Besonders pikant wird es immer dann, wenn die Beteiligten so unterschiedlich sind, dass sie kaum zusammen passen. Von Aicha als schwarzer Frau versprach man sich offenbar einen weiteren solchen Höhepunkt in der Serie. Aicha lehnte dankend ab, aber hatte bei dieser Gelegenheit ein paar Worte mit der Agentur gewechselt und u.a. über ihren beruflichen Hintergrund gesprochen. Daran erinnerte man sich wenig später, als man wieder auf der Suche war, nunmehr nach einer ‚Supermama’. Beim Casting wird weniger nach pädagogischen Konzeptionen gefragt, es geht mehr um die Fernsehtauglichkeit. Mit Recht geht die Produktionsfirma davon aus, dass Aicha in dieser Hinsicht eine gute Wahl sein wird. Und so bekommt sie, dunkelhäutig, dunkle Haare, Brille, allein erziehende Mutter, eine der beiden Rollen. Die andere wird mit einem kontrastierenden Typ besetzt, mit Miriam Pelzer, hellhäutig, blond, verheiratet, zwei Kinder. Das Realgeschehen und seine mediengerechte Bearbeitung Der Sender macht keine Vorgaben, was die pädagogischen Inhalte der Interventionen angeht, in dieser Hinsicht haben die Supermamas freie Hand:
Supermama Aicha
„Die pädagogischen Inhalte waren immer von uns selbst. Wir haben keine Hilfe von außen bekommen. Allerdings gab es, von der Produktionsfirma benannt, eine Psychologin, die wir anrufen konnten, wenn wir einmal gar nicht mehr weiter wussten.“
Ich habe mich mit Supermama Aicha Katjivena unterhalten, um eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, aber auch, um das Verhältnis von realen Vorgängen und medialer Aufarbeitung präziser bestimmen zu können. (Alle in der Folge als Zitat kenntlich gemachten Äußerungen Aichas entstammen diesem Interview aus dem August 2006).
Allerdings gilt das nur für die Arbeit mit den Familien selbst, für die jeweils 13 Tage nach einem vorgegebenen Muster vorgesehen waren: 2 Tage Eingewöhnung ohne Kamera, 10 Drehtage in der Familie, ein Drehtag außerhalb. Bei mindestens 10 Stunden Arbeit pro Drehtag kommt eine Unmenge an Material zusammen, das für die Sendung auf 45 min. pro Familie zurechtgeschnitten wird – und erst dabei entsteht die „Geschichte“, die das Fernsehen zeigt:
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„Wir konnten das Endprodukt nicht bestimmen. Das einzige, was ich machen konnte, war, die pädagogischen Inhalte so einzubringen, dass ich dahinter stehen konnte. Sonst hätte ich das nicht gemacht.“ „Es ist ganz oft so, dass die Geschichten erst im Laufe des Drehens entstanden sind und aus dem vorhandenen Material konstruiert worden sind. Das ist dann der Job der Redakteurin, die muss die Geschichten aus dem Material backen, das da ist.“ „Da ist die Redakteurin, die weiß, was sie will. Die hat Vorgaben, die kenne ich nicht. Die Vorgaben werden ihr vom Sender oder von der Produktionsfirma gegeben und die dürfen sie uns natürlich nicht mitteilen. Ziel ist natürlich, dass wir am Ende das machen, was sie erwarten.“ Es führt zu Kollisionen, wenn das Material das von der Redaktion gewünschte Ergebnis nicht hergibt. Da ist der Fall der Mutter, die ihr 4jähriges Kind Horrorvideos gucken lässt: „Die Redakteurin wollte im anschließenden Interview unbedingt von mir hören, wie schlimm ich das finde. Und dann habe ich das nicht so ausgedrückt, wie sie das wollte und dann hat sie mich tatsächlich drei Stunden lang permanent gelöchert und mit unterschiedlichen Formulierungen eigentlich immer dieselbe Frage gestellt, um das aus mir herauszulocken, was sie als Antwort haben wollte. Und da habe ich das erste mal die Struktur durchschaut. In der Sendung wäre dann nur dieser eine Satz gekommen. Und da bin ich ausgerastet. Nach drei Stunden habe ich gesagt: Jetzt reicht’s. Ich wollte die Frau nämlich nicht verurteilen, besonders deswegen, weil ich es enorm mutig fand, dass sie so ehrlich war und das zugegeben hat. Sie hätte es ja auch vor uns verstecken können. Sie hat ja schon Probleme genug. Warum sollen wir jetzt noch mehr darauf rumreiten. Und dann war die Redakteurin total sauer auf mich, weil ich mich verweigert habe.“ „Nach der vierten Sendung war es schon klar: Ich wurde als zickig eingestuft, weil ich viele Sachen nicht mitgemacht habe. Ich habe gesagt, es gibt einfach Dinge, da kann ich nicht mitmachen. Wir haben ja auch bestimmte Sachen gelernt und dazu gehört auch, die Menschen zu respektieren, mit denen man arbeitet. Und wenn ich das in irgend einer Weise verrate, dann habe ich auch meine ganze Berufsgruppe verraten. Das ist ethisch nicht korrekt und deswegen mache ich das nicht.“ Es gibt aber auch Botschaften, die das Sendeformat selbst vermittelt, ohne dass es manipulierender Eingriffe bedarf. Und diese Botschaften sind in gewisser Hinsicht konträr zu dem, was von den handelnden Personen an pädagogischen Inhalten eingebracht wird. Aicha ist sich dessen bewusst:
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„Das Sendeformat erzeugt das Gegenteil von dem, was ich eigentlich will. Ich komme ja nicht als die Super-Retterin. Ich habe, wenn ich in die Familien gehe, nur begrenzte Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.. Ich möchte vor allem erreichen, dass die Eltern ihre Kinder verstehen und dass sie ihnen mal zuhören. Auf keinen Fall will ich die Kinder ‚vorführen’. Auch wenn manche Eltern, besonders die Mütter, nichts dagegen gehabt hätte, weil es ihnen vor allem darum ging, mal ins Fernsehen zu kommen.“ Mütter und Väter Überhaupt die Mütter – und ihre Erwartungshaltung, die Aicha nicht bedienen will: „Die Initiative, sich für die Sendung anzumelden, ist immer von den Frauen ausgegangen, nie von den Männern. Ganz oft wurden die Männer nur dazu überredet, und die haben dann nur gehofft, dass ich sie bloß nicht angehe. Und was ich dann von ihnen gefordert habe war ‚Ey, seid mal da.: Ihr habt auch Rechte. Ums auf den Punkt zu bringen, ich hab ganz oft gefragt’ ‚Wo sind denn eigentlich Eure Eier?’ Das waren oft eher schwache Figuren, die einfach nur noch da waren.“ „Die leichteste Arbeit hatte ich immer mit den Vätern. Die Mütter hatten eigentlich immer gehofft, dass ich auch ‚den Alten’ umdrehe, dass der besser pariert: ‚ Wenn die Supermama kommt, die wird Dir sagen, dass Du mehr abwäschst oder so’. Und dann kam ich und habe denen ganz andere Dinge gesagt, nämlich dass sie mal wieder ihren Platz in der Familie einnehmen.“ Aichas Erwartungen an die Väter haben einen autobiographischen Hintergrund: „Ich bin nur mit meinem Vater aufgewachsen. Ich hatte keine Mutter und mein Vater hat diese Dinge super aufgefangen. Er war eine ‚VAMA’, Vater und Mutter in einem. Er konnte alles und ich denke: jeder kann alles, jeder Mann, jede Frau kann alles. Die Frage ist nur: Was traue ich mich oder wie viel wird mir überhaupt zugestanden, auch als Mann, in meiner Rolle.“ Vor Verhaltensänderungen steht die Wahrnehmung problematischer Verhaltensweisen. Und dazu eignet sich das Medium hervorragend. Die Familien bekommen nicht nur den fertigen Film im Fernsehen präsentiert, sondern das Rohmaterial wird immer wieder dazu benutzt, ihnen einen Spiegel vorzuhalten: „Es war hilfreich, mit den Eltern die bereits gefilmten Ausschnitte anzugucken und ihnen zu zeigen, wie sie sich verhalten. Das habe ich auch mit den Frauen gemacht, die ihre Männern eigentlich überhaupt nicht akzeptieren und ihnen signalisieren: Du hast nichts zu sagen.“ „Das hat auch Spaß gemacht – zu vermitteln: Guck doch mal, was Du kannst, guck auch mal, was Du willst. Wer möchte in einer Familie leben, wo er kein Mitspracherecht hat.“
Aichas konträre „Message“ und die Zwänge des Mediums Die Hauptarbeit der „Supermamas“ besteht im realen Interventionsgeschehen immer wieder darin, Erwartungen, die nicht zuletzt vom Sendeformat selbst provoziert werden, zu enttäuschen, um ihre Botschaft an die Familien bringen zu können: „Was ganz auffällig war, ist, dass die Eltern immer davon ausgegangen sind, dass sie nicht der Auslöser für die Problematik innerhalb der Familie sind, sondern dass es die Kinder sind. Das ist dann das erste, was wir den Eltern klar machen, dass alles, was in der Familie passiert und alles, was die Kinder zeigen und wie sie sich verhalten, dass das immer im Einklang mit der ganzen Familie steht.“ Aichas Botschaft kann nur dann bei den Eltern ankommen, wenn sie realisieren, dass es gerade nicht so ist, wie es die Produktionsfirma „Constantin Entertainment“ in ihrem Werbetext verspricht: „Jede Woche wird die Nation Zeuge, wie zwei selbständige Erzieherinnen, die sich mit einer KinderfrauenAgentur auf Erziehungsfragen spezialisiert haben, Eltern helfen, ihre scheinbar unkontrollierbaren Quälgeister in wahre Engel zu verwandeln!“ (http://www.constantinentertainment.de/om_data/om_index.php?page=cent_ produktion_supermamas ) Es geht nicht um einen quasi chirurgischen Eingriff von außen sondern um eine Hilfestellung, die Prozesse innerhalb der Familien ermöglichen soll. Aicha geht davon aus, dass es dafür durchaus in den meisten Fällen eine Grundlage gibt, weil die Eltern in der Regel – trotz allem – ihre Kinder lieben. Es gilt, diese verschüttete Grundlage wieder auszugraben: „Das Hauptproblem war eigentlich, dass die Kinder nicht ernstgenommen werden, dass man sie nicht wahrnimmt in ihren Bedürfnissen, ja und Liebe. Dass ganz viele so etwas wie Liebe in sich tragen, dass es aber verschüttet ist, von Alltags-, Berufs- und Beziehungsstress.“ Diese Aufdeckungsarbeit ist hart, nicht zuletzt weil das Setting eine Menge zusätzlichen Stress mit sich bringt. Die Familie ist ja nicht mit der Supermama allein, sondern in den nicht immer sehr geräumigen Wohnungen halten sich während der Dreharbeiten noch der Ton- und der Kameramann auf und die Redakteurin der Sendung. Ist da überhaupt Authentizität möglich? Ist es „echt“, was da gezeigt wird? „Doch, es ist durchaus echt. Es wird ja auch nicht gleich aufgenommen. Es gibt am Anfang erst einmal zwei Beobachtungstage ohne Kamerabegleitung. (...) Am Anfang sind die Eltern meistens damit beschäftigt, sich zu verstellen. Das ist bei den Kindern anders, da funktioniert
das nicht. Die kannst Du nicht dazu bringen, etwas zu tun, was sie nicht wollen. Dadurch ist das, was Du von den Kindern siehst, echt. Du kannst sogar an den Kindern sehen, ob die Eltern sie selber sind oder ob sie nur so tun. Jeder Erwachsene tut erst mal so. Du willst ja nicht wahrhaben, dass die Problematik Deine eigene ist.“ „In der Regel haben die Eltern diese Grundthese akzeptiert. Das ist ja eigentlich die allerwichtigste Botschaft. Und ohne die geht es auch nicht. Und das haben alle Familien irgendwie angenommen, manchmal vielleicht mehr an der Oberfläche. Aber das hat schon bei allen einen Eindruck hinterlassen.“ „Meine wichtigste Botschaft war auch immer: Eure Kinder sind keine Radios, die man an- und ausschalten kann und die sind auch nicht reparabel in dem Sinne, sondern man kann nur gemeinsam mit den Kindern neue Strategien erarbeiten. Und das geht nur, wenn alle zusammen mitmachen.“ Vergleichsweise einfache Erziehungstipps ... Dass die in der Serie Supermamas vorgestellten Erziehungsprobleme durchaus lösbar sind, und zwar in der Regel durch relativ „simple Erziehungstipps, die allgemein anwendbar sind“, hängt auch mit der Auswahl der Fälle zusammen: „Wir haben immer geguckt, dass wir nur Familien bekommen, die eigentlich nur alltägliche Erziehungsprobleme haben. Das unterscheidet sich von der Super-Nanny. Da geht es z.T. auch um Kinder, die echte Störungen haben. Das wäre über meinen Horizont gegangen. Außerdem fände ich es anmaßend zu sagen, ich kann alles. Auch wenn die Sendung eine ‚Supermama’ verspricht.“ Zwei Erziehungstipps bilden das Rückgrat des Repertoires von Supermama Aicha: zum ersten die Aufforderung zu stringentem und konsequentem Verhalten und zum zweiten die Einführung von positiven „Ritualen“: „Was mir in den Familien aufgefallen ist: es gibt ganz wenig Strukturen, es gibt viel Alltagsstress und wenig Strukturen, kaum verlässliche Regeln. Die werden verändert, je nach Laune der Eltern. Und von den Kindern wird erwartet, dass sie mit sämtlichen Umschwüngen in der Familie klar kommen.“ „Ein Problem ist, dass es bei uns kaum noch Rituale gibt, obwohl die manchmal sehr hilfreich sein können, z.B. beim Bewältigen von Wachstumsschüben: den Schnuller ablegen, nicht mehr im Bett der Eltern schlafen. Da gab es z.B. ein Kind, das von den Eltern immer noch wie ein Baby behandelt wurde, obwohl es fast vier Jahre alt war und in den Kindergarten ging. Da habe ich den Vorschlag gemacht, das Kind mit einem Ritual aus dem Kleinkindalter zu verabschieden und im Kindesalter zu begrüßen. Das Kind hat die Nuckel seiner Flasche weggeschmissen
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und von den Eltern einen altersgerechten Baukasten geschenkt bekommen. Das hat so gut geklappt, dass die ganze Kindergartengruppe erfolgreich diesem Beispiel gefolgt ist.“
Da nützt es Aicha wenig, dass sie heute sagt:
„Ich kenne das aus meiner Kindheit. Mein Vater hat mir damit bei meinen Wachstumsschüben sehr geholfen.“
Ihre Rolle wird ihr mindestens so lange nachhängen, wie sie auf der Strasse oder beim Einkauf von wildfremden Menschen erkannt und angesprochen wird:
... und das Naserümpfen der Professionellen Erziehung als das einfache, das schwer zu machen ist – ein Ansatz, der für viele Eltern eine große Hilfe darstellen kann, auch wenn die pädagogische Fachwelt das nicht so überzeugend findet. Das zeigt die Resonanz auf die Sendungen, die desto negativer ausfällt, je höher die Rezipienten ihr eigenes pädagogisches Niveau sehen. Verständlicherweise kommt die positivste Reaktion von der schwarzen Community, dicht gefolgt von Zuschauerinnen mit Migrationshintergrund. „Ich hab ganz viele schwarze Leute, die davon total begeistert sind, weil sie sagen, endlich mal eine schwarze Frau im Fernsehen, die auch eine eigene Sendung hat und die Arbeit, die wir über Jahrhunderte kostenlos gemacht haben, in die wir hinein versklavt wurden, dass diese Arbeit auch mal gezeigt wird und dass du auch dafür bezahlt wurdest. Ähnlich haben übrigens türkische und arabische Frauen reagiert.“ Das Urteil von Kita-Erzieherinnen auf einer großen Veranstaltung im Sommer 2005 in Mainz fiel differenziert aus: „Sie fanden nicht immer alles gut, aber sie fanden es gut, dass es einmal eine Sendung gab, die Erziehungsprobleme öffentlich gemacht und gezeigt hat, was für Arbeit eigentlich in diesem Bereich geleistet wird und wie schwierig auch Elternarbeit ist.“ Große Schwierigkeiten gibt es aber bis heute in dem Bereich, der für Aichas berufliche Zukunft eine besondere Bedeutung hat: bei Eltern aus Kinder- und Schülerläden und bei Trägerinstitutionen professioneller Pädagogik: „Es ist für mich verdammt schwierig, neue Arbeit zu finden. Die haben eine Vorstellung von der Frau, die auf der Mattscheibe ist . ... dass zwar die pädagogischen Inhalt meine sind, aber dass das, was sich auf dem Bildschirm abspielt, nichts über meine Person aussagt. Und viele denken, dass ich in der Art, wie diese Sendung geschnitten wurde, im wirklichen Leben agieren würde.“ Mit ihrer scheinbar besonders medienkritischen Haltung erliegen diese Kritiker in besonderer Weise der Suggestivkraft des Mediums, indem sie den realen Menschen von der medial erzeugten Rolle nicht zu unterscheiden wissen.
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„Ich würde nie wieder so eine Sendung machen und mit meiner Person so ein Format unterstützen“.
„Diese Nachwehen, das ist etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe: Man merkt sich mein Gesicht auch schnell. Viele Menschen gucken mich so an und wissen nicht genau, aber sobald ich rede, ist es vorbei. Und dann kommen sie auf mich zu und sagen: Sind Sie nicht ... Und wenn man bedenkt, dass ich schon seit mehr als einem Jahr nicht mehr dabei bin. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich dachte, das gucken vielleicht 20.000 Leute ...“ Fazit Die pädagogische Zunft sollte den Publikumserfolg der Erziehungs-Soaps ernst nehmen. Er kann als Symptom für das wachsende Misstrauen der Menschen gegenüber einer Disziplin interpretiert werden, die es zunehmend versäumt hat, sie bei der Bewältigung ihrer Alltagssorgen zu unterstützen, um sich statt dessen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten zu tummeln. Die familiäre Erziehung ist kein Randbereich unserer Gesellschaft, von ihr sind nahezu 100 Prozent der Bevölkerung betroffen. Es ist auf diesem Feld wie auf keinem anderen notwendig, Laienkompetenz zu stärken und zu qualifizieren. Die Tendenz zur Professionalisierung erschöpft sich leider auch in diesem Bereich allzu oft in Geringschätzung von allem, was kein professionelles Niveau hat. Das geht bis zum Generalverdacht gegen alle Eltern, wie er teilweise unterschwellig in der neu entfachten Kinderschutzdebatte deutlich wird. Es ist gut, medienkritisch die Unzulänglichkeiten und neuen Stereotype der Erziehungs-Soaps unter die Lupe zu nehmen, aber es ist unfair, diejenigen aus der Gemeinschaft der Pädagogen auszugrenzen, die sich angesichts eines erkennbaren Notstandes auch solcher Mittel bedienen, um die eine oder andere Botschaft an die Stellen zu tragen, wo sie gebraucht werden: in die Familien, die nicht in die Erziehungsberatungsstelle gehen oder zum Buch greifen, wenn sie in schwierige Situationen geraten. Für die, die das doch tun, aber dabei eine Vorliebe für einfachere Rezepte haben, gibt es die Erziehungstipps von Miriam Pelzer und Aicha Katjivena neuerdings auch in gedruckter Form. Der durchaus seriöse Rowohlt-Verlag hat sie unter dem Titel „Die SuperMamas – Einsatz im Kinderzimmer“ im September 2005 als Erziehungsratgeber im Taschenbuchformat herausgebracht. Die beiden Autorinnen wurden bei der Textfassung vom Erziehungswissenschaftler Bernhard Schön unter-
stützt, so dass man sicher sein kann, dass der Ratgeber nicht nur aus dem Bauch heraus verfasst worden ist. Das Buch ist sehr einfach geschrieben, die Ratschläge muten – wie die Erziehungstipps in der Fernsehserie – oftmals eher banal an, aber das macht sie nicht schlechter, sondern im Gegenteil nachvollziehbarer und damit nützlicher als manches andere, was vielleicht fachlich kompetenter, aber sprachlich und gedanklich schwerer verständlich ist.
Dieser Aufsatz ist mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Sammelband „Mütter, Väter, Supernannies - Funktionalisierende Tendenzen in der Erziehung“ (Redaktion Redaktion: Christiane Griese, Anne Levin, Andrea Schmidt), Schneider-Verlag Hohengehren, April 2007, entnommen.
Nicht für die Schule sondern für das Leben ... „Bildung im Stadtteil“
6. Jahrestagung Stadtteilarbeit in Hannover-Kronsberg (vom 21.11- - 23.11.2007) In Vorträgen und Workshops mit „best practice“-Beispielen geht es diesmal u.a. um folgende Themen: • • • • • • • •
Formelle und informelle Bildung Zum Stellenwert von Bildung in belasteten Stadtteilen Kindertagesstätten als Bildungseinrichtungen für Kinder und Eltern Kulturelle und politische Bildung im Stadtteil Berufliche Bildung und Berufsausbildung als Aufgabe von Stadtteilzentren Die Schule als Mehrgenerationenhaus und/oder das Stadtteilzentrum als Schulträger Lernen im bürgerschaftlichen Engagement Lernende Regionen
Aktualisierte Informationen auf www.stadtteilarbeit.de In diesem Jahr gibt es eine Besonderheit: Neben den Referent/innen aus Mitgliedseinrichtungen, die – wie bisher – kostenlos an der Tagung teilnehmen können und ihre Fahrtkosten erstattet bekommen, können bis zu 20 Interessierte aus Mitgliedseinrichtungen auf FREIPLÄTZEN an der Tagung teilnehmen (d.h. für diese Teilnehmer/innen entfällt der TN-beitrag von 120 Euro, außerdem werden nachgewiesene Fahrtkosten bis zu 50 Euro erstattet – bleiben ggfs. nur noch die Übernachtungskosten, die von den Teilnehmer/innen oder ihren Einrichtungen zu tragen sind). Bedingung: Anmeldung über den Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Tucholskystr. 11, 10117 Berlin mit Bestätigung der Mitgliedseinrichtung.
Eine Veranstaltung von: www.stadtteilarbeit.de, Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Stadt Hannover und plankom
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GlücksSpirale Der Rundbrief erscheint mit finanzieller Unterstützung der Glücksspirale