Rundbrief 2-2000

Page 1

ISSN 0940-8665 36. Jahrg./ Dez. 2000, DM 7,50

Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit

Rundbrief 2

2000

• Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT e.V.


Rundbrief 2/2000

36. Jahrgang ______________ Dezember 2000

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort von Renate Da Rin _______________________________________________________ S. 1 Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung Bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen von Birgit Weber und Eva-Maria Antz ____________________________________ S. 2 Bürgerschaftliches Engagement Zentrales Anliegen oder Nebenschauplatz sozialer Arbeit? von Susanne Elsen _____________________________________________________ S. 11 Der Ehrenamtliche, das unbekannte Wesen von Jürgen Altmann ____________________________________________________ S. 18 Leitbild - Bürgerorientierte Kommune von Heidi Sinning ______________________________________________________ S. 19 Neue Steuerung und die Zukunft der Gemeinwesenarbeit von Dieter Oelschlägel _________________________________________________ S. 23

AUS DEN EINRICHTUNGEN Nachbarschaftszentren - Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklung und Innovation von Renate Wilkening _________________________________________________ S. 25 Schön Bunt - Eine Fassadenaktion des Rabenhaus e.V. von Hella Pergande ___________________________________________________ S. 26 Für mich selbst und andere ... Älter werden mit Gewinn von Heinz Schwirten____________________________________________________ S. 27 "Familienzeit" bei ANLAUF - Kein Geheimtipp für Insider von Waltraud Stein ____________________________________________________ S. 29 Kinder und Jugendhilfe - Sprachförderung in der Kindertagesstätte von Babette Kalthoff ___________________________________________________ S. 30 Das Altentheather. Theater der Erfahrung wird Twen von Eva Bittner und Johanna Kaiser ____________________________________ S. 31 Das erste Stadtteilzentrum in Berlin-Hellersdorf bilden! Aber wie? von Horst Noak ________________________________________________________ S. 32 Stellungnahme zur Anhörung "Stadteilzentren" von Herbert Scherer ___________________________________________________ S. 34 Tagesstätte für psychisch Kranke/ seelisch wesentlich behinderte Menschen von Heidemarie Rothe _________________________________________________ S. 37

Der RUNDBRIEF wird herausgegeben vom VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT E.V. Slabystr. 11, 50735 Köln Tel 0221 / 760 69 59 Fax 0221 / 760 79 05 E-mail: VskaKoeln@T-Online.de Kontaktbüro Berlin: Tucholsky Strasse 11 Tel 030 / 280 96 107 Fax 030 / 280 96 108 Redaktion: Renate Da Rin, Birgit Weber Gestaltung: Both Grafik Der RUNDBRIEF erscheint zweimal jährlich Einzelheft: DM 9,50 incl. Versandkosten ISSN 0940-8665


VOR

WORT

Liebe Mitglieder und Freunde des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit, liebe interessierte Mitmenschen!

Viele Stimmen kommen in diesem Rundbrief wieder zu Wort: Da ist ein ehrenamtlich Engagierter, der sich vehement dagegen wehrt, als Gegenstand einer immer breiter werdenden Diskussion über "Ehremamtler" vereinnahmt zu werden, und auf eine selbstverständliche, gleichberechtigte Partnerschaft besteht. Es werden verschiedene Projekte und Einrichtungen vorgestellt wie die Schreibaby-Ambulanz in Berlin, die Tagesstätte für psychisch Kranke in Halle, Sprachförderung in der Kindertagesstätte in Berlin, Freizeitgestaltung für Familien im Jugendhilfezentrum Marzahn-Nord und das Altentheaterfestival mit internationalen Gästen, das in Berlin stattfand.

Das Angebot einer sozialgeragogischen Weiterbildung im Bereich Offene Altenarbeit der Quäker Nachbarschaft in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Soziale Gereontologie der Universität Dortmund wird beschrieben und über die Fassadenaktion des Rabenhauses in Köpenick berichtet. Anstöße zur Diskussion geben Beiträge über die strategischen Möglichkeiten für Gemeinwesenarbeit und deren Evaluation sowie Gedanken zu den Entwicklungspotenzialen, die aus bürgerschaftlichem Engagement entstehen, und deren Stellenwert. Die Stellungnahme zur Anhörung "Stadtteilzentren" wird kommentiert und die komplexe Aufgabenstellung der Errichtung eines Stadtteilzentrums in BerlinHellersdorf beschrieben. Und – last but not least - stellen die Projektleiterinnen "Probe" vor, das "Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen". Das Projekt wurde innerhalb der letzten 12 Monate durchgeführt und befindet sich derzeit in der Abschlussphase.

Der Rundbrief zeugt auch dieses Mal wieder alles in allem von einer lebendigen Arbeit und von einer fruchtbaren, kreativen und auch kritischen Zusammenarbeit zwischen Hauptund Ehrenamtlichen!

Wir wünschen allen unseren Lesern einen ruhigen, friedlichen Ausklang dieses Jahres, eine Zeit zwischen den Jahren, die es erlaubt, Rückschau zu halten und Pläne zu schmieden, damit es weitergehen kann mit frischen und vereinten Kräften, mit Gesundheit, Lust und Freude! Alles Gute! Renate Da Rin

n re lehre Die Jah e die Tag s a w , l vie n. s wisse l a m e i n

) merson ldo Em a W h (Raip

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

1


von Birgit Weber und Eva-Maria Antz

Pro Bürgerschaftliches Engagement !

"Der Durchbruch ist unsere Bereitschaft, die Teile auf eine völlig neue Weise zusammenzusetzen und Muster zu sehen, wo nur ein Augenblick zuvor lediglich Schatten erschienen." (E. Lindaman)

Ähnlich wie in diesem Zitat beschrieben erging es uns in den letzten zwei Jahren in dem Projekt ProBE - "Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen". Es ging weniger darum, Neues zu erfinden, sondern vielmehr darum, vorhandene "Teile", vorhandenes Wissen und zahlreiche Erfahrungen deutlicher wahrzunehmen und in einer neuen Weise zusammenzusetzen. Neben den fachlichen Erkenntnissen hat das Projekt ein zweites Produkt hervorgebracht. Mit den Aktivierenden Untersuchungsprojekten wurde ein neues Modell entwickelt, wie fachbereichsübergreifende Fragen einer Einrichtung bearbeitet werden können. Die Vorgehensweise und Ergebnisse dieses Projektes werden ausführlicher mit Praxisbeispielen aus sozial-kulturellen Einrichtungen der letzten 50 Jahre als Buch, das Anfang 2001 erscheinen wird, veröffentlicht. Hier ein Auszug als erster Einstieg:

I. Überblick Das Projekt ProBE umfasste einen Zeitraum von insgesamt zwei Jahren: von November 1998 bis Oktober 2000. Gefördert wurde es vom Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Projektleitung lag bei Birgit Weber und Eva-Maria Antz.

2

Die wissenschaftliche Beratung wurde von Frau Prof. Dr. Maja Heiner übernommen. Insgesamt beteiligten sich 16 Einrichtungen an dem Projekt. Mit dem Projekt ProBE wurde der Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V, der sich als Dach- und Fachverband versteht, seiner zentralen Aufgabe gerecht: der Unterstützung und Förderung sozial-kultureller Einrichtungen. Eine solche Unterstützung umfasst sowohl die Pflege und Weitergabe der Traditionen und Qualitätsvorstellungen, die sozial-kulturelle Arbeit ausmachen, als auch die Ermutigung zu Experimenten und neuen Entwicklungen, um der sich verändernden Gesellschaft gerecht zu werden. Sich den Veränderungen der Zeit nicht zu verschließen, bedeutet für sozial-kulturelle Einrichtungen ein stetiges Überdenken des eigenen Standpunkts nicht zuletzt im Hinblick auf Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement. Der Verband hat in dieser Debatte vor dem Hintergrund der eigenen Tradition bürgerschaftlicher Mitwirkung und Engagements in der sozial-kulturellen Arbeit mit dem Projekt ProBE einen spezifzischen Akzent gesetzt. Im Vordergrund standen besondere Möglichkeiten der sozial-kulturellen Einrichtungen als Einsatzorte und als Initiatorinnen von bürgerschaftlichem Engagement - d.h. als besondere Orte, an denen dieses Engagement gelebt werden kann.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Während zahlreiche Untersuchungen sich auf die Motivationen der BürgerInnen, die Merkmale von "neuem Ehrenamt" und die finanziellen Rahmenbedingungen konzentrieren, standen bei diesem Projekt die Einrichtungen im Vordergrund – als Organisationen mit Konzepten, Erfahrungswissen, Organisationsformen und einer gewachsenen Kultur der Zusammenarbeit mit engagierten Bürgern und Bürgerinnen. Drei Grundannahmen bildeten den Ausgangspunkt der Planung des Projektes ProBE: 1. Sozial-kulturelle Einrichtungen verstehen sich grundsätzlich als Einsatzorte und Initiatorinnen für die aktive Mitgestaltung von BürgerInnen. 2. In der Geschichte sozial-kultureller Einrichtungen gibt es bereits zahlreiche und vielfältige Erfahrungen in der Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen. 3. Die Qualität und die Ausrichtung der Zusammenarbeit von sozial-kulturellen Einrichtungen mit BürgerInnen wird maßgeblich bestimmt von den Rollen und Haltungen, die hauptamtliche MitarbeiterInnen einnehmen. Die Grundidee des Projektes der Unterstützung und Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements setzte zunächst bei einer möglichst praxisnahen Wahrnehmung und Beschreibung der vorhandenen Erfahrungen an. Dabei war es wichtig, einen Einblick zu gewinnen, wann und in welchem Kontext ehrenamtliches Engagement im Verlauf seines Wirkens zu- oder abgenommen hatte, gefördert oder zurückgedrängt wurde. Dieser Ansatz bildete einen Schwerpunkt sowohl in den konkreten Einrichtungen als auch in der Recherche und Untersuchung von Erfahrungsschätzen, die darüber hinaus zu diesem Themenbereich zugänglich sind: Fachliteratur, Verbandsunterlagen sowie nicht-verschriftlichte Erfahrungen und Einschätzungen von ZeitzeugInnen. Die Auswertung der Erkenntnisse mündete in eine Formulierung von Positionen, in denen die Bedeutung von Ehrenamt und bürgerschaftlichem Engagement für sozialkulturelle Einrichtungen sichtbar werden für das Projekt im Allgemeinen wie auch für

jede einzelne der beteiligten Einrichtungen. Solche Standortbeschreibungen sind Grundvoraussetzung für die Planung und Initiierung von sinnvollen und notwendigen Veränderungen, ohne dass dabei der Erfahrungsreichtum der Vergangenheit verloren geht. Schematisch lässt sich das Projekt ProBE in folgender Weise darstellen:

schen Professionalisierung der sozialen Arbeit und dem freiwilligen Engagement der BürgerInnen gesehen? • Warum engagieren sich BürgerInnen freiwillig und was sind die Motivationen von Einrichtungen für die Zusammenarbeit mit BürgerInnen? • Welche Aufgaben und Ziele der Einrichtungen stehen in Zusammenhang mit bürgerschaftlichem Engagement?

Recherche von Erfahrungen und Positionen zu Ehrenamt/bürgerschaftlichem Engagement in der sozial-kulturellen Arbeit

"Aktivierende Untersuchungsprojekte" zu Ehrenamt/bürgerschaftlichem Engagement in sozial-kulturellen Einrichtungen

• Recherche in der Literatur, besonders der sozial-kulturellen Arbeit

• Informationsveranstaltung für interessierte Einrichtungen

• Recherche von nicht-verschriftlichten Erfahrungen durch Interviews mit ZeitzeugInnen

• Durchführung von Aktivierenden Untersuchungsprojekten in Einrichtungen: Bestandsaufnahme und Standortbestimmung

• Fachgespräche in sozial-kulturellen Einrichtungen

• Ergebnispräsentation

• Erstellung einer Arbeitshilfe, Abschlussveranstaltung • Was kennzeichnet eine Kultur der Zusammenarbeit von Einrichtungen mit BürgerInnen?

1. Die Recherchen Recherche der Literatur, insbesondere der Verbandsliteratur Im Rahmen der Materialrecherche wurde neben einer Literaturrecherche vor allem das umfangreiche Material der Verbandszeitschrift DER RUNDBRIEF gesichtet, der seit 1965 Positionen, Erfahrungen und Ereignisse aus sozial-kulturellen Einrichtungen veröffentlicht. Darüber hinaus waren Protokolle und Berichte so wie die Unterlagen, die aus den Mitgliedseinrichtungen zugänglich waren (meist Jahres- oder Tagungsberichte), umfangreiche Quellen, die unmittelbar zu dem Projektschwerpunkt sozial-kulturelle Arbeit und den Erfahrungen von sozial-kulturellen Einrichtungen Auskunft gaben. Als weitere Quellen dienten die Fachzeitschriften und die aktuellen Veröffentlichungen der Fachliteratur, vor allem aus dem Bereich der sozialen und kulturellen Arbeit. Folgende Kriterien bzw. Fragestellungen waren bei der Recherche maßgeblich: • Welche Begriffe wurden benutzt, wofür stehen diese Begriffe? • In welchem gesellschaftlichen Kontext wurde bürgerschaftliches Engagement diskutiert und eingeordnet? • Welcher Zusammenhang wurde zwi-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

3

Interviews mit ZeitzeugInnen Die Durchführung der Interviews mit ZeitzeugInnen verfolgte zwei Ziele: Zum einen ging es um die Sicherung der nicht-verschriftlichten Erfahrungen von Menschen, die sehr unterschiedliche Phasen des Ehrenamts in sozial-kulturellen Einrichtungen persönlich miterlebt haben. Da Selbstverständlichkeiten und Alltäglichkeiten weitaus weniger beschrieben werden als die Besonderheiten und die spektakulären Aktionen und Neuheiten, wurden Aspekte deutlich, die sonst nicht soviel Beachtung gefunden hätten, wie zum Beispiel die Bedeutung von Festen als gemeinschaftsstiftende Aktionnen und die Wichtigkeit der Erfahrung und des Erlebens von wertgeschätztem ehrenamtlichem Engagement in der Jugend. Zum anderen ging es in einigen Interviews um die Meinungen und Berichte von ZeitzeugInnen aus Forschung und Lehre, die bei ihrer Einschätzung den Blick auf den Gesamtzusammenhang miteinbeziehen.

Fachgespräche vor Ort Die Fachgespräche als Form der Untersuchung in den Einrichtungen wurden erst im Projektverlauf entwickelt. Es wurde die zeitlich sehr begrenzte Form (ca. drei Stun-


den an einem Vor- oder Nachmittag) von "Fachgesprächen vor Ort" eingeführt. Ziel dieser Gruppeninterviews war es, gelungene Beispiele von Zusammenarbeit zwischen haupt- und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen in den Einrichtungen mit ihrem jeweiligen Schwerpunkt zu sammeln. Damit konnten interessante Einrichtungen mit besonderen Schwerpunkten - wie z.B. Partizipationslernen bei Kindern und Jugendlichen - und auch Einrichtungen in den neuen Bundesländern mit ihren besonderen Bedingungen miteinbezogen werden. Zusätzliche Aspekte zum Thema, die durch die Themen der Einrichtungen, die Aktivierende Untersuchungsprojekte durchführten, nicht oder nicht ausreichend abgedeckt waren, konnten so aufgegriffen werden. Die Fachgespräche hatten einen aktivierenden Charakter in den Einrichtungen, weil es in der Regel zu dieser Thematik kaum eine im Alltag der Einrichtungen gesicherte Form gibt. Hinzu kam, dass diese Treffen eine zusätzliche Bedeutung bekamen durch die Anwesenheit der Projektleitung, die die Erfahrungen der GesprächsteilnehmerInnen wertschätzte.

In folgenden Einrichtungen wurden Fachgespräche durchgeführt: Verein Nachbarschaftshaus Bremen e.V., Bremen Bürgerschaftshaus Oslebshausen, Bremen Frei-Zeit Haus Weißensee e.V., Berlin Rabenhaus e.V., Berlin Ökohaus e.V., Rostock Netzwerk Südost e.V., Leipzig

2. Die Aktivierenden Untersuchungsprojekte (AU-Projekte) Das Aktivierende Untersuchungsprojekt bot einen Ort bzw. Rahmen, wo fachbereichsübergreifende Themen der Einrichtungen bearbeitet werden konnten. Es gab den Anlass und ein Forum, grundlegende Fragen zu stellen und die Arbeit einer Einrichtung zu überprüfen. Die Zusammenführung der Ergebnisse in der Gesamteinrichtung unterstützte die Bildung, Sicherung und Wahrnehmung der Identität der Einrichtung. Im Rahmen des Projekts ging es nicht nur um die Erhebung von Fakten, sondern in den Diskussionen und Interviews – auch mit BesucherInnen und NutzerInnen – wurden Meinungen, Einschätzungen, Haltungen und Ängste zusammenge-

tragen. Im Verlauf der Suche der Einrichtung nach übergreifenden Fragen und Positionen wurde die interne Einrichtungskultur deutlich. In diesem Prozess entstanden Gedanken und Ideen für Veränderungen und Verbesserungen, neue Maßnahmen wurden geplant oder alte wiederbelebt. Die Gewinnung von Einrichtungen zur Teilnahme Das Anliegen bestand darin, Einrichtungen unterschiedlicher Ausprägungen zu gewinnen. Angesichts der begrenzten Ressourcen des Projektes war bereits zu Beginn klar, dass eine breite repräsentative Auswahl nicht angestrebt werden konnte. Unterschiede können auf dem Gründungszusammenhang und -zeitpunkt beruhen; so bestehen zum Beispiel unterschiedliche Voraussetzungen in Nachbarschaftsheimen aus der Tradition der Re-Demokratisierung in den Anfängen der Bundesrepublik im Unterschied zu Einrichtungen, die später in der Tradition der Bürgerinitiativen und Selbstverwaltung entstanden sind und nicht zuletzt neuere Einrichtungen, die unter den sich verändernden Bedingungen der neuen und auch alten Bundesländer in den 90erJahren gegründet wurden. Für eine Beteiligung am Projekt wurden Einrichtungen gesucht, die • bereit und in der Lage sind, ihre Geschichte und ihren aktuellen Alltag genau zu betrachten • und ein ausgeprägtes Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Thema "Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement" mitbringen. Um das Anliegen des Projektes ProBE vorzustellen und Einrichtungen zur Teilnahme zu gewinnen, wurde in einem ausführlichen Prospekt der Kontext, die Projektidee, der Praxisbezug und der geplante Projektverlauf beschrieben. Bevor die Einrichtungen sich verbindlich anmelden konnten, wurde zentral eine Informationsveranstaltung durchgeführt, in deren Rahmen gegenseitige Erwartungen und Fragen angesprochen werden konnten und Fachreferate zur Projektthematik gehalten und diskutiert wurden. Nach dieser Informationsveranstaltung wie auch aufgrund von Projektdarstellungen in der Fachpresse bewarben sich die inter-

4

essierten Einrichtungen beim Verband für sozial-kulturelle Arbeit. Angestrebt bzw. vorausgesetzt war die Beteiligung der Einrichtung als Gesamtorga nisation. Da nicht lediglich einzelne MitarbeiterInnen aus den Einrichtungen gewonnen werden sollten, wurde für die Bewerbung eine offizielle Bestätigung durch die GeschäftsführerInnen vorausgesetzt. Dieses Vorgehen hat im weiteren Verlauf in einzelnen Fällen den Projektverantwortlichen "den Rücken gestärkt" und ihnen geholfen, die Einbindung und Unterstützung der anderen MitarbeiterInnen und Fachbereiche zu erreichen und ggfs. einzufordern. Die Materialien für die Einrichtungen Um den unterschiedlichen Erfahrungen, Entwicklungen und auch Bedingungen gerecht zu werden, wurden den beteiligten Einrichtungen unterschiedliche Wege, Methoden und Zugangsweisen angeboten, die eine ihnen und ihrer Situation angemessene

"Wenn die Wellen schlagen, tauche ich hinab, um Perlen zu finden." und realistische Projektdurchführung ermöglichen sollten. Den Einrichtungen wurden von der Projektleitung eine Reihe von Materialien zur Verfügung gestellt, denen das Zitat vorangestellt war: "Wenn die Wellen schlagen, tauche ich hinab, um Perlen zu finden." Dieses Zitat sollte ein Hinweis darauf sein, dass Innensicht und Suche gerade in unklaren und turbulenten Zeiten sehr Gewinn bringend sein kann und vorhandene, verborgene Reichtümer aufgedeckt werden können Die Materialien enthielten folgende Kapitel: • Anregungen und Vorschläge zum Projektdesign • Anregungen und Fragekataloge zur Bestandsaufnahme • Anregungen zur Positionsbestimmung • Anregungen zur Durchführung • Hinweise zur Zusammenarbeit mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Als Gerüst für die inhaltliche Untersuchung und Diskussion des Themas Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement innerhalb der einzelnen Einrichtungen wurden folgende Komplexe vorgeschlagen:

Projekts klar darüber werden, was sie erreichen wollen, und dementsprechend einschätzen können, wie die konkrete Beteiligung im Hinblick auf ihre Zielvorstellung aussehen kann.

• Der Auftrag, den eine Einrichtung hat, der also festgelegt ist (von außen und von innen) und der die Arbeit und die Ausrichtung der Einrichtung legitimiert. • Die Konzeption, die sich zur Umsetzung des Auftrages für die Einrichtung bzw. für einzelne Fachbereiche ableitet. • Die Strukturen der Arbeit, die den Auftrag unterstützen, die sich daraus ableiten, oder die aus anderen Gründen und Quellen entstanden sind. • Der konkrete Alltag in der Einrichtung, der ein Spiegel von Auftrag, Strukturen und Themen ist – und der auch immer wieder Reibungspunkte zwischen verschiedenen Elementen und den konkreten Menschen offenbart. • Die "Themen der Welt", die als lokale, regionale, gesellschaftliche Einflüsse und Herausforderungen die konkrete Arbeit beeinflussen und mitprägen.

Die Workshops In einigen Einrichtungen wurden Workshops mit Unterstützung durch die Projektleitung durchgeführt, um den Prozess der Erarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Thema zu unterstützen. Der Zeitpunkt für eine solche Vertiefung des Themas in moderierter Form war von den Einrichtungen passend zu ihrem jeweiligen Prozess jeweils selbst festzulegen. Andere Einrichtungen zogen Beratungen der Projektteams vor Ort vor, die sie für ihre Situation sinnvoller erachteten als die Durchführung eines Workshops.

Für die Erarbeitung dieser Themenbereiche wurde von Seiten der Projektleitung eine Reihe von methodischen Vorgehensweisen vorgeschlagen: von Interviews mit präzisen Fragen, über Gruppendiskussionen, die weniger zeitintensiv verschiedene Perspektiven und Blickwinkel deutlich machen, bis hin zu anderen kreativen Wegen, die Unsichtbares sichtbar machen und Offensichtliches pointieren können, wie z.B. Ausstellung, Fotoreportage, Rollenspiele etc. Auch hier war beabsichtigt, jeder der Einrichtungen Spiel- und Entscheidungsraum zu belassen, um selbst herauszufinden, für welches Vorgehen sie sich entscheiden kann und will. Das Projektdesign Die Einrichtungen waren zu Beginn des Projekts bereits aufgefordert, ihre Planung vor dem Hintergrund ihrer eigenen spezifischen Fragestellung und ihres spezifischen Interesses am Thema und an der Projektbeteiligung in einem "Projektdesign" zu formulieren. Wichtiger Faktor war hierbei auch die Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden zeitlichen und personellen Ressourcen. Mit der Erstellung eines solchen Projektdesigns sollte einrichtungsnah und realistisch abgesichert werden, dass die beteiligten Einrichtungen sich bereits zu Beginn des

Die Zusammenarbeit Projektleitung und Einrichtungen Die Zusammenarbeit zwischen dem Verband als Projektträger bzw. der Projektleitung und teilnehmenden Einrichtungen war nicht von Vorschriften und verbindlichen Vorgaben bestimmt, sondern eher durch Unterstützung und Angebote. In den Aktivierenden Untersuchungsprojekten in den Einrichtungen war der regelmäßige Kontakt zwischen Projektleitung und den beteiligten Einrichtungen gesichert. Es bestand das Angebot der Projektleitung, nach Absprache für konkrete individuelle Beratung während des Prozessverlaufs zur Verfügung zu stehen. Um Erfahrungs- und Ideenaustausch während des Projektverlaufs und einer Diskussion über die eigene Einrichtung hinaus Raum zu geben, wurden verschiedene Maßnahmen konzipiert: die schriftliche Informationsweiterleitung über die Projektleitung, Regionaltreffen der beteiligten Einrichtungen und die Organisation von Zusammenkünften im Rahmen anderer Veranstaltungen. Am wichtigsten hat sich in dem Rahmenprojekt die Unterstützung bei der Klärung der einrichtungsrelevanten Frage herausgestellt. Hier standen viele Projektverantwortliche vor der Aufgabe, doch sehr allgemein formulierte Anliegen untersuchbar zu machen, indem sie die Projektthematik mit bestehenden Ansätzen in Zusammenhang bringen mussten. Die Unterstützung der Einrichtungen erfolgte zum einen durch die Beratung, so-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

5

wohl in regelmäßigem telefonischen Kontakt wie auch bei verabredeten Beratungstreffen. Weitere Unterstützung bot die Zusammenfassung von Einrichtungsergebnissen, die durch die Projektleitung durchgeführt wurde. Berichte, Thesen, Materialien, Briefe, die von den Projektverantwortlichen als Einrichtungsergebnisse an die Projektleitung weitergegeben wurden, wurden als Zusammenfassungen an die Einrichtungen zurückgegeben. Aus dem "Materialberg" oder den wenigen Unterlagen – wurden verständliche Essentials formuliert, die den Einrichtungen eine hilfreiche Spiegelung boten. Die Präsenz vor Ort in den Einrichtungen stellte eine unverzichtbare Komponente bei der Durchführung des Projekts dar. Das Kennenlernen der Einrichtung vor Ort war u.a. notwendig, um die konkreten Bedingungen für das Projekt wahrzunehmen und einschätzen zu können. Eine Unterstützung im Sinne der Ermutigung für neue Wege ist gerade erst in der Kenntnis der konkreten Einrichtungsbedingungen möglich.

II. Erkenntnisse aus der Durchführung der Aktivierenden Untersuchungsprojekte Im Folgenden werden die Erfahrungen der Einrichtungen in den Aktivierenden Untersuchungsprojekten beschrieben und bewertet. Zur besseren Verständlichkeit werden die Begleitung der Einrichtungen, wie sie im Projekt ProBE angelegt war, als "Rahmenprojekt", und die Aktivierenden Untersuchungsprojekte in den Einrichtungen als "AU-Projekte" bezeichnet.

Die Durchführung der AU-Projekte war durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeichnet: a) Die Anforderung an jede Einrichtung, ihr eigenes Aktivierendes Untersuchungsprojekt im Rahmenprojekt zu definieren. Jede Einrichtung konnte/musste selbst sowohl die einrichtungsrelevanten Fragen formulieren, den Weg zur Beantwortung der Fragen wählen, Bewertungen vornehmen und Positionen beziehen. Es galt nicht, ein von außen vorgegebenes Ziel zu erreichen. Die Bewertung der tatsächlichen Ergebnisse lag bei den jeweiligen Einrichtungen selbst. Gleichzeitig gab es einen übergeordneten Rahmen, der eine Orientierung bot.


b) Die Verbindung von Selbstevaluation und Fremdevaluation Die Untersuchungen wurden von den MitarbeiterInnen der Einrichtungen entsprechend ihres eigenen Projektdesigns, in dem sie Fragen, Methoden und Zeitplan festgelegt hatten, durchgeführt und ausgewertet. Die Möglichkeit zu Nachfragen, Zusammenfassungen, Workshops und regelmäßige Telefonate mit den Projektleiterinnen des Verbands waren Bestandteil der vertraglichen Vereinbarungen. Es bestand durchgehend das Angebot, vor Ort Beratungen in Anspruch zu nehmen. c) Das Aktivierende Untersuchungsprojekt als ein Vorhaben der Gesamteinrichtung Sozial-kulturelle Einrichtungen überzeugen durch ihre Vielfalt an Angeboten, an Zielgruppen oder auch an themenorientierten Bereichen, es wird mit dem Anspruch gearbeitet, alle Unterschiedlichkeiten zuzulassen und dennoch an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten. Die Synergieeffekte, die aus solchen unterschiedlichen Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel entstehen können, gilt es zu fördern, zu organisieren und zu pflegen. Denn nur auf diese Weise können die Ansprüche dieser Einrichtungen an sich und ihre Arbeit in die Praxis umgesetzt und zur Selbstverständlichkeit werden. Themen, die die ganze Einrichtung betreffen, werden oft - falls sie nicht alleine in der Hand des Geschäftsführers oder des Vorstandes liegen - als zusätzliche Belastung wahrgenommen, für die eigentlich keine Zeit vorgesehen ist im normalen Arbeitsablauf der Einrichtung. In dem AU-Projekt wurde die Zusammenarbeit von Fachbereichen, die zum Teil sich widersprechende Positionen einnahmen, vorausgesetzt. Den Projektverantwortlichen in den Einrichtungen kam also besonders am Anfang und auch immer wieder während des Projektverlaufs die wichtige Aufgabe zu, die Akzeptanz für das AUProjekt zu sichern und die Bedeutung dieses Projekts für die Gesamteinrichtung zu unterstreichen. d) Der Bezug der Untersuchungen sowohl auf die Einrichtungsgeschichte wie auch auf die aktuelle Situation Entsprechend dem Alter der Einrichtung und deren geschichtlichem Ereignisreichtum war der Blick in die Vergangenheit entweder sehr distanziert oder sehr erhellend. Konfrontationen mit unterschiedlichen Haltungen, vorausgegangene Entscheidungen, alte Mythen und Konflikte zeigen ihre Wir-

kung auch in der aktuellen Situation. Aus diesem Rückblick ergaben sich Fragen, die in manchen Fällen zu neuen Diskussionen führten, manchmal jedoch auch gänzlich vermieden wurden: Welche Diskussionen wurden geführt, welche Konsequenzen folgten? In welchem Zusammenhang steht die aktuelle Haltung einer Einrichtung zu deren Vergangenheit? e) Die Prozesshaftigkeit des Aktivierenden Untersuchungsprojektes Im Rahmen des Projektes ging es nicht nur um die Erhebung von Fakten, sondern es wurden in den Diskussionen und Interviews Meinungen, Einschätzungen und Haltungen gesammelt. Auch von außen wurden neue Fragestellungen herangetragen: BesucherInnen und NutzerInnen wurden neugierig und formulierten ihre Anliegen und Fragen. Neue Maßnahmen wurden geplant oder alte wiederbelebt. Anforderungen an die Einrichtungen Aus einer solchen Projektanlage lassen sich besondere Anforderungen an die Einrichtungen bzw. Voraussetzungen ableiten. • Die Eingrenzung des Themas BE und das Erarbeiten der einrichtungsrelevanten Frage, • die Einbindung in die Gesamteinrichtung, • die Übernahme der Projektverantwortung, • das Aktivieren von Ressourcen, • Flexibilität im Umgang mit Änderungen, • Festhalten des Standortes vor Aktivitäten, • Bereitschaft zu bestimmten Grundhaltungen. Um sich als Einrichtung über diese Anforderungen klar werden zu können, ist es wichtig, bereits für die Projektplanung selbst genug Zeit einzuplanen und auch tatsächlich einzuräumen. Je ernsthafter und gründlicher eine solche Projektplanung, d.h. die Vergewisserung des eigenen Interesses und die Reflexion der möglichen Wege zu ihrer Einlösung, durchgeführt wird, umso größer sind die Chancen, dass die Planung tatsächlich umsetzbar ist und eine wirkliche Orientierung im Projektverlauf bietet. Planung bedeutet nicht, dass Änderungen nicht möglich sind - aber sie werden dann anders begründet möglich sein.

Die Eingrenzung des Themas BE und das Erarbeiten der einrichtungsrelevanten Frage

6

Der Zugang zu der komplexen Thematik "Bürgerschaftliches Engagement/Ehrenamt" wird immer mit beeinflusst von der Motivation für das AU-Projekt, dem erhofften Ergebnis und den Voraussetzungen der Einrichtung. Eine Eingrenzung des Themas orientiert sich dann an Fragen wie: Was brennt uns wirklich unter den Nägeln, was wollen wir rauskriegen und warum wollen wir das rauskriegen? Für eine Eingrenzung ist es hilfreich, wenn geklärt wird, warum diese Fragestellung entschieden wurde, welche anderen Fragen noch zur Beantwortung anstanden, welche Themen ausdrücklich nicht behandelt werden und welche Unterthemen sich vom Hauptthema ableiten lassen.

Die Einbindung in die Gesamteinrichtung Wenn es darum geht, als Einrichtung einen gemeinsamen Standort zu erarbeiten in dem es durchaus Differenzierungen für unterschiedliche Fachbereiche geben kann und darf - dann ist bereits klar, dass der Einbindung des AU-Projektes und des Themas in die Gesamteinrichtung eine zentrale Rolle zukommen wird. Ein formaler Beschluss zur Beteiligung an einem Projekt reicht in der Regel nicht aus. Um alle Beteiligten zu aktivieren, sind Motivationsarbeit, Überzeugungskraft, manchmal sogar hartnäckiges Überreden und auch Auseinandersetzung notwendig. Ein Weg, die Beteiligten motiviert in das Projekt einzubinden, ist die Verankerung des Themas bei Allen, die für die Arbeit der Einrichtung verantwortlich sind. Den angemessenen Raum dafür zu sichern, ist Aufgabe des/der Projektverantwortlichen, der/ die von der Geschäftsführung dabei unterstützt werden sollte. Eine solche Verankerung des AU-Projektes erfordert darüber hin aus den Kontakt zwischen den Fachbereichen und zum Vorstand. Steht die Gesamteinrichtung hinter der Durchführung des Projekts (Verein, Vorstand, GF, Gesamtteam), ist das Vorhaben also wirklich von möglichst vielen gewollt, so bedeutet das gleichermaßen Unterstützung und Freiraum. Die Durchführung eines Workshops mit unterschiedlichen Beteiligten (Hauptamtliche, Ehrenamtliche, NutzerInnen, Vorstand) bietet eine Möglichkeit, das AU-Projekt und sein Thema zu einem Anliegen der Gesamteinrichtung zu machen. Hier kann Raum ge schaffen werden für kritische Auseinander-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


setzungen und Fragestellungen, die den Beteiligten letztendlich zu einer gemeinsamen Standortformulierung verhelfen können. Neben einer solchen geplanten und strukturierten Verankerung gibt es noch die Ebene mit eher indirektem Charakter: Durch wiederholtes Berichten über Neuigkeiten aus dem AU-Projekt, durch die Teilnahme an Fachveranstaltungen zum Thema oder durch beharrliches Nachfragen bei einzelnen KollegInnen zwischen Tür und Angel kann das Thema im Sinne einer andauernden Sensibilisierung zum "Einrichtungsthema" gemacht werden. Die Handhabung eines AU-Projektes als fachbereichsübergreifende Aufgabe mit dem Stellenwert einer übergeordneten Querschnittaufgabe ist für viele Einrichtungen, je nach Einrichtungskultur, in der Form vielleicht ungewohnt und fordert daher besondere Aufmerksamkeit, Initiative, Offenheit und Arbeit. Das Thema Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement als Einrichtungsthema betrifft immer mehrere Ebenen: die Orte und Möglichkeiten des Engagements, die Möglichkeiten der Mitbestimmung, Fragen der Kultur, des Umgangs, der Kommunikation untereinander etc. Diese Tatsache erfordert einen intensiven Kommunikationsprozess zwischen den verschiedenen Beteiligten in einer Einrichtung und bedeutet, dass die Standortklärung einer Einrichtung zu diesem Thema hoch komplex ist. Das Bestehen einer Tradition bzw. das Selbstverständnis einer Einrichtung, dass EA einfach unauflösbar zur Identität und Geschichte eines Hauses gehört und fest verankert ist, ist eine nicht zu unterschätzende Grundlage, auch wenn sie z.B. nur für einen Fachbereich der Einrichtung gilt, etwa den Bereich Senioren oder Selbsthilfe. Die Übernahme der Projektverantwortung Am Anfang steht die Benennung einer zuständigen Person als AnsprechpartnerIn für die Leitung des Rahmenprojektes. Diese Person ist verantwortlich für die Sicherung und Darstellung von Prozess/Verlauf des Projektes und hat die Aufgabe, das Projekt in der Gesamteinrichtung zu verankern und das Bewusstsein dafür permanent zu aktivieren. Mit diesen Aufgaben sind Anforderungen an den/die Betreffende(n) verbunden: Motor zu sein, mit anderen zu kooperieren

(z.B. in einem Projektteam), fachbereichsübergreifend zu denken, zu kommunizieren und zu agieren (in Hinblick auf Einbindung der Gesamteinrichtung), neu oder anders zu denken (das Projekt als Anregung und Impuls wahrnehmen zu können und evtl. damit sogar Visionen zu schaffen), flexibel mit Widerstand umzugehen, Akzeptanz zu haben - und vor allem auch Spaß an einem solchen AU-Projekt, um nicht an Durststrecken oder Schwierigkeiten zu verzweifeln. Die Zuständigkeit einer MitarbeiterIn für die Projektdurchführung hängt mit vielen Faktoren zusammen, sie arbeitet in einem Spannungsfeld von Autorität, Machtverhältnissen, Akzeptanz und auch Konkurrenz unter den KollegInnen. Vor diesem Hintergrund bekommen Projektteams auch nochmal eine andere Bedeutung: Die Tatsache und die Art und Weise, wie ein Team die Projektdurchführung gestaltet, ist nicht nur Entlastung und Verteilung der zu erledigenden Arbeit, ist nicht nur Chance für verschiedene Blickwinkel, sondern kann zudem den Stellenwert des AU-Projektes für eine Einrichtung deutlich verstärken. Aber auch ein Projektteam kann viel oder wenig Autorität, Flexibilität etc. haben und unterschiedlich ernst genommen oder "übersehen" werden. Diese Anforderungen an die Projektverantwortlichen stellen keinen Katalog unverzichtbarer Voraussetzungen dar, sie lenken aber die Aufmerksamkeit darauf, wie leicht oder schwierig sich ein Projekt in einer Einrichtung verankern lässt.

Das Aktivieren von Ressourcen Der Faktor Zeit Ein AU-Projekt braucht Zeit. Dabei ist es insbesondere zu Beginn wichtig, einen konkreten zeitlichen Rahmen für die Projektdurchführung zu vereinbaren. Dieser Rahmen muss bereits im Vorfeld einrichtungsinterne zeitliche Engpässe mit berücksichtigen (so z.B. Phasen vor großen Jubiläumsfesten oder von Jahresabschlussaufgaben). Der zeitliche Rahmen setzt den Anfang fest und avisiert einen Termin für das Ende. Ohne diesen Rahmen fehlt die Konzentration auf das Projekt - Ideen, Ziele etc. gehen im Rhythmus des Alltagsgeschäftes unter. Es geht allerdings um mehr als nur um den zeitlichen Rahmen. Die Einschätzung

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

7

der Frage "Wie viel Zeit brauchen wir?" ist eng verknüpft mit den Fragestellungen "Wie viel Zeit geben wir? Welchen Zeitraum, wie viel Arbeitszeit kann und will die Einrichtung dafür freimachen - bei einzelnen MitarbeiterInnen und/oder beim Team?". Die Planung der Zeit hängt auch davon ab, für welche der Vorgehensweisen die jeweilige Einrichtung sich entschlossen hat. Das Durchführen von zahlreichen Einzel-Interviews setzt eine ganz andere Zeitplanung voraus als zum Beispiel die Methode der Gruppendiskussionen. Dabei spielt vor allem auch die Zeit, die für die Auswertung von verschiedenen Methoden erforderlich ist, eine wesentliche Rolle, ebenso die Zeit, die für die Verschriftlichung der Ergebnisse notwendig ist. Und nicht zuletzt ist es wichtig, der Kommunikation genügend Zeit einzuräumen. Das beginnt bei der Sicherung von Zeit für die Kommunikation innerhalb der Projektteams bis hin zu der Tatsache, dass Auseinandersetzungen und Diskussionsprozesse zeitintensiv sind und auch sein müssen.

Das Instrumentarium für eine AU-Projektdurchführung in der Einrichtung Für die konkrete Projektdurchführung bzw. hier für die Frage, wie eine Einrichtung ihre Erfahrungen und Möglichkeiten für Ehrenamt und Bürgerschaftliches Engagement benennen und beschreiben und daraus einen Standort formulieren kann, gibt es vielfältige Vorgehensweisen. Auch hier setzt das Rahmenprojekt einen groben Rahmen, der aber nicht Anfang und Ende bestimmt, sondern Anregungen und Angebote bietet. Um Einrichtungserfahrungen untersuchen und erfassen zu können, muss überlegt werden, welche Quellen zur Verfügung stehen und welche davon in Anspruch genommen werden sollen. Die Frage ist also: Von wem kann ich was erfahren? Hier kann vor allem zwischen internen und externen Quellen unterschieden werden. Interne Quellen sind beispielsweise schriftliche Unterlagen der Einrichtung, haupt- und ehrenamtliche MitarbeiterInnen, NutzerInnen, BesucherInnen. Externe Quellen können ehemalige MitarbeiterInnen sein, die es vielleicht erst noch aufzuspüren gilt, oder auch ExpertInnen aus dem Stadtteil, aus bestimmten fachlichen Zusammenhängen, aus Politik und Verwaltung, die für die Einrichtung relevant sind.


Die Entscheidung für bestimmte Quellen beeinflusst auch die Wahl der geeigneten Methoden. Die Wahl der Methode als Zugangsweise zu Wissen, Meinungen und Positionen hängt u.a. davon ab, welches Instrumentarium beherrscht wird. Hier lautet die Fragestellung also: Was ist sinnvoll und was kann eine Projektverantwortliche aufgrund ihrer Fähigkeiten, aufgrund der verfügbaren Zeit, technischen, räumlichen Möglichkeiten etc. leisten? Und auch: Welche Unterstützung ist notwendig? Die Wahl von Quellen und Methoden im Bereich der Untersuchung im Sinne einer Bestandsaufnahme wie auch die Wahl der Vorgehensweise in der Phase der Standortformulierung im Sinne einer Positionsbestimmung erfordern eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und eine Klarheit über die Ziele. Die Vorgaben des Rahmenprojektes, die als Angebote formuliert sind, können zwar anregen, erfordern aber auch eigene Entscheidungen. Während der AU-Projektdurchfühung kann Unterstützung und Beratung von außen angefordert werden, d.h. es liegt bei der Einrichtung selbst, inweitweit sie dieses Angebot annehmen oder eigenständig vorgehen möchte. Dies ist ein ungewohnter Arbeitshintergrund und macht auch den Projektcharakter aus.

Nutzen vorhandener Ansätze und Erfahrungen Erfahrungen zu nutzen, erfordert einen genauen Blick auf die eigene Einrichtung und auch eine differenzierte Reflexion von Bereichen wie Mitwirkungsstrukturen, Alltagskommunikation etc., die nicht direkt unter dem Begriff Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement eingeordnet werden. Es bedeutet aber auch, diese Ansätze und Erfahrungen in ihrem Kontext, ihrer Bedeutung und Wirkung zu bewerten. Nicht alles, was früher gut lief, muss darum heute passend sein. Dennoch kann es zu anderen Zeiten Erfahrungen gegeben haben, an die anzuknüpfen sich lohnen würde.

Nutzen der Anregungen von außen Die Durchführung eines AU-Projektes in der Einrichtung in Verbindung mit einem Rahmenprojekt bringt unweigerlich Anregungen, Nachfragen und auch einen Aspekt von Kontrolle von außen mit sich. Diese Konstruktion birgt viele Chancen, stellt aber auch hohe Anforderungen an die Beteiligten. Vorgaben können unterschied-

lich wahrgenommen werden: als Einengung und Festlegung oder als Orientierung und Anstoß. Beratung kann als Einmischung abgelehnt oder als Unterstützung genutzt werden. Eine Voraussetzung dafür, die Anregungen von außen nutzen zu können, ist das Bewusstsein darüber, was man will und dann auch zu fordern, was man braucht.

AU- Projekt "kleiner" zu machen, also auf einen Ausschnitt der Einrichtung zu reduzieren bzw. zu konzentrieren. Möglicherweise ergibt es sich auch im Verlauf des Projekts, dass andere Themen in der Einrichtung stärker sind und das AU-Projekt insgesamt verändert werden, also auf sie zugeschnitten werden muss.

Ein sensibler Bereich ist die Auswertung und Weitergabe von einrichtungsinternen Ergebnissen. Neben der Schwierigkeit der Verschriftlichung, für die ausreichend Zeit zur Verfügung gestellt werden muss, steht für die Einrichtung die Klärung an, was wie veröffentlichbar ist. Die Frage "Machen wir das für uns oder für die Rahmenprojektleitung?" fordert Klärung und Entscheidung.

Ein angemessener Umgang mit solchen Änderungen setzt hohe Aufmerksamkeit und eine regelmäßige Reflexion des AU-Projektes voraus. Dabei kann die Inanspruchnahme des Beratungsangebotes durch die Rahmenprojektleitung eine wichtige Unterstützung sein.

Ein guter Kontakt der Beteiligten aus den Einrichtungen mit der Rahmenprojektleitung und das Vertrauen in deren Fachkompetenz und Integrität ermöglichen die Transparenz von internen Prozessabläufen im Projekt. Andererseits kann die Konzentration auf zentrale Projektergebnisse, die an die Rahmenprojektleitung weitergegeben werden, manchmal ebenso berechtigt und sinnvoll sein wie die Transparenz der Innenansicht eines Projektverlaufes. Gerade in einem solchen AU-Projekt, in dem die Einrichtung nicht nur Untersuchungsobjekt, sondern handelnde Akteurin ist, spielt eine intensive Kommunikation zwischen Einrichtung und Rahmenprojektleitung eine wichtige Rolle. Das bezieht sich sowohl auf den Kontakt zur Leitung des Rahmenprojektes als auch auf die Möglichkeiten des Kontakts und Erfahrungsaustausches zwischen den beteiligten Einrichtungen.

Flexibilität im Umgang mit Änderungen Ein AU-Projekt zur Klärung und Standortfindung wird immer einen prozesshaften Charakter haben. Das heißt, Überraschungen, Störungen und Änderungen sind nicht nur wahrscheinlich, sondern geradezu kennzeichnend für diesen Prozesscharakter. Die entscheidende Frage dabei ist, wie mit solchen Änderungen, die sich im Prozessverlauf ergeben, umgegangen wird. Manchmal stellt sich die Notwendigkeit, die ursprüngliche Fragestellung präziser zu fassen oder sogar inhaltlich zu verändern. Es kann sich auch als sinnvoll erweisen, das

8

Festhalten des Standortes vor Aktivitäten Ein Standort beschreibt die konkrete Position einer Einrichtung zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es handelt sich dabei nicht um eine Position, die für alle Zeiten festgeschrieben ist, sondern um die Summe bzw. Essenz von Einstellungen, Bedingungen und Faktoren, die für den momentanen Zeitpunkt zutreffen. Eine Standortbestimmung ist also eine Klarheit über eine momentane Position und damit auch veränderbar. Von diesem Standort aus lassen sich Veränderungen planen und gestalten, er kann aber auch dazu dienen, "sicherer" zu stehen. Das bedeutet, in der Lage zu sein, die eigene Arbei und den eigenen Ansatz sicher zu begründen und von einem guten Standpunkt aus argumentieren und überzeugen zu können. Bei der Standortbestimmung einer Einrichtung entsteht oftmals die Dynamik, dass spontan neue Aktivitäten geplant werden und nach der Phase der Bestandsaufnahme die Vergewisserung des Standortes quasi übersprungen wird. Das heißt, es wird in Teilbereichen gehandelt und der Blick für die Position der Gesamteinrichtung rückt in den Hintergrund.

Bereitschaft zu bestimmten Grundhaltungen Für das Rahmenprojekt Um der in dem Rahmenprojekt angelegten Ausrichtung an den jeweils spezifischen Voraussetzungen und Umsetzungen der einzelnen Einrichtungen Rechnung tragen zu können, sind bestimmte Grundhaltungen notwendig.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Akzeptanz der Verschiedenheit der Einrichtungen Die Projektleitung muss bereit sein, die Unterschiedlichkeit der Einrichtungen zu akzeptieren. Diese Unterschiede beziehen sich sowohl auf die Organisationsformen und Organisationskulturen, auf die Traditionen und Entstehungszusammenhänge wie auch auf die Kapazitäten und Einzugsgebiete. Wahrnehmung klarer Leitungsaufgaben Angesichts der Prozesshaftigkeit der Aktivierenden Untersuchungsprojekte in den Einrichtungen und der hohen Bedeutung von Kommunikation im Rahmenprojekt ist die konsequente Wahrnehmung der Leitungsverantwortung unverzichtbar. Dabei müssen im Interesse des Gesamtprojektes manchmal auch unangenehme Aufgaben und Funktionen, wie z.B. Kontrolle und das stetige Anfragen und Einfordern, wahrgenommen werden. Neben Sensibilität und Klarheit hilft vor allem Geduld.

Offenheit für unterschiedliche Ergebnisse Es gilt, den erzielten, sehr unterschiedlichen Ergebnissen der einzelnen Einrichtungen gegenüber offen zu sein. Das Ernstnehmen der Einrichtungen mit ihren spezifischen Bedingungen und den jeweiligen Verläufen des AU-Projektes erfordert und erlaubt es, auch "kleine Schritte" als Schritte und Erfolge für die Einrichtung wahrzunehmen und wertzuschätzen.

Für die AU-Projekte Auch wenn die Voraussetzungen einer guten Planung, einer gut geregelten Zuständigkeit und einer regelmäßigen Einbindung in die Einrichtung gegeben sind, d.h. auch eine Umsetzung in die Praxis bereits gelungen ist, kann es trotzdem noch und immer wieder zu Blockierungen des AU-Projektes kommen. Daher sollen an dieser Stelle noch einige Grundhaltungen genannt werden, die für ein Einrichtungsprojekt hilfreich, wenn nicht sogar unverzichtbar sind:

Mut zu kleinen Schritten oder zu großen Entwürfen Angesichts der Komplexität des Themas ist es oft notwendig und sinnvoll, auch kleine Schritte zu planen und als wertvolle, weil realisierbare Erfolge zu schätzen. Auch in großen Einrichtungen ist dieser An-

satz angebracht. Die Konzentration auf einen Ausschnitt der Einrichtung oder des Themas kann der passende Zugang und die Voraussetzung für die Standortfindung sein. Genauso kann es in einem anderen Fall hilfreich sein, die scheinbare Nichtrealisierbarkeit von Vorhaben oder Visionen nicht als dauerhafte Blockade stehen zu lassen, sondern einen größeren Entwurf zu wagen, um damit neue Wege und Ideen freizusetzen.

Offenheit Die Offenheit für Auseinandersetzung und für das AU-Projekt als Prozess in der Einrichtung ist eine wesentliche Voraussetzung für den Umgang mit Änderungen. Sie erleichtert und unterstützt die Verankerung des AU-Projektes und vor allem des Themas in der Gesamteinrichtung und ist damit eine wesentliche Bedingung für die Formulierung eines gemeinsamen Standortes. Eingefahrene Gewohnheiten und starre Haltungen, Machtkonzentration und Angst dagegen können Faktoren sein, die eine offene Zusammenarbeit und letztendlich auch ein gemeinsames Projektergebnis verhindern.

Konsequenzen ziehen wollen und können Die Erarbeitung und Formulierung eines Standortes der Einrichtung ist als reines "Ergebnis" wenig nützlich. Wertvoll wird die Standortsuche erst dann, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, Einsichten während des Projektverlaufes aufzugreifen und Konsequenzen aus den Ergebnissen des Klärungsprozesses ziehen zu wollen und zu können. Diese Entscheidung bzw. Haltung ist ein Garant dafür, dass eine Einrichtung den erarbeiteten Standort nutzen kann: entweder für Veränderungen oder für ein begründetes Fortführen der bisherigen Arbeit.

Akzeptanz für die Tatsache, dass es auch keine oder eine entgegengesetzte Definition geben kann Die Klärung und Erarbeitung der gemeinsamen Position in einer Einrichtung kann auch bedeuten, dass im Findungsprozess sehr unterschiedliche Einstellungen und Vor-Definitionen über das Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement zu Tage treten. Wird trotzdem eine gemeinsame Po-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

9

sition erarbeitet, macht gerade diese deutlich, wo und warum welche Rollen und Aufgaben von den Hauptamtlichen wahrgenommen und erfüllt werden. Das gemeinsame Wissen um Unterschiede kann für eine Zusammenarbeit, vor allem auch mit Menschen, die sich in der Einrichtung ohne Status und Rolle eines festen Angestelltenverhältnisses engagieren, nur förderlich sein. Es dient der Transparenz, der gegenseitigen Akzeptanz, dem Wissen um Grenzen und Möglichkeiten.

III. Resümee Auf der Abschlussveranstaltung des Projektes wurden folgende Thesen als Resümee vorgestellt. Welche Verbindung gibt es zwischen dem aktuellen Thema bürgerschaftliches Engagement und der sozial-kulturellen Arbeit?

• Es gibt den originären Auftrag der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen. Dieser Auftrag beinhaltet Zielsetzungen wie das Lernen von Demokratie, Aktivierung, Motivierung und Unterstützung zu Beteiligung, Mitgestaltung und Mitbestimmung der BürgerInnen innerhalb der Einrichtungen und des Stadtteils.

• Die aktuelle Debatte zum bürgerschaftlichen Engagement und neuen Ehrenamt reicht über diesen Auftrag der sozial-kulturellen Arbeit hinaus. In der Debatte wird die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements in den Kontext von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen gestellt - den Umbau des Sozialstaates, Veränderungen der Erwerbsgesellschaft und den Wertewandel.

• Das öffentliche Klima, veränderte Förder- und Vertragsbedingungen, die explizit das Stichwort Bürgerschaftliches Engagement aufgreifen, und neue Freiwilligenorganisationen tragen neue und teilweise sich widersprechende Erwartungen an die Einrichtungen heran.


• Es ist notwendig, dass die Einrichtungen selbst die Frage beantworten, • welche Erwartungen sie erfüllen wollen, können und müssen und zu welchen Bedingungen. Dieser Schritt ist erforderlich, um ihren originären Auftrag in den Vordergrund zu rücken und um nicht von den Erwartungen überrollt zu werden.

• Für die Einrichtungen ist angesichts ihres Auftrags auf den ersten Blick das Thema bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt selbstverständlich. Auf den zweiten Blick ist dieser Auftrag sperrig, in den Hintergrund gedrängt und gefährdet. Er ist sperrig, weil er im Alltag Effektivität vor Effizienz stellt, in den Hintergrund geraten, weil Professionalisierung und Spezialisierung dominieren, und gefährdet, weil er als eigenständiger Aufgabenbereich bzw. Querschnittsaufgabe zwar gefordert, aber nicht ausreichend gefördert wird.

Was charakterisiert die "Kultur der Zusammenarbeit" von Hauptamtlichen und ehrenamtlichen/freiwilligen MitarbeiterInnen in sozial-kulturellen Einrichtungen?

• Eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und motivierten BürgerInnen setzt eine entsprechende Kultur der Zusammenarbeit voraus. Diese Kultur umfasst neben Regeln und Absprachen auch generelle Haltungen, ein klares professionelles Verständnis der Rolle der Fachkräfte in der Zusammenarbeit und eine entsprechende Alltagsgestaltung.

• Regeln und Absprachen finden sich als Strukturen und Rahmenbedingungen in den Einrichtungen wieder. Die Strukturen der Einrichtungen, die als Hilfsgerüst für Informationen, Kommunikation, Entscheidung und Zuständigkeiten innerhalb einer Organisation dienen, müssen in einer sozial-kulturellen Einrichtung auf Partizipation als Ziel ausgerichtet sein. Sie müssen Mitgestaltung und Mitbestimmung ermöglichen. Mitgestaltung und Mitbestimmung muss durch sie erfahrbar und

• erlernbar sein. Diese Strukturen müssen veränderbar und aushandelbar sein. • Wichtigste Voraussetzung und zentrale Rahmenbedingung für eine Kultur der Zusammenarbeit ist die Vereinbarung über das gemeinsame Ziel. Rahmenbedingungen regeln z.B. den Einstieg in, den Ausstieg aus und die Begleitung während der Arbeit. Identifikationsmöglichkeiten mit der Einrichtung, angemessene Qualifizierungsformen, selbstverständliche Anerkennungsformen und der Aufgabe entsprechende Anbindungen an die Einrichtung sind weitere wesentliche Rahmenbedingungen.

Das Buch, in dem das Projekt ProBE "Projekt zur Unterstützung und Weiterentwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in sozial-kulturellen Einrichtungen" beschrieben und die erarbeiteten Ergebnisse festgehalten werden, erscheint im Januar 2001 im Kohlhammer Verlag und kann über den Verband bezogen werden.

• Die Zusammenarbeit mit engagierten BürgerInnen verlangt von den Fachkräften ein professionelles Verständnis für diese Zusammenarbeit. Dieses impliziert die Fähigkeit zur Motivation, zur Aktivierung und zur Unterstützung engagementbereiter Menschen. Grundlage eines solchen professionellen Verständnisses ist es, die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und bürgerschaftlich Engagierten als eigenständiges Aufgabengebiet zu verstehen.

• Grundlegende Haltungen wie Offenheit (z.B. für neue Ideen, andere Sichtweisen) und Neugierde (z.B. auf aktuelle Strömungen, ungewohnte Lösungswege) sind ebenso wichtig wie das Überzeugtsein vom Auftrag der Einrichtungen und die Flexibilität, diesen unter unterschiedlichsten Bedingungen umzusetzen. Zu den Haltungen gehört auch die Bereitschaft zur Reflexion und Kritik sowohl der eigenen Arbeit wie auch der Erwartungen und Ansprüchen von außen.

• Die Gestaltung des Alltags, die Atmosphäre und das Image beeinflussen die grundsätzliche Bereitschaft der BürgerInnen zur Zusammenarbeit. Die größte gegenseitige Wertschätzung im Alltag zeigt sich in gegenseitigem Respekt und Achtung, d.h. auch Grenzen zu akzeptieren und Absprachen einzuhalten. Gute Rituale pflegen und fördern den Umgang miteinander: sowohl bei der Regelung oder Austragung von Konflikten wie auch in der Stiftung von Solidaritätsund Gemeinschaftserfahrungen z.B. bei gemeinsamen Aktionen oder Festen.

10

ssende Der Wi aß er weiß, d n muß. glaube matt) Dürren h ic r d (Frie

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Bürgerschaftliches Engagement: Zentrales Anliegen oder Nebenschauplatz Sozialer Arbeit?

von Prof. Dr. Susanne Elsen

Bürgerschaftliches Engagement alter Wein in neuen Schläuchen? In Abgrenzung gegenüber unbezahlter, weitgehend fremdbestimmter oder gar verpflichtender unbezahlter Tätigkeit (etwa für Sozialhilfeberechtigte) in sozialen Diensten und Einrichtungen, spreche ich in Anlehnung an Wolf-Rainer Wendt1 von bürgerschaftlichem Engagement als weitgehend selbstbestimmter Organisation eigener und gemeinsamer Belange durch die Bürgerinnen und Bürger selbst. Dieses Engagement reicht von Selbsthilfegruppen über politische oder ökologische BürgerInneninitiativen bis hin zu bürgerschaftlichen Trägerund Auffanglösungen in sozialen, kulturellen und ökonomischen Problemkontexten. Während SelbsthelferInnen eigene und gemeinsame Problemlagen gemeinsam mit anderen Betroffenen aus eigener Kraft lösen, greifen Initiativen und Einzelne politische, ökologische und soziale Zusammenhänge ihres Umfeldes auf, mischen sich in Entwicklungsprozesse ein. Selbsthilfe und Initiativarbeit sind keine neuen Phänomene. Höhepunkte waren in Deutschland die 70er-Jahre. Beide Bewegungen legten großen Wert auf Selbstbe-

stimmung, Basisdemokratie, Emanzipation und Gleichberechtigung. TrägerInnen rekrutierten sich überwiegend aus den gebildeten Mittelschichten. Beide Bewegungen waren Teil einer generellen Kritik an einem Expertentum, dessen einseitige, reduktionistische Sichtweisen immer weniger Akzeptanz fanden. Dies war einerseits Folge einer besser gebildeten und emanzipierten Bürgerschaft, andererseits Folge der Erkenntnis, dass Wissenschaft und Politik nicht nur Probleme lösen, sondern sie auch verursachen. Die Soziale Arbeit blieb ebenfalls davon nicht unberührt. Die Kritik an der Zurichtung und Individualisierung von Problemlagen und der "Entmündigung durch Experten"2 hatte nachhaltige Wirkungen. Die Bedeutung sozialer Bewegungen als Korrektive, Ergänzung und Kooperationspartner Sozialer Arbeit ist seitdem deutlicher in das Bewusstsein kritischer Sozialarbeitender gerückt. Einen wirksamen Einfluss auf die Forderung der Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder hatte die ökologische Bewegung.3 Seit den achtziger Jahren spielt die Partizipation aller an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens -– als Folge der Kommunitaris-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

11

musdebatte – eine große Rolle. Auch wenn deren VertreterInnen keineswegs nur einem politischen Spektrum zuzuordnen sind, darf der Zusammenhang mit dem Siegeszug des Neoliberalismus und der Reprivatisierung sozialer Probleme nicht ignoriert werden.

Bürgerschaftliches Engagement der Ausgestoßenen: Medium der sozialkulturellen Integration oder der ökonomischen Verwertung? Neu an der derzeitigen Diskussion ist, dass nun den Herausgefallenen und Hinausgestoßenen und nicht mehr nur den Bessergestellten bürgerschaftliches Engagement (gemeint ist meist unbezahlte, fremdbestimmte Arbeit als Ausgleich für den Bezug von Sozialleistungen) schmackhaft gemacht wird.4 Der Hauptgrund liegt in der Erkenntnis, dass die Verwertung ihrer Arbeitskraft im Marktgeschehen zunehmend überflüssig wird. Das ruft Soziale Arbeit auf den Plan, die Selbsthilfe aktivieren und durch Integration in freiwillige Tätigkeiten das "soziale Kapital" der Gesellschaft stärken soll. Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie ebenso wie beispielsweise die Empfehlun-


gen des Meisters der Aktivierung, Saul Alinsky, verweisen darauf, dass Menschen nur in ihren Eigeninteressen, ihren eigenen Relevanzstrukturen zu motivieren sind. Wenn bürgerschaftliches Engagement die Organisation eigener und gemeinsamer Interessen meint, dann geht es bei benachteiligten Gruppen, und ihnen gilt nach wie vor das Hauptinteresse Sozialer Arbeit, insbesondere um die konkrete materielle Verbesserung der eigenen und gemeinsamen Lebenssituation. Geht es um die Frage sinnvoller Betätigungsfelder für Menschen aus benachteiligten Milieus und Lebenssituationen, dann sind diese gemeinsam mit den Betroffenen im Bereich der Gestaltung und Verbesserung ihres eigenen sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Lebens zu suchen. Das heißt nichts anderes als entwicklungsorientierte Gemeinwesenarbeit in ihrem ursprünglichen Sinne. Formen sind beispielsweise die Organisation eines Bistros mit Krabbelstube und Kinder-SecondHand durch Alleinerziehende, die Verantwortung für eine Stadtteilwerkstadt durch eine Gruppe älterer arbeitsloser Frauen und Männer oder die Übernahme von Hausmeisterfunktionen in ihrer Siedlung durch eine Gruppe von Sozialhilfeberechtigten, eine Schülertauschbörse etc.

Voraussetzungen Bürgerschafticher Teilhabe benachteiligter Menschen Beispiele aus Geschichte und Gegenwart verdeutlichen, dass eine Grundvoraussetzung der Entfaltung bürgerschaftlichen Engagements in der Herstellung und Kultivierung einer Öffentlichkeit besteht, die Gemeinsames erkennbar macht oder entstehen lässt. Bürgerschaftliches Engagement braucht einen Ort im Gemeinwesen, der als Kristallisationspunkt, Impulsgeber, Ort des Austauschs und des Lernens wirkt. Solche Orte waren die Settlements im Zeitalter der Industrialisierung. Es sind heute beispielsweise Sozialkulturelle Zentren in den Städten. Wichtig ist, dass sie der Pluralität des Gemeinwesens Rechnung tragen und von möglichst vielen verschiedenen Menschen in ihrem Alltag genutzt werden. Nicht nur die Förderung bürgerschaftlichen Engagements artikulationsschwacher Menschen, dieses jedoch in besonderer Weise, bedarf der kompetenten fachlichen Unterstützung. Einerseits ist es besonders unterstützungsbedürftig, weil es den Folgen der Entwertungserfahrungen entgegenwir-

ken muss, andererseits sind die zu organisierenden Handlungsfelder der Belange benachteiligter Bevölkerungsgruppen hoch komplex, denn sie tangieren alle zentralen Lebensbereiche und gehen über das "Soziale" hinaus. Förderung heißt keineswegs nur Koordination, Information und Kommunikation, sondern Realisierung komplexer Projekte, Aufbau und Management von Unternehmen und Organisationen, aber auch vermittelnde Tätigkeit im intermediären Kraftfeld. So wie freiwilliges Engagement sich am Eigennutz orientiert und die Tür zum Gemeinnutz öffnet, ist es auch eigensinnig und eigenwillig.5 Sowohl die Ideen und Projekte ziviler Akteurinnen und Akteure als auch die Wege zu ihrer Erreichung sind meist unkonventionell, findig und synergetisch. Sie widersprechen häufig den Vorstellungen etablierter Systeme in Verwaltung, Markt und Politik. Dies verweist darauf, dass Konflikt integrativer Bestandteil Bürgerschaftlichen Engagements ist. Als "Feuer unter dem Kessel der Demokratie"6 wirkt Konflikt als Faktor sozialen Wandels. Aus der Perspektive Sozialer Arbeit und ihrer AdressatInnen ist die Frage bürgerschaftlichen Engagements der VerliererInnen des Modernisierungsprozesses darüber hinaus nicht ohne die der individuellen existenziellen Voraussetzungen zu diskutieren. Ich beziehe mich auf die klare Position, die André Gorz bereits in den 80er-Jahren7 als Antwort auf das Ende der Erwerbsarbeitsgesellschaft bezogen und erfolgreich vertreten hat. Seine Forderung der teilweisen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen durch die Einführung eines garantierten Grundeinkommens für alle BürgerInnen hat in Frankreich zur Einführung des RMI (minimales Integrationseinkommen) geführt, einer wesentlichen Voraussetzung für den Weg von der Erwerbs- zur Tätigkeitsgesellschaft. Möglicherweise wäre diese Grundsicherung ja auch die Basis freitätiger Sozialarbeit, die sich ihre eigenen Handlungsvoraussetzungen selbst schaffen muss. Trägerkonstruktionen bilden die institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und müssen der nötigen Flexibilität, Offenheit und territorialen Spezifik Rechnung tragen. Dies bedeutet beispielsweise, dass Auftrag und Trägerschaft unmittelbar an unterschiedliche AkteurInnen des Gemeinwesens, beispielsweise BürgerInnenstiftungen,

12

Netzwerke und Projektverbünde, lokale Partnerschaften u.ä. gebunden sind bzw. von ihnen kontrolliert werden.

Demokratische Teilhabe und freitätige Sozialarbeit Weder die Formen der Selbstorganisation von BürgerInneninteressen noch die Wertschätzung ihrer Bedeutung für den demokratischen Staat sind neu. Aktuelle Kommentierungen finden sich bei Jean Jacque Rousseau (1712-1790), Alexis de Tocqueville (Über die Demokratie in Amerika 1835)8, Jane Addams (1860-1935) oder Saul Alinsky (1909-1972). Diese Personen verbindet über die Jahrhunderte hinweg die Idee der Basisdemokratie, der Teilhabe aller Menschen, die den Kern bürgerschaftlichen Engagements bildet. Nur Jane Addams und Saul Alinsky9 stehen in direktem Zusammenhang mit dem Gegenstand Sozialer Arbeit. Betont werden muss, dass beide für eine freitätige, bürgerschaftlich getragene und frei finanzierte Soziale Arbeit unter direkter Kontrolle der AdressatInnen stehen. Die in Deutschland wenig verbreitete Tradition freitätiger Sozialarbeit der Settlementbewegung und des Community Organizing ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen richtungsweisend. Diese sozialreformerische Arbeit war Antwort auf die sozialen, ökologischen, kulturellen, ökonomischen und politischen Verwerfungen der ersten industriellen Revolution. Ihre Unabhängigkeit resultierte nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die rein bürgerschaftlich getragenen Einrichtungen als Gegenpole in einer Gesellschaft agierten, deren mangelnde sozialpolitische Flankierung von Lebensrisiken die soziale, politische und ökonomische Selbsthilfe stets zur Notwendigkeit machte. Die Freiheit, Gegenpositionen gegenüber dominanten gesellschaftlichen Systemen einnehmen zu können, basierte maßgeblich auf der fehlenden sozialen Sicherung der AdressatInnen wie der Professionellen. Trägerschaft und Finanzierung lagen bei privaten Stiftungen und Fonds, und für die Settlementbewegung gilt, dass die PionierInnen auch eigene Mittel in die Arbeit einbrachten. Beobachtet man das derzeit sich rasant ausweitende Stiftungswesen in Europa10, eine Entwicklung, die auch im Zusammenhang mit dem Rückzug des Staates steht,

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


zeichnet sich eine Entwicklung ab, die auf die Ursprünge freitätiger Sozialer Arbeit zurückweist. Ebenfalls nicht neu sind innovative Verbünde von Projekten, Einrichtungen und Unternehmen, die Trägerschaftsund Finanzierungskreisläufe zugunsten sozialer, ökonomischer, kultureller und ökologischer Entwicklungen in einem Gemeinwesen formieren. Ihre Wurzeln reichen in die frühe sozialreformerische Genossenschaftsbewegung zurück.11 Ist dies alles deshalb so aktuell, weil sich nun auch bei uns der Markt seines sozialen Mantels entledigt?

Soziale Arbeit und Zivilgesellschaft Die Notwendigkeit der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Eigenständigkeit lebensweltlicher Zusammenhänge resultiert aus den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung ebenso wie aus der Tatsache, dass sich der Staat aus seiner Verantwortung zurückzieht12 und der globalisierte Markt sich seiner territorialen und gesellschaftlichen Einbettung entzieht. Der globale Wandel führt zu grundlegenden Funktionsveränderungen und Neugewichtungen innerhalb und zwischen den Bereichen Staat, Markt und Lebenswelt. Für Sozialpolitik und Soziale Arbeit als Teil staatlicher Steuerung und Umverteilung hat dies weitreichende Konsequenzen und zwar für ihr Handlungsverständnis, ihre Arbeitsfelder und ihre institutionell-organisatorische Anbindung und Finanzierung und selbstverständlich auch für die Ausbildung. Wenn Staat und Markt ihre sozialen, ökonomischen und politischen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen oder leisten können, gewinnen Zivilgesellschaft und Lokalitäten ihrer Lebenszusammenhänge an Bedeutung. Die Welt in den lokalen Grenzen wird infolge globaler Entgrenzungen zum wichtigsten Handlungsfeld eigenständiger Problemlösungen und nachhaltiger Entwicklung. Sie ist Kristallisationspunkt nahezu aller Lebensfunktionen, Ort der sozialen Integration und der Existenzsicherung für die wachsende Zahl der ModernisierungsverliererInnen. Die neue Situation erfordert die selbstbewusst-kritische Positionierung Sozialer Arbeit gegenüber Staat und Markt. Ihre Aufgabe wird mehr denn je die Erfindung spezifischer Lösungen komplexer sozialer Probleme und die Gestaltung eigenständiger Lebenszusammenhänge in den Gemeinwesen sein.

Die Lebenszusammenhänge mit den Menschen vor Ort, nicht für sie zu gestalten, ist die anstehende Aufgabe, denn die gemeinsame Organisation von Alltagszusammenhängen ist wirksamster Garant sozialer Integration. Zentrales Erfordernis ist die Bemächtigung der Menschen vor Ort, eigene und gemeinsame Belange selbst zu organisieren. Dabei geht es eben nicht darum, dass die Armen sich per Selbsthilfe an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, sondern um die Schaffung der Voraussetzungen, die ihnen eine eigenständige, menschenwürdige Existenz ermöglichen. Die tiefgreifenden Veränderungen, die sowohl Chancen als auch sozial destruktive Folgen zeitigen, sind Ausgangspunkte der aktiven Gestaltung des Wandels. Eine der Konsequenzen ist es, der zivilen Tätigkeitsgesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Erforderlich ist die Erweiterung gesellschaftlicher Tätigkeit durch die Schaffung von Optionen sozialer und ökonomischer Eigenproduktion und Selbstorganisation insbesondere für die gesellschaftlichen VerliererInnen, die auf das lokale Gemeinwesen als Ort der Lebensbewältigung und Existenzsicherung am stärksten angewiesen sind. Kennzeichen der Tätigkeitsgesellschaft ist eine Mischung von Tätigkeitsfeldern und Organisationsformen an den verschiedenen Nahtstellen gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion.13 Es handelt sich um eine Mixtur mit offenen Übergängen und neuen Verknüpfungen. Aus dem Kontext der Zivilgesellschaft zu erschließende Handlungssfelder liegen auch da, wo sich der Staat aufgrund rückläufiger Verteilungsspielräume bei steigendem Bedarf an sozialer Absicherung und an Erhaltung öffentlicher Infrastruktur zurückzieht, wo der Markt mangels Rentabilität Felder aufgibt oder da, wo soziale und ökologische Erfordernisse unberücksichtigt bleiben. Da dieser Bereich zwischen Staat, Markt und Lebenswelten die Potenziale der Zivilgesellschaft zu erschließen vermag und im lokalen Kontext zu synergetischen Lösungen führen kann, ruhen auf ihm, wie die unterschiedlichen Programme zu integrativen Problemlösungen (z.B. Soziale Stadt) zeigen, viele Hoffnungen. Es geht um Wohnen und Wohnumfeld, Kinder- und Altenbetreuung, Bildung, Kultur, nahräumliche Versorgung, Transportwesen, vorsorgenden und nachsorgenden Umweltschutz und personenbezogene Dienstleistungen. All dies sind Aufgaben, die aus dem Lebenszusammenhang der Gemeinwesen resultieren, soziale

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

13

Aufgaben also, die in sinnvollen Verknüpfungen und Kooperationen vor Ort zu organisieren sind. Neue Möglichkeiten resultieren insbesondere aus der notwendigen lokalen Neuorganisation und Verknüpfung der Aufgaben, z.B. im Bereich von Versorgung, Betreuung und Wohnen. Ich spreche nicht von irgendwelchen Beschäftigungsund Qualifizierungsmaßnahmen, sondern von der Gestaltung lokaler Gemeinwesen als zukunftsfähige Lebensorte. Nicht nur Existenzsicherung als Sicherung der Lebensgrundlage jedes Menschen, sondern Wirtschaften als soziales Handeln wird wieder zum zentralen Thema des Lebens, des Zusammenlebens und der Erhaltung der gemeinsamen Lebensgrundlagen und damit zum Thema Sozialer Arbeit.14 Und dies bedeutet etwas anderes und mehr als nur Beschäftigungsförderung im herkömmlichen Sinne. Bereits heute bildet sich in lokalen Nischen eine zivile "Flickenteppichwirtschaft"15 aus Initiativen, Kooperativunternehmen, gemeinnützigen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmens- und Organisationsformen heraus. Gearbeitet wird in einer bunten Mischung aus Eigenarbeit, Erwerbsarbeit, Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftlichem Engagement. Multifunktionalität und Vielfalt (beispielsweise die Verbindung von Kinderbetreuung, Stadtteilwerkstatt, generationsübergreifendem Kommunikationszentrum, Stadtteilcafé, Info-, Tauschund Jobbörse, Second-Hand und Telematikzentrum etc.) innerhalb einer Einrichtung sind ebenso typisch wie heterarchische Netzwerke, Partnerschafts- und Kooperationsmodelle zwischen öffentlichen und privaten Organisationen, sozialen Bewegungen und Initiativen. Unkonventionelle Finanzierungsmodelle, beispielsweise Fondsmodelle oder Finanzierungskreisläufe, bei denen auf die Verhinderung dysfunktionaler Mittelabflüsse geachtet wird, haben das Ziel, sich von den Unsicherheiten staatlicher Subventionspolitik unabhängiger zu machen. Erster und wichtigster Schritt und Grundvoraussetzung ist die Einbettung in die Pluralität der Zivilgesellschaft vor Ort. Dies bedeutet für Soziale Arbeit nicht nur Kooperation mit Vereinen, BürgerInnengruppen, sozialen Bewegungen und gewerblicher Wirtschaft, sondern den Aufbau von BewohnerInnenräten, Projektbeiräten, Lokalen Partnerschaften, BürgerInnenstiftungen und anderen bürgerschaftlichen Trägerschaften für


Vorhaben, Unternehmen und Projekte in den Gemeinwesen. Ich halte diese Einbindung für mindestens ebenso wichtig wie die mittlerweile selbstverständliche Kooperation der Fachbasis sowie der Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung im sektorübergreifenden Zusammenhang. Für Soziale Arbeit ist es Zeit zu erkennen, dass sowohl die deutsche Trägerlandschaft als auch das reduzierte Verständnis vom "Sozialen" als Restgröße einen Sonderweg darstellen, der sich spätestens mit der Öffnung der europäischen Nationalstaaten neuen Möglichkeiten, Anforderungen und auch Restriktionen stellen muss.

Das Grundmodell pro-aktiver Sozialarbeit Wenn bürgerschaftliches Engagement Kern demokratischer Gesellschaften ist und Soziale Arbeit einen Auftrag darin hat, die Zivilgesellschaft zu fördern, dann schließt dies undemokratische Ansätze aus. Die neuen Aufgaben erfordern den Abschied von stellvertretenden und bevormundenden Handlungsmustern, überkommenen Versorgungsangeboten und hierarchischen Trägerstrukturen. Ins Zentrum rücken die Potenziale und Bedürfnisse von Menschen. Bis heute dominiert in Praxis und Lehre ein überwiegend an individuellen Behandlungsbedürftigkeiten und Defiziten orientiertes, re-aktives Grundmodell der Sozialarbeit,16 welches seine Wurzeln im deutschen Fürsorgewesen hat. Diesem Verständnis steht das pro-aktive Grundmodell gegenüber, dessen Wurzeln in die Tradition sozialreformerischer Sozialarbeit reichen und das sich in Zielen, Handlungsfeldern, Arbeitsprinzipien, Methoden, Menschen- und Gesellschaftsbild deutlich vom re-aktiven Modell unterscheidet. Es zielte auf die demokratische Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder, Emanzipation, Befähigung und Bemächtigung der Benachteiligten, auf sozialen Wandel und gesellschaftlichen Machtausgleich. Diese Ziele haben ihre Gültigkeit nicht eingebüßt. Sie sind unter der gegebenen ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung aktueller denn je. Während re-aktive Sozialarbeit als Anwendungsbereich staatlicher Sozialpolitik ausgleichend und sozialdisziplinierend in den Lebenswelten wirkt und die marktinduzierten Lebensrisiken und Krisen flankiert, agiert das pro-aktive Modell entwicklungsorientiert. Um recht verstanden zu werden:

Der individuelle Rechtsanspruch auf Absicherung zentraler Lebensrisiken durch das sozialpolitische System ist nicht durch proaktive Arbeitsansätze zu ersetzen. Er ist vielmehr Voraussetzung jeder entwicklungsorientierten Sozialarbeit, insbesondere auch des bürgerschaftlichen Engagements. Anders als in der Sozialarbeit fürsorgerischer Tradition sind nicht nur bedürftige Einzelne und Zielgruppen die AdressatInnen. Reine Fallorientierung ebenso wie die reine Zielgruppenorientierung weichen einem entwicklungsorientierten feldspezifischen Ansatz. Es geht um die Förderung und Realisierung von Projekten und Unternehmen der Selbsthilfe und Selbstorganisation in den Gemeinwesen. Die Funktion Sozialer Arbeit besteht dann nicht mehr primär in stellvertretendem Handeln, Betreuung, Versorgung und Bereitstellung von Angeboten, sondern in Aktivierung, Moderation, Vernetzung, Ressourcenbeschaffung, Projektentwicklung, Prozessbegleitung, Koordination, Politikberatung, Sozialem Management und anderen Aufgaben.

Kompetenzen für die pro-aktive Soziale Arbeit Am ehesten lässt sich das Tätigkeitsprofil mit den Bezeichnungen facilitotor oder civic entrepreneur charakterisieren. Wendt bezeichnet sie als Promotoren, die im gesellschaftlichen Umfeld neue Wege suchen, als Katalysatoren wirken, Netzwerke bilden, dabei Personen und Institutionen verbinden und Vorhaben anbahnen.17 Kompetenzen liegen nach meinen Erfahrungen und Einschätzungen in folgenden drei Bereichen: 1. Kompetenzen für die pro-aktive Arbeit innerhalb des Gemeinwesens: Aktivierende Sozialforschung, Konstruktion und Realisierung von Beteiligungsprozessen insbesondere mit artikulationsschwachen Menschen, Erschließung von Tätigkeitsfeldern, Erhebung von Bedarf und Potenzialen, Information, Koordination, Ideensuche, Vernetzung, Herstellung kulturund schichtübergreifender Handlungskontexte, Einleitung und Begleitung von Empowermentprozessen und Qualifikation. 2. Kompetenzen für die pro-aktive Arbeit im intermediären Kraftfeld Kompetenzen sozialraumbezogener

14

3. Sozialforschung, Ressourcenakquisition und -bündelung insbesondere auch von nicht-sozialpolitischen Mitteln, Einleitung und Begleitung sektorübergreifender Kooperationen und lokaler Partnerschaften, Politik- und Marktbeobachtung und -beratung u.a.m. 3. Sozialwirtschaftliche Kompetenz Prozessorientierte Projekt-, Organisations- und Unternehmensentwicklung, Projekt- und Unternehmensmanagement, Verstetigung und Einleitung institutionalisierten bürgerschaftlichen Engagements, Befähigung und Qualifizierung der Beteiligten u.a.m. Dieses Spektrum und das skizzierte Handlungsverständnis verdeutlichen, dass pro-aktive Sozialarbeit nicht Nebensache der gängigen Ausbildung sozialer Berufe sein kann. Die Kompetenzen können nicht zusätzlich zur "eigentlichen" Sozialarbeit vermittelt werden, sondern erfordern eine Schwerpunktsetzung auf die komplexe entwicklungsorientierte Soziale Arbeit in und mit größeren sozialen Systemen. Das Handlungsprofil pro-aktiver Sozialarbeit steht keineswegs im Widerspruch zu den aktuellen komplexen Handlungstheorien Sozialer Arbeit beispielsweise bei Staub Bernasconi und Wendt.18 Der Widerspruch liegt vielmehr in der gängigen Praxis und Lehre. Die reduktionistische Zurichtung sozialer Probleme in Form von Personalisierung und Individualisierung hat viele, u.a. auch berufspolitische Gründe.19 Die Gestaltung des Sozialen als umfassender, anspruchsvoller Auftrag der Sozialen Arbeit is weit in den Hintergrund gerückt, weil mühsam, konfliktreich, unerwünscht und im Widerspruch zu dominanten gesellschaftlichen Kräften. Ich bin davon überzeugt, dass es einer deutlichen Hinwendung zur pro-aktiven, und einer kritischen Überprüfung re-aktiver Ansätze bedarf, wenn Soziale Arbeit überhaupt eine Zukunft haben soll. Immerhin gibt es einige Fachhochschulen in Deutschland, die die Zeichen der Zeit erkannt haben. So bietet beispielsweise die Evangelische Fachhochschule des Rauhen Hauses ab Sommersemester 2001 einen Masterstudiengang zur Gemeinwesenökonomie an

Wo bitte geht‘s zum Markt? "Wo gibt es die Stellen und wo sind die Fördertöpfe?" Mit Ausnahme der inhaltlich-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


konzeptionell richtigen, in Umfang und Förderdauer jedoch eher symbolischen Programme zur sozialen Stadt- und Regionalentwicklung (derzeit Soziale Stadt) gibt es diese Stellen und Töpfe als Konfektionsware höchst selten. Es gilt vielmehr nicht nur neue Problemlösungen, sondern auch die finanziellen und organisatorisch-institutionellen Rahmenbedingungen der eigenen Tätigkeit zu konstruieren. Dies wird auch in vielen anderen Feldern Sozialer Arbeit der Fall sein. Outsourcing und Privatisierung im Sozialbereich haben soeben erst begonnen und zukünftig werden sich immer mehr Sozialarbeitende um immer weniger, kurz befristete Aufträge bewerben und sich von Werkvertrag zu Werkvertrag hangeln. Ich begrüße diese Entwicklung keineswegs. Ich thematisiere sie jedoch, weil sie immer noch ignoriert wird – nicht nur von PraktikerInnen, die legitime Interessen an der Erhaltung ihrer Erwerbsarbeitsplätze haben. Auch Fachhochschulen haben bisher kaum wahrgenommen, dass sie erstens für einen schrumpfenden, zweitens für einen sich rasant verändernden Markt und drittens für ein sich stark veränderndes Berufsbild ausbilden. Möglicherweise merken sie es erst dann, wenn das, was die Soziale Arbeit einmal als Proprium besaß, von anderen, flexibleren und leider auch gesellschaftlich anerkannteren Disziplinen übernommen worden ist. Übertrieben? Keineswegs! Die Studiengänge für Sozial- und Gesundheitswirtschaft in der Betriebswirtschaftslehre boomen und die interessanten Felder pro-aktiver Sozialarbeit wurden längst von der Planungsbezogenen Soziologie, der Raumplanung und der Sozialgeographie übernommen. Hinzu kommt, dass das Image der Studiengänge für Soziale Arbeit und ihre Praxis auf dem tiefsten Punkt seit der Einrichtung der Fachhochschulen ist. Das können wir uns einerseits selbst zuschreiben, andererseits hat es viel mit der Entwertung des "Sozialen" in unserer Gesellschaft zu tun. Lehre und Forschung der Sozialen Arbeit ebenso wie die deutsche Sozialwissenschaft generell haben ihre Funktion als Innovationspotenzial, gesellschaftliches Korrektiv, Entwicklungslabor und Warnsystem bereits seit längerer Zeit aufgegeben. Die dynamische Landschaft der Forschungs- und Entwicklungsprojekte der 70er- und 80er-

Jahre als Zusammenhang gesellschaftlicher Analyse, Kritik und Innovation ist aus den sozialwissenschaftlichen Fakultäten verschwunden. Im Gegenteil, sie humpeln seit geraumer Zeit rasantem gesellschaftlichen Wandel hinterher und kommentieren bestenfalls die eng definierten Ausschnitte, für die Drittmittel fließen oder Beraterverträge winken. Dies ist verständlicherweise eine reduzierte, stark interessengeleitete Realitätssicht. So wie die Innovation der Praxis Sozialer Arbeit der aktiven Einbettung in die Pluralität der Zivilgesellschaft bedarf, so wäre dies auch der Lehre und Forschung zu empfehlen.

Ein Beispiel20 Ich möchte im Folgenden ein Beispiel aus unserer Praxis in Trier vorstellen. Es verdeutlicht die Entwicklungspotenziale einer Arbeit, die aus bürgerschaftlichem Engagement entstand und die aus intensiver Einbettung in die Pluralität der Zivilgesellschaft vor Ort, rein bürgerschaftlicher Trägerschaft, intensiver interdisziplinärer, klassen-, und sektorübergreifender Zusammenarbeit und einem fruchtbaren Verhältnis von Wissenschaft, Lehre und Ausbildung resultiert. Es zeigt andererseits eine Soziale Arbeit, die sich nicht auf "das Soziale" beschränkt, sondern selbst bedarfsspezifisch Bereiche des Marktes erschließt und in sozial- und umweltverträglicher Weise organisiert, aber auch in Kooperation mit vielen AkteurInnen die politische Steuerung des komplexen Gebildes, mit den damit verbundenen Risiken und Chancen weitestgehend in eigener Verantwortung hält.21 Das Gemeinwesenzentrum entstand 1983 als Forschungs- und Entwicklungsprojekt der Universität Trier. Es befindet sich seit 1987 in bürgerschaftlicher Trägerschaft der BewohnerInnen eines sozialen Brennpunktes, gemeinsam mit engagierten und einflussreichen Frauen und Männern aus Politik, Wissenschaft, Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich mit ihren jeweiligen Ressourcen und Einbindungen in die Entwicklung einbringen.22 Es handelt sich heute um einen Verbund aus Einrichtungen, Initiativen und Unternehmen in den Bereichen Wohnungs- und Bauwirtschaft, Liegenschaftsverwaltung, Familienberatung, Kinder- und Jugendhilfe, Beschäftigung und Qualifizierung, Dienstleistungsunternehmen, Beratung zur Existenzgründung, Resozialisierungsprojekt für Straf-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

15

fällige, Wohnumfeldpflege und -gestaltung, Jobbörse und Infocafé, Baby- und Krabbelstube, Netzwerk für Selbsthilfegruppen, sozialkultureller Treffpunkt, Agenda 21-Aktivisten, Selbstlernzentrum und vielem anderem mehr. Seit 1986, mit der Verschärfung der Arbeitslosigkeit, wurde eine deutliche Verlagerung von sozialkultureller und sozialpädagogischer hin zu einer sozialökonomisch und strukturell orientierten Arbeit vollzogen. Dies trug der Erkenntnis Rechnung, dass überwiegend ökonomische Probleme sich nicht pädagogisch lösen lassen. Alle Teile im Verbund sind weitestgehend in eigenständiger Verantwortung der Betreibenden und Nutznießenden. Eine der wichtigsten Voraussetzungen des Erfolges liegt im synergetischen Einsatz von Ressourcen, die insbesondere selbst erwirtschaftet werden und nicht aus verschiedenen öffentlichen Subjekt- und Objektförderungen (insbesondere Darlehen des sozialen Wohnungsbaus) einfließen, die jedoch weitestgehend auch allen anderen gewerblichen Unternehmen zur Verfügung stehen. Die Ressourcen bleiben möglichst im Kreislauf, um Weiterentwicklung und Stabilisierung zu gewährleisten. Tätig sind heute weit mehr als 100 Personen als Hauptamtliche, Nebenamtliche und Ehrenamtliche. Das gesamte Netzwerk kooperiert sektorübergreifend mit Verwaltungen, Einrichtungen, Personen, Unternehmen und Gebietskörperschaften von der lokalen über die Landesund Bundesebene bis hin zur EU. Steuerung, Koordination und Entscheidungen liegen nicht, wie sonst in der sozialpolitischen Praxis üblich, beim öffentlichen Träger, sondern beim Verbund selbst. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Kern des Verbundes (Wohnungsunternehmen, Bauunternehmen, Verwaltungsunternehmen) aus Marktunternehmen besteht. Auch wenn alle Unternehmen de facto Sozialunternehmen sind, sind sie nach ihrer Rechtsform keine gemeinnützigen Unternehmen und genießen deshalb die häufig missbrauchte Freiheit des Marktes für soziale Zwecke. Ich halte diesen Aspekt aus meiner heutigen Sicht und aus der umfangreichen Vergleichsmöglichkeit mit anderen Entwicklungsprojekten für überaus wichtig. Ich bin davon überzeugt, dass eigenständige Entwicklungen weitestgehende Selbststeuerung erfordern. Dies ist nach meinen Beobachtungen noch immer höchst selten.


Aufgrund der Einbettung und Vernetzung der Arbeit, der bürgerschaftlichen Trägerschaft und der Lobby vieler Frauen und Männer aus allen Bereichen der Gesellschaft, die sich für die Entwicklung des Stadtteils einsetzten, gelang es 1989, den spekulativen Verkauf von mehr als hundert vollkommen heruntergekommenen Wohnungen innerhalb des Stadtteils zu verhindern. Das gewachsene Milieu wäre zerstört und die Menschen vereinzelt worden. Durch eine Genossenschaftsgründung einflussreicher PromotorInnen gemeinsam mit den BewohnerInnen, die zu diesem Zeitpunkt zu über 50% von Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, kleinen Renten und prekären Jobs lebten, wurden die BewohnerInnen selbst zu genossenschaftlichen EigentümerInnen ihrer Wohnungen. Sie haben damit eine sichere Bleibeperspektive durch lebenslanges Wohnrecht, bezahlbare Mieten, die Möglichkeit der Qualifizierung und eigenständigen Existenzsicherung durch eine dauerhafte Beschäftigung. Sie sind heute, nach der umfangreichen Sanierung, im Besitz einer attraktiven Wohnung. Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sind in diesem Verbund erste Schritte, die in die Möglichkeit der Dauerbeschäftigung in einem der Tochterunternehmen der Genossenschaft münden. Um Dauerarbeitsplätze für die BewohnerInnen zu schaffen und die anfallende Arbeit im eigenen Wohngebiet unter den vorgeschriebenen Marktbedingungen leisten zu können, wurde 1993 das Tochterunternehmen HVS GmbH mit vier Meisterbetrieben im Baubereich gegründet. Heute hat dieses Unternehmen 52 fest angestellte und tariflich bezahlte Mitarbeitende. Zunehmend wird nicht im eigenen Wohnbereich, sondern in der Stadt, der Region und sogar in Luxemburg gearbeitet. Gründe hierfür liegen im besonderen Profil eines Unternehmens, das sich auf die Anleitung von Selbsthilfe und Gewerken aus einer Hand sowie auf ökologisches Bauen spezialisiert hat. Damit Frauen die Möglichkeit zur Erwerbsarbeit haben, mussten Familienentlastungsdienste entstehen. Aus diesem Grund wurde 1996 eine ehemalige Grundschule gekauft, mit den eigenen Unternehmen saniert und als Kindertagesstätte für 60 Kinder eingerichtet. Damit diese Tageseinrichtung durchgehend geöffnet sein kann, brauchte es einen Cateringbetrieb, der wiederum, um wirtschaftlich arbeiten zu können, weitere Aufträge benötigte. Angebote von Vereinsverpflegung, Partyservice und

einem Mittagstisch für SeniorInnen im Stadtteilzentrum tragen dazu bei und schaffen neue Arbeitsplätze. Da die Wohnungsgenossenschaft ein professionelles Management braucht und die Basis der Wohneinheiten der Genossenschaft zu klein war, um dies über die Mieten zu finanzieren, war es erforderlich, mehr Wohnungen zu erwerben und die Managementleistung sowie die BewohnerInnenarbeit und angeleiteten Selbsthilfeleistungen auch anderen Wohnungsunternehmen anzubieten. Um dies leisten zu können, wurde 1996 das Tochterunternehmen der Genossenschaft WSG GmbH gegründet. Heute hat diese Verwaltungs- und Servicefirma neun MitarbeiterInnen und Auszubildende überwiegend aus dem Wohngebiet. Mit dem Ankauf und der Sanierung weiterer Liegenschaften in der Zeit zwischen 1997 und 1999 konnte die Genossenschaft stabilisiert werden. Nun haben weitere BewohnerInnen des Stadtteils die Möglichkeit, von den Vorteilen des Verbundes zu profitieren. Derzeit entsteht DINO, das Dienstleistungszentrum Trier-Nord mit dem Ziel der Einrichtung einer Dienstleistungsagentur und weiterer privatwirtschaftlicher Angebote. Ein leerstehendes Geschäftshaus wurde erworben, saniert und für die Nutzung übergeben. Um die Abnahme der Dienstleistungen durch Frauen des Wohngebietes zu sichern, wurde eine Kooperation mit einer Initiative zum selbstbestimmten Leben im Alter eingegangen. Die Initiative überwiegend bürgerlicher Frauen hat der Genossenschaft am Beutelweg die Bauträgerschaft und Verwaltung des Vorhabens übergeben. Sie begründet dies mit Vertrauen. Transparenz und Integrität sind für eine kritischer werdende Bevölkerung entscheidende Faktoren.

Gegenwind des Marktes mit der Selbstverpflichtung sozial und ökologisch nachhaltigen Agierens ziemlich schutzlos bestehen muss. Es ist zwar keineswegs leicht, ohne warme Kapitaldecke im kalten Wind des Marktes zu bestehen, doch allemal ist dies sicherer als ausschließlich von sozialstaatlichen Zuteilungen abhängig zu sein und sich dabei einer Umklammerung auszusetzen, die kaum eine Weiterentwicklung und Verstetigung zulässt. Die Stabilität resultiert aus der Identifikation ihrer AkteurInnen mit der Sache, aus ihrem Engagement, ihren Ideen und ihrer Zeit, die sie oft unbezahlt einbringen. Kaum vorstellbar, dass eine solche vernetzte, höchst dynamische und an die unmittelbaren Erfordernisse des Gemeinwesens gebundene Lösung durch einen öffentli chen oder auch großen freien Träger realisierbar wäre. Nicht vorstellbar, dass Frauen und Männer in einem solchen Konstrukt agieren, die nicht dauernd gemeinsam unkonventionelle Lösungen spezifischer und komplexer Lösungen erfinden und realisieren und damit dauernd lernen müssen.

Es wäre eine Vielzahl weiterer Projekte zu nennen. Im Rahmen des Programms Soziale Stadt werden beispielsweise Vorhaben im Bereich der Umfeldgestaltung, des Spielplatzbaus, alternativer Bildungseinrichtungen und der Schaffung von Raum für kreative Aktivität und Existenzgründungen realisiert. Es ist schwierig, der rasanten Eigendynamik zu folgen und die entstandene komplexe Struktur zu steuern oder auch nur zu durchschauen. Dies heißt nicht, dass diese deshalb schlecht sei, es soll nur zeigen, dass diese Art der Arbeitsorganisation alles andere als einfach ist, zumal sie im harten

16

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


1. Wendt, Wolf-Rainer: Zivilgesellschaft und soziales Handeln, Freiburg 1996.

6. Alinsky, Saul: Anleitung zum Mächtigsein, Bornheim 1984.

2. Illich, Ivan u.a.: Entmündigung durch Experten, 1979.

7. Gorz, André: Und jetzt wohin?, Nördlingen 1991.

3. Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main 1993, S. 189.

8. Alexis de Tocqueville Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1994.

4. Vieles spricht dafür, dass es bei einigen der neuen Konzepte nicht um demokratische Entwicklung, sondern primär um die Entlastung des Arbeitsmarktes, einen weiteren Rückzug des wohltätigen und die Verschärfung des kontrollierenden und sanktionierenden Staates geht. Eines der Modelle ist das der Beschäftigung der Opfer der "dritten industriellen Revolution" im "Dritten Sektor", wie es u.a. von Jeremy Rifkin (Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft, 1995) und Anthony Giddens (Konsequenzen der Moderne, 1997) vertreten wird. Vergleichbar ist der Ansatz von Beck‘s Bürgerarbeit (Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen). Er empfiehlt für Jugendliche vor der Berufsausbildung, Mütter nach der Erziehungsphase, ältere Menschen im Übergang in den Rentenstand Bürgerarbeit als freiwilliges soziales Engagement, das nicht entlohnt, sondern immateriell belohnt werden solle. Eine Form des Bürgergeldes in max. Höhe der Sozialhilfe für existenziell Bedürftige wurde diskutiert, im Dezember 1999 jedoch durch die bayerische Landesregierung strikt abgelehnt.

9. Für die Settlement-Bewegung und ihr Handlungstheoretisches Verständnis steht insbesondere Jane Addams, geb. 1860. Der Ansatz des Community-Organizing als systematischen Aufbau von Gegenmacht der Machtlosen, insbesondere vertreten durch Saul Alinsky, geb. 1909, gewinnt derzeit wieder Beachtung.

Gekoppelt wird nun der Vorschlag mit der bereits lange gängigen "Hilfe zur Arbeit". Intendiert ist die Schaffung gemeinnütziger Beschäftigungsmöglichkeiten für Bezugsberechtigte durch die Erschließung nicht marktgängiger Tätigkeitsfelder. Damit werden der Arbeitsmarkt und seine Statistik entlastet, denn gemeinnützig Tätige sind keine Arbeitslosen, da sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen und die wachsenden Aufgaben im Bereich sozialer Versorgung, öffentlicher Infrastrukturerhaltung und ökologischer Reparation können kostengünstigst erledigt werden. Ob dies freilich dazu beiträgt, das "soziale Kapital" der Gesellschaften zu erhalten, sei dahingestellt. Die Zukunftskommission der Freistaaten Sachsen und Bayern verweist in ihren Empfehlungen zwar noch ausdrücklich darauf, dass Bürgerarbeit freiwillig sei und für niemanden eine Verpflichtung sein dürfe. Doch sowohl in dem durch den Club of Rome (1998) empfohlenen "Mehrschichtenmodell der Arbeit" als auch in der gängigen Praxis der Kommunen in Europa oder USA ist die Arbeitspflicht für Bezugsberechtigte von Sozialleistungen selbstverständlich. Zur Erinnerung: Nach Art. 12 des Grundgesetzes sind Zwangsdienste in Deutschland verboten. Arbeitsstrafen sind nur als gerichtlich angeordnete Maßnahme zulässig. 5. Boll, Joachim/Huß, Reinhard/Kiehle, Wolfgang: Mieter bestimmen mit, Darmstadt 1993.

10. In Deutschland existieren derzeit 15 Gemeindestiftungen. Auch in diesem Bereich innovativer Problemlösung ist Norditalien führend. Mit der Privatisierung der sich im Staatsbesitz befindenden Banken im Jahr 1987 wurden quasi über Nacht über 80 gemeindeorientierte Bankenstiftungen mit einem Vermögen ca. 7 Milliarden DM gegründet. (Neue Züricher Zeitung vom 21. August 2000). 11. V.gl.: Elsen, Susanne: Gemeinwesenökonomie, Neuwied 1998. 12. Wacquant, Loic J.D.: Vom wohltätigen Staat zum strafenden Staat, in: Leviathan, 25. Jahrgang Heft 1/1997, S. 58. 13. Wendt, Wolf Rainer: Sozialwirtschaft und Sozialmanagement, Baden-Baden 1999. 14. Elsen, Susanne/Lange, Dietrich/Wallimann, Isidor (Hrsg.): Soziale Arbeit und Ökonomie, Neuwied 2000. 15. van der Loo, Hans/van Reijen, Willem: Modernisierung, Nördlingen 1992. 16. Kunstreich, Timm: Grundkurs Soziale Arbeit, Hamburg 1997. 17. Wendt, Wolf Rainer (1999): a.a.O. S. 73. 18. Engelke, Ernst: Theorien der Sozialen Arbeit, Freiburg 1998. 19. Specht, Harry/Courtney, M.E.: Unfaithful Angels. How Social Work has Abandoned ist Mission, New York/London 1994. 20. Die Referentin war zehn Jahre hauptamtlich in der Leitung des Bürgerhauses und im Aufbau der Genossenschaft tätig. Sie ist heute Aufsichtsratsvorsitzende des Verbundes. 21. Elsen, Susanne/Wallimann, Isidor: Social economy, in: Oxford University Press: European Journal of Social Work, Volume 1 Issue 2, July 1998, S. 151-165. 22. Wohnungsgenossenschaft am Beutelweg eG. (Hrsg.): Aus der Not geboren, die Genossenschaft am Beutelweg, Trier 1999.

ück bel G s a D rin, zu a d t h e st ie alle leben w d doch Welt un r andere n i e k wie . zu sein auvoir) e de Be n o im (S

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

17


Der Ehrenamtliche – das unbekannte Wesen Gedanken zu einer institutionalisierten Merkwürdigkeit

von Jürgen Altmann

"Wie man’s macht, macht man’s falsch", wusste schon meine Mutter. Diese scheinbar banale Weisheit hätte ich einmal im Leben beherzigen sollen durch Teilnahme an der Fachtagung "Bürgergesellschaft und Sozialstaat" vom 14. bis 19. November 1999. Aber nein, ich nahm nicht teil und habe es also wieder falsch gemacht: Was hätte ich als Ehrenamtlicher alles lernen können über mich selbst! Nun also muss ich notwendigen Wissenserwerb im Rundbrief 1/2000 suchen, das ist qualvoll und es geschieht mir ganz recht. Relativ schnell aber entdecke ich, dass es nicht ausreichen kann, einfach und gleichsam "selbstverständlich" ehrenamtlich zu arbeiten, beispielsweise im Vorstand vom Rabenhaus e.V. Zumindest sollte ich mich fragen: "Warum arbeitet man eigentlich umsonst? Bürgerliches Engagement – ein Verantwortungssyndrom?" (RB 1/2000, S. 37). Ein wenig peinlich berührt muss ich gestehen, dass ich mir diese Frage so noch nicht gestellt habe. Und ich frage mich auch nicht – ebenso wenig wie die anderen Ehrenamtlichen im Köpenicker Rabenhaus e.V. – ob meiner Tätigkeit eine "humanitäre" oder mehr "hedonistische Einstellung" (S. 55) zugrunde liegt. Das ist zwar unwissenschaftlich, jedoch zeigt auch die im Rundbrief abgedruckte Diskussion zu diesem Gegenstand, dass Vertreter des

"praktischen Lebens" ihr Unbehagen zu diesen akademisch-theoretischen Überlegungen äußern (S. 60/61). Da bin ich schon beglückter, wenn ich entdecke, dass "Ehrenamtliche ... das wichtigste Element der Arbeit" sind; dass für sie ein "Tag des Ehrenamtlichen" eingerichtet wird, an dem sie (wie ihre Bezeichnung wohl schon ausdrückt?) "geehrt" werden; dass man "diesen Leuten ... Fortbildung anzubieten, ihnen `Belohnung’ zu geben" hat; dass aber oft vergessen wird, "dass diese Leute selbst Fähigkeiten haben", man müsse sie "fördern durch fordern" (S. 30/31). Das ist doch sehr schön. Was stört mich daran? Nun, man möge mir vergeben, aber all das klingt mehr als nur ein wenig, wie wenn Ärzte wohlwollend über den "mitdenkenden Patienten" reden, der nach grober Kenntnis der verordneten Therapie durchaus ein bisschen am gewünschten Gesamtergebnis "mitarbeiten" kann. Ist dieser Blickwinkel, ist diese mechanistische und alles andere als dialektische Betrachtungsweise dem Thema der Tagung, den Themen der Workshops geschuldet? Warum lese ich so gar nichts über selbstverständliche, gleichberechtigte Partnerschaft von Haupt- und Ehrenamtlichen? (Oder habe ich das, blind geworden am Übermaß anderer Verlautbarungen, überlesen?) Warum finde ich so unvollkommen widergespiegelt, was sich in

18

Nachbarschaftseinrichtungen durchaus antreffen lässt: Ehrenamtliche und Hauptamtliche helfen einander, oft am gleichen Gegenstand arbeitend, das gleiche Problem lö send; ausschlaggebend sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, Neigungen und auch Cha raktereigenschaften, übergreifende Interessen, verschieden ausgeprägte Lebens- und Berufserfahrungen; ja, da mag es schon vorkommen, dass Kenntnisse und Qualifikation der Ehrenamtlichen denen der angestellten Sozialarbeiter überlegen sind. Alle gestalten, vervollkommnen Nachbarschaftsarbeit, Bürgerengagement, Zivilgesellschaft – vom Köpenicker Rabenhaus weiß ich verlässlich, dass es so ist. Nicht abschließen kann ich meine Wortmeldung ohne noch einen Blick auf den "großen Ratschlag". Da wird schnell offenbar, dass es sich – den Experten sei Dank – nicht um einen solchen handelt, handeln kann. Nein, da sind eher nochmals alle in der Tagung aufgetauchten Probleme benannt, gewendet, aufbereitet worden; da wurde auch mein Eindruck nach absolvierter Lektüre bestätigt: In den "einzelnen Workshops" dominierte eher "eine Ratlosigkeit zum Thema Ehrenamtlichkeit" (S. 94). "Ein unterschiedliches Verständnis von Ehrenamt wird festgestellt (ebenda). "Gegen alle Großstrategen und Definierer, die Ehrenamtlichkeit definieren wollen", wird angegangen und es wird festgestellt: "Das Thema Ehrenamt muss heute viel differenzierter betrachtet werden" (S. 95). Und schließlich: "Wir denken viel über die Spezies der Ehrenamtlichen nach, wir sollten aber über unsere eigene Spezies nachdenken, die Spezies der Beschäftigten ..." (S. 96). Das hat vielleicht noch etwas Zeit, denn vorerst scheint gewiss: Einige der sehr professionellen Hauptamtlichen bedürfen der Existenz Ehrenamtlicher, weil sie ihnen zum Katalogisieren, Rubrizieren, Mystifizieren, Problematisieren, Denken, Erklären herhalten müssen – kurz: Diese Hauptamtlichen bedienen sich der Ehrenamtlichen schon deshalb dankbar, um den Unterschied zwischen sich selbst und jenen (oft "diese Leute" genannt) verdeutlichen zu können. Gilt es doch, die Legende aufrecht zu erhalten: Ohne Hauptamtliche kei ne Ehrenamtlichen! Wir in Köpenick, im Rabenhaus, wissen das, wie ich versucht habe anzudeuten, zwar besser, leben dieses Verhältnis anders – aber es braucht lange, bis sich die Theorie nach der Praxis richtet.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Leitbild Bürgerorientierte Kommune Aufruf zum Dialog

von Heidi Sinning

Einleitung Das Modellprojekt »CIVITAS – Netzwerk bürgerorientierter Kommunen in Deutschland« stellt die zweite Phase der Gemeinschaftsinitiative »Bürgerorientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Demokratie« dar, welche die Bertelmann Stiftung gemeinsam mit dem Verein Aktive Bürgerschaft e.V. ins Leben gefufen hat. Die erste Phasebildete ein bundesweiter Wettbewerb mit dem Titel der Gemeinschaftsinitiative. Angesprochen waren Kommunen, in denen Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger bereits eine innovative Zusammenarbeit praktizieren und Bürgerengagement und –mitwirkung einen hohen Stellenwert genießen. An dem Wettbewerb beteiligten sich bundesweit mehr als achzig Kommunen unterschiedlicher Größenordnung, von denen elf nach einem mehrstufigen Verfahren in die Endauswahl gelangten. Im Oktober 1999 fand in Münster die Bekanntgabe der Siegerkommunen statt. Die Jury erkannte der baden-württembergischen Stadt Nürtingen den ersten Preis zu, die Großstädte Leipzig und Bremen wurden jeweils mit dem zweiten Preis ausgezeichnet. Mit diesem Festakt endete die zweite Phase der Gemeinschaftsinitiative.

Zeitgleich erfolgte der Startschuss für die zweite Phase: Modellprojekt »CIVITAS – Netzwerk bürgerorientierter Kommunen in Deutschland« hat zum Ziel, den elf CIVITAS-Kommunen Bremen, Essen, Güstrow, Leipzig, Nürtingen, Schwarmstedt/Rethem/ Ahlden, Solingen, Tübingen, Ulm, Viernheim und Weyarn einen Erfahrungaaustausch zu ermöglichen und ihren vielfältigrn Bemühungen um mehr Bürgerorientierung durch ihre Zusammenarbeit zusätzliche Impulse zu verleihen. Neben ihrer Arbeit im Gesamtnetzwerk sind die Kommunen in drei so genannten »Netzknoten« aktiv, die sich mit unterschiedlichen Themen der lokalen Bürgerorientierung befassen: • »Förderung einer lokalen Anerkennungs- und Beteiligungskultur durch Qualifizierung, Zertifizierung und neue Formen der Anerkennung« • »Schnittstellen von Politik und Verwaltung zu bürgerschaftlicher Mitwirkung - interne Vernetzung, externe Vereinfachung« • »Bürgerorientierte Stadtteilentwicklung - räumliche Identifikationspunkte für bürgerschaftliche Mitwirkung vor Ort« Ziel dieser drei Arbeitsgruppen ist es, im Sinne von »best practices« übertragbare

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

19

Qualitätsbausteine zu entwickeln und diese bundesweit in der kommunalen Landschaft zu verbreiten. Die Projektträger gewährleisten sowohl die fachliche Unterstützung durch Experten als auch den organisatorischen Rahmen. Die CIVITAS-Zukunftskonferenz führte das Gesamtnetzwerk durch. Sie hatte zum Ziel, ein Leitbild »Bürgerorientierte Kommune« durch Vertreterinnen und Vertreter aus Kommunalpolitik und -verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger zu erarbeiten. Als Ergebnis der Zukunftskonferenz ist dieses Leitbild auf den folgenden Seiten dieser Dokumentation abgedruckt. Der Nutzen der Erarbeitung dieses Leitbildes lag zum einen in der Ermittlung gemeinsamer Grundorientierungen als Basis für das Selbstverständnis der Netzwerkarbeit, in deren Mittelpunkt die Frage nach den Charakteristika einer Bürgerorientierten Kommune stand, und zum anderen im Kennenlernen der Methode Zukunftskonferenz, die im Folgenden genauer beschrieben ist. Das Leitbild Bürgerorientierte Kommune ist sowohl Ergebnis der CIVITAS-Zukunftskonferenz als auch erste Station eines Prozesses der kontinuierlichen Weiterentwicklung eines bundesweiten Qualitätsmaßstabs für Bürgerorientierte Kommunen.


Ergebnis der CIVITAS-Zukunftskonferenz - Leitbild »Bürgerorientierte Kommune« Präambel Die Verwirklichung einer lebendigen Demokratie ist eine ständige Herausforderung. Dabei sind insbesondere die Städte und Gemeinden als lokale Ebene gefordert. Hier kommen die Bürgerinnen und Bürger am ehesten mit den Institutionen in Kontakt, hier können Politik und Verwaltung Veränderungen am schnellsten umsetzen.

Das Modellprojekt »CIVITAS - Netzwerk bürgerorientierter Kommunen in Deutschland« stellt die zweite Phase der Gemeinschaftsinitiative »Bürgerorientierte Kommune - Wege zur Stärkung der Demokratie dar, welche die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Verein Aktive Bürgerschaft e.V. ins Leben gerufen hat. Die erste Phase bildete ein bundesweiter Wettbewerb mit dem Titel der Gemeinschaftsinitiative. Angesprochen waren Kommunen, in denen Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger bereits eine innovative Zusammenarbeit praktizieren und Bürgerengagement und -mitwirkung einen hohen Stellenwert genießen. An dem Wettbewerb beteiligten sich bundesweit mehr als achtzig Kommunen unterschiedlicher Größenordnung, von denen elf nach einem mehrstufigen Verfahren in die Endauswahl gelangten. Im Oktober 1999 fand in Münster die Bekanntgabe der Siegerkommunen statt. Die Jury erkannte der baden-württembergischen Stadt Nürtingen den ersten Preis zu, die Großstädte Leipzig und Bremen wurden jeweils mit dem zweiten Preis ausgezeichnet. Mit diesem Festakt endete die erste Phase der Gemeinschaftsinitiative. Zeitgleich erfolgte der Startschuss für die zweite Phase: Das Modellprojekt »CIVITAS-Netzwerk bürgerorientierter Kommunen in Deutschland « hat zum Ziel, den elf CIVITAS-Kommunen Bremen, Essen, Güstrow, Leipzig, Nürtingen, Schwarmstedt/ Rethem/Ahlden, Solingen, Tübingen, Ulm, Viernheim und Weyarn einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen und ihren vielfältigen Bemühungen um mehr Bürgerorientierung durch ihre Zusammenarbeit zusätzliche Impulse zu verleihen.

CIVITAS-Netzwerk bürgerorientierter Kommunen in Deutschland Im Oktober 1999 haben sich elf Kommunen unter der Trägerschaft der Bertelsmann Stiftung und des Vereins Aktive Bürgerschaft zu einem bundesweiten Reformnetzwerk zusammengeschlossen. Dem Netzwerk gehören Bremen, Essen, Güstrow, Leipzig, Nürtingen, Schwarmstedt/Rethem/Ahlden, Solingen, Tübingen, Ulm, Viernheim und Weyarn sowie als assoziierte Mitglieder Arnsberg und Heidelberg an. Das Netzwerk ist aus dem Wettbewerb »Bürgerorientierte Kommune-Wege zur Stärkung der Demokratie« hervorgegangen. Ziel des Netzwerks ist es, die Bürgerorientierung zu stärken und weiterzuentwickeln und damit einen Beitrag zum Ausbau der Demokratie auf lokaler Ebene zu leisten. Der Begriff CIVITAS stammt aus dem Lateinischen und bedeutet nicht nur Bürgerschaft, Stadt oder Gemeinde, sondern auch Bürgerrecht. Unter diesem Blickwinkel erhalten die Bürgerinnen und Bürger einen neuen Stellenwert in den Kommunen. Ihr Recht, eigenverantwortlich mitzugestalten, wird zu einem bestimmenden Element. Bürgerorientierte Kommune heißt: Politik durch Bürgerinnen und Bürger für Bürgerinnen und Bürger.

Bürgerorientierung und Bürgerengagement Bürgerorientierung meint, Bürgerinnen und Bürger an Entscheidungen zu beteiligen, ihnen die Übernahme von öffentlichen Aufgaben zu ermöglichen und bürgerschaftlich Engagierte tatkräftig zu unterstützen. Die Bürgerinnen und Bürger sind somit Adressaten der Bürgerorientierung. Bürgerengagement begreift die Bürgerinnen und Bürger dagegen als Akteure und erfasst ihr konkretes Handeln für das Wohl des Gemeinwesens. Bürgerorientierung und Bürgerengagement ergänzen sich gegenseitig.

CIVITAS als Teil der lokalen Demokratiebewegung Verwaltung, Politik sowie Bürgerinnen und Bürger haben im Rahmen der CIVITASZukunftskonferenz gemeinsam das Leitbild »Bürgerorientierte Kommune «erarbeitet. Es

20

bündelt die grundlegenden Werte und Vorstellungen zu einer Bürgerorientierten Kommune. Es dient als Orientierungsrahmen und Qualitätsmaßstab für CIVITAS- und andere Kommunen. Städte und Gemeinden unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer Größe und geographischen Lage, als auch bezogen auf ihre Traditionen von Bürgerengagement und Bürgerorientierung - beispielsweise in den neuen und alten Bundesländern. Diese räumlichen, historischen und die sozialen Unterschiede gilt es bei der Umsetzung des Leitbildes zu beachten. Vor diesem Hintergrund benennt das Leitbild Grundsätze und Ziele. Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger sollen diese verfolgen und damit auf der lokalen Ebene eine lebendige Demokratie stärken.

Grundsätze der Bürgerorientierung • Wir gewährleisten, dass Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungsstrukturen von Politik und Verwaltung sowie die Entscheidungen selbst nachvollziehen können. • Wir setzen vielfältige bürgerschaftliche Beteiligungsformen ein und nutzen sie kreativ. • Wir widmen denjenigen Bevölkerungsgruppen besondere Aufmerksamkeit, die bis dato in Politik und Verwaltung unterrepräsentiert sind. • Wir fördern Bürgerorientierung innerhalb erfahrbarer Einheiten, z.B. in Stadtteilen und Quartieren. • Wir setzen uns dafür ein, dass Bürgerinnen und Bürgern, Stadtteilparlamenten und bürgerschaftlichen Initiativen mehr Entscheidungsrechte eingeräumt erden. • Wir treten dafür ein, dass bürgerschaftliches Engagement die gebührende gesellschaftliche Anerkennung findet, und wir fördern eine entsprechende Anerkennungskultur in unserer Kommune. • Wir unterstützen die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Selbstorganisation und helfen, sie in die Lage zu versetzen, ihre Interessen effektiv im Sinne des Gemeinwohls zu organisieren. • Wir wollen in unserer Kommune einen politischen Grundkonsens erreichen, • der bürgerschaftlicher Mitwirkung einen hohen Stellenwert gibt.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


• Wir haben erkannt, dass Bürgerengagement und Bürgerorientierung erhebliche Vorteile für das sinnvolle Zusammenwirken von Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürgern bieten. Sie stärken insbesondere das Gemeinwesen. • Wir sind davon überzeugt, dass Bürgerorientierung und Bürgerengagement die Qualität, Effizienz und Legitimation der Entscheidungsprozesse innerhalb der Kommune maßgeblich stärken. • Wir streben ein partnerschaftliches und respektvolles Verhältnis zwischen Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürgern an. • Wir verstehen Bürgerorientierung als integrierten Prozess: Wir arbeiten gemeinsam mit beteiligten Bürgerinnen und Bürgern an Planungen und deren Umsetzung. Wir informieren im Vorfeld transparent, intensiv und professionell. • Wir führen einen dauerhaften Dialog zwischen Verwaltung, Politik sowie Bürgerinnen und Bürgern.

Ziele der Bürgerorientierung Selbstverständnis von Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürgern Allgemein • Innerhalb der einzelnen Kommunen sollen Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger gemeinsame Vereinbarungen über Ziele hinsichtlich Bürgerorientierung und Bürgerengagement treffen und diese in regelmäßigen Abständen überprüfen. • Dabei haben Politik, Verwaltung sowie Bürgerinnen und Bürger die Aufgabe, sich über Leistungen und Standards von Bürgerorientierung und Bürgerengagement zu einigen.

Verwaltung • Die Verwaltung soll sich als Ermöglichungsverwaltung verstehen und insbesondere für das Engagement der Bürgerinnen und Bürger offen sein. • Die Verwaltung soll in ihrem gesamten Handeln darauf ausgerichtet sein, für die Bürgerinnen und Bürger von Vorteil und Nutzen zu sein. • Die Verwaltung soll Bürgerorientierung als Querschnittsaufgabe begreifen:

• Die Bürgerorientierung soll sich also im Handeln aller Verwaltungseinheiten wiederfinden. • Für die Verwaltung soll es handlungsleitend sein, mit Bürgerinnen und Bürgern partnerschaftlich aktivierend zusammenzuarbeiten und sie an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung sollen die Bereitschaft und Kompetenz besitzen, ressortübergreifend zu denken, zuzuhören sowie mit Konflikten und Widersprüchen umgehen zu können. • Die Verwaltung soll optimal auf die zeitlichen, räumlichen und sachlichen Bedürfnisse und Bedarfe der Bürgerinnen und Bürger eingehen. • Die Verwaltung soll Initiativen und Anregungen von Seiten der Bürgerinnen und Bürger zügig behandeln. • Die Verwaltung soll Projekte, an denen Bürgerinnen und Bürger direkt mitgewirkt haben, zeitnah umsetzen.

Bürgerinnen und Bürger • Bürgerinnen und Bürger sollen grundsätzlich bereit sein, gegenüber Verwaltung und Politik offen zu sein und ihnen Vertrauen entgegenzubringen. • Bürgerengagement soll zur Selbstverständlichkeit werden. • Die Bürgerinnen und Bürger sollen bereit sein, ggf. mit finanzieller Unterstützung seitens der Kommune, selbstbestimmt öffentliche Aufgaben zu übernehmen. • Die Bürgerinnen und Bürger sollen die Möglichkeiten wahrnehmen, sich, ggf.mit finanzieller Unterstützung durch die Kommune, für die Übernahme öffentlicher Aufgaben zu qualifizieren. • Bürgerschaftliches Engagement soll Generationen verbinden und Minderheiten einbeziehen. • Persönliche Interessen bei der Entscheidung, sich bürgerschaftlich zu engagieren, sollen gesellschaftlich akzeptiert werden. Sie stehen nicht notwendigerweise im Widerspruch zur Gemeinwohlorientierung.

Politik • Die Politik soll es als ihre Aufgabe ansehen, auf der Basis größtmöglicher Bürgermitwirkung mit dem Ziel des

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

21

• Interessenausgleichs zu handeln. • Dazu gehört, dass Politikerinnen und Politiker bereit sind, Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse einzubeziehen. • Wertschätzung, Würdigung und Weiterbildung von Bürgerengagement sollen Teil des politischen Selbstverständnisses sein. • Das Angebot der Politik an die Bürgerinnen und Bürger soll ernstgemeint und glaubwürdig sein und auf Vertrauen aufbauen. • Die Politik soll Initiativen und Anregungen von Seiten der Bürgerinnen und Bürger zügig behandeln.

Organisation der Verwaltung • Die Bürgerorientierte Kommune soll als Ergänzung und Weiterentwicklung der Dienstleistungskommune verstanden werden. • Das Thema Bürgerorientierung soll sich in allen (neuen) Steuerungsinstrumenten der Verwaltung wiederfinden. • Struktur, Verantwortlichkeiten, Arbeitsweise und Arbeitsergebnisse der Verwaltung sollen für Bürgerinnen und Bürger transparent und nachvollziehbar sein. • Bürgerschaftliches Engagement soll ohne bürokratische Hürden möglich sein. • Die Verwaltung soll zur Unterstützung der Bürgerorientierung projektorientiert, vernetzt und ressortübergreifend arbeiten. • Die Bürgerinnen und Bürger sollen für ihre Anliegen kompetente Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner finden. • Die Verwaltung soll einen systematischen Wissenstransfer gewährleisten und organisieren.

Formen der Bürgerorientierung und -mitwirkung • Es soll in jeder Kommune bzw. in jedem Stadtteil eine Plattform für eine öffentliche Kommunikation, unter Einbeziehung vorhandener Strukturen und Ressourcen, geschaffen werden. • Zielgruppenspezifische Beteiligungsangebote sollen auf die unterschiedlichen sozialen Gruppen in ihren jeweiligen Lebenssituationen zugeschnitten sein. Dabei ist zu beachten, dass Minderheiten einbezogen werden.


• Bürgeranhörungen und regelmäßige Bürgerbefragungen sollen zur Selbstverständlichkeit werden. • Der Einsatz der neuen Medien soll als Chance für die Bürgerorientierung genutzt werden. • Es sollen mehr Formen partizipativer, auch direkter Demokratie zum Einsatz kommen. Dabei sind insbesondere Formen gemeint, die über die gesetzlich verankerten Mitwirkungsformen hinausgehen. Meinungen von Minderheiten sind dabei zu schützen.

Ziele der Bürgerorientierung Unterstützende Infrastruktur • Bürgermitwirkung und Bürgerengagement sollen eine institutionelle, eindeutig definierte Verankerung erhalten (z.B. Schnittstellen zwischen Verwaltung, Politik sowie Bürgerinnen und Bürgern). • Den Bürgerinnen und Bürgern bzw. deren Zusammenschlüssen soll eine ausreichende finanzielle Grundausstattung zur Realisierung ihrer Ziele eingeräumt werden. • Öffentliche Räume sollen den Bürgerinnen und Bürgern für ihr Engagement kostenlos zur Verfügung stehen. • Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger muss auf den unterschiedlichen politischen Ebenen abgesichert werden, vor allem in rechtlicher und finanzieller Hinsicht (z.B. Einrichtungen von Versicherungssystemen für Freiwillige; partielle Steuerbefreiungen; Einführung eines Sabbatjahres für Freiwilligenarbeit). • Es sollen Anreizsysteme entwickelt werden, die zu einem verstärkten Bürgerengagement führen. • Bürgerschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung sollen aufrichtige Anerkennung und Würdigung erfahren. • Es soll eine Koordination und Vernetzung des vorhandenen Bürgerengagements stattfinden. • Die bereits vorhandenen Formen der Infrastruktur von Bürgerengagement (z.B. Tauschringe) sollen gefördert werden. • Den Bürgerinnen und Bürgern soll der vielfältige und eigenständige Zugang zu den neuen Medien erleichtert werden. Lokale Medien sollen zur Unterstützung der Bürgerorientierung genutzt werden.

• Die kontinuierliche Qualifizierung aller Akteure soll die Mitwirkungschancen verbessern.

Burkhard Bauer, Güstrow Barbara Baumgärtel, Leipzig Heinz Blatzheim, Düren Thomas Böhme, Hannover Erika Braungardt-Friedrichs, Tübingen Karl Bronke, Bremen Ulrike Dahmen, Tübingen Norbert Dege, Leipzig Bernd Faber, Leipzig Sigrid Förster, Essen Andrea Frenzel-Heiduk, Bremen Hans-Willhelm Frische, Schwarmstedt Margot Hamm, Tübingen Gerhard Harnisch, Güstrow Dr. Sybille Hartmann, Tübingen Rolf Heimann, Solingen Klaus Hinze, Leipzig Tim S. Holderer, Nürtingen Elke Holzrichter, Köln Hannelore Hrabcik, Leipzig Klaus Detlev Huge, Heidelberg Thomas Jablonski, Bremen Heinz Janning, Bremen Petra Kempf, Viernheim Hans Kober, Nürtingen Otto Kurz, Weyarn/München Peter Langer, Leipzig Gabriele Langfeld, Nürtingen Sylke Lein, Leipzig Uwe Lübking, Berlin Renate Lürssen, Bremen Sigrid Meinhold-Henschel, Gütersloh Margret Metz, Tübingen Margarete Meyer, Essen Eva Nagy, Solingen Iris Nürnberger, Solingen Dr. Andreas Osner, Gütersloh Dr. Andreas Pätz, Tübingen Michael Pelzer, Weyarn Ines Pieper, Dresden Frank Pietrzok, Bremen Bernd Pohlmann, Düren Dr. Marga Pröhl, Gütersloh Vera Rottes, Solingen Gerlinde Rücker, Nürtingen Sebastian Scheel, Leipzig Regine Schneider, Güstrow Ulrike Schütze, Dresden Uta Schwarz-Österreicher, Tübingen Heidi Sinning, Gütersloh Dr. Imke Sommer, Bremen Maria Streifinger, Weyarn Horst Ude, Rethem Esther von Kuczkowski, Arnsberg Birgit Weber, Köln

22

Ernst Weidl, Naring Traudl Weise, Leipzig Klaus Wermker, Essen Hannes Wezel, Nürtingen Guido Wolf, Nürtingen Dittmar Zehentmaier, Frankenfeld Teilnehmerinnen und Teilnehmer der CIVITAS-Zukunftskonferenz

in ist ke e h i e z r Ve it, nur e h r r a ne N rr kann ein Na . rzeihen e v t h c i n isches (Chines rt) o Sprichw

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Neue Steuerung und die Zukunft der Gemeinwesenarbeit (2) 1

von Dieter Oelschlägel

Zwei Vorbemerkungen: 1. Ich klammere den Bereich der Regionalisierung sozialer Dienste aus, zum einen ist sie kein Kind der Neuen Steuerung, sondern schon seit den 70er-Jahren in der Diskussion, zum anderen ist sie gut dokumentiert2 auch im Zusammenhang mit GWA. 2. Eine differenzierte Darstellung der Neuen Steuerung müsste intensiver auf die Kritik (Ideologiekritik, Kritik an der Verkürzung als Sparinstrument etc.) eingehen; mir kommt es hier aber darauf an, die strategischen Möglichkeiten für GWA zu erörtern, die in der Neuen Steuerung liegen (können). Seit Anfang der 90er-Jahre grassiert das Verwaltungsreformfieber. Erinnert werden muss: Es waren nicht theoretische oder erfahrungsgestützte Einsichten, die die Kommunen massenweise nach Tilburg3 pilgern und ihre Verwaltungen modernisieren ließen, sondern schlicht die anhaltende Finanznot öffentlicher Kassen einerseits und die Legitimationskrise öffentlicher Verwaltungen angesichts gestiegener Erwartungen der BürgerInnen an kommunales Handeln andererseits.

Damit war ein Paradigmenwechsel kommunalen Verwaltungshandelns verbunden, der auch(!) die strategischen Möglichkeiten von GWA erweitert:

mulieren, also messbare und bezahlbare Leitungen zu beschreiben, hat den Verwaltungsreformprozess - neben anderen Gründen - vielfach stocken lassen.

Normenvollzug -----> Effizienz/Effektivität

Diese Punkte der Verwaltungsreform im Sozialbereich, deren Grundzüge ja auch die großen bürokratisierten Wohlfahrtsverbände erreicht haben, sind als "Ökonomisierung der sozialen Arbeit"9 kritisiert worden: "Produktionsprozesse" der sozialen Arbeit sperren sich gegen eine betriebswirtschaftliche Bewertung. Das ist richtig, aber umgekehrt gilt auch: Soziale Arbeit sperrt sich gegen eine Leistungsbewertung.

Das führte zu einer mehr betriebswirtschaftlichen Ausrichtung der Verwaltung, wie es im Modell der Neuen Steuerung der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt)4 am deutlichsten zu sehen war. Hier wurden vier zentrale Bereiche/Zielvorstellungen formuliert: • Dezentrale Ressourcenverantwortung • Outputorientierung • Kundenorientierung • geändertes Personalmanagement Man könnte zu allen diesen Bereichen vieles sagen. Im Rahmen dieses Inputs will ich nur die ersten beiden Punkte herausgreifen:

• Dezentrale Ressourcenverantwortung heißt zunächst Verlagerung der Finanzverantwortung auf die Fachämter, dann Budgetierung5, d.h. das Fachamt entscheidet selbst und in Eigenverantwortung, wofür es die ihm zugewiesenen Gelder verwenden will und wie sie am sinnvollsten eingesetzt werden sollen. Damit verbunden ist ein Kontraktmanagement6, d.h. die politische Ebene schließt aufgrund vorher entwickelter Leitlinien (hoffentlich!) mit der Verwaltung oder mit Freien Trägern Zielvereinbarungen ab, deren Einhaltung über ein Berichtswesen kontrolliert wird. Dazu braucht man Messgrößen, womit wir angelangen bei der

• Outputorientierung Outputorientierung7 heißt, die Planung, Durchführung und Kontrolle des Verwaltungshandelns strikt an den beabsichtigten und tatsächlichen Ergebnissen zu orientieren und nicht an Verwaltungsnormen. Messlatte - auch für Geld - ist nicht mehr der ordnungsgemäße Verwaltungsvorgang, sondern das Produkt8, das in Geldwert beschreibbare Ergebnis des Verwaltungshandelns. Die Schwierigkeit, im Sozialen solche Produkte geldwertüberzeugend zu for-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

23

Meine These ist: Die Ökonomisierung sozialer Arbeit ist nicht aufzuhalten - es gibt keine Enklaven in der Gesellschaft, in denen deren Gesetzmäßigkeiten nicht gelten -, aber sie ist anders auszufüllen als durch platte Übertragung betriebswirtschaftlicher Methoden und Denkweisen. Die ökonomische Verantwortung der sozialen Arbeit muss allerdings von dieser angenommen werden. Insofern bedeutet Verwaltungsmodernisierung auch für GWA möglicherweise Irritation, ist aber gleichzeitig eine Herausforderung. Es gilt die strategischen Möglichkeiten der Verwaltungsmodernisierung für GWA auszuloten, statt sie bürokratisch abzuarbeiten oder kategorisch abzulehnen. Ich will das an den zwei Punkten festmachen:

Budgetierung: - Das kann für städtische Projekte (Bürgerhäuser etc.) eine Chance für flexibleres Arbeiten sein. Und für neue Finanzierungsmodelle. GWA hat immer unter der Ressortierung gelitten: Der Jugendhilfeausschuss fühlt sich nicht zuständig, Soziales auch nicht: Wer ist also zuständig? - Für Freie Träger (besonders für kleine) bietet das Kontraktmanagement neue Finanzierungsmöglichkeiten über Leistungsverträge: pauschale Zuwendungen und höhere Planungssicherheiten, weil Leistungsverträge nicht an das Haushaltsjahr gebunden sind. Positive Erfahrungen kann ich aus Chemnitz berichten, sie sind auch aus Remscheid bekannt10, sicher gibt es weitere Beispiele.


- Die konsequente Weiterentwicklung sind Quartiersbudgets bzw. Bürgerhaushalte, in dem die BewohnerInnen eines Stadtteils ein Budget selbst verwalten. Sicher werden noch viele rechtliche, fachliche und politische Fragen11 geklärt werden müssen, bis ein solches Ziel erreicht werden wird. Aber entschlossene Schritte in diese Richtung können und müssen schon gegangen werden. In der Stadtentwicklungspolitik wird diese Richtung unter dem Etikett "Ressourcenbündelung" schon diskutiert12, auch die KGSt spricht von "Sozialraumbudgets", greift aber mit der Begrenzung auf ambulante Erziehungshilfen zu kurz13. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie diese Ideen in der kommunalen Praxis umgesetzt werden können, liefert das Modell "Bürgerhaushalt" der brasilianischen Stadt Porto Alegre, in der die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen treffen und die Prioritäten setzen für den städtischen Investitionshaushalt. Zur Zeit wird das Modell ausgeweitet auf den Verwaltungshaushalt und die Personalpolitik14.

nen, was die GWA in ihrem Stadtteil für sie leistet.

Auch die Outputorientierung kann eine Herausforderung für die GWA werden. Nicht, dass wir jetzt anfangen sollten, unser Tun in Produkte aufzusplitten15. Das wäre kontraproduktiv. Aber GWA muss sich der Kosten-Nutzen- und der Qualitätsdiskussion stellen. Dass wir selbstverständlich gut sind und dass selbstverständlich Geld in GWAProjekten gut angelegt ist, ist ebenso Legende wie auch aus einer parteilichen Perspektive nicht überzeugend.

Gleichzeitig müssen angemessene, auch von den "Betroffenen" handhabbare Instrumente der Überprüfung (Evaluation) entwickelt oder aus den vorhandenen Arsenalen ausgewählt werden.

Das heißt, GWA muss fachliche Standards entwickeln, muss sagen können, was "gute" GWA ist und bewirkt, was Erfolge sind - und das konkret und überprüfbar. Das zwingt uns - und das finde ich positiv -, eine Qualitäts- und Leitbilddiskussion in der GWA zu führen. Einem solchen internen Qualitätsmanagement folgt in einem nächsten Schritt die Notwendigkeit, GWA auch außenwirksam darzustellen. In der sozialen Arbeit werden öffentliche Mittel verausgabt. Nach meinem Demokratieverständnis haben nicht nur die Geber von Fördermitteln, sondern vor allem die Bürger und Bürgerinnen ein Anrecht, zu erfahren, was mit ihrem Geld passiert. Auch die Bewohner und Bewohnerinnen "unserer" Quartiere müssen erkennen kön-

Die Schwierigkeiten bei der Messbarkeit der Ergebnisse (der Begriff kann durch Beschreibbarkeit ersetzt werden) entbinden GWA nicht von einer Erfolgsmessung (Evaluation!), sondern erfordern eine kreative Entwicklung eigener Standards und Qualitätskriterien. Ich schlage vor, Qualitätskriterien für GWA entlang des Dreiecks

Partizipation Effizienz

Transparenz

zu entwickeln. So könnte der Grad der Selbst- und Mitbestimmung der Menschen im Stadtteil ein messbares Kriterium für Qualität der GWA ebenso sein, wie der Zuwachs von Wohnzufriedenheit oder die Transparenz der Strukturen und Prozesse im Stadtteil für die Bewohnerinnen und Bewohner16.

Wenn sich GWA weigert, den Erfolg der eigenen Arbeit solide zu evaluieren, besteht die Gefahr, dass die Bewertung - mit finanziellen und politischen Konsequenzen durch Außenstehende erfolgt. Abschließend stelle ich die These auf, dass die Neue Steuerung durchaus strategische Chancen für die GWA beinhaltet, in und gegenüber Kommunen Autonomie auszuweiten oder wenigstens zu verteidigen, sofern wir nicht auf den Nebel so genannter "Sachzwangargumente" und auf eine platte Übertragung von Konzepten aus der Betriebswirtschaft hereinfallen.

02 Vgl. Rainer Greca/Peter Erath (Hrsg.): Regionalisierung sozialer Dienste in Deutschland. Eichstätt 1995. 03 Vgl. Rolf Krähmer: Konzern Stadt. Das Verwaltungsmodell der niederländischen Stadt Tilburg. In: Stadt und Gemeinde 48/1993/4/127-138. 04 Vgl.: Das Neue Steuerungsmodell. Erste Zwischenbilanz Köln 1995 (KGSt-Bericht 10/1995). Aktuelle kritische Bilanz: Wolfgang Hinte: Schlingernde Sozialbehörden. Verwaltungsreform in Jugend- und Sozialämtern - eine Zwischenbilanz. In: sozial extra 1999/10/1-6. 05 Vgl. Birgit Frischmuth: Budgetierung in deutschen Städten. Stand der Einführung: Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage. Berlin: Difu: 1996. 06 Vgl.: Kontraktmanagement zwischen öffentlichen und freien Trägern in der Jugendhilfe. Köln 1998 (KGSt-Bericht 12/1998). 07 Vgl. Marco Szlapka: Outputorientierte Steuerung in der Jugendhilfe!? In: Neue Deutsche Schule 1995/11/6-9. 08 Vgl.: Das neue Steuerungsmodell: Definition und Beschreibung von Produkten. Köln 1994 (KGSt-Bericht 8/1994). Und: Produktpläne und Produktbeschreibungen für die Kommunalverwaltungen. Zwischenbericht Februar 1996. Köln: KGSt: 1996 (KGSt-Bericht 1/1996). 09 Rolf G. Heinze/Christoph Strünk: Kontraktmanagement im Windschatten des "Wohlfahrtsmix"? Neue kommunale Steuerungsmodelle für das System der Wohlfahrtsverbände. In: Adalbert Evers/Thomas Olk (Hrsg.): Wohlfahrtspluralismus. Opladen, Westdeutscher Verlag, 1996, S. 294 - 322; Norbert Wohlfahrt: Folgen der Ökonomisierung sozialer Arbeit für wohlfahrtsverbandliche Träger und die Praxis der Jugendhilfe. In: Evangelische Jugendhilfe 75/1998/1/29-34. 10 Angelika Kordfelder: Vom Rat zum Aufsichtsrat. Outsourcing und Partizipation: Wo bleibt die demokratische Kontrolle im Konzern Stadt? In: sozial extra 199/10/7. 11 Die wird u.a. diskutiert in: Joachim Merchel: Wohin steuert die Jugendhilfe? Innovationsfähigkeit der Jugendhilfe zwischen neuen Steuerungsmodellen und Debatten um Jugendamtsstrukturen. In: Jugendhilfe 37/1999/3/138-149. 12 Vgl.: LAG Soziale Brennpunkte Hessen (Hrsg.): Materialsammlung zur Tagung Soziale Stadterneuerung, o.O. 1999. 13 Vgl. Fußnote 6. 14 Hartmut Gustmann: Der Bürgerhaushalt: Beispiel Porto Alegre (Brasilien), in KGST-Info 44/1999/17/138-141. 15 Vgl. Wolfgang Hinte, Fußnote 4.

01 Impulsreferat für die gleichnamige Arbeitsgruppe der Fachtagung "Wen grenzt Gesellschaft aus? Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?" des Forum Weingarten 2000 e.V. am 16./17.10. 1999 in der Ev. Fachhochschule für Sozialwesen Freiburg.

24

16 Einen anderen Vorschlag, Qualitätsmerkmale für sozial-kulturelle Arbeit/GWA zu formulieren, legt der Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. vor: Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.: (Hrsg.): Handbuch sozial-kulturelle Arbeit. Köln/Berlin 1998.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Nachbarschaftszentren – Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklung und Innovation Ein Beispiel - Die Schreibaby-Ambulanz im Nachbarschafts- und Selbsthilfezentrum der ufa-Fabrik Berlin

Die Arbeit der Schreibaby-Ambulanz ist eingebunden in das Familiennetzwerk des Nachbarschaftszentrums. So können die Eltern mit ihren Kindern neben der konkreten Hilfe auch die vielfältigen anderen Angebote der Einrichtung für sich nutzen. Lange Zeit war die Schreibaby-Ambulanz ein einzigartiges Modell. Mittlerweile haben weitere Berliner Nachbarschaftseinrichtungen (Fabrik Osloer Straße im Wedding, Nachbarschaftsheim Weißensee und das Nachbarschaftsheim Mittelhof in Zehlendorf) die Arbeit übernommen und ebenfalls Schreibaby-Ambulanzen eingerichtet.

von Renate Wilkening

Eine Anlaufstelle für Eltern war das NUSZ schon seit seiner Gründung 1987. Mit dem Treffpunkt für Schwangere, Väter, Mütter und Babys wurde eine in Berlin damals einzigartige Möglichkeit für Eltern geschaffen, sich mit anderen gemeinsam auf die neue Rolle vorzubereiten und darüber hinaus kompetente fachliche Unterstützung zu erhalten. Vielfältige Angebote wie Geburtsvorbereitungskurse, offene Schwangerengruppen, Müttergruppen, Säuglingspflegekurse, Informationsveranstaltungen, Schwangerschafts- und Rückbildungsgymnastik, Selbsthilfegruppen, Hebammensprechstunden boten Familien von Anfang an die Möglichkeit, Information, Beratung, Gedankenaustausch, Anregung, praktische Unterstützung und konkrete Hilfe zu erhalten. Bei allen Projekten, die wir ins Leben rufen, ist unser Leitgedanke die Idee der Selbsthilfe. Im Vordergrund steht das Bedürfnis der Menschen. Ein Beispiel dafür ist die Gründung des Familienpflegedienstes:

und verzweifelt und empfinden teilweise auch Wut gegenüber ihrem Kind. Sie leiden zunehmend unter Schlafmangel und sind physisch und psychisch erschöpft. In dieser Situation setzt die Hilfe der Schreibaby-Ambulanz ein. Anhand sanfter körpertherapeutischer Verfahren, die sich sowohl an die Kinder als auch an die Eltern richten, wird die ursprüngliche Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen aktiviert. Methoden sind Entspannungsübungen, sanfte Körperberührungen, Massagen und Gespräche. Gespräche und Körperwahrnehmungen helfen den Eltern sich der Anspannung bewusst zu werden, um sie dann Stück für Stück aufzulösen.

Die Idee entstand in einer Gruppe allein erziehender Mütter, die häufig mit der Fragestellung konfrontiert waren: Was tue ich, wenn ich krank im Bett liege und mein Kind nicht mehr selbst versorgen kann? Wer füttert mein Baby, wer wickelt es, wer kümmert sich um meinen Haushalt, wenn Omas, Onkel und Tanten oder Freunde nicht vorhanden sind? Und auf der anderen Seite gab es Frauen im Nachbarschaftszentrum, die gerne Familienpflegedienste organisierten, sowohl in Form nachbarschaftlicher Unterstützung als auch von Betreuung durch professionelle Familienpflegerinnen.

Die Arbeit der Schreibaby-Ambulanz genießt hohes Ansehen nicht nur bei den betroffenen Eltern, sondern auch in Politik und Verwaltung. So hat die Bezirksverordnetenversammlung Tempelhof einstimmig dafür votiert, den Berliner Senat und das Abgeordnetenhaus aufzufordern, die finanziellen Mittel für die Arbeit weiter zur Verfügung zu stellen. Die Schreibaby-Ambulanz wird seit 1993 vom Berliner Senat gefördert, diese Förderung sollte im März diesen Jahres eingestellt werden. Die enorme Protestwelle betroffener Eltern, der Bezirks-Politiker und Politiker aus Senat und Abgeordnetenhaus quer durch alle Parteien hat dies verhindert.

Jüngstes Beispiel ist die Schreibaby-Ambulanz. Seit 1993 finden hier Eltern und Babys Hilfe und Unterstützung in außerordentlichen Krisensituationen. Diese Krisensituationen entstehen, wenn Babys Tag und Nacht schreien, durch nichts zu beruhigen sind, Schlafstörungen haben und extrem unruhig sind. Eltern, die intensiv versuchen, ihre Kinder zu beruhigen, und feststellen, dass dies nicht gelingt, fühlen sich oft hilflos

Wir hoffen, dass das Beispiel der Berliner Schreibaby-Ambulanz Schule macht und andere Nachbarschaftseinrichtungen, falls sie dies für nötig halten, ähnliche Anlaufstellen für Eltern schaffen.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

25

Informationen: NUSZ ufa-Fabrik Tel 030/75503122 Ansprechpartnerin: Paula Diederichs


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

1.Platz

von Hella Pergande

SCHÖN BUNT – Eine Fassadenaktion des Rabenhaus e.V. Bei uns im Rabenhaus geht es sehr oft sehr fröhlich zu. Die Leute verstehen sich gut und es passiert dann und wann, dass man gemeinsam "rumspinnt". Und das nicht etwa mit Spinnrad und Wolle – wozu wir auch durchaus in der Lage sind –, sondern mit Worten, Gesten, Übertreibungen. (Mitunter fallen mir so Sprüche aus der Kinderzeit ein, die man gratis und wohlwollend mit auf den Weg bekommen hat, z. B.: "Übermut tut selten gut") Nun ja, was soll’s? Gerade eben ein solches Projekt aus "Spinnerei" und "ÜberMut" steht uns ins Haus und mir ist so ziemlich mulmig, wenn ich daran denke. Die anderen lachen dann über mich und sie sagen (wie so oft): "Ach, das kriegen wir schon hin!" Und ich lache auch und denke: "Was bleibt uns anderes übrig?"

Tatsächlich aber ist es eine sehr schöne Sache. Eines Tages im letzten Jahr telefonierte ich mit unserer Hauseigentümerin, um sie zu überzeugen, dass sie uns doch gut unterstützen könne, wenn sie uns weitere Räume zu einem niedrigen Mietzins vermieten würde.

So verhandelten wir und oft dachte sie sicher, ich scherze; mittendrin meinte sie: "Mal was ganz anderes. Könnte man nicht auch die Fassade des Hauses schön gestalten, was denken Sie, Frau Pergande?" Ich dachte darüber nach und fragte die Anderen. Tja, das war sozusagen der Anstoß. Und die Idee kam uns immer großartiger vor, je öfter wir darüber nachdachten. Und da wir auch unsere Räume (entsprechend unseren Vorstellungen) beziehen konnten, kam ein "Warum nicht?" hinzu und das Vorhaben wurde zur "Fassadenaktion" erklärt. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben. 48 Entwürfe gingen ein. Beteiligt hatten sich Nutzer des Rabenhauses, Architekten, Gebrauchsgrafiker, haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter, Kinder des Schülerclubs. Im Sommer tagte dann eine Jury. Da wir das Kulturamt als einen der Sponsoren gewinnen konnten, war ein Mitarbeiter des Bezirksamtes dabei, des Weiteren ein Vorstandsmitglied des Rabenhaus e.V., die Hauseigentümerin und ein Köpenicker Künstler. Drei Stunden lang wählten sie sorgfältig Entwürfe aus, gingen immer wie-

26

der vor die Tür, diskutierten darüber, dachten nach, hängten die Fassadenbilder an der Magnettafel in Rangfolgen um, sortierten aus. Schließlich und endlich waren noch fün Entwürfe übrig und mein Grinsen wurde im mer breiter. Wusste doch die Jury nicht, was ich wusste: von wem die Skizzen stammten. Und nochmals wurden zwei Entwürfe aussortiert, der 1., 2. und 3. Platz endgültig festgelegt. Alle drei Gewinnerinnen sind zehn Jahre alt und besuchen den Schülerclub-Kurs "Kreatives Gestalten". Die Kurslei terin erzählte, dass sie "neulich noch ‘ne Viertelstunde Zeit dafür gehabt hätten". (Kinder!) Die Überraschung der Jurymitglieder war ebenso groß wie unsere Freude über ihre Auswahl. Ich meine, jeder von uns hatte andere "Favoriten", aber der 1. Platz ge fiel uns allen gut. Die Kinder feierten ihren Sieg bei einem gemeinsamen Eisessen. Wir mussten uns je doch an den Gedanken gewöhnen, die Idee umzusetzen. Die Hauseigentümerin besorgt das Gerüst. Vom Kulturamt haben wir 850,00 DM bewilligt bekommen und mit der Schöneweider Farbfirma "Caparol" einen netten Nachbarn kennen gelernt: Sie spendiert un die Farbe. Am 14. September geht es los. Wir haben so was noch nie gemacht. Zum Glück wollen uns einige Leute helfen, aber ich sehe es schon kommen: Die arbeiten alle mit mir an der untersten Etage. Na, ich bin vielleicht gespannt. Wir haben auch gelbe Sturzhelme geschenkt bekommen und so sind wir in den nächsten Wochen besonders gut zu erkennen. Vielleicht finden die eine oder andere Beratung und Gespräche an der frischen Luft in schwindelnder Höhe statt. Gleich nach dieser Aktion beginnt eine nächste, wir lassen uns einen behindertengerechten Zugang von der Straße her bauen und eine "Toilette ohne Barrieren". Hierfür erhalten wir voraussichtlich Geld von der Senatsverwaltung. Neulich hörte ich, wie sich zwei Leute beim Vorübergehen unterhielten: "Ej, haste dit inner Zeitung jelesen, dit Haus machense schön bunt. – Ja, dit sieht man denn schon von weitem, find ick jut." Und ich dachte: "Ja, icke ooch, wenn’s mal bloß schon fertig wäre!" Berlin, Köpenick, 11. September 2000

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Aktivität Wachstum Chancen Für mich selbst und Andere ... Älter werden mit Gewinn von Dipl. Sozialarbeiter Heinz Schwirten

Eine sozialgeragogische Weiterbildung für ehren- und hauptamtliche MitarbeiterInnen im Bereich Offene Altenarbeit im Seniorentreffpunkt Doris-Roper-Haus des Quäker Nachbarschaftsheims in Verbindung mit dem Lehrstuhl für Soziale Gerontologie der Universität Dortmund.

Das Quäker Nachbarschaftsheim hat in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Soziale Gerontologie der Universität Dortmund eine zweijährige sozialgeragogische Weiterbildung im Bereich Offene Altenarbeit entwickelt. Das Angebot richtet sich sowohl an Frauen und Männer ab dem 55. Lebensjahr, die bereits ehrenamtlich arbeiten oder die Interesse an ehrenamtlicher Altenarbeit haben, als auch an Berufstätige aus dem Arbeitsfeld Offene Altenarbeit. Die erstgenannte Gruppe erhält während des ersten Fortbildungsjahres zunächst das Basiswissen für die Vorbereitung auf das Alter und dessen aktiver Gestaltung. Ein zweites Ziel unseres Projektes ist es, aus dem TeilnehmerInnenkreis Freiwillige für ehrenamtliche Tätigkeiten in der Offenen Altenarbeit zu ge-

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

27

winnen. Zur Offenen Altenarbeit zählen für uns auch generationenübergreifende Aktivitäten, wie z.B. Mitwirkung im Kindergarten oder Unterstützung von Mehr-GenerationenWohnprojekten oder praktische Hilfen für Familien und Alleinerziehende mit kleinen Kindern. Unsere bisherigen Erfahrungen aus der Bildungsarbeit mit Älteren sind Erfolg versprechend; dadurch, dass wir den persönlichen Fragen im Zusammenhang mit der Gestaltung des nachberuflichen Lebens über einen längeren Zeitraum genügend Raum geben, fühlen sich die TeilnehmerInnen wirklich ernst genommen in ihrer Lebenssituation. Über die persönliche Stärkung bewirken wir eine Bereitschaft für die Übernahme ehrenamtlicher, dem Gemeinwesen nützender Aufgaben.


Was die Gruppe der HauptamtlerInnen betrifft, sehen wir gleichfalls großen Handlungsbedarf. Diese sind in der Regel nicht entsprechend ausgebildet, um den komplexen Anforderungen einer zeitgemäßen Offenen Altenarbeit, zu der ja auch unbedingt Bildungsarbeit gehört, nachzukommen. Für diesen Personenkreis ist vor allem das zweite Fortbildungsjahr konzipiert; wissenschaftliche ReferentInnen im Auftrag der Universität Dortmund werden zu uns in den Treffpunkt kommen und zu wichtigen Themen, die die Bildungsarbeit mit Älteren betreffen, Stellung nehmen. Hier haben HauptamtlerInnen Gelegenheit, sich ortsnah und auf hohem Niveau weiterzubilden. Für HauptamtlerInnen, die in der Arbeit mit älteren Menschen (noch) nicht von eigener Erfahrung ausgehen können, sondern zunächst "theoretisch" ihr Wissen über das Älterwerden weitergeben, kann die Begegnung mit ehrenamtlichen Mitarbeitern eine Bereicherung bedeuten, den Generationenaustausch fördern und sich fruchtbar auf die zukünftige Bildungsarbeit auswirken.

Präventive Gerontologie Wir möchten mit unserem geplanten Projekt einen gezielten Weg der präventiven Gerontologie gehen. Dieser Weg nimmt Abschied vom leider immer noch verbreiteten Defizitmodell des Alters, das die Wissenschaft seit Jahrzehnten widerlegt hat. Alter muss eben nicht Abbau in allen Bereichen bedeuten und zwangsläufig in Abhängigkeit und Pflege enden. Frauen und Männer haben heute nach dem Ausscheiden aus dem Beruf oder nach Beendigung der Familienarbeit eine bisher in der Geschichte noch nie erlebte, lange Lebenszeit vor sich, die durch neues Lernen, persönliche Entwicklung und Entfaltung sowie durch neuen Lebenssinn und die Bereitschaft zur Übernahme öffentlicher Aufgaben geprägt sein kann, wenn es entsprechende Anregungen und Ermutigung, zum Beispiel durch Vorbilder, gibt. Viele Beispiele bewusst lebender, älterer Menschen beweisen, dass ein solches sinnvolles, selbstständiges Leben bis ins hohe Alter möglich ist.

Qualifizierung ehrenamtlicher Kräfte ist das Gebot der Stunde Um das neue Altersbild stärker in die Angebote der Offenen Altenarbeit einzubringen, brauchen wir viele entsprechend qualifizierte ehren- und hauptamtliche MitarbeiterInnen. Da die öffentliche Finanzlage aber in absehbarer

Zeit kaum neue Arbeitsplätze in diesem Bereich erwarten lässt, ist die Qualifizierung ehrenamtlicher Kräfte das Gebot der Stunde. Langfristig bedeuten solche Qualifizierungsmaßnahmen eine erhebliche Entlastung für die Altenhilfe bei Kosten und Pflege, denn informierte, "gebildete" Menschen handeln in Stress- und Konfliktsituationen rationaler, trauen sich mehr zu und fallen nicht so schnell in Depression und mögliche Abhängigkeiten von Anderen. So, wie es selbstverständlich ist, dass junge Menschen sich durch Lernen und Weiterbildung darauf vorbereiten, ihr Berufsund Erwachsenenleben selbstständig zu leben, so selbstverständlich muss es werden, im und für das Alter zu lernen, um es als ebenso wichtige Lebensphase selbstständig zu gestalten und nicht als "Pflegefall" zu erleiden. Das ist für uns der Weg in die Zukunft. Nicht Altenlast, sondern Hilfe zum Entfalten von Alterskräften Die Qualifikation ehren- und hauptamtlicher Kräfte für moderne zukunftsgerichtete Altenarbeit ist ebenso wichtig wie die Altenhilfe selbst. Für ältere Menschen ist es belastend, von Politikern und Medien die "Altenlast" beklagt zu hören, aber keine Alternativen aufgezeigt zu bekommen, die den Veränderungen im Prozess des Älterwerdens und der Lebensbedingungen älterer Menschen gerecht werden. Mit unserem sozialgeragogischen Projekt möchten wir darauf hinwirken, dass in der Stadt Köln älteren Mitbürgern durch die Offene Altenarbeit neue Bildungswege gezeigt werden, die es ihnen ermöglichen, den gesellschaftlichen Wandlungsprozess besser zu verstehen, neues, lebenslanges Lernen zu akzeptieren und ihr Leben selbstständig und unabhängig zu gestalten. Ausreichend qualifizierte Mitarbeiter können in der Offenen Altenarbeit Orte schaffen, in denen ältere Menschen statt vorgefertigte Unterhaltung zu konsumieren ihre eigenen Kräfte entdecken und entfalten. Die Inhalte der Fortbildung im Einzelnen Um auf die Arbeit mit anderen älteren Menschen vorbereitet zu sein und um sie als entwicklungsfähige Personen ernst zu nehmen, ist es notwendig, dass die ehrenamtlichen MitarbeiterInnen sich zunächst mit ihren eigenen Einstellungen zu Aspekten des Älterwerdens auseinander setzen. Darauf sind die 20 Seminarveranstaltungen des ersten Jahres der Weiterbildung zugeschnitten, die nur für Ehrenamtliche vorgesehen sind:

28

• Medizinische Aspekte des Alterns I + I • Psychologische Aspekte des Alterns I + I • Soziologische Aspekte des Alterns I + I • Älter werden als Frau bzw. als Mann I und II • Sinnfindung beim Älterwerden I und II • Kompetenz im Alter I und II • Älter werden und Lernen I und II • Älter werden und Freizeit gestalten I und II • Miteinander leben – soziale Netze im Alter I und II • Grenzen überschreiten – Abschied und Tod I und II Das zweite Fortbildungsjahr, das für Ehren- und Hauptamtliche konzipiert ist, sieht folgende Themen vor, die durch wissenschaftliche Referenten im Auftrag der Universität Dortmund angeboten werden: • • • • •

Grundfragen der Sozialen Gerontologie Reflexive Gerontologie Gerontosoziologie Gerontopsychologie Sozialgerontologische Aspekte der Geriatrie und Gerontopsychiatrie • Sozialpolitik • Tertiäre Sozialisation • Neues Lernen im Alter Darüber hinaus werden im zweiten Jahr für die ehrenamtlichen Kräfte Zusatzveranstaltungen angeboten, um ihnen das Finden und Gestalten neuer Aufgaben zu erleichtern: • Ehrenamtliche Soziale Arbeit • Zielgruppen der ehrenamtlichen Tätigkeit • Tätigkeitsbereiche in der Altenarbeit • Gesprächsführung und Kommunikation • Gruppenarbeit – Gruppenprozesse • Einsatz von Medien • Kursmodell und Verlaufsprofile Wir gehen von einem zukünftig großen Bedarf an entsprechend ausgebildeten ehrenamtlichen Mitarbeitern in der Offenen Altenarbeit aus, der sich zwangsläufig aus dem demographischen Strukturwandel und den Veränderungen im Prozess des Älterwerdens und der Lebensbedingungen älterer Menschen ergibt. In der Stadt Köln gibt es zur Zeit kein vergleichbares Angebot, denn bisher sind alle Kräfte gebündelt auf den Bereich Altenhilfe ausgerichtet.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Familienzeit bei "ANLAUF" Kein Geheimtipp für Insider

von Waltraud Stein

Das "ANLAUF"– Jugendhilfezentrum Marzahn Nord wurde im nördlichsten Sozialraum von Marzahn von Kiek in e.V. Berlin – Verein für Sozialberatung, Jugend- und Familienbetreuung/Nachbarschaftstreff seit 1994 in einer sinnvollen Verbindung von Hilfen zur Erziehung und offener familienorientierter Angebote für Kinder, Jugendliche und deren Eltern entwickelt. Darin eingebettet hat sich 1998 das Projekt "Familienzeit" herausgebildet und bis heute vielfältige Formen angenommen.

15.00 Uhr der "Familienspaß am Wochenende". Eltern mit ihren Kindern treffen sich bei gemütlicher Kaffeetafel zu Spiel und Spaß in den Räumen des "ANLAUF" - Jugendhilfezentrums. In der warmen Jahreszeit steht Eltern und Kindern auch der Garten für sportliche Aktivitäten offen. Bei ungünstigem Wetter findet unsere Spielothek regen Zuspruch. Wer kann da schon widerstehen, wenn fast 300 Spiele zur Auswahl stehen und Familien sich heiße Kämpfe bei "Phase 10", "UNO", "Mensch ärgere dich nicht!" und anderen Spielen liefern.

Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? In der Zusammenarbeit und in Gesprächen mit Kindern, Jugendlichen und deren Eltern wurde uns klar, dass in vielen Familien das Problem besteht, genug Zeit für Aktivitäten mit der ganzen Familie freizuschaufeln. Häufig sind gute Ideen vorhanden, wenn es jedoch um die Verwirklichung geht, sind so viele Einzelheiten zu organisieren, dass letzten Endes die Zeit zu knapp wird – und es dann bei der Idee bleibt. Hier setzte die Überlegung ein: Wie könnten wir durch unsere Angebote Familien so entlasten, dass Eltern und Kinder gemeinsam mehr Zeit - Familienzeit - für sich bekommen?

Jeden Dienstag von 10.00 – 12.00 Uhr treffen sich (bisher nur) Muttis mit ihren Kindern zu "Eltern im Gespräch". Sie können sich hier einmal ungestört über ihre Probleme austauschen und bei Fachleuten auch Rat in Erziehungsfragen holen, während ihre Kinder in dieser Zeit von Kräften der Einrichtung betreut werden.

Auf Grundlage dieser Überlegung entstanden die verschiedensten Angebote: So beginnt jeden Samstagnachmittag um

Monatlich findet regelmäßig an einem Sonnabend der beliebte "ANLAUF"-Trödelmarkt statt, offen für alle, die Kindersachen und auch andere praktische Dinge kaufen bzw. verkaufen wollen. Damit kommen wir dem Wunsch vieler junger Eltern entgegen, die gut erhaltene Kindersachen und Spielzeug nicht wegwerfen wollen, wenn ihre Kinder diese Dinge nicht mehr benötigen.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

29

Als besonderen Service stellt Kiek in e.V. Berlin im "ANLAUF"-Jugendhilfezentrum auch Räume für Familienfeiern zur Verfügung und stattet Kindergeburtstage oder auch Klassenfeiern komplett aus. Eine selbst gebaute Disco-Anlage leistet dabei gute Dienste. Erstmalig fand in diesem Jahr am 9. September für Lernanfänger des umliegenden Wohngebietes das "Schultütenfest" statt. Zu den entsprechenden Grundschulen des Stadtteils bestehen enge Arbeitsbeziehungen. Besonders herzlich wurden drei Spätaussiedlerfamilien begrüßt, deren Kinder nun auch diesen neuen Lebensabschnitt beginnen. Die frischgebackenen Erstklässler standen natürlich im Mittelpunkt des Festes. Ein kleines Programm der "ANLAUF-Kinder", also der regelmäßigen Besucher des Zentrums, für die ABC-Schützen fand großen Anklang bei Kinder und Eltern. Kaffee und Kuchen, Getränke, Süßigkeiten und Geschenke ließen diesen Tag für die Kinder zu einem Höhepunkt werden. Aber auch die Hopseburg wurde begeistert genutzt. Als besondere Überraschung wurde jedes Kind mit seiner Schultüte fotografiert und das Bild - sofort mit dem Computer bearbeitet und ausgedruckt - erinnert sicher auch noch Jahre später an diesen wichtigen Tag. Das ist aber noch nicht alles. Zu den Inhalten des Projektes "Familienzeit" gehören auch eine "Hobbythek" und der Geschenkebasar, wo Eltern mit ihren Kindern basteln und gestalten können. Gelegentlich werden gemeinsam Exkursionen und Wanderungen organisiert. "ANLAUF" – Jugendhilfezentrum Marzahn Nord Rosenbecker Straße 27 12689 Berlin-Marzahn Telefon: 030/93 66 52 70 Fax: 030/93 66 52 74 Träger: Kiek in e.V. Berlin – Verein für Sozialberatung, Jugend- und Familienbetreuung/Nachbarschaftstreff Märkische Allee 414 12689 Berlin-Marzahn Telefon / Fax: 030/933 94 86 Noch Fragen? Anruf genügt: 030 – 93 66 52 70 oder Sie kommen einfach einmal vorbei. Ansprechpartnerin: Waltraud Stein


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Kinderund Jugendhilfe Sprachförderung in der Kindertagesstätte

von Babette Kalthoff

Sprachförderung wird zur Notwendigkeit Die Kindertagesstätte Riemenschneiderweg in der Trägerschaft des Nachbarschaftsheims Schöneberg e.V. bietet Kinderbetreuung in den Bereichen Krippe, Kindergarten und Hort an. Von den 128 Kindern, die die Einrichtung besuchen, kommen 43 Prozent aus Familien nichtdeutscher Herkunft, zumeist aus türkischen Familien. Diese Zusammensetzung ist ein Spiegel für das gesamte Umfeld der Einrichtung. Daraus ergibt sich die zwangsläufige Notwendigkeit zu speziellen Angeboten der Sprachförderung.

Aus finanziellen Gründen ist dieser Deutschkurs leider immer gefährdet. Das bedroht auch ein wichtiges Standbein interkulturellen Zusammenlebens in diesem Stadtteil und in der Kindertagesstätte.

Elternarbeit im interkulturellen Umfeld Grundsätzlich werden die Eltern der Kinder immer wieder in die Gestaltung der Arbeit einbezogen. Das ist die Basis für ein geeignetes Umfeld des Deutschkurses und bietet Möglichkeiten zu einer Kommunikation, die nicht "künstlich" ist. Alle Aushänge an den Informationstafeln sind zweisprachig verfasst. Dies bezieht die türkischen Eltern besser mit ein und erhöht ihre Aufmerksamkeit. Konkret werden u.a. folgende Aktivitäten angeboten: • Internationales Frühstück: Die Dozentin des Deutschkurses bereitet das "Internationale Frühstück" für Eltern in der Kindertagesstätte schon im Unterricht sprachlich vor und bespricht es in der Klasse. Die praktische Vorbereitung liegt dann in der Hand der Teilnehmerinnen. • Gemeinsames Basteln: Regelmäßig wird gemeinsam gebastelt, z.B. zur Vorbereitung des jährlichen Sommerfestes oder des Weihnachtsbasars im Kleingartengelände. • Teilnahme an Arbeitsgruppen: Arbeitsgruppen planen und gestalten gemeinsam das Sommerfest und das türkische Seker bayram. Dieses Bayram-Fest findet für alle Eltern und Kinder im Haus statt und ist zu einem festen Bestandteil in der Jahresplanung geworden.

Deutschkurs für Eltern Die Kindertagesstätte versteht sich als Begegnungsstätte für Kinder und Eltern. Elternarbeit ist somit ein wichtiger Bestandteil in der pädagogischen Arbeit. Die geringen Deutschkenntnisse vieler Mütter erschweren jedoch die Kommunikation. Aus diesem Grunde haben sich die MitarbeiterInnen für einen Deutschkurs mit Kinderbetreuung im eigenen Haus eingesetzt. In Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Schöneberg konnte im März 1999 ein Deutschkurs für ausländische Mütter eingerichtet werden, der seither dreimal wöchentlich stattfindet. Die Kinderbetreuung hat eine türkische Mutter aus der Kindertagesstätte übernommen.

• Elterntreff: Der Besuch des Elterntreffs ermöglicht ein zwangloses und unverbindliches Zusammensitzen und Miteinander-Sprechen. Treffpunkt ist der umgebaute ehemalige Kinderwagenraum im Haus, der auch über eine Kinderspielecke, eine Kaffeemaschine und einen Samowar verfügt.

Kulturelle Veranstaltungen Einmal im Jahr finden "Literaturwochen" statt. Dazu wird der Mehrzweckraum in eine "Bücherei" mit gemütlichen Leseecken umgestaltet. Mehrmals täglich werden den Kindern von Eltern und ErzieherInnen aus Büchern vo gelesen oder Geschichten und Märchen erzählt. Fester Bestandteil der Literaturwochen sind deutsch-türkische Kinderbücher. Ein weiteres Angebot besteht in einer Theateraufführung für die Eltern der Kinder tagesstätte. In diesem Bereich wird mit dem "Theater der Erfahrungen", einer weiteren Projektgruppe des Nachbarschaftsheims, zusammengearbeitet. In der Vergangenhei traten zum Beispiel die "Spätzünder" mit ihrem Stück "Die blauen Büffel" vor den Eltern verschiedener Nationalitäten auf. Alle hatten dabei viel Spaß. Weitere Aufführungen sind geplant.

Einbindung Ehrenamtlicher Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen machen zusätzliche Angebote für die Kinder. Für die Hortkinder wurde eine Schularbeitshilfe eingerichtet. Sie ermöglicht durch Einzelzuwendung eine intensivere Sprachförderung als dies in der Gruppe realisierbar ist. Eine "Märchenfrau" liest und erzählt für die Kindergarten- und Vorschulkinder Märchen un setzt sie mit ihnen in Bewegung um (Theatersport).

Ausblick Das Angebot für die Frauen des Deutschkurses könnte künftig gemeinsam mit der Dozentin des VHS-Kurses um weitere kleine Projekte erweitert werden. Limitierender Faktor ist hier jedoch der minimale zeitliche und finanzielle Spielraum. • Kontakt: Babette Kalthoff Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. Kindertagesstätte Riemenschneiderweg Riemenschneider Weg 13 12157 Berlin Tel.: 030/79 40 49 94 Fax: 030/859 33 67 E-Mail: KitaR@nachbarschaftsheimschoeneberg.de

• Gartenarbeitstage: Sie bieten Eltern, ErziehernInnen und Kindern die Möglichkeit, sich beim Bewältigen einer gemeinsamen Aufgabe näher zu kommen.

30

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

DAS ALTENTHEATER: THEATER der Erfahrungen wird Twen! Zum internationalen Altentheaterfestival "Graue Stars über Berlin" vom 5. bis 8.10.2000 in Berlin

von Eva Bittner und Johanna Kaiser

Es gibt in Berlin ungefähr 40 Personen, vor allem Frauen, die zwischen 60 und 85 Jahren alt sind und zum "Theater der Erfahrungen" gehören. Das A und O dabei ist: Sie entwickeln ihre Stücke selbst. Je nach persönlicher Vorliebe gehören sie zu Theatergruppen mit klingenden Namen wie Spätzünder, Graue Zellen, Ostschwung oder Küchenschaben. Und alle Theatergruppen gehören wiederum zum Theater der Erfahrungen und jenes zum Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V. In Kolumbien gibt es eine solche Altentheatergruppe mit dem Namen Flores de Otono - Herbstblumen, in Taiwan nennt sich eine Gruppe Uhan Shii Glück und Freude - und in Simbabwe Stella Chiweshe & Bhata Kumbo. Und auch sie bringen in den vielfältigsten Ausdrucksformen ihre langen Lebensgeschichten und ihre Zeitzeugenschaft auf die Bühne. Auf der ganzen Welt treten die Graue Stars auf und vom 5. bis 8. Oktober 2000 gab es die Möglichkeit, viele von ihnen bei dem Internationalen Altentheaterfestival "Graue Stars über Berlin" kennen zu lernen. Das Theater der Erfahrungen veranstaltete dieses internationale Theaterfestival zu seinem 20-jährigen Jubiläum. Das mehr als nur volljährige Altentheaterprojekt hat seinen Werdegang mit vielen Experimenten, Seitensprüngen und Ausflügen in verschiedenste Richtungen gemeistert. Nach jeder

der insgesamt dreißig entstandenen Produktionen wurde nach einem neuen Weg gesucht - sei es in der Konstellation der Spieler, den theaterästhetischen Mitteln oder der Thematik. Das Theaterspiel hatte immer viel mit Austausch und Reflexion über das bislang Erarbeitete zu tun. Das Festival war analog zu diesem offenen Arbeitsansatz konzipiert. Nicht allein wunderbare Theatervorstellungen waren zu sehen, sondern es ging auch um theaterpraktische Versuchsfelder in Workshops und es fanden interessante Diskussionsrunden über Seniorenarbeit und Altenkultur statt. Es gibt auf der ganzen Welt hervorragende und enorm interessante Altentheatergruppen. Insofern war es sehr schwierig, eine Auswahl für die Gastspiele zu treffen. Es wurden Theatergruppen ausgesucht, die mit dem Ansatz vom Theater der Erfahrungen am stärksten korrespondieren. Das heißt, im Vordergrund stehen Theatergruppen, die gesellschaftskritische Themen zum Mittelpunkt ihrer Arbeit machen oder die die Geschichte ihres Landes anhand der Biographien ihrer Protagonisten auf die Bühne bringen. Es wurden keine Gruppen ausgesucht, die unsortiert das goldene Kalb der Erfahrung älterer Menschen anbeten, sondern gezielt gesellschaftlich brisante Fragestellungen und Probleme in Angriff nehmen - und dazu nach Erinnerungen der Alten forschen.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

31

Highlights des Festivals waren die Gastspiele aus Taiwan und Kolumbien. Die Uhan Shii Theatergruppe aus Taiwan präsentierte ihre neueste Produktion "We are here". Das Stück erzählt die Geschichte der Hakanese, einer in Asien diskriminierten Minderheit, und sucht nach deren Wurzeln. Die Leiterin der Gruppe, Ya-Ling Peng, konzentriert sich vor allem darauf, die oft verschwiegene Geschichte Taiwans anhand von Erinnerungen alter Menschen zum Vorschein zu bringen. Das Ensemble, das ca. 30 Personen umfasst, besteht aus drei Generationen. Bei den Kolumbianerinnen gab es viel Tanz und Musik. Alte Frauen lehnen sich gegen eine drakonische Altenpflegerin auf, ihre Empörung entlädt sich in einem großen Tanz. "Danza Mayor" ist eine Rebellion, eine Befreiung, aber auch ein Traum. Die Flores de Otono – Herbstblumen – Gruppe gehört zur Kolumbianischen Theatergilde, die insgesamt 15 Tanz-, Theater- und Musikgruppen beherbergt. Sie wird von einer der bekanntesten Theaterfrauen Kolumbiens geleitet, Patricia Ariza. Zunächst als Forum für alternatives Kunstschaffen gegründet, hat sich die Theatergilde durch ihre Arbeit mit Randgruppen und Minderheiten und somit der vorbildlichen Verbindung von sozialen und kulturellen Aspekten einen Namen in Kolumbien gemacht. Gerade angesichts der demographischen Entwicklung hierzulande ist die Frage, was alte Menschen unserer Gesellschaft geben können, von hoher Bedeutung. Die traditionelle Seniorenarbeit sendet derzeit wenige Impulse für die angesprochenen älteren Menschen aus. Stattdessen könnten ihre kreativen Potenziale unter geeigneten Rahmenbedingungen politisch und gesellschaftlich höchst wirksam zum Tragen kommen. Fachleute aus verschiedenen Gebieten könnten in Werkstätten ihre Arbeitsschwerpunkte zusammentragen, um dann gemeinsam über tragfähige Modelle für die zukünftige Seniorenarbeit nachzudenken. Das Theater der Erfahrungen möchte auch weitere 20 Jahre Altentheater machen, und zwar ein Altentheater, das sich mehr denn je über Grenzen hinwegsetzt und sich in gesellschaftspoltischen Fragen engagiert. Es wäre wunderbar, eine Altentheaterära einläuten zu können, die von Begegnungen lebt - der internationalen Begegnung und der Begegnung zwischen den Generationen.


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Das erste Stadtteilzentrum in Berlin-Hellersdorf bilden! Aber wie? von Dr. Horst Noack

Die Berliner Senatsverwaltungen und das Hellersdorfer Bezirksamt wurden sich mit unserem Landesverband einig, den Klub 74 Nachbarschaftszentrum Hellersdorf e.V. damit zu betrauen, in unserem Berliner Stadtbezirk das erste Stadtteilzentrum für sozial-kulturelle Nachbarschaftsarbeit aufzubauen. Ein Vorhaben, das von Bedeutung ist für die weitere Entwicklung der bürgernahen Arbeit zweier unmittelbar aneinandergrenzenden Stadtteile des Bezirkes. Da dabei gleichzeitig auch in gemeinschaftlichem Wirken mit der bezirklichen Selbsthilfe/ Kontaktstelle die Betreuung und Entwicklung der Selbsthilfegruppen unter der Beachtung des Prinzips der Hilfe zur Selbsthilfe gesichert wird, ist damit zugleich ein weiterer Schritt zur Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements möglich. Für eine solche gewiss nicht einfache Aufgabenstellung gibt es aber noch einen anderen zu beachtenden Hintergrund: Die finanzielle Lage der Kommunen wird auch in unserer Hauptstadt Berlin immer enger, so dass die Gelder für die soziale und kulturelle Arbeit knapper werden, sowohl bei der Kommune als auch bei den freien Trägern. Nun entsteht bei den Stadtvätern und Stadtmüttern sehr rasch der Gedanke, dass man doch den größeren Teil der nicht mehr finanzierbaren Aufgaben in der sozial-kulturellen Betreuung der BürgerInnen an ge-

32

standene Freie Träger delegieren könnte. Zugleich wird dann logischerweise betont: "Geld für die Realisierung der neuen Aufga benstellung ist aber nicht zu erwarten. Nehmt das, was Ihr bisher hattet oder wahr scheinlich noch haben werdet und leistet damit mindestens das Doppelte." Leichter gesagt als getan, sowohl für unseren Bürgermeister und das Bezirksamt als auch für uns. Also entsprechende Wege suchen! Ein gangbarer und Erfolg versprechender Weg ist die Bündelung der Kräfte, die in nicht gerade wenigen Vereinen, Projekten, Gruppen, Organisationen und Einrichtungen in unserem Kiez auf einschlägigem Gebiet arbeiten. Dabei galt und gilt es, all diesen Kräften einen Projektverbund anzubieten, der auf alle Fälle bei weiter bestehender rechtlicher und materiell-finanzieller Selbstständigkeit eine breitere und reichere Palette von Ange boten sichert, die den Interessen und Bedürfnissen der BewohnerInnen entgegenkommt und neue Initiativen wecken soll. Dieser Projekteverbund kann die Tätigkeit einer größeren Zahl von EhrenamtlerInnen für breitere Kreise zu betreuender EinwohnerInnen nutzbar machen, und so auch mehr Freude am ehrenamtlichen Mittun bringen und den immer wieder anzutreffenden Sorgen um die notwendigen Räumlichkeiten entgegenwirken, weil ein gebündeltes und koordiniertes Raumangebot, etwa in der Art einer "Raumbörse" in Vereinen mit

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


einer breiteren Angebotsplanung, für alle eine bessere Veranstaltungsspezialisierung bietet. Das führt aber auch zugleich zu einer Reduzierung nicht nötiger Duplizität im Angebot: Da manche Kosten durch bessere Abstimmung und Koordinierung der von verschiedenen Trägern geplanten und organisierten Maßnahmen eingespart werden, können wir im Verbund gemeinsam für einen effektiveren Einsatz der Finanzen durch die einzelnen Träger wirken. Bei solchen Schritten im Projektverbund können wir sicher auch noch manche Mark bei Sponsoren und Förderern, aber auch bei unserer Kommune durch das eigene Vorbild in der Sparsamkeit locker machen.

Garten wäre Sommerkino und Theater praktikabel, bis hin zu festlichen und gemütlichen Zusammenkünften von Familien und Gemeinschaften der großen Wohnhäuser. All das wären herrliche Möglichkeiten. Natürlich hätten dann unsere Partner der nahen Jugendklubs bessere Wirkungsflächen zu erschließen und neue Programme anzubieten.

Das sagt und schreibt sich alles viel leichter als es getan ist. Die oftmaligen Auseinandersetzungen des letzten Jahres um Wege, Mittel sowie die Art und Weise der Gestaltung des Weges zum Stadtteilzentrum Hellersdorf hat das wiederholt bewiesen. Immer wieder möchten kommunale Angestellte und Beamte uns freie Träger als untergeordnete Abteilungen oder Mitarbeiter ihres Amtsbereiches verstehen. Vorschriften und direkte Eingriffe in unsere Entscheidungs- und Leistungsfreiheit, die berühmte Nötigungsfloskel (wenn ihr nicht ..., dann ...), Terminverschleppung und danach folgender Termindruck: All das sind Dinge, die uns die Arbeit alles andere als erleichtern oder uns gar Freude bereiten. Aber das Ziel unserer Bemühungen, für die Bürger dieses von uns zu "beackernden" großen Bereiches mehr und Besseres, Neues im sozial-kulturellen Bereich, der Selbsthilfe- Familien- und nachbarschaftlichen Betreuung zu tun, zum Mitmachen anzuregen u.v.m. gibt uns immer wieder Kraft und Zuversicht.

Zugleich hoffen wir, dass die Unterstützung durch die kommunalen Ämter wie z.B. Sozial, Jugend, Gesundheit, Finanzen, kurz eigentlich überhaupt der Kommunalpolitiker, sich weiter entwickeln wird, um es vorsichtig auszudrücken. Wir alle in unserem wachsenden Verbund sind optimistisch und zuversichtlich wie eh und je, zumal wir seit Jahren immer wieder mit der Hilfe und Unterstützung unseres Berliner Landesverbandes rechnen können und wissen, dass es auch weiter so sein wird. Es wäre schön und nützlich, wenn wir – als Echo auf unsere Gedanken – Antworten und damit auch Erfahrungen und Ratschläge erhielten. Wir hoffen darauf!

Unlängst haben wir unserem Bürgermeister Herrn Dr. Klett vorgeschlagen, uns dabei behilflich zu sein, das seit über zwei Jahren ungenutzte, leer stehende Gebäude eines ehemaligen Kindergartens zur Verfügung zu stellen (mit ca. 200 qm Gartenfläche). Er versprach das und wir sind nun am Ball. So können künftig Mitglieder des Projektverbundes "Stadtteilzentrum Hellersdorf" günstig Arbeits- und Veranstaltungsräume erhalten bzw. nutzen. Wir alle rücken dann auch in der Arbeit mit und für die Selbsthilfegruppen enger zusammen. Zugleich können kulturelle Angebote erfahrener Vereine, wie z.B. Kulturring e.V., Ball e.V. ,das weite Theater, um nur einige zu nennen, stattfinden. Im

So stecken wir voller Ideen und Visionen. Das ist wichtig und gut. Wir wissen aber auch, dass dazu eine Vielzahl von Partnern aus der professionellen und der ehrenamtlichen Zunft gefunden und gewonnen werden müssen.

Dr. Horst Noack Ehrenamtlicher Vorsitzender Unsere Anschrift: Klub 74 Nachbarschaftszentrum Hellersdorf e.V. Am Baltenring 74 12619 Berlin Tel.:/Fax: 030/56 30 993 Internet/E-Mail: klub74@gmx.de

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

immer t b i g s E traßen mehr S ier wen m m i d un le. ger Zie ) r Mitsch (Werne 33


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Stellungnahme zur Anhörung „Stadtteilzentren“ von Herbert Scherer

Förderung des Zusammenwachsens von Nachbarschaftsarbeit und Selbsthilfekontaktstellen in Berlin Seit fast zwei Jahren wird ein Großteil der Berliner Nachbarschaftsheime über ein Programm gefördert, das das Zusammenwachsen von Nachbarschaftsarbeit und Selbsthilfekontaktstellen zu "Stadtteilzentren" zum Ziel hat. Mit der Berliner Landesgruppe des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit und mit dem Verband der Selbsthilfekontaktstellen (SELKO) wurde ein entsprechender Vertrag mit vierjähriger Laufzeit abgeschlossen. Zur Halbzeit des Vertragszeitraumes haben alle vier im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien mit unterschiedlichen Fragestellungen Interesse daran gezeigt, sich mit den Erfahrungen aus dem Vertrag zu beschäftigen. Im Parlamentsausschuss für Soziales und Migration fand deswegen am 21. September eine Anhörung statt, zu der Vertreter der Vertragsparteien (Senatsverwaltungen und Dachverbände) und aus Mitgliedseinrichtungen des Verbandes eingeladen worden sind. Wir dokumentieren im Folgenden die zu dieser Anhörung im Vorfeld eingereichte schriftliche Stellungnahme der Berliner Landesgruppe.

Ausgangslage Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Landesgruppe Berlin e.V., ist der Dach- und Fachverband der Berliner Nachbarschaftszentren. Er hat derzeit 31 Mitgliedseinrichtungen in fast allen Stadtteilen. Von diesen bekommen 21 Einrichtungen ihre Landesförderung über den Dachverband im Rahmen eines Zuwendungsvertrages, den der Verband zusammen mit SELKO, dem Verband der Selbsthilfekontaktstellen, zum Zweck des Aufbaus von Stadtteilzentren mit dem Land Berlin, vertreten durch die Senatsverwaltungen für Gesundheit, Soziales und Frauen sowie die Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport, abgeschlossen hat. An die Einrichtungen werden die Mittel auf der Grundlage von privatrechtlichen Verträgen mit den Dachverbänden weitergeleitet.

Vertrag und Vorgeschichte Der Vertrag hat eine Laufzeit von vier Jahren (vom 1.1.1999 - 31.12.2002). Mit dem Vertrag wurden frühere Konstruktionen abgelöst, bei denen der Verband bereits in unterschiedlichen Rollen in die Mittelvergabe für Nachbarschaftszentren einbezogen war: - seit Jahrzehnten wurden 5 Einrichtungen und der Verband selbst durch die Senatsverwaltung für Jugend und Familie institutionell gefördert und als

34

- gemeinsamer Zuwendungsempfänger behandelt - in den Jahren 1996-1998 war der Ve band in der Rechtsfigur des 'beliehenen Unternehmers' Zuwendungsgeber für 17 von der Senatsverwaltung für Soziales geförderte Nachbarschaftsein richtungen.

Vertrag zwischen Zuwendungsrecht und Leistungslogik Die jetzige Konstruktion (öffentlich-recht liches Vertragsverhältnis zwischen Verbänden und Senatsverwaltungen, privat-rechtliches Vertragsverhältnis zwischen Verbänden und Einrichtungsträgern) ermöglicht es, unter dem Dach des Zuwendungsrechtes Re formen zu realisieren, die zu einem zweckvolleren Einsatz öffentlicher Mittel führen sollen: - Förderung auf der Grundlage eines vereinbarten Leistungsprofils - Verlagerung der Prüfung von der Mittelverwendung zum Leistungsnachweis - Verwaltungsvereinfachung - (begrenzte) Möglichkeit zur Übertragung eingesparter Mittel ins nächste Kalenderjahr Dieser Aspekt, so wichtig er ist, war für unseren Verband aber nicht der Hauptgrund den Vertrag zum Aufbau von Stadtteilzentren mit dem Land Berlin abzuschließen.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


Inhaltliche Motive für den Vertragsabschluss Dafür gab es vielmehr schwerwiegende inhaltliche Gründe. Bei der Bewertung des Vertrages und seiner Umsetzung wird es insbesondere darum gehen, ob er dazu geeignet war, ist und sein wird, die gewünschten Intentionen zu verwirklichen. Folgende Gründe waren für uns ausschlaggebend: a) Die Zuwendungskürzungen der Jahre 1996/97 (im Bereich der von der Senatsverwaltung für Soziales geförderten Projekte waren das 10%) hatten bei uns die Erkenntnis wachsen lassen, dass kleinere Projekte, die nicht anders auf solche Kürzungen reagieren können, als ihre Leistungen bis zu einem Punkt einzuschränken, der ihr Überleben aus der Sicht der Bürger, für die sie ihre Leistungen erbringen, sinnlos macht. Demgegenüber hatten Einrichtungen einer gewissen Mindestgröße die Chance wahrnehmen können, sich in ihrem Angebotsprofil und in ihren Finanzierungsstrukturen auf neue Situationen einzustellen (z.B. durch Übernahme neuer Aufgaben/ Trägerschaften). Wir haben aus dieser Erfahrung den Schluss gezogen, dass es darum gehen müsse, überlebensfähige Einrichtungen durch Zusammenschluss und Vernetzung mit anderen Projekten und Arbeitsbereichen entstehen zu lassen. b) Dabei lag es nahe, Bereiche, die fachlich-inhaltlich dicht beieinander liegen, zusammenzuführen. Wir dachten dabei zuallererst an das Arbeitsfeld Selbsthilfeunterstützung, dann an das Erfahrungswissen und die Unterstützung ehrenamtlicher/freiwilliger Arbeit. Während für die anderen Arbeitsbereiche andere Lösungen gefunden wurden, haben sich mit SELKO, dem Verband der Selbsthilfekontaktstellen, tragfähige Übereinstimmungen finden lassen, die nach längeren Verhandlungen in den Jahren 1997 und 1998 schließlich zum Vertragsabschluss geführt haben, in dem auf der Senatsseite ähnliche Überlegungen dazu geführt haben, die beiden Förderungsbereiche für sozial-kulturelle Nachbarschaftsarbeit, den von SenSoz und den von SenJug zusammenzubringen, um in der Berliner sozialpolitischen Landschaft für den gesamten Arbeitsbereich und die hier vertretenen Ansätze eine größere Bedeutung zu erreichen. c) Bei der Abstimmung über die Inhalte des Vertrages stellte sich heraus, dass eine weitgehende Übereinstimmung aller Beteiligter in folgenden Punkten erreicht werden konnte: - es geht um die Schaffung und Siche-

- rung sozialer Dienste, die eine maximale Bürgerbeteiligung zur Grundlage haben, bzw. ermöglichen - es geht um die Bereitstellung einer stabilen Infrastruktur für Menschen, die sich aktiv und engagiert für die Verbesserung der eigenen Lebenssituation und der ihrer Mitbürger einsetzen - es geht um eine horizontale Vernetzung auf Stadtteilebene, um 'dezentrale Konzentration', um die Zusammenführung von Diensten für unterschiedliche Zielgruppen (generationsübergreifend) und für unterschiedliche Problemlagen (multifunktional) im Nahbereich der Menschen an einem gemeinsamen Ort oder in einer gemeinsamen Trägerstruktur anders ausgedrückt: um das Gegenteil von: - Versorgungsdenken (fürsorglicher Belagerung) - hocharbeitsteiliger und spezialisierter Organisation sozialer Dienste mit zentralistischer Steuerung in unüberschaubaren Einzugsbereichen. Wir wollten gemeinsam daran arbeiten, unter dem Arbeitsbegriff Stadtteilzentren eine entsprechend moderne und zukunftsweisende Struktur in der ganzen Stadt zu schaffen, damit langfristig alle Bürger von entsprechenden Angeboten und Herangehensweisen profitieren können - und nicht nur diejenigen, die in Stadtteilen wohnen, in denen Einrichtungstypen mit einem entsprechenden Profil schon in den Vorjahren entstanden waren (z.B. Schöneberg, Zehlendorf, Kreuzberg).

Beurteilung der Entwicklung seit Vertragsbeginn: Seit Inkrafttreten des Vertrages im Januar 1999 hat es aus unserer Sicht einige sehr positive Entwicklungen gegeben. Das erste Jahr war allerdings am Anfang noch sehr dadurch geprägt, dass die vier Vertragsparteien ihre - trotz Übereinstimmung in den wesentlichen Intentionen im Detail und bei einzelnen Umsetzungsschritten noch recht unterschiedlichen Vorstellungen - aufeinander abstimmen mussten. Diese Anfangsschwierigkeiten können inzwischen als weitgehend überwunden gelten. Die Vertragsparteien meinen gemeinsam, dass der Begriff Stadtteilzentrum nicht

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000

35

einen neuen Einrichtungstyp meint, der die bisherigen Einrichtungen ersetzen soll, sondern dass es sich um ein Konzept handelt, das eine Orientierung für die künftige Entwicklung der Einrichtungen und den Aufbau neuer Verbundstrukturen aus der Substanz der bestehenden Einrichtungen gibt. Die Vertragsparteien stimmen darin überein, dass es bei der gewünschten 'Flächendeckung' des Konzeptes um die Förderung realer Entwicklungen in Richtung auf dieses Ziel geht und nicht vorrangig um die gleichmäßige Verteilung von Fördermitteln über die Fläche. Außerdem gehen alle Vertragsparteien inzwischen davon aus, dass eine wirkliche 'Flächendeckung' mit den über den Vertrag zur Verfügung stehenden Mitteln (die durchschnittlich für jeden der neuen Großbezirke einen Betrag zur Verfügung stellen, mit dem gerade einmal eine zweigruppige Kindertagesstätte und eine Jugendfreizeiteinrichtung zu betreiben wären) nicht ausfinanzierbar ist - und dass es deswegen dringend notwendig ist, zusätzliche Mittel einzuwerben (darüber, woher diese kommen müssten, gibt es allerdings noch sehr unterschiedliche Vorstellungen). Es hat sich u.E. sehr positiv ausgewirkt, dass der Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses kurz vor Vertragsunterzeichnung noch die Forderung gestellt hat, die Bezirke in die Strukturen der Vertragsumsetzung einzubinden und ihnen Sitz und Stimme im Kooperationsgremium zu geben. Diese Forderung ist im Vertrag umgesetzt worden, was dazu geführt hat, dass die Bezirke an den Diskussionen um die Stadtteilzentrumsentwicklung intensiv beteiligt sind und ihre Vorstellungen teilweise sehr entschlossen und kreativ einbringen. In allen Bezirken sind Verantwortliche für die Stadtteilzentren benannt worden, in der Regel in Kooperation zwischen den bezirklichen Abteilungen Soziales und Jugend (auch das ein Novum). Die sozialpolitischen Impulse, die wir mit dem Konzept Stadtteilzentren setzen wollten, sind von einigen Bezirken besonders intensiv aufgegriffen und zum Teil weiterentwickelt worden (hier sind u.E. insbesondere Hellersdorf, Marzahn, Tempelhof, Steglitz und neuerdings auch Hohenschönhausen und Lichtenberg zu nennen). Diese Bezirke haben begonnen, mit z.T. erheblichen Mitteln aus ihrem Verfügungsbereich den Aufbau dezentraler Strukturen nach dem Beispiel der Stadtteilzentren zu fördern


und dabei den aus Landesmitteln über den Vertrag unterstützten Zentren eine richtungsweisende Rolle einzuräumen. Das entspricht unserer Intention, durch profilierte Beispiele Impulse zu setzen, die über den unmittelbaren Bereich der landesgeförderten Projekte hinauswirken.

Problematische Punkte Wir haben uns mit der Vertragsunterzeichnung einem Aufbaukonzept verpflichtet, das realisiert werden soll, obwohl mit dem Vertrag zugleich eine jährliche Mittelabsenkung um 2% vereinbart worden ist. Schon das grenzt beinahe an die Quadratur des Kreises, ist aber z.T. durch die Intensivierung von Kooperation und die Nutzung von Synergieeffekten abzufedern. Dass zugleich eine Umverteilung von Fördermitteln in Bereiche realisiert werden soll, die bisher weniger entwickelt waren, ist fast unmöglich. U.E. sind die Vertragsziele nur dann wirklich zu erreichen, wenn entweder die zentralen Haushaltstitel aufgestockt werden oder durch ein stärkeres - auch finanzielles Engagement der Bezirke entlastet wird. Das gilt insbesondere für die Bezirke, die von der Arbeit der Stadtteilzentren auch in Leistungsbereichen, für die sie sonst eine eigene Finanzierung bereit stellen müssten, erheblich profitieren. Dabei gehen wir nicht davon aus, dass die Arbeit der Stadtteilzentren zusätzlich zur bestehenden sozialen Versorgungsstruktur aufgebaut werden soll, sondern dass es im Wesentlichen um eine konzeptionelle Veränderung bei der Organisation der Dienste geht, die auch jetzt schon aus öffentlichen Mitteln gefördert oder subventioniert werden. Wir halten das für eine durchaus realisierbare Zielvorstellung. Wir sind unbedingt für einen Ausbau entsprechender Angebote auf der Basis realistischer Konzepte, die ihre Basis in Bürgerinitiative und Engagement oder in fachlicher Umorientierung der sozialen Akteure vor Ort haben. Der Ausbau darf aber nicht in existenzbedrohender Weise zu Lasten bestehender gut funktionierender und vorbildlicher real bestehender Einrichtungen führen. Damit wäre niemandem gedient.

Stadtteilzentrumsarbeit kann nicht mit Geld gekauft und an beliebiger Stelle installiert werden, sie muss von unten wachsen. Die zentrale Förderung hat u.E. die Aufgabe, die bestehende Infrastruktur im Kern zu sichern und bei der Beseitigung von Hindernissen für neu entstehende Initiativen zu helfen. Sie kann die Initiativen nicht ersetzen.

Die Stadtteilzentren im Kontext der Sozialen Stadtentwicklung Diese Erfahrung wird zur Zeit, wenn unsere Beobachtungen stimmen, in ähnlicher Weise auch von einer Reihe von Quartiersmanagern gemacht. So sehr wir es begrüßen, dass das Thema der sozialen Stadtentwicklung und der Notwendigkeit stärkerer Bürgerbeteiligung durch die Diskussion um das Quartiersmanagement auf die Tagesordnung gebracht worden ist, so sehr bedauern wir es, dass es durch unnötigen Ressort- oder Berufsgruppenegoismus nicht zu einem optimalen Mitteleinsatz kommt. Zuweilen wird hier mit erheblichem Aufwand das Rad neu erfunden. Wir stellen eine mangelnde Bereitschaft fest, Erfahrungen, die in unserem Bereich zum Teil seit Jahrzehnten zum Thema Bürgerbeteiligung und soziale Integration von Minderheitengruppen gemacht worden sind, ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt zwar vor Ort intensive Kontakte zwischen Quartiersmanagement und örtlichen Initiativen aus dem Nachbarschaftsbereich, aber zu wenig gewollten und systematisch betriebenen Know-how-Transfer. In vielen Fällen wären erfahrene Nachbarschaftsprojekte die geeignetsten Kräfte, um mit zusätzlicher Förderung die zusätzlichen Aufgaben wahrnehmen zu können, die dem Quartiersmanagement übertragen werden. Soziale Stadtentwicklung braucht nachhaltige und langfristig angelegte Strukturen. Diese können durch Umorientierungen bei den sozialen Diensten entstehen, die für eine verstärkte Beteiligung der Menschen und zur Einbeziehung ihrer Fähigkeiten und ihres Willens zur Eigeninitiative offen sein müssen. Das kann zwar durch kurzfristig angelegte Interventionen angeschoben werden, aber es bedarf einer Zukunftsvision und einer umfassenden Strategie. Das Konzept Stadtteilzentren bietet dafür gute konzeptionelle Ansätze, die ausgebaut werden müssen.

Und noch eins: ohne Initiative vor Ort geht es nicht. Nachbarschafts- und damit

36

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 22000


A U S

D E N

E I N R I C H T U N G E N

Bürgerladen e.V. Beratungs- und Begegnungsstätte

Tagesstätte für psychisch Kranke/ seelisch wesentlich behinderte Menschen

von Heidemarie Rothe

1994 entstand aus einem Projekt des Vereins die Tagesbetreuung für ältere Menschen. Sie entwickelte sich nach kurzer Zeit als Möglichkeit für Menschen in seelischen Krisensituationen, Hilfe und Beistand zu erfahren. In den nachfolgenden Jahren konnte schon vielen Menschen in ihrer seelischen Not geholfen werden. Deshalb hatte dieses Projekt im Rahmen unseres Vereines von Anfang an einen besonderen Stellenwert. Die engagierte Arbeit der Mitarbeiterinnen trug im wesentlichen Maße dazu bei. Problematisch war dabei, dass es durch die ausschließliche Besetzung der Mitarbeiterinnen durch ABM-Beschäftigungsverhältnisse, die also zeitlich begrenzt waren, immer wieder zu Beunruhigungen des positiven Entwicklungsverlaufes kam. Mit sehr viel Engagement und Eigeninitiative unserer jetzigen Ehrenvorsitzenden, Frau Luther, der Vorsitzenden Frau Goldbruch sowie der Unterstützung durch Frau Gerlinde Kruppe erreichten wir im August 1999 die Umwandlung in eine Tagesstätte mit damit verbundenen Festanstellungen zweier Mitarbeiterinnen. Seit dieser Zeit sind wir als teilstationäre Einrichtung im Sinne der Wiedereingliederungshilfe nach § 39/40 anerkannt. Die Tagesstätte ist von 08.00 - 16.00 Uhr geöffnet.

Unsere Tagesgäste werden uns von Fachkliniken, von niedergelassenen Fachärzten und von Sozialarbeitern empfohlen, können aber auch aus eigener Initiative heraus zu uns kommen. Für die Aufnahme in die Tagesstätte benötigen sie ein amtsärztliches Gutachten sowie die Grundanerkennung über das Amt für Versorgung und Soziales. Der Aufenthalt ist zeitlich begrenzt und wird meist für die Dauer eines Jahres mit der Möglichkeit einer Verlängerung genehmigt. Im Moment ist unsere Tagesstätte mit zwölf Personen voll ausgelastet. Wir verstehen uns als Teil der gemeindenahen komplementären psychiatrischen Versorgung und als wichtiges Bindeglied im Übergang von akuter Erkrankung zu selbstbestimmtem Leben in der Gesellschaft. Unsere tagesstrukturierenden Angebote bestehen aus einer Kombination von lebenspraktischem Training, Pflege und Förderung sozialer Eigenschaften, bewusster Freizeitgestaltung und Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Angebot der Tagesstätte richtet sich an psychisch behinderte, erwachsene Menschen, die an einer Psychose, einer Persönlichkeitsstörung oder einer anderen psychischen Störung leiden, die derzeit nicht oder nur schwer zu einem selbstständigen Leben fähig sind. Unsere Tagesgäste sind eng mit

dem Vereinsleben verbunden. Dadurch wird das soziale Kontaktnetz sehr erweitert und es bestehen günstige Bedingungen für die Aktivierung eigener Potenzen. So können die Vereinsangebote des Bürgerladen e.V. wie beispielsweise Teilnahme am wöchentlichen Wandern, Sport, Chor, Handarbeitskörbchen, literarisch-musikalischen Veranstaltungen u.a. mehr genutzt werden. Bei unserer Ergotherapeutin lernen die Tagesgäste die unterschiedlichsten kreativen Bereiche kennen und verschiedene handwerkliche Techniken handhaben. Einmal im Monat haben alle die Möglichkeit, zum Bowling zu gehen. Ein Tag in der Woche ist reserviert für Unternehmungen außerhalb der Tagesstätte. So sind wir in der Vergangenheit schon zur Besichtigung des Leipziger Hauptbahnhofes gewesen, am Süßen See, in Ausstellungen im Museum am Petersberg, haben zur Erdbeerzeit in Wallwitz die Felder geplündert und viele andere gemeinsame Ausflüge gestartet. Unser Mittagessen nehmen wir an diesem Tag in einer Gaststätte ein. An drei Tagen in der Woche kochen wir gemeinsam mit einem Tagesgast unser Mittagessen selbst. Bei diesen und anderen alltagspraktischen Tätigkeiten wie Einkaufen, Tischdecken, Abwaschen u.a.m. können eigene Erfahrungen wieder trainiert, aufgefrischt oder auch neu erworben werden. Ganz wichtig ist es uns, eine harmonische und familiäre Atmosphäre in der Gruppe zu haben, in der sich alle wohlfühlen, in der soziale Kontakte geknüpft werden können und in der es gelingt, Probleme zu verarbeiten und wieder einen Neuanfang zu finden. So ist es selbstverständlich, die Geburtstage unserer Tagesgäste gemeinsam zu begehen und Anteil an den Problemen der Einzelnen zu nehmen. Die größte Freude für uns ist es, wenn es den Tagesgästen durch den Aufenthalt in der Tagesstätte gelingt, sich wieder ein Stück Lebensqualität zurückzuerobern und mit gewachsenem Lebensmut die nächste Etappe anzugehen. Bürgerladen e.V. Beratungs- und Begegnungsstätte Tagesstätte für seelisch Behinderte Falladaweg 9 06126 Halle Leiterin der Tagesstätte: Heidemarie Rothe

ln ist Zweife nicht Suche,

keit. Ratlosig zz . Pestalo (Hans A


Der RUNDBRIEF erscheint mit finanzieller Unterstützung der „Glücksspirale”


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.