Rundbrief 2-2009

Page 1

ISSN 0940-8665 45. Jahrgang / Oktober 2009 5,00 Euro

Rundbrief 2

2009

• Nachbarschaftsheime • Bürgerzentren • Soziale Arbeit • • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen •

In dieser Ausgabe: Wie weiter mit der Jugendarbeit ? •

Vom Nutzen der Kooperation von Schule und Freiem Träger

Jugendarbeit und Räume

Jugendfreizeitarbeit in Einrichtungen und im Sozialraum

Konzeption der Jugendfreizeiteinrichtung „Villa Eigensinn“

außerdem: •

Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

Grundsätze und Leitlinien sozial-kultureller Arbeit

Inklusion – eine Herausforderung

Vom Spielen zum Handeln: Stadtspieler

Das unmissverständliche Nein des Hermann Stöhr

Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V.


Der Rundbrief wird herausgegeben vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. Tucholskystr. 11, 10117 Berlin Telefon: 030 280 961 03 Fax: 030 862 11 55 email: bund@sozkult.de internet: www.vska.de Redaktion: Herbert Scherer Gestaltung: Direct Smile GmbH Druck: Druckerei Alte Feuerwache GbR, Berlin Der Rundbrief erscheint halbjährlich Einzelheft: 5 Euro inkl. Versand

Titelbild: Am Kletterfelsen in der Alvenslebenstr. in Schöneberg-Nord (Foto: Elena Scherer)


Inhalt Herbert Scherer: Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt

4

NBH Schöneberg: Grundsätze und Leitlinien der sozial-kulturellen Arbeit

7

Georg Zinner: Inklusion – eine Herausforderung

9

Dr. Eberhard Löhnert: Nachbarschaften – Berliner Erfahrungen

11

Eva Schmoll: Vom Nutzen der Kooperation der Institution Schule mit einem freien Träger

13

Willi Essmann: Jugendarbeit und Räume

17

Hella Pergande: Entdeckungen im Sozialraum

23

Ralf Gilb: Outreach und das Innenleben von Jugendfreizeiteinrichtungen

24

VskA / Kiezoase / Outreach: Pädagogisches Konzept der Jugendeinrichtung „Haus der Möglichkeiten – Villa Eigensinn – Froben 27“ 26 Stiftung Agens: Vom Spielen zum Handeln: Stadtspieler

35

Antikriegsmuseum / Friedensbibliothek: Ein unmissverständliches Nein: Hermann Stöhr

37

Vorwort Nachbarschaftshäuser stehen mitten im Leben. Sie reagieren mit Veränderungen ihrer Angebote und Dienstleistungen, wenn sich in ihrem Umfeld etwas verändert. Das ist eine ihrer besonderen Stärken. Der aktuelle Rundbrief befasst sich mit entsprechenden Herausforderungen: Was geschieht mit der Jugendarbeit, wenn die Schule als „Lern- und Lebensort“ einen immer größeren Anteil des Zeitbudgets von Kindern und Jugendlichen beansprucht? Was können Nachbarschaftshäuser in der Partnerschaft mit Schulen erreichen? Wie müssen Jugendfreizeiteinrichtungen sich konzeptionell auf veränderte Bedarfslagen einstellen? Die Arbeit mit behinderten Menschen steht vor einem lange überfälligen Paradigmenwechsel: von einer faktischen Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben zur Einbeziehung, zur Inklusion. Wie können die Nachbarschaftseinrichtungen mit ihrer Selbstverpflichtung, offen für alle zu sein, diese Neuorientierung befördern? Nicht nur auf Veränderungen reagieren, sondern die Menschen dabei unterstützen, ihr Lebensumfeld aktiv mit zu gestalten, ist Kern des Selbstverständnisses von Gemeinwesenarbeit. Mit dem Stadtspieler-Spiel hat die Stiftung Agens (ehem. Netzwerk Südost) ein schönes Hilfsmittel geschaffen, um Menschen aller Generationen und Bildungsschichten in kreative Zukunftsplanungsprozesse einzubeziehen und diese nicht den Fachleuten allein zu überlassen. Bei aller Offenheit orientiert sich die Arbeit der Nachbarschaftshäuser an Prinzipien, die wir uns immer wieder einmal vergegenwärtigen müssen. Dieser Rundbrief leistet dazu zwei Beiträge: mit dem Nachdruck der Grundsätze und Leitlinien des Nachbarschaftsheims Schöneberg – und mit der Erinnerung an Hermann Stöhr, einen Mitarbeiter von Friedrich Siegmund-Schultze in der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost, der für seine Überzeugung 1940 mit dem Leben bezahlt hat. Herbert Scherer


Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt Oder: ein Appell, die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und die Wirklichkeit zurückzugewinnen. Herbert Scherer Vortrag anlässlich des ersten „Alumni-Treffens“ von Absolventen des Master-Studiengangs Sozialmanagement der Paritätischen Akademie und der AWO am 12. Mai 2009

Wir wollen ja heute über das Verhältnis der Sozialarbeit zur gegenwärtigen Krise nachdenken. Da bietet sich zuerst die Frage an: Ist die gegenwärtige Krise schon bei der Sozialarbeit angekommen? Wenn ich das richtig sehe, eigentlich nicht – sie hat bisher erst unsere Peripherie erreicht = nämlich diejenigen, die unsere Arbeit fördern – allerdings in seltsamer Weise – man könnte es den Sandwich-Test nennen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung sind total gestresst, weil sie gleichzeitig zwei Vorgaben umsetzen müssen: auf der einen Seite sollen sie auf Deubel komm raus Geld, und zwar in großen Portionen ausgeben (unlängst geschah es in unserem Bereich, dass ein neues Kriterium bei der Bewilligung von Anträgen umgesetzt wurde: alle Anträge, die nicht die Mindestgröße von 50.000 Euro erreichten, wurden abgelehnt – alle Anträge, die mehr als 50.000 Euro betrugen, wurden bewilligt) – auf der anderen Seite sollen sie so massive Kürzungen bei der Planung des Haushalts für das nächste Jahr umsetzen, dass sie nicht mehr ein noch aus wissen. Aber Scherz beiseite. Man könnte es auch ganz anders beschreiben. Unsere Sozialarbeit findet unter Rahmenbedingungen statt, die zur selben Welt gehören und von vergleichbaren Prämissen geprägt sind wie die Strukturen, die die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise hervorgebracht haben. Ich möchte das einmal die Tendenz zur Virtualisierung nennen, eine Bewegung von der Wirklichkeit weg in Scheinwelten, die sich in immer schwindelndere Höhen erheben. Werden wir konkret: Was für die Immobilienkrise der eingerechnete inflationäre Wertzuwachs war, ist in unseren Systemen die Antragslyrik, gepaart mit Erfolgsberichterstattungspflicht.

4

Das sind virtuelle Großartigkeiten, denen gegenüber die Wirklichkeit nur verlieren kann. Diese Tendenzen haben in den letzten Jahren in unerhörtem Maße zugenommen. Je weniger Förderung auf Kontinuität angelegt ist, je kürzer die Projektlaufzeiten werden, je weniger Geldmittel zur Verfügung stehen, desto höher sind die verbalen Anforderungen an Erfolg und Nachhaltigkeit, die im Antragsverfahren seitens der potentiellen Träger zu versprechen sind. Projektförderung durch die Europäische Union, Sonderprogramme des Bundes gegen Rechtsextremismus und für Vielfalt, Quartiersmanagement – Strohfeuer allerorten. Und selbst im Antrag für eine MAE-Maßnahme, die für die Betroffenen bestenfalls eine vorübergehende Linderung ihrer sozialen Notlage erreichen kann, muss das Blaue vom Himmel versprochen werden, damit sie bewilligt wird. Und alle Beteiligten wissen das – und wir alle machen mit. Ein typischer Verlauf besteht aus einem überhöhten Versprechen am Anfang, einer Projektlaufzeit voller Stress in dem Bemühen, wenigstens den Schein der Übereinstimmung von geplantem und realisiertem Vorhaben zu wahren – und dem abschließenden Erfolgsbericht. Das Problem, um das es einmal gegangen sein mag, tritt in den Hintergrund. Die Übernahme von Wettbewerbsmechanismen analog der Vergabeverfahren bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand hat hier verschärfend gewirkt: Bei entsprechenden Ausschreibungen und Wettbewerben wird dankenswerter Weise schon im Voraus die eierlegende Wollmilchsau in groben Zügen skizziert. Ein halbwegs intelligenter Bewerber erkennt in der Regel unschwer, welche Kriterien voraussichtlich positiv und welche negativ bepunktet werden. Und da stellt sich die Gewissensfrage: soll ich einen realistischen Plan einreichen von dem, was ich wirklich glaube erreichen zu können – oder soll ich mich der allgemeinen Inflationstendenz anschließen? Sie alle kennen die Antwort: ein Narr, wer das Spiel nicht mitspielt. Ich hatte das Vergnügen, bei der Bewertung von Anträgen aus einem bundesweiten Förderungsprogramm mitwirken zu können. Das war interessant, weil es im Prinzip genau so ablief, wie man sich das von außen vorstellen konnte:


Um der besseren Vergleichbarkeit willen mussten alle Anträge auf elektronischen Formblättern eingereicht werden, die bis in hundert Details ein Versprechen nach dem anderen abfragten. Die Jurymitglieder wurden verpflichtet, jedes Versprechen (auf die Zukunft) für bare Münze zu nehmen und zu bepunkten. Am Schluss wurde ihnen von einem im Hintergrund mitlaufenden Rechenprogramm noch die Aufgabe abgenommen, zu einer Gesamtbewertung zu kommen. Das wurde automatisch aus den Einzelpunkten errechnet, also alles sehr objektiv – subjektive Eindrücke sollten zugunsten eines objektivierbaren Verfahrens zurückgedrängt werden.

geförderten Projekte in der Wirklichkeit anzusehen. Dadurch sei ihre Objektivität gefährdet, weil nicht dokumentierte subjektive Eindrücke eine Rolle spielen könnten. Neuerdings begegnet uns diese Tendenz unter neuen Vorzeichen an anderer Stelle, paradoxerweise im Gewand des Qualitätsmanagements und des Wirkungscontrollings. Auch hier zwei Beispiele: o

Bei der Formulierung von Qualitätskriterien für die Arbeit der Stadtteilzentren habe ich mich vergeblich darum bemüht, die Formulierung von Qualitätsanforderungen als einfache indikative Feststellungen durchzusetzen, z.B. „Jeder Besucher wird freundlich behandelt“. Ich musste mich belehren lassen, dass es im Qualitätsmanagement zu heißen habe:„Die Einrichtung kann belegen, dass jeder Besucher freundlich behandelt wird“, weil das ja im Qualitätshandbuch überprüfbar sei, der einfache indikative Satz aber nicht. Auch das ist für mich ein Beispiel für Virtualisierung: die Dokumentation wird wichtiger als das, was damit belegt werden soll.

o

Bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, die auch für den Jugendbereich zuständig ist, will man ein Wirkungscontrolling einführen. Dabei hat sich die These durchgesetzt, nur Quantitatives sei messbar. Deswegen könnten für die Wirkungskontrolle nur Zahlenwerte als Indikatoren taugen, weil sie den notwendigen Abgleich von Soll- und Ist-Zahlen ermöglichten. Da das im Bereich der Jugendarbeit nicht ganz einfach ist und man es den Trägern (und sich selbst als federführender Verwaltung) auch nicht allzu schwer machen wollte, wurde z.B. einem Zuwendungsempfänger die Zahl der Sitzungen pro Jahr als Messwert vorgeschlagen – leicht zu erfassen, leicht abzugleichen. Wirkungskontrolle ohne Nebenwirkungen.

Das Formular, ursprünglich vielleicht als Hilfsmittel für den Antragsteller gedacht, nichts Wichtiges zu vergessen, fing an eigenständig zu agieren und sich zum Herr des Verfahrens zu machen. Der Schwanz begann mit dem Hund zu wedeln. Überhaupt die Wirkung von Formularen mit Eigenleben – zwei Beispiele: o

o

Neulich ging es um eine Anmeldung zu einer Veranstaltung. In das Anmeldeformular ließ sich das, mit dem eine Einrichtung auftreten wollte, nicht eintragen. Zwar war das mit den Veranstaltern so abgesprochen, aber da die Datenbank es nicht zuließ, war es nicht möglich, den Beitrag mit ins Programmheft aufzunehmen. Bei einem EU-Programm war es mehr als ein halbes Jahr nur mit einem falschen Eintrag möglich, zu einem rechnerisch richtigen Ergebnis zu kommen. Die Servicegesellschaft bedauerte das und kam allen sehr dadurch entgegen, dass sie zu einem ausführlichen Coaching bereit war, um die Projekte darin zu unterweisen, in welcher Weise falsch das Formular auszufüllen sei, um das gewünschte (richtige) Ergebnis zu erreichen.

Formulare und Tabellen sind nicht nur störrisch sondern sie haben gegenüber der Wirklichkeit auch einen großen Vorteil, wenigstens aus der Sicht der öffentlichen Verwaltung, sie sind nicht so komplex – sie ermöglichen es, Entscheidungen zu treffen, die nachvollziehbar und dokumentierbar sind. Man muss nicht lange reden, überzeugen, nachdenken, Unwägbares ist ausgeschlossen.

Dass sich solche Tendenzen zunehmend breit machen können, hängt mit einer Kapitulation des gesunden Menschenverstandes gegenüber Systemen zusammen, die einmal als Hilfsmittel gedacht waren – und natürlich gegenüber denjenigen, die diese Systeme bedienen, für die es andere als sozialarbeiterisch-fachliche Qualifikationen braucht.

Es ist noch nicht lange her, da gab es eine Referatsleiterin in der Berliner Sozialverwaltung, die genau aus diesem Grund ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern allen Ernstes verboten hat, sich die von ihnen

Die Fachlichkeit in der öffentlichen Verwaltung ist auf dem Rückzug, aber auch bei vielen freien Trägern sind es die Schlaumeier und – mit Verlaub gesagt, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen – ein bestimmter Schlag

5


von Sozialmanager/inne/n, die sich vor allem darin auskennen, diese Systeme zu „spielen“ oder zu bedienen – und dabei durchaus erfolgreich agieren. Aber wie beim Immobiliencrash geht dieser Krug nur so lange zum Brunnen, bis der Henkel bricht. Ich möchte Ihnen mein Lieblingsbeispiel dafür erzählen: Man hat vor ein paar Jahren in Berlin begonnen, eine sog. Kosten- und Leistungsrechnung einzuführen, um die Kosten für öffentliche oder öffentlich geförderte Dienstleistungen in den einzelnen Bezirken besser miteinander vergleichen zu können. Für den Bereich der Jugendarbeit und der Jugendsozialarbeit wurde als Maßeinheit die sog. Angebotsstunde festgelegt. Der Grundgedanke dabei ist, dass nicht mehr die bezahlte Arbeitsstunde der Mitarbeiter/innen für die Kostenberechnung herangezogen wird, sondern nur noch das zählt, was unmittelbar dem Endverbraucher „angeboten“ wird. Das führt bei genauer Zählweise dazu, dass EIN Angebot, wenn es von mehreren Mitarbeiter/inne/n gemeinsam gemacht wird, nur als EINE solche Angebotsstunde berechnet werden kann. So weit, so gut. Aus diesem Instrument zu einer zwar nicht besonders sinnvollen, aber – bei Anwendung gleicher Maßstäbe – immerhin denkbaren Vergleichsberechnung wurde nach einiger Zeit ein ZUWEISUNGSMODELL des Finanzsenators. Den Bezirken werden die landesdurchschnittlichen Kosten einer bestimmten Menge von solchen „Angebotsstunden“ erstattet, was im Effekt zu einer inflationären Spirale führt: die Bezirke melden immer mehr Angebotsstunden, um ihre Finanzierung zu sichern, das senkt automatisch die durchschnittlichen Kosten für das Folgejahr, was nur durch die Meldung einer weiter erhöhten Anzahl von Stunden zu kompensieren ist etc. Die Bezirke, wenigstens einige, lieben es, den schwarzen Peter an die Träger weiterzugeben und diese ihrerseits zu verpflichten, eine ständig steigende Zahl von solchen Angebotsstunden zu melden – bzw. offiziell heißt es natürlich: diese zu leisten. Uns wurde ein entsprechender Leistungsvertrag vorgelegt, mit dem unsere Mitarbeiter verpflichtet werden sollten, mit ca. 70 bezahlten Stunden pro Woche an die 100 Angebotsstunden pro Woche zu erbringen. Schon physikalisch ein Ding der Unmöglichkeit, denkt der Laie. Nicht so die Verwaltungsmitarbeiterin für das Rechnungswesen, die einen fachlich sehr interessanten Vorschlag machte: Ein Mitarbeiter könne doch z.B. mit zwei Gruppen gleichzeitig arbeiten, mit Jugendlichen auf der einen Seite und mit jungen Müttern auf der anderen Seite des Raumes – so seien problemlos mit einer Mitarbeiterstunde zwei Angebotsstunden zu leisten. Der Schwanz schickte sich an, gewaltig mit dem Hund zu wedeln.

6

Und wenn man sich gegen einen solchen Unsinn wehrt, bekommt man von der Verwaltung das Gefühl vermittelt, der letzte Moralist oder schon so eine Art Fundamentalist zu sein, bekommt man doch immer wieder zu hören: Alle anderen unterschreiben doch solche Verträge auch ... Die bisherigen Beispiele betrafen im Wesentlichen die Akzentverschiebung vom Hilfsmittel zum Herrschaftsinstrument. Im übertragenen Sinne betreffen diese Tendenzen aber in gewisser Weise die helfenden Berufe im Allgemeinen. Ich muss mich aus Zeitgründen kurz fassen, deswegen nur ein paar thesenhafte Schlaglichter: Im Radio kommt die Meldung, die Arbeitslosenzahlen seien unter 10 Prozent gesunken. Frage: Wer erbleicht? Der Kollege aus dem Projekt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der jetzt fürchtet, seinen Job zu verlieren. Aus dem Monitoring Soziale Stadtentwicklung lässt sich ablesen, dass die soziale Lage in weiteren Gebieten schlechter geworden ist. Frage: Wer frohlockt? Der Quartiersmanager. Das klingt abwegig, aber es ist Realität. Vor ein paar Jahren war ich in Hannover auf einer Tagung, auf der der Geschäftsführer eines relevanten Trägers als großen Erfolg verkündete, dass die Zahl der Gebiete der Sozialen Stadt sich im Laufe eines Jahres verdoppelt habe. Heute könnte er noch mehr triumphieren – inzwischen hat es eine Verfünffachung gegeben. Und so hat denn auch vor noch nicht einmal einer Woche in Berlin allen Ernstes – und stolz angekündigt vom Bundesbauministerium – ein JUBILÄUMSKONGRESS „10 Jahre Soziale Stadt“ stattgefunden. Dass in den vergangenen zehn Jahren das Elend allgemein zugenommen hat, war Anlass für eine Veranstaltung, die tatsächlich diesen Namen trug. Die soziale Not – ein riesiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für helfende Zünfte. Der Schwanz wedelt mit dem Hund. Ein amerikanischer Kollege hat das einmal sehr schön im vergleichenden Blick auf deutsche Handlungsansätze gesagt: Wenn es in Deutschland ein Problem gibt, schickt man sich nicht an, Lösungsstrategien zu entwerfen, sondern man entwirft ein Projekt. Dann beantragt man dafür Mittel, das Projekt wird ins Leben gerufen und die Mitarbeiter hoffen darauf, dass es genügend ange-


nommen wird, um einen symbolischen – man könnte auch sagen – virtuellen Beitrag zur Problemlösung vorweisen zu können. Das ist ein verdammt teurer Mechanismus, der aber den beschränkten Handlungsmöglichkeiten von Politik und Verwaltung in gewisser Weise entspricht. Sie können sich Lösungen nicht anders vorstellen, als dass sie mehr Geld dafür ausgeben, um sie zu kaufen. Und da von dem notwendigen Mehr an Geld immer weniger vorhanden ist, ist ihnen symbolisches Handeln dann doch lieber als ein energischerer Versuch, die Probleme bei den Wurzeln zu packen.

Wir können davon ausgehen, dass die KRISE, an deren Anfang wir stehen, es notwendig machen wird, mit der Mehrzahl der Spielereien und Ärgerlichkeiten, über die ich berichtet habe, SCHLUSS zu machen. Wie alle untergehenden Systeme werden auch diese Mechanismen sich im Todeskampf aber noch einmal besonders unangenehm aufbäumen. Wir sollten uns davon nicht allzu sehr irritieren lassen. Diese Systeme haben keine Zukunft und wir sollten mit dazu beitragen, dass der Schwindel aufhört und uns daran machen, auf dem Boden der Tatsachen zu wirklichen Problemlösungen beizutragen.

Grundsätze und Leitlinien der sozial-kulturellen Arbeit im Nachbarschaftsheim Schöneberg Auszug aus einem Grundsatzpapier des Nachbarschaftsheims Schöneberg (Stand April 2008)

Den ganzen Text finden Sie hier: http://www.nbhs.de/uploads/media/Grundsätze_und_Leitlinien_01.pdf

EIN HAUS FÜR ALLE Menschen jeden Alters, unterschiedlichster Nationalitäten und Herkunft, aller Schichten und Gruppen sind willkommen. Alle sind eingeladen, diesen Ort zu nutzen - zur Entspannung, zur Information, zur Kommunikation, zum Ausprobieren und Entwickeln der eigenen Talente, zur nachbarschaftlichen Einflussnahme und Teilhabe und zum bürgerschaftlichen Engagement. Aktive Begegnung – das nachbarschaftliche Miteinander fördern Verschiedene Gruppen, Schichten und Generationen können sich in unseren Einrichtungen miteinander vertraut machen, sich kennen und achten lernen. Damit soll der Vereinzelung und gesellschaftlichen Ghettoisierungstendenzen entgegengewirkt werden. Dabei steht nicht die Definition über ein Problem im Vordergrund, sondern der Wille, aktiv mit zu gestalten, unabhängig von organisatorischen Zwängen oder Verpflichtungen. Die Begegnung mit anderen Menschen, Kulturen und Meinungen zu fördern und den Austausch über unterschiedliche Sichtweisen zu pflegen, fördert das nachbarschaftliche Miteinander und die gesellschaftliche Solidarität.

Schutz und Integration – Stärke für den Lebensalltag gewinnen Wenn dies gewünscht ist, können für speziell Gruppen geschützte Bereiche (Schonräume) zur Verfügung gestellt werden, bspw. für ruhebedürftige Senioren, suchtkranke Menschen oder aus kulturellen Gründen für türkische Frauen. In den Schonräumen sollen die jeweiligen Gruppen Schutz und Sicherheit für sich selbst gewinnen, um so gestärkt den Lebensalltag und die Integrationsanstrengungen bewältigen zu können. In der heutigen „globalen“ Gesellschaft mit vielfach verlorengegangener Nähe und Wärme, zerstörten sozialen und kulturellen Identitäten und fragmentarisch gewordener „sozialer Heimat“ Menschen bewegt, nach zeitweiser oder dauerhafter Einbindung in neue Gemeinschaften Entspannung und Wohlbefinden in attraktiver Umgebung Als „Haus für Alle“ müssen unsere Einrichtungen attraktiv gestaltet werden und eine Atmosphäre des Wohlbefindens ausstrahlen, so dass die Besucher gerne kommen. Das attraktive Nachbarschaftscafé und unsere Gartenanlagen, bzw. Spielplätze laden zum Verweilen und zum nachbarschaftlichen Gespräch und zur Erholung in grünen Oasen inmitten großstädtischer Umgebung ein. Kreative Potentiale entdecken und fördern Als Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V. ermutigen wir unsere Besucher, ihre schöpferischen Fähigkeiten zu entfalten und aktiv zu werden. Wir wollen mit den Stärken und Fähigkeiten der Menschen arbeiten und

7


ihnen Chancen bieten und Gelegenheiten schaffen, diese zu entdecken und sich weiterzuentwickeln. Sozialen Problemen zuvorkommen Wir verknüpfen Sozial- und Kulturarbeit miteinander, weil soziale und kulturelle Identität einander bedingen. Zudem werden unsere Einrichtungen durch Kulturarbeit attraktiv und zugänglich für jedermann. Der sozialen Einrichtungen mitunter anhaftende negative Charakter verschwindet. Sowohl der soziale als auch der kulturelle Bereich bieten sich dafür an, aktiv mitzuwirken oder sich passiv zu entspannen. (Beispiel: Musik, Theater, Tanz, Malen, Lesen und Schreiben, handwerkliches Arbeiten, Körperbewegung u. ä.). Soziale Kompetenz mit Kultur und Kommunikation schaffen Kulturelle Aktivitäten haben einen außerordentlichen sozialen Wert. Kulturarbeit ist aktive Beteiligung, eigene Gestaltung und Verwirklichung oder auch nur neugierige Teilhabe. Kulturarbeit ermöglicht die Darstellung von Ängsten, von Träumen, von Wünschen – sie ist Ausdruck wirklicher Lebensverhältnisse und ihre Sprache wird von allen verstanden. Kulturarbeit gibt subjektiven Bedürfnissen Raum, schafft kommunikative Strukturen und aktiviert soziale Kontakte und soziales Leben. Kulturarbeit hält Geist und Körper jung und gesund und schafft Vertrautheit mit Dingen und Menschen, führt zu Kompetenz und Selbstbewusstsein über erbrachte Leistungen. Selbsthilfe für mehr Gesundheit und Wohlbefinden Wir ermuntern zur Selbsthilfe im sozialen und oder gesundheitlichen Bereich, zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person oder mit den unmittelbaren Lebensbedingungen (Beispiel: Selbsthilfegruppen für Suchtkranke für chronisch Kranke, Mütter-Kinder- Gruppen, Bürgerinitiative zum Schutz der Straßenbäume, Tauschbörse). Die Selbstorganisation der Bürger stärken Wir unterstützen jede Form der Selbstorganisation der Bürger, in dem wir Räume, Technik, Wissen und Erfahrung zur Verfügung stellen und, falls gewünscht, Kontakte zur Öffentlichkeit, Presse, Politik, Verwaltung herstellen und im Konfliktfall vermitteln (Mediation). Gelegenheiten für Bildung und Betätigung schaffen Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung lassen sich nicht nur aus materiellem Wohlstand begründen. Deshalb sind soziale Einrichtungen dann nicht mehr attraktiv, wenn sie nur „Fertiggerichte“ und Herkömmliches anbieten. Die Organisationsformen

8

und Handlungsstrukturen der Einrichtungen des Nachbarschaftsheims Schöneberg e. V. sind daher darauf ausgerichtet, jedem Beteiligung, eigene Gestaltung und über seine Betätigung Anerkennung zu ermöglichen. Wir wollen Gelegenheiten schaffen: für diejenigen, die sich treffen, bilden und kulturell betätigen, die ihre Kreativität entfalten und sich engagieren wollen und für diejenigen, die gemeinschaftlich ihre persönlichen oder die Probleme des Gemeinwesens bearbeiten wollen. Mitwirkung und Beteiligung – freiwillige Mitarbeit und Bürgerengagement Als Mitglied im Verein Nachbarschaftsheim Schöneberg e. V., in Nutzergremien und Sprecherräten sind die Besucher/innen des Hauses und die Bürger des Stadtteils dazu aufgerufen, auf Ziele und Entwicklungen unserer Arbeit und Einrichtungen Einfluss zu nehmen. Wir bieten eine Plattform für gesellschaftliches Engagement, ehrenamtliche (freiwillige) Mitarbeit und Bürgerbeteiligung. Wir bieten transparente Entscheidungen auf allen Ebenen und haben zur Förderung von Bettätigung und Beteiligungen ein Interesse daran, dass sich die Bürger mit den Strukturen unseres Vereins und der Einrichtungen vertraut machen. Hilfe und Beratung – sensibel für Probleme Neben dem Versuch, den Bedürfnissen nach Kommunikation und kulturellen Interessen der Besucher gerecht zu werden, bemühen wir uns auch - auf Wunsch- die persönlichen Probleme der Besucher aufzugreifen und qualifizierte Beratungsarbeit zu leisten, insbesondere durch Sozialberatung, Mieterberatung, Rechtsberatung, Pflegeberatung und beschäftigen dafür entsprechend qualifiziertes Personal. Wenn wir selbst nicht ausreichend beraten können, vermitteln wir in entsprechende Beratungsstellen. Beschäftigung und Qualifizierung – Arbeit für die Nachbarschaft Wir schaffen den Rahmen für den Wiedereinstieg in das Berufsleben für Frauen und für Personen, die es aus verschiedenen Gründen schwer haben auf dem regulären Arbeitsmarkt zu bestehen. Hierzu begleiten wir die Personen individuell, qualifizieren und beschäftigen auf sinnvollen Arbeitsplätzen, die zur Verbesserung der Lebensqualität im Stadtteil beitragen, wobei wir uns auch der Ressourcen von Kooperationspartnern bedienen. Qualifizierte Dienstleistungen Wir schaffen die für die Bürger im Stadtteil erforderlichen sozialen Einrichtungen und Dienstleistungs-


angebote, z.B. integrative Kindertagesstätten, Kinderund Jugendfreizeiteinrichtungen, ambulante und teilstationäre Pflegedienste(Sozialstationen), rechtliche und persönliche Betreuungen, Familienbildungsangebote und Familiendienste, Ambulante Erziehungshilfen, Integrationsangebote an die Bevölkerung ausländischer Herkunft, Dienste für Senioren und Selbsthilfegruppen, Beschäftigungs- und Qualifizierungsangebote. In allen diesen Einrichtungen wird nach professionellen Standards und Kriterien gearbeitet und werden.

che Presse- und Medienarbeit ergänzt, insbesondere auch in der Zusammenarbeit mit den lokalen Medien.

Öffentlichkeit und Transparenz für die Bürger

Die Mitarbeiter/innen in den einzelnen Arbeitsbereichen sollen die Aufgaben weitgehend selbständig und in eigener Verantwortung nach den hier beschriebenen Grundsätzen wahrnehmen und dazu beitragen, dass durch eine übergreifende Zusammenarbeit die Ziele optimal im Interesse der Bürger des Stadtteils erfüllt werden. Jede(r) Mitarbeiter(in) ist eingeladen, seine Fähigkeiten, Ideen und Wünsche in den Arbeitsalltag und in das Programmangebot des Nachbarschaftsheims einzubringen und verpflichtet, sich fortzubilden

Zur Transparenz und Akzeptanz gehört eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, die umfassend informiert und aktuell ist (regelmäßige Programmhefte, Flyer, Werbezettel, Monatskalender, Broschüren, Jahresberichte). Selbstverständlich müssen hierfür auch die neuen Medien und deren technische Möglichkeiten genutzt werden (Internet, E-Mail- Adressen). Die direkte Information der Bürger und der Institutionen, mit denen wir zusammenarbeiten,wird durch eine kontinuierli-

Anregungen und Beschwerden: für uns ein Geschenk Anregungen und Beschwerden von Kunden, Nutzern, Besuchern, Bürgern und Institutionen helfen uns, Schwachstellen zu erkennen und unsere Aufgaben besser zu erfüllen. Verantwortliche und zugewandte Mitarbeiter/innen

Inklusion - eine Herausforderung Georg Zinner Statement auf der Fachtagung zur „Kundenstudie – Unterstütztes Wohnen in Berlin“, veranstaltet von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen mit Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am 8. Oktober 2009 im Rathaus Schöneberg. Im Projekt „Kundenstudie“ ging es darum,„auf der Basis von Analysen der gegenwärtigen Angebotsstrukturen und der Teilhabevorstellungen von Menschen mit Behinderungen sowie durch quartiersbezogene Praxisprojekte Impulse zur Weiterentwicklung der Strukturen der Behindertenhilfe zu geben“.

Mit Integration beschäftigen wir uns seit vielen Jahren. Der umfassendere Begriff der Inklusion ist mir erst vor wenigen Jahren begegnet. Mit dem – wenn ich den Begriff richtig verstanden habe – was damit Georg Zinner verbunden wird, sympathisiere ich sehr. Wir sind als Nachbarschaftsheime schon immer für die Stärkung der Regeleinrichtungen in dem Sinne, dass sie alle anfallenden Aufgaben übernehmen können und nicht kapitulieren müssen (oder dürfen) vor außergewöhnlichen Herausforderungen. Mit anderen Worten: ein Freund von Sondereinrichtungen bin ich nie gewesen und praktisch bin ich ihnen immer aus dem Weg gegangen und habe mit umso größerer Intensität daran gearbeitet, dass unsere eigenen Einrichtungen sich den Aufgaben stellen, die eine Nachbarschaft mit sich bringt.

Nachbarschaftsheime verstehe ich schon immer als „Haus für Alle“, als Orte, die niemanden ausgrenzen und alle einladen zum Mitmachen und Mitgestalten. Wir verstehen uns aber auch als Ort optimaler Förderung, Unterstützung und Begleitung etwa •

von behinderten Kindern in unseren Kindertagesstätten und Ganztagsbetreuungen

bei der Schaffung von Arbeitsplätzen für körperlich und geistig Behinderte (unser Anliegen ist es, hier noch besser zu werden)

mit den vielen Schularbeitshilfsangeboten in unseren Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen

bei der gesellschaftlichen Integration von Menschen verschiedener nationaler Herkunft

9


bei der Integration von Jugendlichen und Erwachsenen in den ersten Arbeitsmarkt

bei der gesetzlichen Betreuung von psychisch oder geistig beeinträchtigten Personen durch unsere Betreuungsvereine und deren hauptund ehrenamtliche Betreuer

bei der Schaffung kleinteiliger Wohnformen für vor allem demenzkranke, pflegebedürftige Menschen im Wohnumfeld.

Da ich weiß, dass es vor allem um die Inklusion geistig behinderter Kinder, Jugendlicher und Erwachsener geht, versuche ich über einige Erfahrungen aus unseren Einrichtungen zu berichten:Schon immer sind unsere Kindertagesstätten und Horte (Ganztagsbetreuungen an Schulen) Orte für Kinder mit Behinderungen gewesen, problemlos und selbstverständlich seit Jahrzehnten. Schon immer konnten wir diese Tradition in unseren Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen nicht fortführen. Zwar besuchten immer wieder – auch über längere Zeiträume – einzelne behinderte Kinder und Jugendliche diese Einrichtungen, nicht aber geistig Behinderte. Seit ein, zwei Jahren gibt es einen Versuch in der Kifrie-Musiketage mit einer integrativen – ich glaube – Trommelgruppe. Gerade vor kurzem haben mir die Mitarbeiterinnen erzählt, dass die Gruppe der geistig Behinderten wieder unter sich ist. Immerhin, sie bleiben weiter im Haus und zu meiner Freude konnte ich feststellen, dass sie auch an größeren Veranstaltungen teilnehmen, z. B. bei Präsentationen der Bands anwesend sind. Wir haben mehrere Arbeitsplätze geschaffen für erwachsene geistig Behinderte und für einige Jugendliche auch so eine Art Ausbildungsplätze. Entstanden aus Ideen der Betreuungsvereine und aus Nachfragen von Eltern, die uns kannten. So arbeiten einige in den Küchen, bzw. der Hauswirtschaft von Kindertagesstätten mit. Eine ist im Büro für leichte Tätigkeiten eingesetzt. Ein anderer arbeitet in der Ganztagsbetreuung und ist eine Art Begleiter und Unterstützer der Erzieher/innen. Wir wollen noch mehr Arbeitsplätze (und Praktikumsplätze – die es auch immer wieder gibt) schaffen und aus diesem Grund nach und nach auch ausgegliederte Tätigkeiten der Hauswirtschaft wieder in Eigenregie fortsetzen. Das ist hausintern mit den Mitarbeitern diskutiert und erklärtes Ziel. Im Moment sind die Pläne etwas in das Stocken geraten, weil die mit der Umsetzung beauftragte Mitarbeiterin für Gebäudemanagement wegen der Konjunkturprogramme mit Baumaßnahmen überschüttet ist

10

und da darf eben nichts liegenbleiben, sonst sind die finanziellen Mittel weg. Aber gerade im Haushandwerk versprechen wir uns auch noch den einen oder anderen Arbeitsplatz. Es wird wohl nicht ganz einfach sein, die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass wir das genauso als Aufgabe ansehen, wie wir MAE-Mitarbeiter oder ÖBS-Mitarbeiter beschäftigen. Dort, wo geistig Behinderte bei uns arbeiten, sind die Erfahrungen gut und ich habe noch nie jemanden gehört, der verlangt hätte, dass diese den Arbeitsplatz wieder verlassen sollten. Wie reagieren Nachbarschaftsheime auf die Anforderungen, die das Schlagwort Inklusion mit sich bringt? Wie jede andere Institution auch: abwartend und träge. Sie müssen herausgefordert werden. Von innen kann ich in unserem Haus diese Rolle immer wieder übernehmen und tue das auch gerne. Nur von außen kann aber die eigentliche Bewegung ausgehen und von dort müssen wir an unserem „Haus für Alle“ gemessen werden, wenn es nicht nur ein eingängiges Schlagwort bleiben soll. Eine Erfahrung habe ich immer wieder machen können: so sehr die Angst vor Grenzen die Menschen hemmt, neue und unbekannte Wege zu gehen, so sehr freuen sie sich und steigt ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstsicherheit, wenn sie es dann geschafft haben. Gelungene Beispiele haben wir immer wieder auch öffentlich dargestellt: im Newsletter des Nachbarschaftheim Schöneberg e.V., auf unserer Internetseite, als Thema in unserem Programmheft. Wir brauchen gute Beispiele und müssen darüber reden und das scheinbar Unmögliche zum Selbstverständlichen werden lassen, so wie es in Berlin bei der Integration körperlich auch Schwerstbehinderter in einem doch relativ kurzen Zeitraum gelungen ist. Auf meinem Weg zur Arbeit ist mir lange Zeit ein geistig behinderter Jugendlicher auf dem Weg zum Bus begegnet –immer gut gelaunt – und zurückkommen habe ich ihn auch oft gesehen. Er wohnte in der Fregestraße, da wo sich das Nachbarschaftsheim befindet. Eines Tages war er nicht mehr zu sehen und oft habe ich mich schon gefragt, was aus ihm geworden ist. Er hat mich immer wieder daran erinnert, wie es in meiner einklassigen Dorfschule war : vierzig Kinder in einem Raum, ein Lehrer – aber die schon fast jugendlichen geistig behinderten Schüler waren immer mit dabei und natürlich nach der Schule auch beim Dorfgeschehen. Nach der Schule haben sie in zwei kleinen Betrieben gearbeitet. Einfache, aber wichtige Arbeiten verrichtet. Arbeiten, die gemacht werden müssen und auf die die anderen Mitarbeiter angewiesen waren. Diese „dörflichen“ Zustände möchte ich wieder her-


gestellt haben – gewiss erweitert um das Wissen, wie die Potentiale dieser Kinder und Jugendlichen heute besser gefördert und entwickelt werden können. Aber wir wissen: Unersetzlich und konstitutiv ist die soziale Heimat, die Gemeinschaft. Jeder möchte sich in seiner Gemeinschaft angenommen und aufgehoben fühlen. Niemand möchte weggeschickt werden. Die Nachbarschaftszentren in Berlin haben das Ziel, niemanden wegzuschicken. Nun müssen sie auch beim Thema

Inklusion stärker herausgefordert werden und selbst aktiv werden. Sie bringen dafür beste Voraussetzungen mit, u. a. gerade deswegen, weil sie sehr viel bürgerschaftliches Potential mobilisieren: ihre Nähe zu Initiativen und ihre Fähigkeit, ehrenamtliche Mitarbeiter für neue Aufgaben zu begeistern, gehört zu ihren großen Stärken. Inklusion ohne Mitwirkung und Beteiligung der Bürger ist nicht denkbar.

Nachbarschaften – Berliner Erfahrungen Gelegenheiten schaffen – Stadtteilzentren als Orte der Begegnung Dr. Eberhard Löhnert Statement auf der Fachtagung zur „Kundenstudie – Unterstütztes Wohnen in Berlin“, veranstaltet von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen mit Unterstützung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am 8. Oktober 2009 im Rathaus Schöneberg. Dr. Eberhard Löhnert ist als Leiter der Geschäftsstelle Bezirke des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin verantwortlich für die Umsetzung des „Stadtteilzentrumsvertrages“ mit dem Land Berlin, durch den die Basisfinanzierung eines Großteils der Berliner Nachbarschaftseinrichtungen abgesichert wird.

In Berlin haben sich die Stadtteilzentren zu einer flächendeckenden sozialen Infrastruktur entwickelt. Ihr Leistungsprofil, das unter dem Leitgedanken „offen für alle steht“, zielt auf den Bedarf der Bürgerinnen und Bürger und ist im engeren Sinne keiner speziellen Zielgruppe zuzuordnen: •

• • • •

Förderung von Nachbarschaftsarbeit, Selbsthilfe und Ehrenamt sowie zivilgesellschaftlichem Engagement, auch als Unterstützung von Initiativen und Initiativgruppen im Stadteil, niederschwellige Beratung und bei Bedarf Vermittlung an regionale bzw. bezirklichagierende Fachdienste familienunterstützende Angebote Gesundheitsfürsorge bzw./ und Gesundheitsprävention mit zu gestaltende Freizeitangebote Aufbau bzw. Weiterentwicklung vieler Kommunikations- und Netzwerkverbünde.

Stadtteilzentren sind Orte der Begegnung, an denen Menschen verschiedener Herkunft miteinander im Gespräch sind, gemeinsame Projekte planen und durchführen und Einfluss auf den Stadtteil nehmen können. Sie ermöglichen in ihren Räumen Selbstorganisation und Selbsthilfe der Bürgerinnen und Bürger, zivilgesellschaftliches Engagement. Jährlich besuchen ca. 1,2 – 1,5 Millionen Besucher diese Einrichtungen, wobei sich immer mehr Besuche-

rinnen und Besucher von Konsument/innen zu Mitgestalter/innen entwickeln. Für die Stadtteilzentren stehen jährlich 3,7 Millionen Euro sowie 1,3 Millionen zusätzliche EU-Mittel zur Verfügung. Der PARITÄTISCHE in Berlin ist sowohl bei der Finanzierung der Stadtteilzentren und Seniorenprojekte als auch bei den EU-EFRE Mitteln Treuhändler des Landes Berlin. Zu den Potenzialen aktiver Nachbarschaftsarbeit gehört, dass die Prinzipien von gegenseitigen Respekt und Toleranz gelebt werden, die Beseitigung von Barrieren und sozialen Schranken eingefordert und gesellschaftliche Vielfalt und Kultur als eine entscheidende Ressource umgesetzt wird. Im Rahmen des Treuhandvertrages des PARITÄTISCHEN mit dem Land Berlin werden derzeit 25 Nachbarschaftshäuser, 12 Selbsthilfekontaktstellen, die gesamtstädtischen Projekte SEKIS und der Treffpunkt Hilfsbereitschaft gefördert. Dazu kommen 16 Projekte der Senioren- und Selbsthilfearbeit sowie 37 Projekte für bürgerschaftliches Engagement mit Hilfe von EU-Mitteln. Für Stadtteilzentren ist die UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen der aktuelle Maßstab. D.h. u.a. konkret, in alle Überlegungen und Initiativen der Stadtteilzentren behinderte Menschen maßgeblich in die Gestaltung ihrer Stadtteile sowie ihres Lebensumfeldes einzubeziehen.

11


Dazu gehört – und Stadtteilzentren nutzen dies zunehmend – behinderte Menschen als Expertinnen und Experten in eigener Sache zu konsultieren, um tatsächlich eine Umgebung zu schaffen, in der sich behinderte Menschen als gleichberechtigt wahrgenommen und als Teilnehmende wohl fühlen. Der Tradition der Settlementbewegung folgend sehen die Stadtteilzentren die Menschen niemals schlechthin als Objekt der Fürsorge, sondern als Akteure in den Einrichtungen und im Sozialraum selbst. Zu den Potenzialen aktiver Nachbarschaftsarbeit gehört, dass die Prinzipien von gegenseitigen Respekt und Anerkennung gelebt und die Stärken jedes Menschen als Ressource gesehen werden, die Beseitigung von Barrieren und sozialen, gesundheitlichen Schranken eingefordert, gesellschaftliche Vielfalt und Kultur als unverzichtbare Chance eingebracht wird. Nur wenn es alltäglich gelingt, die Bedürfnisse von Menschen, auch von Menschen mit Behinderungen, von Anfang an einzubeziehen, sind Stadtteilzentren wirklich offen für alle. Mit der Umsetzung des Konjunkturprogramms II sowie bei der angedachten Verteilung von finanziellen Ressourcen aus dem ehemaligen SED Vermögen werden in Berlin alle vom Land geförderten Stadtteilzentren einen barrierefreien Zugang erhalten. Für dieses Ziel setzt sich der PARITÄTISCHE sehr aktiv und erfolgreich ein. Damit sind nicht allein die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern gemeint. Sondern auch, dass die Veranstaltungen für sehbehinderte und blinde Menschen attraktiv sind, bei Einladungen und Projekten auf große Schrift geachtet wird und generell auf barrierefreie Gestaltung der Webseite, offene Veranstaltungen auch auf die Einbeziehung von Menschen mit Lernbehinderungen ausgerichtet sind, Vorträge in einer Sprache und in einem Tempo vorgetragen werden, die es einem Gebärdendolmetscher ermöglichen, das Wesentliche richtig zu übersetzen. Zu den Hauptaufgaben für die Zukunft gehört es, dass sich die Stadtteilzentren mit ihren Erfahrungen noch stärker für integrierte Gesamtkonzepte in den Stadtteilen engagieren, damit niemand durch bauliche oder kommunikative Barrieren ausgeschlossen wird. Die Verteilung der Ressourcen auf Stadtteile/ Sozialräume und die Erschließung der Nachbarschaftszentren als Orte der Mitwirkung und Gestaltung von Menschen mit Behinderungen hat sich inhaltlich und strukturell in den letzten Jahren wesentlich verbessert. Trotzdem bleibt es eine ständige Herausforderung an die Praxis.

12

Aber es muss auch eine noch größere Herausforderung an die Träger der Behindertenhilfe selbst werden, über deren engeres Wohnumfeld hinaus die Ressourcen des Stadtteils und seiner Bürgerinnen und Bürger zu erschließen. Stadtteilzentren als Orte, als Vernetzer, als konzeptionelle Mitdenker, als Vermittler von Ehrenamt stehen dafür als Partner bereit. Die Öffnung des sozialen Raums erhöht auch die Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen. Kompetentes Handeln verlangt, dass auch die Behindertenhilfe sich weiter öffnet und notwendig Prozesse von Veränderungen begleitet und anschiebt. Hier ist auch viel Sensibilität notwendig. Nehmen wir ein Beispiel: Dass Toiletten barrierefrei sein müssen, ist logisch. Aber was heißt das? Ein rollstuhlfahrender Besucher oder eine rollstuhlfahrende Besucherin müssen im Stadtteilzentrum nicht lange suchen und keine langen Umwege machen, um das bewusste Örtchen zu finden, mit genügend breiten Türen, entsprechend ausgestatteter Toilette und Waschbecken. Aber danach ein Blick in den Spiegel? - ist nicht möglich, weil er zu hoch hängt. Dann kann man zwar die Toilette nutzen, kann sich aber nicht vergewissern, ob Haare und Hemd oder Bluse richtig sitzen. Man muss unsicher wieder hinaus fahren zu den anderen, meist nicht behinderten Besuchern, die einen ohnehin schon genauer beobachten. Solche “Kleinigkeiten” stehen in keiner DIN-Norm. Sie werden nur bekannt und können in ihrer Bedeutung nur erkannt werden, wenn das Stadtteilzentrum ein Ort ist, an dem offen und achtsam darüber geredet werden kann und wenn dort aufmerksam, wertschätzend zugehört wird. Inklusion kann auch ganz einfach sein. Für die Stadtteilzentren heißt das: Jeder Mensch ist willkommen und wird gebraucht – und kann das auch genau spüren. Und das ist eben auch mehr als Integration, es ist ein Rahmen für selbstbestimmtes Leben ohne Barrieren in den Köpfen der Mitmenschen. In diesem Sinne ist für Menschen mit Behinderungen wie für alle anderen auch der Sozialraum ein Ort des Mitgestaltens, der Solidarität, des Genusses, des Kennenlernens von Kultur, Sport u.a. Vergnügens, ein Ort von Teilhabe und Partizipation. Wie heißt es in einer afrikanischen Weisheit? „Um einen jungen Menschen zu erziehen, ist ein ganzes Dorf vonnöten“.


Vom Nutzen der Kooperation der Institution Schule mit einem freien Träger? Aus der Perspektive der Schule betrachtet Eva Schmoll Eva Schmoll ist Schulleiterin der Nikolaus-August-Otto-Oberschule, einer Hauptschule im Berliner Bezirk Steglitz. Der hier abgedruckte Text war ein Statement auf der Fachveranstaltung „Stadtteilzentren und Schulen“, die das Nachbarschaftsheim Schöneberg mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband gemeinsam am 28. Mai 2009 durchgeführt hat. Das Nachbarschaftsheim Schöneberg ist verantwortlicher Träger der Schulsozialarbeit an der Niko-

Ich bin sein 36 Jahren im Schuldienst, immer an der Hauptschule, insofern kenne ich einiges Leid, das durch Mängel in den Absprachen, bezüglich gemeinsamer Ziele und Vorhaben eine gute Zusammenarbeit erschwert oder gar verhindert. Ich werde aber auch begeistert von unserer ungewöhnlich guten Kooperation mit dem Nachbarschaftsheim Schöneberg berichten, das uns zu einer Schulsozialarbeit verholfen hat, die integraler Bestandteil des Schullebens ist und die sich sehen lassen kann. „Ämter brauchen Gesichter“ Schon vor 25 Jahren, unter dem Eindruck zunehmender Probleme mit unseren Schülerinnen und Schülern, waren wir der Meinung, einen Sozialarbeiter an unserer Schule zu benötigen und forderten dies vom Jugendamt. Unter dem Stichwort „Ämter brauchen Gesichter“, das ich noch heute für richtig halte, waren wir bei der Fülle von Herausforderungen, mit denen unsere Jugendlichen und ihre Familien zu tun hatten, sicher, dass Hilfeangebote besser genutzt würden, wenn es Ansprechpartner dafür in der Schule gäbe, die über Hilfen Bescheid wissen und in das Genehmigungsverfahren von Hilfen eingebunden sind. Sie ahnen die Antwort? Geht nicht, die Zuständigkeit richtet sich nach Wohnstraßen. Die Abteilung Jugend war aber bereit, soziale Gruppenarbeit an der Schule anzusiedeln. Eine Gruppe bedürftiger Jugendlicher war schnell zusammengestellt. Die Gruppenleiter ließen sich von uns die Jugendlichen schildern, waren erstaunt und dankbar für die Menge an Hintergrundinformation, die sie bekamen und die ihnen den Einstieg in ihre Arbeit erleichterte. Was danach geschah, würde ich als Topfehler einer Kooperation zwischen Schule und ihren Helfern bezeichnen. Trotz parallel laufender Gespräche zwischen Helfern und uns nahmen die Schwierigkeiten nicht ab, sondern sogar zu. Die Schüler positionierten sich zum Teil deutlicher gegenüber KollegInnen, ohne dass diese darauf vorbereitet wurden, herausforderndes Verhalten nahm zu. Mitunter beriefen sich die Jugendlichen in der Verteidigung ihres Verhaltens auf

die Gruppenleiter. Der Versuch, in den begleitenden Gesprächen Gründe für dieses Verhalten herauszufinden, offenbarte eine Haltung, die Gift für eine gelungene Zusammenarbeit ist: Vertraulichkeit als Schutzwall für Helfer. Anstatt die KollegInnen darauf vorzubereiten, dass es darum geht Eigenverantwortung zu lernen, zu lernen die eigene Meinung zu äußern und zu vertreten und sie um Fehlertoleranz zu bitten, wenn Jugendliche bei ihren ersten Gehversuchen überziehen, entstand ein Klima des Misstrauens, des Über-Einander-Redens, verbunden mit zunehmender Abgrenzung. Wir hatten den Eindruck Informationen preisgegeben zu haben, um einen möglichst guten Gruppenstart zu ermöglichen, aber keine Hinweise zu bekommen, die unser Verständnis für die Jugendlichen wachsen ließen. Darüber hinaus gab es keine gemeinsame Erwachsenenebene mehr. Die Kinderebene hatte aber deutlich mehr Gewicht bekommen, war wichtiger geworden als die Erwachsenenebene, ohne dass wir darauf vorbereitet waren. In diesem Fall gelang es uns leider nicht, zu einer gemeinsamen Ebene zurückzufinden, deshalb ließen wir diese Hilfe auslaufen, ein schales Gefühl blieb zurück, wir hatten Verlierer auf allen Ebenen. Worauf Schule achten muss Meine nächste Erfahrung stammt von einem Fachtag, an dem Erzieher und Sozialpädagogen an Schulen davon berichteten, wie schlecht es ihnen an Schulen geht. An diesem Tag habe ich gelernt, worauf Schule achten muss, wenn es zu einer gelungenen Kooperation kommen soll. Beklagt wurde von den Anwesenden, dass sie sich als lästiges Anhängsel erleben, nicht integriert sind und als Hilfsarbeiter genutzt werden, die Anweisungen empfangen. Die ihnen zugewiesene Zuständigkeit betraf herausforderndes Verhalten. Dieses sollten sie möglichst umgehend abstellen, so als gäbe es einen geheimen, sozialpädagogischen Knopf, der, wenn man ihn nur kennt, als Soforthilfe tauglich ist. Sie sollten unangenehme Elterngespräche übernehmen,

13


darin aber die Sicht der Schule repräsentieren. Mir gab das damals sehr zu denken und ein Prozess des Nachdenkens darüber begann, was die Institution Schule leisten kann und muss, um die Chancen zu nutzen, die Schulsozialarbeit bietet. • Verstanden habe ich, dass es ein Ungleichgewicht auszutarieren gilt, wenn Schulsozialarbeiter fremdes Terrain betreten, nämlich unser Haus, in dem wir seit Jahren agieren. • Die „Bewohner“ – wir Lehrerinnen und Lehrer machen den Fehler, als Verhalten des „Gastes“ Zurückhaltung zu erwarten, sowie die ausschließliche Nutzung des Gastzimmers, das wir selbst tunlichst nur selten betreten – wir wollen ja nicht stören… • Schule macht sich ganz offensichtlich zu wenig Gedanken darüber, dass Schulsozialarbeit nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie integraler Bestandteil von Schule ist und Partner einander begegnen, die gleichberechtigt sind und dies auch leben. Gleichberechtigung ist schwer zu erreichen, da schon die unterschiedliche Bezahlung oft eine erste Hürde darstellt. Ich empfinde die geringe Bezahlung aller helfenden und sozialen Berufe als eine Geringschätzung, die unsere Gesellschaft sich nicht leisten sollte. Es erfordert menschliche Größe, dieses Hindernis nicht zum ständigen Stolperstein in der Zusammenarbeit werden zu lassen. • Auffallend war auch, dass die am Fachtag anwesenden Fachkräfte darüber klagten, wiederholt ungewollt ungeschriebene Gesetze übertreten zu haben. Darüber hinaus konnten sie manche Elternklagen gut nachvollziehen, wenn diese über Geringschätzung und belehrendes Verhalten, verbunden mit Erziehungstipps oder Schuldzuweisungen berichteten. Sie gerieten aber gleichzeitig in Konflikte, wenn sie diesen Informationstransport leisteten. Ihr Auftrag seitens der Schule schien zu lauten: Schaffe Abhilfe für meine Probleme, ohne mich weiter zu behelligen. Ich hatte nach diesem Fachtag den Eindruck, dass unsere Ausbildung und unser Unterrichtsauftrag Kooperation schnell behindern, wenn wir unseren pädagogischen Standpunkt nicht überdenken. LehrerInnen sind ausgebildet auf Fehler zu achten, diese zu erkennen, zu benennen und nach Möglichkeit zu beheben. Von der Wichtigkeit von Fehlern, ihrer Voraussetzung für die Erkenntnisgewinnung erfahren LehramtsstudentInnen auch heute im Studium noch nichts. So lernen sie leider auch nicht Fehlertoleranz zu entwickeln und schon gar nicht, dass Fehler die Chance bieten zu erkennen, wo Bedarf besteht.

14

• Als Voraussetzung für eine gelungene Kooperation sehe ich auch die genaue Zielklärung und eine offene gegenseitige Information, wenn sich Änderungen ergeben, um ggfs. gemeinsam neue Weichenstellungen vorzunehmen oder zu erkennen, dass das Vorhaben zunächst nicht verwirklicht werden kann. Darüber hinaus das sorgfältige Abwägen von Chancen, Nutzen und Schwierigkeiten, wenn die Erweiterung eines Vorhabens geplant ist. Aus heutiger Sicht würde ich immer eine Erprobungsphase vereinbaren, nach der der Erfolg überprüft wird, um Veränderung von Weichenstellungen von vornherein einzuplanen und das Gefühl des Scheiterns zu umgehen. Insbesondere bei dem Versuch Arbeitssuchende für Schulgestaltung zu nutzen, haben wir viele unbefriedigende Erfahrungen gemacht. Wir brauchten Arbeitskräfte und Menschen kamen, die berechtigterweise Ansprache suchten, eingearbeitet werden mussten und erhebliche Schwierigkeiten hatten, ihre Rolle zu finden. In den meisten Fällen trafen unsere Jugendlichen auf Menschen, die sie an ihre Schwierigkeiten zuhause erinnerten. Alkohol- und Drogenmissbrauch waren Thema, Distanzlosigkeit, ebenso wie Härte, Imponiergehabe oder eine Verschiebung der Ebenen zwischen Erwachsenem und Kind. Auch hier haben wir den Wunsch zu kooperieren beendet, weil es unseren Kooperationspartnern in erster Linie um ihre Belange der Vermittlung von Arbeitskräften ging und die Belange unserer Jugendlichen schwer nachzuvollziehen blieben. Erfolgreiche Kooperation benötigt auch Zeit für die Begleitung des gemeinsamen Projekts und stabile Persönlichkeiten, die sich auf die Diskussion der Inhalte einlassen können. Mein letztes Beispiel erzählt von gelungener Kooperation, bei der beide Partner ihr Bestes einbringen und gemeinsam gestalten. Für unsere Schule ist diese Möglichkeit der Kooperation ein unerwartetes, schon lange ersehntes, tägliches Geschenk. Diese so gelungene Zusammenarbeit begann vor wenigen Jahren, als Schulsozialarbeiter an alle Hauptschulen kamen. Vom Zeitpunkt der Suche nach geeigneten Personen an, begann ein offener Austausch, wurden klare Absprachen getroffen, fanden gemeinsame Auswahlgespräche statt und wurde immer wieder geprüft, ob alle Weichen gut gestellt sind. Zusammenarbeit Dass diese gelang und weiterhin gelingt basiert auf: • Offenheit auf beiden Seiten und Aufgabenklärung vor Beginn und im Verlauf eines Vorhabens. Die Partner müssen ein gemeinsames Verständnis für ein Vorhaben entwickeln, bevor geklärt wird, wer wofür den Hut auf hat und an der Verwirklichung des Projekts gearbeitet wird.


• Es braucht Wendigkeit im Denken. Jeder kennt sein Metier und bringt sich ein. Kommt kein Ergebnis zustande, denkt jede Seite für sich weiter, sucht Berührungspunkte und Lösungen, die neue, gemeinsame Wege möglich machen. Diese werden erneut abgeglichen. Dass nicht für jedes Problem eine sofortige Lösung gefunden werden kann, ist einer solchen Kooperation immanent und wird nicht als Mangel angesehen.

• Gelungene Kooperation benötigt Vertrauensvorschuss in den neuen Partner, der vor Ort arbeiten wird. Der Versuch, durch zu enge Absprachen und Vorgaben die Kontrolle über ein künftiges Ergebnis zu gewährleisten, behindert die Einarbeitung und die Kreativität beim Entwickeln passgenauer Projekte und Verfahrensweisen. Beide Partner müssen offen sein für Neues, Irrwege sind erlaubt, werden benannt und ausgewertet.

• Jede Seite schätzt den Kooperationspartner und drückt dies auch aus. Ganz ehrlich würde ich am liebsten täglich bei Herrn Palmowski oder Georg Zinner anrufen, um von unserem Schulsozialarbeiter zu schwärmen und mich für die gelungene Kooperation zu bedanken, die der Träger immer wieder neu ermöglicht.

• Es braucht im Fall der Schulsozialarbeit aber auch Menschen, die ihr Selbstverständnis kritisch prüfen. Wir haben an unserer Schule zum Glück einen ungewöhnlich engagierten Schulsozialarbeiter, der Grenzen setzt und Respekt auch gegenüber der Erwachsenenebene, trotz lockerem Kontakt, einfordert. Der Vertraulichkeit gewährleistet und es dennoch schafft, uns durch den Transport wesentlicher Inhalte auf das vorzubereiten, was uns erwartet. Ich muss nicht alle Details kennen, die ein Jugendlicher offenbart hat, bin aber dankbar für den Hinweis, dass so einschneidende Probleme und Veränderungen im Alltag eines Schülers anstehen, dass er keine Kraft mehr haben wird, sich zusammenzureißen und sich vermutlich bei uns gehen lassen wird, wo er sich geschützter fühlt als im privaten Umfeld. Im Konflikt mit dem Jugendlichen treffe ich also auf eine Situation, für die ich mir deeskalierendes Handeln vorher überlegen konnte und bin sehr dankbar für entsprechende Hinweise.

• Nur gelebte Gleichwertigkeit der Partner und aller am Schulleben beteiligten Personen, ermöglicht die Begegnung auf Augenhöhe. Jede Seite bringt die Kompetenz ein, über die sie verfügt und vertraut der Kompetenz des Partners, wo die eigene endet. • Ohne die Anerkennung von Gleichwertigkeit von Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen geht es nicht. Diese innere Haltung bedeutet, das eigene Konzept auf Möglichkeiten der Beteiligung immer wieder kritisch zu überprüfen und dort zu erweitern, wo Beteiligung fehlt. Gleichwertigkeit ist aber nicht zu verwechseln mit Gleichberechtigung. Diesen Unterschied gilt es täglich gegenüber Jugendlichen zu erklären, aber auch zu leben. Gelungene Schulsozialarbeit braucht eine hohe Kompetenz auf Seiten der Person, die diese leistet. Wir benötigen sensible Menschen, aber keine Weicheier, gute Kenntnis von Hilfemöglichkeiten und keine leeren Versprechungen, Menschen mit Gesprächs- und Verhandlungskompetenz und keine Plaudertaschen, belastbare Persönlichkeiten, die nicht bei jedem herausfordernden Verhalten unserer Jugendlichen Schiss kriegen. Menschen, die bereit sind, sich - so wie wir auch – den Jugendlichen für die Konfrontation mit Erwachsenen zur Verfügung zu stellen, wenn unsere Schülerinnen und Schüler diese suchen und dennoch einfühlsam zu reagieren, wenn sich nach Wut und heftiger Aggression Trauer und Enttäuschung endlich zeigen. Wichtig finde ich ebenso, nicht mehr Kompetenz vorzutäuschen als vorhanden ist, sondern gemeinsam auszuloten, an welcher Stelle die Kooperation mit weiteren Partnern möglicherweise sinnvoll ist oder eine gemeinsame Fortbildung den Horizont aller erweitern wird.

• Schulsozialarbeit kann nur gelingen, wenn sie in den schulischen Alltag voll integriert ist. Sie wird bei uns als gleichwertiger Bestandteil erlebt und darf zur Erfüllung des Auftrags eigene Verfahren nutzen, ohne diese beständig zu begründen oder gar zu rechtfertigen. Ein Austausch über die Jugendlichen findet statt, sodass keine unerwarteten Ereignisse eintreten, die zu Konfrontationen führen könnten. • Vom Schulsozialarbeiter wird nicht mehr erwartet und verlangt, als jeder von uns beitragen kann. Dennoch erkennen wir die besonderen Möglichkeiten des anderen Umgang mit unseren SchülerInnen an, der frei ist von verordneter Bewertung und in stärkerem Maße die Individualität des einzelnen berücksichtigen kann. Da wir das Engagement unseres Schulsozialarbeiters sehr bewundern, erkennen wir diese Möglichkeit als zusätzliche Chance und ohne Neid an. Was bringt eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Schulen und freien Trägern und welcher Voraussetzungen bedarf es? • Zuallererst werden durch diese fruchtbare Zusammenarbeit alle Jugendlichen unserer Schule erreicht. Wo sonst kommt man so schnell an gefähr-

15


dete Jugendliche heran? Im Sinne der Prävention bedeutet das, dass Jugendliche und ihre Familien wesentlich früher und schneller erreicht werden können. Auf erste Anzeichen kann reagiert werden. Angebote an Kinder und Eltern können gemacht werden, die aus einer natürlichen Situation entstehen. Für die Jugendlichen in Jungen- und Mädchengruppen, an denen alle SchülerInnen teilnehmen, für ihre Eltern immer dann, wenn es eng geworden ist. Das sind Klassenkonferenzen oder Schulhilfekonferenzen, wo Eltern und alle Helfer gemeinsam überlegen, welche Hilfe benötigt wird und Sanktionen so vermieden werden können. Und es bedarf des beidseitigen Verzichts auf Exklusivrechte am Kind. Es braucht die gegenseitige Wertschätzung gegenüber der Leistung für die Jugendlichen, ein selbstverständliches Teilnahme- und Mitgestaltungsrecht auf allen Ebenen, die in den Unterrichtsvormittag integrierte Möglichkeit mit Jugendlichen zu arbeiten, sowie die Überzeugung, dass die Arbeit am Kind immer wieder individuelle Lösungen erfordert, verbunden mit den dafür notwendigen gemeinsamen Absprachen. So gemeinsam zu arbeiten ermöglicht eine Begegnung auf Augenhöhe. Diese führt zu einem entspannten Klima unter den Erwachsenen, was den Jugendlichen und uns selbst zugute kommt.

16

Durch gelungene Schulsozialarbeit und gute Kooperation mit dem Träger, zieht zusätzliche Kompetenz in die Schule ein. Im sozialpädagogischen Bereich ebenso, wie im Ausbau der Teilhabe von Jugendlichen im Schulalltag. Schule nutzt die Trägerstruktur mit und trifft schnell und problemlos auf kompetente Gesprächs- und Arbeitspartner, wo ohne diese gewachsene Struktur eine mühselige Kleinarbeit anstünde, um überhaupt -wenigstens einen - Gesprächspartner zu finden. Auch die Gefahr von Kopflastigkeit innerhalb der Institution Schule verringert sich durch neue Impulse. Beteiligung, als immanentes Prinzip von Schulsozialarbeit, fördert die Eigenverantwortung der Jugendlichen und fordert von uns Lehrerinnen und Lehrern Gelegenheiten zu schaffen, damit unsere Schülerinnen und Schüler sich in der Übernahme von Verantwortung erproben können. Die Entwicklung ihrer Persönlichkeit wird gefördert und bekommt ein noch stärkeres Gewicht. Schule kann sich von der Institution zum Lebensraum entwickeln. In der Kooperation mit freien Trägern gewinnt Schule eine zusätzliche Evaluationschance der eigenen Arbeit, fernab von interner oder externer Evaluation durch die Schulinspektion. Durch Außensicht, den anderen Blick des Partners, anders gelagerte Schwerpunkte der Arbeit, können wir bei aufmerksamem Zuhören immer wieder Hinweise auf neue Entwicklungsschwerpunkte bekommen. Voraussetzung für ein solch offenes Ohr ist der Mut, nicht perfekt zu sein.


Jugendarbeit und Räume - einige Berliner Erfahrungen Stadträume verändern sich Willi Essmann Dieser Beitrag ist mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber dem Buch „Betreten Erlaubt! Projekte gegen die Verdrängung Jugendlicher aus dem öffentlichen Raum“ entnommen. Das Buch ist Anfang 2009 im Barbara Budrich Verlag, Leverkusen Opladen erschienen und wurde von Prof. Ulrich Deinet (Fachhochschule Düsseldorf ) gemeinsam mit Heike Okrov, Georg Dodt und Angela Wüsthof herausgegeben. Willy Essmann ist Leiter des Projektes OUTREACH / mobile Jugendarbeit in Trägerschaft der Berliner Landesgruppe des Verbandes für sozial-kulturelle Arbeit. a) Zur zunehmenden Verregelung des öffentlichen und des halböffentlichen Raumes ist im Rahmen der stadtsoziologischen Forschung und der Forschungen zur Jugendarbeit ausgiebig diskutiert worden. Auch in Berlin ist diese Entwicklung gut zu beobachten. Die Zunahme der Verregelung der Räume in öffentlichen und halböffentlichen Sphären findet ihren Ausdruck unter anderem in den in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren überall entstandenen Einkaufszentren, durch die Einführung von Ordnungsdiensten (schwarze Sheriffs), die im Auftrag der jeweiligen Bezirksämter durch Parks und Öffentlichen Grünanlagen patrouillieren, durch die öffentliche Zunahme des Straßenverkehrs u.v.a.m. b) Bei der Betrachtung der Entwicklung und Veränderung von (Stadt-)räumen kommt in Berlin und sicherlich auch in einigen anderen deutschen Großstädten ein weiteres Faktum hinzu: Durch die zunehmende Segregation von Zuwanderern in einigen wenigen Stadtbezirken oder Teilen von Bezirken kommt es zu einer ethnischen Entmischung der Stadtteile oder von Teilen davon. Nach den Erhebungen von Häußermann und Kapphan haben sich in der Stadt Gebiete entwickelt, die Gefahr laufen, sich nicht nur von der gesamtstädtischen Entwicklung abzukoppeln, sondern die eine eigene Sphäre entwickelt haben, in der die Menschen von der sie umgebenden „Reststadt” nicht mehr erreicht werden. Dies ist ja nun nicht per se problematisch. Die negativen Aspekte einer solchen Entwicklung überwiegen aber dann, wenn der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt ist und die soziale Mobilität blockiert ist. Dies ist in Berlin häufig in den betreffenden Kiezen der Fall. „Erst das Zusammenwirken von ethnischer Orientierung und Armut macht also die Konzentration zu einem Problem für die Angehörigen einer Kolonie”1 c) Neben der ethnischen und ökonomischen Spaltung der Stadtteile kommt es auch zu einer „generationalen“ Aufspaltung mit weitreichenden Folgen. In einigen Stadtteilen findet sichtbar oder auch nur fühlbar eine Überalterung statt. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Berlin-Brandenburg hat

sich die Bevölkerungszahl in beiden Teilen Berlins ähnlich entwickelt: „Nach einem Anstieg von 1990 bis 1994 ging sie seither beiderseits zurück. Ende 1999 lagen die Werte unter dem jeweiligen Ausgangswert. Bei den Zahlen der Lebendgeborenen verlief die Entwicklung unterschiedlich. Während im Westteil die Zahl der lebend geborenen Kinder in der langfristigen Tendenz kontinuierlich zurückgegangen ist, kam es im Ostteil im Jahr nach der Vereinigung zu einem drastischen Rückgang der Geborenenzahl. 1991 wurden hier 44 Prozent weniger Kinder geboren als 1990, der Rückgang setzte sich auch in den beiden Folgejahren fort, wenngleich nicht in diesem Ausmaß. Seit 1994 steigt die Zahl der Lebendgeborenen im östlichen Teil tendenziell wieder leicht an. Bei der Altersstruktur hat es eine Anpassung gegeben. Waren im Jahr 1990 die Menschen im Ostteil der Stadt im Schnitt 4,4 Jahre jünger als die Einwohner des Westteils, so betrug die Differenz im Jahr 1999 nur noch 2,2 Jahre. (...) Im April 1991 gab es in Berlin 412 300 Familien mit Kindern unter 18 Jahren; 1999 waren es nur noch 366 400 und damit 11,1 Prozent weniger. Im Ostteil Berlins war der Rückgang der Zahl der Familien mit minderjährigen Nachkommen und der Zahl der unter 18jährigen Kinder enorm hoch. Noch 1991wohnten dort 192 000 dieser Familien und 292 400 Minderjährige; im Jahre 1999 waren es weniger: 21,8 Prozent bei den Familien (Stand: 150 100) und 25,0 Prozent bei den Kindern (Stand: 219 400). Ursache war der bereits genannte Geburtenrückgang nach der Wende und der Fortzug von Familien mit Kindern speziell in das Berliner Umland.”2 Sichtbarstes Zeichen dieser Entwicklung sind massive Schulschließungen in einigen Bezirken während der letzten Jahre. Pointiert ließe sich formulieren, dass Kindheit und Jugend mancherorts zur Besonderheit avancieren. In anderen Stadtteilen gibt es demgegenüber keine Überalterung der Bevölkerung. Insbesondere in Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf, in denen sich ein großer Teil der Bevölkerung mit

17


Migrationshintergrund konzentriert (Neukölln-Nord, Moabit, Wedding, Schöneberg Nord, Kreuzberg), ist der Geburtenrückgang nicht so drastisch zu spüren. Allerdings wird das Vorhandensein von Kindheit und Jugend in diesen Quartieren eher als Problem denn als Bereicherung wahrgenommen. Auf dieser Folie muss sich die mobile Jugendarbeit Berlin bewegen und die permanenten Veränderungen in ihre konzeptionellen Überlegungen und ihre Alltagspraxis aufnehmen: Die Differenziertheit der Entwicklung bedeutet, dass es in Berlin sehr unterschiedliche Lebens- und Aufwachsensbedingungen von Kindern und Jugendlichen gibt. Dies ist an sich ja kein neues Phänomen. Das Auseinanderfallen der Lebens- und Aufwachsensverhältnisse hat sich, und das zeigt unsere inzwischen fünfzehnjährige Erfahrung, allerdings dramatisch entwickelt: Die Spirale des Auseinanderdriftens der Lebensbedingungen in ein und derselben Stadt beschleunigt sich. All das erzwingt ein genaues Hinschauen und Analysieren der jeweiligen Lebenswelten in den sich immer mehr unterscheidenden Lebensräumen. Für die mobile Jugendarbeit Berlin bedeutet dies darüber hinaus eine Entscheidung: Welchen Zielgruppen wendet sie sich zu und in welchen Sozialräumen werden Schwerpunkte auf was gelegt? Das Projekt „Outreach-mobile Jugendarbeit Berlin” hat diese Entscheidungen gemeinsam mit vielen anderen Beteiligten (s.u.) getroffen. Es ist an mittlerweile 26 Standorten in der Stadt aktiv. Die meisten Gebiete, in denen mobile Jugendarbeit tätig ist, weisen soziale „Schieflagen” auf. Dazu gehören insbesondere: NordNeukölln, Tiergarten-Moabit, Schöneberg-Nord, Marzahn Nord und West. Trotz der Verschiedenartigkeit auch dieser Sozialräume lassen sich hinsichtlich des hier zu erörternden Themas einige Erfahrungen bündeln, die die mobile Jugendarbeit Berlin in ihrer bisher 15jährigen Tätigkeit gesammelt hat. Diese Erfahrungen sollen unter folgenden sechs Aspekten beschrieben werden: 1)

2)

3)

4)

5)

18

Wie verhalten sich die aufsuchenden Ansätze im öffentlichen Raum zu den stationären Ansätzen in festen Räumen? Wie kann gerade mit den Jugendlichen Partizipation und Mitbestimmung entwickelt und praktiziert werden, die bisher in der Regel von diesen Ansätzen nicht erreicht wurden? Welche Rolle spielen im Kontext der mobilen Arbeit (aber wahrscheinlich nicht nur dort) die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Was kann eine ernstgemeinte Ressourcenorientierung in der mobilen Jugendarbeit praktisch bedeuten? Wie verhält sich die mobile Jugendarbeit gegenüber Mädchen, die sich nicht in

6)

auffälliger Art und Weise im öffentlichen Raum Gehör verschaffen können oder wollen, die aber dennoch ein Recht auf angemessene Unterstützung haben? Welches Ziel verfolgt die Einbettung der mobilen Jugendarbeit in das Gemeinwesen (Sozialraum) und wie sieht diese Einbettung in der Praxis aus?

1. Die Verzahnung von mobilen und „stationären” Ansätzen - Straßensozialarbeit und Aufbau von Jugend-Treffpunkten Die Aufenthaltsorte von Jugendlichen im öffentlichen Raum variieren von Bezirk zu Bezirk (s.o.). Neben einigen exponierten Plätzen in Berlin wie etwa der Breitscheidplatz, dem Alexanderplatz u.a., die überregionale Bedeutung haben, sind es vor allem wohnortnahe Plätze, Straßen(-ecken), Grünanlagen, U-Bahnhöfe, Spielplätze usw., die in der „subjektiven Landkarte” der Jugendlichen zentrale Treffpunktfunktionen ausüben. Neben der leichten Erreichbarkeit müssen sie in gewissem Maße öffentlich sein, damit man schnell feststellen kann, ob es sich „lohnt” dort hinzugehen. „Sehen und gesehen werden” sowie die Möglichkeit auf sich aufmerksam zu machen, sind an diesen Plätzen gegeben. Versteckte, abgeschiedene Orte bieten diese Funktion nicht. Ein erster Kontakt zu den Jugendlichen, die sich an diesen Orten aufhalten, stellt sich meistens über die aufsuchende Arbeit her. Im idealtypischen Verlauf einer solchen Kontaktaufnahme, die mit den Mitteln der Freizeitpädagogik vertieft und stabilisiert wird, gelingt es, das Vertrauen der Jugendlichen aufzubauen und näher an sie heranzukommen. Zumeist stellt sich schon zu diesem Zeitpunkt heraus, dass die Jugendlichen sich nicht nur deswegen auf der Straße aufhalten, weil hier vermeintlich weniger soziale Kontrolle herrscht. Oft sind die Gründe in den sehr beengten Wohnverhältnissen zu finden oder in den Spannungen und Anforderungen innerhalb der Familien, die den Jugendlichen unerträglich scheinen. Dies gilt besonders auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund; die Wohnverhältnisse, in denen viele Migrantinnen und Migranten in Berlin nach wie vor leben, müssen als katastrophal bezeichnet werden. Die Hinwendung zum Aufenthalt im öffentlichen Raum ist daher bei bestimmten Zielgruppen nur ein zum Teil freiwillig gewähltes Verhalten. Nichts desto trotz setzt sich die mobile Jugendarbeit Berlin vehement dafür ein, dass die Jugendlichen nicht aus den öffentlichen Räumen vertrieben werden. Ebenso trägt die Arbeitssituation - oder genauer - die Situation der Arbeitslosigkeit, in der sich viele Jugendliche befinden, ihren Teil dazu bei, dass „Freizeit” im


Überfluss vorhanden scheint. Insbesondere diejenigen Jugendlichen, die aus Migrantenfamilien kommen, sind vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffen.3 In dieser Phase stellt sich oft schon heraus, dass die Mehrzahl der Jugendlichen mit denen wir zu tun haben, aus den Bezügen, die normalerweise gesellschaftliche Integration gewährleisten, herausgefallen sind. Hier sind insbesondere Institutionen der beruflichen Integration (s.o.) aber auch die der sozialen Integration gemeint. Stattdessen gewinnt die Peer-Group, die ja sowieso in dieser Phase der biographischen Entwicklung eine herausgehobene Rolle spielt, an zusätzlicher stabilisierender Bedeutung. Die sich bildenden Peer-Groups sind dann auch der Maßstab für die Entwicklung der eigenen Wertmaßstäbe und der eigenen moralischen Standards. Eines der zentralen Bedürfnisse der Jugendlichen, die sich auf der Straße aufhalten, ist es oftmals, einen Raum zu haben, wo sie sich ungestört von Erziehungspersonen treffen und kommunizieren können. Das bloße Zur-Verfügung-Stellen eines solchen Raumes führt nach unseren Erkenntnissen allerdings schnell in eine Sackgasse. Die Jugendlichen sind meist nicht in der Lage, auftretende Konflikte gewaltfrei zu lösen, ebenso kommt es oft dazu, dass sich eine Gruppe aus dem Stadtteil den Raum exklusiv aneignet. Auch der Druck von externen Gruppierungen lässt derartige Projekte schnell scheitern. Als gangbarer Weg hat sich dagegen folgendes Vorgehen erwiesen: Falls sich stabile Beziehungen zu den Jugendlichen aufbauen lassen und sie das Bedürfnis nach einer Treffpunktmöglichkeit äußern, unterstützen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie darin, diesen Wunsch zu realisieren. Dabei kann das Engagement des Projektes und seiner Mitarbeiter/ Mitarbeiterinnen von der Mithilfe bei der Raumsuche bis zur Übernahme der Trägerschaft für einen solchen Raum gehen. Bei der „Eroberung” von Räumen setzen wir an dem subjektiven Bedürfnis der Jugendlichen an, über einen eigenen (überschaubaren und gestaltbaren) Raum zu verfügen sowie diesen von anderen abzugrenzen und zu verteidigen. Unser Versuch von den Jugendlichen gleichzeitig einen „Ressourcenrealismus” abzuverlangen, der den Raum prinzipiell als Stadteilressource definiert und ihre eigenen Wünsche nach Nutzung nur in soweit zulässt, wie sie auch selbst bereit sind, dies auch anderen zuzugestehen, stößt bei sehr kleinen Räumen häufig an Grenzen. Dennoch hat sich gezeigt, dass ein klares Aushandeln der Nutzungsinteressen eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Konzeptes ist. Die dabei praktizierte Verzahnung von mobiler und stationärer Jugendarbeit überwindet sowohl den reinen Streetwork-Ansatz als auch das nach wie vor vorherrschende Paradigma der Komm-Struktur. Die

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bei diesem Konzept aber nicht zu Betreuern einer Jugendeinrichtung, die nur ein bisschen kleiner ist, sondern zu Prozessbegleitern, die weiterhin mit den Instrumenten Streetwork, Gruppenarbeit, Einzelfallbegleitung und Gemeinwesenarbeit in und außerhalb von festen Räumen tätig sind. 2. Entwicklung von partizipativen Ansätzen im Kontext von festen Räumen Nun bietet diese Verzahnung von mobiler und stationärer Arbeit allein sicherlich noch keine Gewähr für konfliktfreies und konstruktives Miteinander. Sie schafft jedoch die Möglichkeit, diejenigen Jugendlichen zu erreichen, die ihren Lebensmittelpunkt entweder im öffentlichen Raum haben oder - aus welchen Gründen auch immer - von anderen Einrichtungen der Jugendarbeit nicht berücksichtigt werden. Dabei eröffnen sich oft Chancen, mit diesen Jugendlichen Verhaltensweisen zu entwickeln, die ein dialogisches und gewaltfreies Miteinander zum Ziel und Ergebnis haben. Dies gilt aber nur, wenn konsequent partizipative Ansätze entwickelt werden und dies gerade mit den Jugendlichen, die häufig wenig Erfahrungen mit Partizipation gemacht haben. Konkret versuchen wir, in Kombination mit aufsuchenden Ansätzen ein Konzept der Einrichtung von Räumen - etwa Stützpunkten/Jugendstadtteilläden - zu realisieren, in denen immer mehr Verantwortungsübernahme möglich ist. Dem gemeinsamen Aushandeln von Regeln und von Nutzungsbedingungen kommt dabei eine große Bedeutung zu. Die Verständigung über das, was in und mit den Räumen möglich ist, eröffnet die Chance, dass diese Orte zu neuen „Erfahrungsräumen” werden, die die Entwicklung der Jugendlichen positiv beeinflussen. Dies ist ein permanenter Prozess, der mitunter auch von Rückschlägen gekennzeichnet ist. Er erscheint uns aber als notwendiger Prozess, wenn die Übernahme von Verantwortung ernsthaft erfahren werden soll. Je weitreichender Jugendliche in die Lage versetzt werden, Verantwortung zu übernehmen, desto mehr können sie bspw. mittels des Instrumentes „Nutzungsverträge” die Räume für eine bestimmte Zeit kostenfrei übernehmen. Doch bevor es zu einer solchen aktiven Partizipation der Jugendlichen kommt, bedarf es einer Begleitung über einen längeren Zeitraum. In dieser Zeit wird mit dem normalen sozialpädagogischen Handwerkszeug und den dazugehörigen Methoden (Einzelfallbegleitung, Gruppenarbeit, Projektarbeit usw.) mit den Jugendlichen gearbeitet. Entscheidend ist dabei jedoch, dass nicht einzelne Methoden herausgelöst und gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass einem ganzheitlichen Methodenverständnis gefolgt wird.

19


3. Die Rolle von Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern Im Projekt Outreach sind gegenwärtig 55 Personen fest beschäftigt, die aus vielen verschiedenen kulturellen Lebenswelten und Ländern (Türkei, Kurdistan, Tunesien, Algerien, Libanon, Jordanien, Palästina, Kasachstan, Persien, dem früheren Ost- und Westdeutschland) stammen. Dazu kommt eine Zahl von etwa 60 Honorarmitarbeiterinnen. Sie arbeiten gemeinsam in unterschiedlich großen Teams von zwei bis acht Personen zusammen. Die sehr verschiedenen kulturellen Hintergründe, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mitbringen, finden deshalb besondere Erwähnung, weil darin nach unseren Erfahrungen ein Schlüssel, wenn nicht sogar der entscheidende Schüssel, zur Erreichbarkeit von Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt. Vor allen abstrakten Überlegungen zur Partizipation geht es darum, Jugendliche, die in Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf leben, überhaupt erst zu erreichen. Dazu reicht ein gutes Konzept allein nicht aus, sondern es bedarf der entsprechenden Menschen, die den Zugang zu den Jugendlichen herstellen können. Nach unserer Erfahrung sollten deshalb in den Teams Menschen mitarbeiten, die aus den Herkunftsländern der Jugendlichen stammen. Allerdings reicht oft selbst ein ähnlicher kultureller und sprachlicher Hintergrund in diesen Quartieren nicht aus, um Kontakt und Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen. Bei Outreach arbeiten deshalb auch Kolleginnen und Kollegen, die selbst aus dem Kiez stammen und meist noch über einen engen Kontakt sowohl zu den Jugendlichen als auch zur eigenen ethnischen Community verfügen. Sie wirken als positive Rollenmodelle für die Jugendlichen, die von immer größer werdenden Ausgrenzungsrisiken betroffen sind. Man könnte diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „Para-Professional-Pathfinders” nennen. Sie können den Kontakt zu Jugendlichen aufbauen, die weder von deutschen Kolleginnen noch von Kolleginnen erreicht werden können, die zwar über einen Migrationshintergrund verfügen, doch - anders als die Jugendlichen - aus der Mittelklasse stammen. 4. Zur Ressourcenorientierung in der mobilen Jugendarbeit Eine pädagogische Orientierung, die sich ausschließlich auf abweichendes oder deviantes Verhalten bezieht, greift zu kurz. Demgegenüber hat es sich bewährt, die pulsierende symbolische und praktische Lebendigkeit und Kreativität im Alltagsleben und in den alltäglichen Aktivitäten und Ausdrucksformen der Jugendlichen ernst zu nehmen und hier Anknüpfungspunkte zum pädagogischen Alltag zu finden.

20

Stichpunkte hierzu sind nach unserer Erfahrung beispielsweise in folgenden Bereichen zu entdecken: a) In einer nicht ausschließlich kommerziellen Jugendkultur haben sich Moden und Stile herausgebildet, die zwar permanenten Veränderungen unterworfen sind, die aber immer schneller immer mehr Jugendliche gleichzeitig erreichen. Jugendliche suchen sich in diesem Spektrum häufig Segmente heraus, formen sie um und spielen damit in einer kreativen Art und Weise, Beispiele sind etwa die Entwicklung des Hip Hop oder die verschiedenen Ausprägungen der Rap-Stile. Die Jugendlichen sind dabei nicht nur die passiven Konsumenten von MTV und VIVA, sondern eignen sich die Musik und den Tanz aktiv an. Die mobile Jugendarbeit Berlin setzt mit Angeboten wie Djing, Streetdance, Batteln u.a. auf Aktivitäten, die Jugendliche aktivieren und ihrem Wunsch nach Selbstdarstellung entsprechen. Insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund finden mit diesen Medien Möglichkeiten der Zugehörigkeit und Identifikation mit anderen, etwa mit weltweit strukturell diskriminierten Minderheiten. b) Im Bereich der „neuen” Medien können kulturelle Potenziale freigesetzt werden, die zumindest theoretisch einer breiten Gruppe zugänglich sind. Neben Formen der tatsächlichen symbolischen Selbstdarstellung auf eigenen Homepages mittels Bildbearbeitungstechniken wird hier Musik, Radio usw. selbst hergestellt. Hier können eigene kulturelle Stile kreiert und einem großen Publikum zugänglich gemacht werden. Neben den kulturellen Selbstinszenierungsmöglichkeiten dieser Medien, sind sie mit schnellen, prompten und bewertenden Kommunikationsmöglichkeiten ausgestattet. Eine unmittelbare Reaktion auf das eigene künstlerische Schaffen ist möglich und häufig auch wertvoll. Der Effekt solchen Tuns hinsichtlich des Aufbaus von Selbstwertgefühl sollte nicht unterschätzt werden. c) Kleidung und Mode sind ein Indikator für kulturelle Identitäten und finden ihren Ausdruck in unterschiedlichen Freizeitorientierungen von verschiedenen Gruppen von Jugendlichen. Von daher bedeuten sie mehr als einen bestimmten Geschmack, sondern sind auch Ausdruck und Reflex (sub-)kultureller Zugehörigkeiten und kollektiver Identitäten. Allerdings können Stile und Moden auch gleichzeitig ein Stück individueller Selbstinszenierung sein, die zur Entwicklung der eigenen persönlichen Identität beitragen. Der (selbst-)bewusste aber auch gleichzeitig spielerische Umgang mit den Stilen und Moden setzt erhebliche Potenziale frei. Die Karikatur des eigenen Stils darf dabei nicht ausgeschlossen sein. d) Im Alltagsleben vieler Jugendlicher mit Migrations-


hintergrund gibt es noch eine ganze Reihe weiterer kultureller Ausdrucks- und Aneignungsfor men, die viel mit ihrer Herkunft oder der Herkunft ihrer Eltern zu tun haben. In ihrer Lebenssituation spielen kulturelle Rituale eine Rolle, die in der Mehrheitsgesellschaft nicht (oder nicht mehr) von Bedeutung sind. Gemeint sind hier volkstümliche kulturelle Rituale, von der Folklore bis hin zur jeweiligen ethnischen Küche, aber auch religiös begründete Rituale wie Feste und Feiern. Es hat sich als lohnende Aufgabe erwiesen, solchen Ritualen in der Jugendarbeit einen Platz einzuräumen und damit auch der Thematisierung der kulturellen Spannung, die viele Jugendliche empfinden, Raum zu geben. Die Ressourcenorientierung kann und soll sich hier nicht nur auf den kulturellen Bereich beziehen. Dieser Bereich dient in unseren Zusammenhang nur als Beispiel, um zu illustrieren, wie sich die Haltung der Jugendarbeit gegenüber den Jugendlichen, die sich vorwiegend im öffentlichen Raum aufhalten, weiterentwickeln kann und muss. Zum zweiten wird an diesen wenigen Beispielen deutlich, dass es auch für die mobile Jugendarbeit zuweilen zwingend notwendig ist, auf feste Räume zurückgreifen zu können. 5. Extra Räume für Mädchen Nicht alle Zielgruppen der mobilen Jugendarbeit sind im öffentlichen Raum anzusprechen und anzutreffen. Insbesondere weibliche Jugendliche fühlen sich vom dominanten Verhalten von zumeist männlichen Cliquen und Gruppen und ihren Kämpfen zur Durchsetzung ihrer jeweiligen Territorialansprüche auf den begrenzten öffentlichen Raum nicht angesprochen. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass sie nicht Bedürfnisse nach Gesellungsformen haben, die frei von der Kontrolle durch die Erwachsenenwelt sind. Hier bietet Outreach insbesondere für Mädchen in einigen Bezirken Räume, in denen nur sie die Verfügungsgewalt darüber besitzen und damit entscheiden können, wer die Räume nutzen darf und wer nicht. Dies kann eine ausschließliche Nutzung durch und für die Mädchen sein, es kann aber auch sein, dass Jungen zu bestimmten Anlässen eingeladen werden, wenn sie sich an die von den Mädchen gesetzten Regeln, halten. Darüber hinaus ist es nach wie vor an der Tagesordnung, dass eine nicht geringe Anzahl von Mädchen, insbesondere streng islamisch erzogene Mädchen, aber nicht nur sie, einfach nicht die Möglichkeit hat,

die Angebote der Jugendhilfe im Allgemeinen und der (mobilen) Jugendarbeit im Besonderen in Anspruch zu nehmen, da sie ab einem bestimmten Alter sehr viel mehr unter der familialen Kontrolle stehen als ihre männlichen Altersgenossen. Für sie haben sich andere Zugangstrategien, etwa die Kooperation mit der Schule und den Eltern, die Einbindung der Eltern in bestimmte Aktivitäten usw. als erfolgreich herausgestellt. Die Räume, die für diese Mädchen von der mobilen Jugendarbeit zur Verfügung gestellt werden, stellen eher Schutzräume dar, die es ihnen ermöglichen, ohne die permanente Kontrolle ihrer Familie ihren Freizeitaktivitäten nachzugehen, ohne es zu einem familialen Konflikt kommen lassen zu müssen. 6. Einbettung der mobilen Jugendarbeit in das Gemeinwesen Streetwork und mobile Jugendarbeit werden in Berlin oft nicht nur als Ergänzung von stationären Angeboten der Jugendhilfe begriffen, sondern häufig auch als Mittel, um „Störungen” im öffentlichen Raum zu begegnen oder dem Fehlen einer jugendgerechten Infrastruktur wenigstens etwas entgegenzusetzen. In der Regel liegt dem Einsatz eines mobilen Teams eine Konfliktsituation zugrunde. Im Verlauf eines solchen Konfliktes haben Anwohner, Gewerbetreibende, das Qüartiersmanagement oder das jeweilige Jugendamt (oder alle zusammen) einen Konflikt diagnostiziert, der sich zwischen verschiedenen Nutzergruppen des öffentlichen Raums abspielt. In einer solchen Situation wird ein Kontakt zur mobilen Jugendarbeit hergestellt, um mittels pädagogischer Intervention die Konfliktlage zu entschärfen. Mobile Jugendarbeit steht damit immer im Spannungsverhältnis der verschiedenen Nutzerinteressen des öffentlichen Raumes und muss sich auch immer der Gefahr bewusst sein, entweder als Feigenblatt für eine mangelnde Versorgung herzuhalten oder auch als preiswerte Feuerwehr zur Konfliktlösung eingesetzt zu werden. Auf der anderen Seite bietet sich natürlich die Chance, mittels pädagogischer Interventionen nicht nur zur friedlichen Konfliktlösung beizutragen, sondern reale und konkrete Verbesserungen für die Lebenssituation von Jugendlichen vor Ort zu erreichen. Insofern kann der Einsatz von Streetwork/ mobiler Jugendarbeit eine Initialzündung für den jeweiligen Kiez sein, die langfristig zu einer deutlichen Verbesserung der Situation von Jugendlichen aber auch zur Verbesserung des Miteinanders im Quartier führt. Dazu gehört, dass mobile Jugendarbeit eine Art Scharnierfunktion übernehmen kann, die in der Lage ist, neben den Interessen und Sichtweisen von Jugendlichen auch die Sichtweisen der anderen beteiligten Interessenvertreter zur Kenntnis zu nehmen und so zu einem dialogischen Miteinander

21


zu gelangen. Das Konzept einer sich allein auf Parteilichkeit für die Jugendlichen stützenden Konfliktbearbeitung gilt es dabei aufzuheben. Achtsamkeit und Wertschätzung des jeweils anderen signalisieren die Möglichkeit, Bündnisse einzugehen, die bei allen notwendigen Kompromissen zu einer „Win-Win-Situation” führen können. Gerade bei der notwendigen Einbindung der jeweiligen ethnischen comrnunities, beim Ausfindigmachen von Schlüsselpersonen im Gemeinwesen, ist nach unseren Erfahrungen ein solches Vorgehen hilfreich, wenn es gelingen soll, neue Erfahrungsräume für und mit Jugendlichen zu erkämpfen bzw. zu erhalten. Zusammenfassung Unsere bisherigen Erfahrungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1) Die Verzahnung von mobilen und stationären Angeboten in der Jugendarbeit überwindet das immer noch vorherrschende Konzept der Komm-struktur, aber auch den zu kurz greifenden Ansatz der „reinen” Streetwork. Sie vermittelt vielmehr das Bedürfnis der Jugendlichen, sich sowohl in geschützten Bereichen als auch im öffentlichen Raum aufzuhalten. Das Bedürfnis nach (exklusivem) Raum widerspricht nicht den Selbstinszenierungswünschen vieler Jugendlicher, sondern stellt neue Erfahrungsräume bereit, die Schutz- aber auch vermehrte Verantwortungsübernahme bieten können 2) Es muss sichtbare, konkrete Ergebnisse geben: Partizipation von Jugendlichen vollzieht sich nicht abstrakt sondern konkret. Die konkrete Nutzung eines Raumes sowie das konkrete Aushandeln von Nutzungsbedingungen macht Partizipationsanstrengungen in den Augen vieler Jugendlicher überhaupt erst sinnvoll. Ein langwieriges Agieren, so zum Beispiel in Jugendparlamenten, ist für diese Jugendlichen - falls sie überhaupt zur Teilnahme an einem Jugendparlament zu motivieren sind -häufig nicht einsehbar und daher nutzlos. 3) Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Auch die mobile Jugendarbeit lebt vom Aufbau tragfähiger Beziehungen zwischen Mitarbeiter/innen und den Jugendlichen. Es bedarf Mitarbeiter/innen, die nicht nur die Lebenslagen der Jugendlichen kennen, sondern auch ihre kulturellen Codes verstehen und quasi als Kulturdolmetscher fungieren. Die Entwicklung (inter-) kultureller Kompetenz, die vermehrte Durchlässigkeit des Systems der Jugendhilfe für Migrantinnen und Migranten und der Aufbau eines interkulturellen Diskurses in diesem Bereich, z.B. in gemischt ethnischen Teams, ist dabei unabdingbar.

22

4) Das Entstehen neuer (Sub-)kultureller Ausdrucksformen - etwa im Bereich der Musik, der GraffityKunst, des Hip Hop oder des Breakens -schafft gemeinsame neue kulturelle Identitäten, in denen „alte kulturelle Orientierungen”, die sich etwa bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus der Kultur der Herkunftsländer gebildet haben, nicht mehr den zentralen Stellenwert besitzen. In diesem Prozess müssen sich alle bewegen. 5) Bestimmte Zielgruppen, insbesondere Mädchen, brauchen eigene Räume und eigene Zugangsstrategien Manche potenzielle Zielgruppen halten sich nicht sichtbar im öffentlichen Raum auf (etwa Mädchen, die einer streng islamischen Erziehung unterworfen sind). Aber auch sie haben einen Anspruch auf gesellschaftliche Unterstützung bei der Förderung von Sozialisationsbedingungen, die zur Entwicklung einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit beitragen. Wenn sie erreicht werden sollen, bedarf es neuer Zugangswege. Dies kann etwa in Kooperation mit Schulen und Eltern geschehen. 6) Kooperation mit den lokalen Akteuren des Gemeinwesens: Um Ressourcen erschließen zu können, müssen in der Regel Kooperationen eingegangen werden. Neben der horizontalen und vertikalen Vernetzung mit den Akteuren im Stadtteil kommt es darauf an, mit den verschiedenen ethnischen Communities zu kooperieren. Ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg bei der Durchsetzung von Projekten mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist es, die Strukturen dieser Communities zu kennen und zu nutzen. 1

Häußermann H. und Kapphan A,: Berlin: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt, sozialräumlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000, S. 213f. 2 Internetportal (www.stalistik-berlin-brandenburg.de) des Statistisches Landesamtes Berlin-Brandenburg 3 „Die Arbeite!osenzahlen unter den Ausländern in Berlin haben sich in den letzten 15 Jahren dramatisch verschlechtert. Inzwischen ist die Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie die gesamte Arbeitslosenquote in Berlin. Nahezu jeder zweite Ausländer, jede zweite Ausländerin ist ohne Arbeitsplatz” (Landeskommission Berlin gegen Gewalt, S.4E, Berlin 2007) Literatur Häußermann H. und Kapphan, A.: Berlin: Von der geteilten zur gespaltenen Stadt, sozialräumlicher Wandel seit 1990, Opladen 2000. Internetportal des Statistisches Landesamtes Berlin-Brandenburg: www. statistik-berlin-brandenburg.de, 2008. Landeskommission Berlin gegen Gewalt, Bd. 28: Gewalt von Jungen, männlichen Jugendlichen und jungen Männern mit Migrationshintergrund in Berlin, Berlin 2007. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung: Monitoring Soziale Stadtentwicklung 2004, Berlin 2004.


Entdeckungen im Sozialraum Aus unserer Sicht bietet sie Raum - für Möglichkeiten. Hella Pergande Statement auf dem Fachtag „Wie weiter mit der Jugendarbeit?“ am 10. September 2009. Der Fachtag diente dem Erfahrungs- und Meinungsaustausch zwischen den Berliner Nachbarschaftseinrichtungen und den Mitarbeiter/innen des Projektes OUTREACH / mobile Jugendarbeit. Hella Pergande macht bei Outreach „mobile Kinderarbeit“ in Schöneberg-Nord.

Vor 5 Jahren geriet ich auf die Straße. Das war folgerichtig: ich hatte mich ja als Streetworkerin beworben. Mir wurde gesagt: das ist mitten in der Stadt und eine Gruppe von 20-30 Jungs –kurdischer, arabischer, türkischer Abstammung im Alter von 7-13 Jahren – macht anderen das Leben schwer. Da stand ich nun und dachte bei mir: Irgendwie anfangen muss ich ja. Erst einmal DAS kennen lernen, worum es geht. An mehreren Tagen ging ich immer wieder in das Viertel, zu verschiedenen Tageszeiten, auch spät abends. Da waren Jugendliche, die mannhaft in Gruppen über die Straßen gingen, um andere mit Umarmungen und Küsschen zu begrüßen. Frauen, die vor dem Bäcker oder am Kiosk Kaffee tranken, nachdem sie die Kinder zur Schule gebracht hatten. Männer in Autos, die andere herbeiriefen. Auf dem Spielplatz: Mütter auf Bänken, spielende Kinder, ein Kletterfelsen. Auf der Straße: Leute, die stehen blieben, um miteinander zu reden.Ein kleiner Springbrunnen, ein Altberliner Straßenschild, viel Grün, verkehrsberuhigt. Hinter dieser Idylle sollte sich also ein Problemkiez verbergen. Dann entdeckte ich die Kinder. Viele. Die machten sich einen Spaß daraus, eine Frau vom Weg abzudrängen, einfach so, durch Masse. Das ging so weit, dass die Frau anfing zu schreien und zu weinen. Eine andere Frau schimpfte. Erfolglos. Ich sah die gleichen Kinder auf dem Spielplatz, wie sie vom Kletterlehrer Material stahlen und wegrannten. Wie sie sich gegenseitig beschimpften und verprügelten, auch auf andere losgingen, egal, ob Kinder oder Erwachsene… Und da dämmerte es mir: Das sollte also mein neuer Arbeitsplatz sein. Nicht mehr gemütlich im Nachbarschaftshaus sitzen und zu bestimmten Zeiten angemeldete Gruppen empfangen, die danach wieder gingen und sich dabei sogar herzlich bedankten.

Nein. Das sah hier eindeutig anders aus. Ich suchte dann die Einrichtungen im Kiez auf. Da mir schien, dass es hier eine Menge Sozialarbeiter gab, dachte ich, dass sie vielleicht gute Tipps für mich hätten.Da kam aber eher ein Hilferuf. Alles sei schlimm genug. Aber man könne DRINNEN nicht arbeiten, wenn DRAUSSEN immerzu Stress sei. Aha. Mir war klar: ich brauchte einen Partner, einen, der die Kinder schon etwas kannte und sie sogar mochte. Ich hatte Glück und konnte den Kletterlehrer, der schon zwei Sommer lang im Auftrag des QM mit den Kindern arbeitete, als Honorarkraft gewinnen. Und für uns war nun nahe liegend, mit den Kindern WOANDERS hinzugehen. Das war an sich leicht, die Jungs gingen mit uns, egal wohin und waren zahlreich. Und sehr lebendig. Viel Sympathie brachte man uns in dieser Zeit nirgends entgegen, weil es immer wieder Ärger gab. Die Kinder machten das gern. Es war ein Spiel. Es gab auch schöne Momente (Geschichte U-Bahn). Die Kinder benutzen die U-Bahn, um sich körperlich fit zu halten. Sie hängen an den Stangen, baumeln mit den Beinen, sind laut und die Leute regen sich auf. Und endlich sagt auch mal einer etwas: „Haben Sie denn die Kinder nicht im Griff?“ Ich gucke den Mann an, gucke die Kinder an und sage: „Nein, das sehen Sie doch.“ Die Kinder haben den Wortwechsel mitbekommen und eins sagt zu dem Mann: „He, machen Sie mal nicht unsere Sozialarbeiter an“ Die können doch nichts dafür, dass wir so sind, wie wir sind.“ Anfangs sahen die Jungs für mich alle gleich aus. Kein Wunder, wie ich später erfuhr, die meisten waren miteinander verwandt. Eine wesentliche Erkenntnis: Sobald ich die Namen von den Kindern wusste und sie verwendete, verhielten sie sich ganz anders: ernsthafter, kommunikativer. Wenn man freundlich zu ihnen war, waren sie auch freundlich, geradezu charmant, gewitzt.

23


Unsere Angebote waren für die Kinder attraktiv. So sehr, dass andere Anbieter nun fast Angst vor einer Konkurrenz hatten. Wo sollte das hinführen, wenn ALLE nur noch DRAUSSEN oder WOANDERS waren?

Das war anfangs nicht leicht und konnte nur bewerkstelligt werden, weil es dafür aufgeschlossene und engagierte Mitstreiter gab, die begriffen haben, dass GEMEINSAME PROBLEME nur GEMEINSAM gelöst werden können.

Das wollten wir natürlich nicht. Weder ALLE, noch Konkurrenz sein. Also gründeten wir im Kiez eine Arbeitsgruppe mit den Sozialarbeitern aus den Einrichtungen und haben in den Jahren ein beispielhaftes Netzwerk aufgebaut. Beteiligt sind Mitarbeiter aus der Schule, Kita, Schulstation, Schwerpunktträger für HZE-Maßnahmen, Nachbarschaftstreff, Mehrgenerationenhaus, Bibliothek, VHS, Kinder- und Jugendeinrichtungen, Outreach. Jährlich organisieren wir ein großes Kiezfest.

Auch die Eltern wurden mehr und mehr einbezogen. Wir haben uns nicht, wie gewohnt, bei ihnen über ihre Kinder beschwert, sondern konnten über jedes etwas Positives erzählen.

Aber wichtiger noch: Wir sprechen uns ab, beschäftigen uns mit fachlichen Fragen und mit Problemen, die ALLE im Kiez betreffen. Informieren und unterstützen uns.

Es entstand ein Vertrauensverhältnis, nicht nur zwischen uns und den Kindern, auch zwischen den Eltern und uns. Andere können davon profitieren. Oft hören wir: Die Straße ist schuld, an allem, an den Problemen, dem Ärger, dem Stress. Wer ist diese Straße? Was tut sie? Aus unserer Sicht bietet sie Raum für Möglichkeiten.

Outreach und das Innenleben von Jugendfreizeiteinrichtungen Erfahrungen, Erkenntnisse und Überlegungen Ralf Gilb Statement auf dem Fachtag „Wie weiter mit der Jugendarbeit?“ am 10. September 2009. Der Fachtag diente dem Erfahrungs- und Meinungsaustausch zwischen den Berliner Nachbarschaftseinrichtungen und den Mitarbeiter/innen des Projektes OUTREACH / mobile Jugendarbeit. Ralf Gilb ist stellvertretender Projektleiter von Outreach und Koordinator der Bezirksteams Neukölln, Spandau und Tiergarten.

In meiner Funktion als Koordinator von Outreach habe ich häufig die Möglichkeit, das Innenleben von Jugendfreizeiteinrichtungen in öffentlicher oder freier Trägerschaft in verschiedenen Berliner Bezirken zu beobachten. Diese Einblicke erinnern mich nicht selten an die Anfänge von Outreach, damals noch hinausreichende Jugendarbeit. Zumeist „Große Häuser“ und gähnende Leere. Erst vor kurzem hatte ich wieder so ein „deja vu“ - Erlebnis in einer öffentlichen Einrichtung: Ein paar Jugendliche am Billardtisch, ein paar Jugendliche im Computerraum am Chatten, ein Pädagoge im Büro am Schreibtisch und die anderen MitarbeiterInnen sitzen vor der Einrichtung in der Sonne und unterhalten sich. Und das mitten in Neukölln, wo es doch nachweislich viele Jugendliche gibt, die auf Grund ihrer sozialen Situation und Benachteiligung in besonderem Maße auf Unterstützung angewiesen sind.

24

Was stimmt mit der Jugendfreizeiteinrichtung nicht: An der mangelnden Ausstattung kann es nicht liegen: die 1000 qm päd. Nutzfläche sind gut ausgestattet. Fitnessraum, Tanzraum, Bühne, offener Bereich, Billard, Kicker und Computerraum bieten genug Möglichkeiten zur sinnvollen Freizeitgestaltung. Die personelle Ausstattung mit vier PädagogInnen scheint auch ausreichend. Und das pädagogische Konzept? Klingt gut wie fast alle pädagogischen Konzepte von Jugendfreizeiteinrichtungen: Partizipation, Integration, Koedukation und selbstverständlich: Offen für Alle Dies war vor 16 Jahren, als ich als Mobiler Jugendarbeiter in Moabit den Auftrag hatte, die hinausreichende Arbeit aus einer öffentlichen Jugendfreizeiteinrichtung durchzuführen, sehr ähnlich: ein leeres Haus und eine große Zahl Jugendlicher, die sich damals


in Gruppen, so genannten Gangs, vornehmlich im öffentlichen Raum aufhielten, weil sie aufgrund ihres Verhaltens in der Einrichtung Hausverbot hatten. Nun gelten sowohl Teile von Moabit als auch der Neuköllner Norden als soziale Brennpunktgebiete und die Jugendeinrichtungen in diesen Quartieren sind nach wie vor zumeist die Treffpunkte der sozial am weitesten Ausgegrenzten, die mit einem Bündel von sozialen Problemen, Schwierigkeiten und Auffälligkeiten die Einrichtungen aufsuchen. Damals wie heute habe ich bei einigen Einrichtungen den Eindruck, dass die PädagogInnen mit dieser z. T. massiven Verdichtung von sozialen Problemlagen und dem gleichzeitigen Anspruch,„offen für alle“ zu sein, schlicht überfordert waren/sind und keine anderen Interventionsmöglichkeiten mehr sahen/sehen, als Hausverbote auszusprechen. Auch wenn diese „klassische“ Form der Ausgrenzung von schwierigen Jugendlichen häufig zu einem massiven Schwund der BesucherInnen führte, haben sich nur wenige Jugendfreizeiteinrichtungen konzeptionell und personell auf die „neuen“ Herausforderungen der Jugendarbeit eingestellt. Vielmehr wurde der Prozess der Ausgrenzung von schwierigen Zielgruppen fortgesetzt, indem Altersgrenzen eingeführt wurden, eine Spezialisierung auf vermeintlich einfachere Zielgruppen (Mädchenarbeit) und Angebote (geschlossene Gruppen im künstlerisch-kulturellen Bereich) erfolgte oder eine gänzliche Verabschiedung aus der Jugendarbeit stattfand (Nachbarschaftsarbeit, Elternarbeit). Diese Formen der „Ausgrenzung“ von bestimmten Zielgruppen und der gleichzeitige Mangel an hinausreichenden Arbeitsansätzen hat dazu geführt, dass die Zahl der Jugendlichen, die von stationären Angeboten nicht mehr erreicht werden und ihre Freizeit hauptsächlich auf der Straße oder im öffentlichen Raum verbringen, stetig wuchs. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass es auf der anderen Seite nach wie vor Jugendfreizeiteinrichtungen gibt, die zwar die o.g. Ausgrenzungsprozesse ablehnen, denen es allerdings auch nicht gelungen ist, Strukturen zu schaffen und vor allem durchzusetzen, im Rahmen derer sich die MitarbeiterInnen und die Jugendlichen auf gemeinsame Regeln verständigen konnten. Hier gelingt es auch relativ kleinen Gruppen von Jugendlichen immer wieder, eine solche Einrichtung zu erobern und die für die jeweilige Gruppe geltenden Regeln durchzusetzen sowie andere Nutzungsinteressierte (z.B. Jugendliche anderer Herkunft, Mädchen etc.) mehr oder weniger subtil aus der Einrichtung herauszudrängen oder herauszuhalten. Auch hier findet ein Ausgrenzungsprozess statt.

Was hat das Projekt Outreach aus den beschriebenen Erfahrungen gelernt?

1. Der ursprüngliche konzeptionelle Leitgedanke der meisten Jugendfreizeiteinrichtungen, für alle Jugendlichen die kommen offen zu stehen, entspricht, zumindest in sozialen Brennpunktgebieten, längst nicht mehr der Wirklichkeit in diesen Quartieren. 2. Wenn die Jugendlichen nicht zu uns kommen (Kommstruktur), sollten wir zu den Jugendlichen gehen (Gehstruktur). 3. Die ausschließliche Konzentration auf das Paradigma der Kommstruktur birgt Ausgrenzungsrisiken in sich, die dazu führen, dass bestimmte Zielgruppen ihre Freizeit hautsächlich auf der Straße verbringen. Diese Tatsache ist aus zwei Gründen besonders problematisch: a. Bei den Zielgruppen handelt es sich zumeist um Jugendliche, die aufgrund ihrer sozialen Situation (beengte Wohnverhältnisse, kein Geld um kommerzielle Freizeitangebote zu nutzen) in besonderem Maße auf Räumlichkeiten außerhalb der elterlichen Wohnung und nichtkommerzielle Freizeitangebote angewiesen sind. b. Auch auf der Straße wirken, aufgrund der zunehmenden Verregelung des öffentlichen Raumes und dem Mangel an öffentlich zugänglichem Gelände, Ausgrenzungsmechanismen. Hinzu kommt, dass die vielfältigen individuellen Problemlagen der Jugendlichen zu Aggressionen und Spannungen führten, die sich nicht selten in Form von gewaltbereitem und delinquentem Verhalten auf der Straße entladen. Da die daraus resultierenden Konflikte häufig in Strafanzeigen münden, führt diese Negativdynamik nicht nur zu schweren Belastungen des Gemeinwesens sondern auch zur Stigmatisierung und Kriminalisierung der Jugendlichen.

4. die „Kommstruktur“ hat häufig zur Folge, dass die Einrichtungsmitarbeiter lediglich ihr Haus im Blick haben. Die Problemlagen und Erfordernisse des Sozialraums werden nicht oder nur unzureichend wahrgenommen. Konzepte und Angebote sowie personelle, fachliche und räumliche Ressourcen der Einrichtung orientieren sich deshalb nur selten am Bedarf des Sozialraums.

26


5. Um Planungs- und Gestaltungsprozesse besser auf den Bedarf aller im Kiez lebenden Jugendlichen abstimmen zu können, ist die Vernetzung und Kooperation jugendrelevanter Projekte und Einrichtungen im Sozialraum unerlässlich. Welche Konsequenzen wurden daraus für die Outreach - Jugendeinrichtungen gezogen? 1. Die Nutzungsmöglichkeiten und Angebote der Outreach-Einrichtungen richten sich in der Regel nicht an alle Jugendliche des Quartiers, sondern an diejenigen die aus unterschiedlichen Gründen von den herkömmlichen Einrichtungen und Angeboten der Jugendhilfe nicht oder kaum mehr erreicht werden bzw. dort Hausverbot haben und ihre Freizeit hauptsächlich auf der Straße bzw. im öffentlichen Raum verbringen. 2. Die Outreach-Einrichtungen orientieren die räumliche und personelle Ausstattung sowie die Angebote und Hilfen vorwiegend am Unterstützungsbedarf der Zielgruppe. 3. Um sowohl dem Bedarf der Jugendlichen nach niedrigschwelligen Räumen zu entsprechen als auch die Erreichbarkeit der Jugendlichen durch die regelmäßige Präsenz

im Sozialraum zu gewährleisten, haben wir die beiden Arbeitsansätze, hinausreichende/aufsuchende Jugendarbeit und stationäre Jugendarbeit miteinander verzahnt. So ist in allen Outreach-Einrichtungen, vom kleinen Stadtteilladen bis zum mittelgroßen (ca. 300 qm) Jugendclub, die hinausreichende Jugendarbeit ein integraler Bestandteil des Outreach-Arbeitsansatzes. 4. Die Outreach- Einrichtungen sind in sozialräumliche Netzwerke eingebunden. Und was bedeutet das alles für die Jugendarbeit im Verband für sozial-kulturelle Arbeit? Den Slogan „Verband für sozial kulturelle Arbeit- „OFFEN FÜR ALLE“ ernst zu nehmen, bedeutet, dass wir uns mit unseren Angeboten der Jugendarbeit an alle Jugendlichen in den jeweiligen Sozialräumen und damit auch an die schwierigen Zielgruppen wenden. Schließlich haben auch diese Jugendlichen einen gesetzlich verbrieften (§1,11, 13 KJHG ) Anspruch auf Förderung und Unterstützung. Dieses Recht kann m. E. nur umgesetzt werden, wenn im sozialräumlichen Kontext Angebote (stationäre und mobile) vorhanden sind, die sich gezielt an die ansonsten ausgegrenzten Jugendlichen wenden. Nach unseren Erfahrungen lässt sich dies in kleinen, dezentralen Einrichtungen am besten realisieren.

Froben 27 - Villa Eigensinn Haus der Möglichkeiten Pädagogisches Konzept

Mit dem folgenden Konzept hat sich der Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Landesgruppe Berlin, erfolgreich um die Trägerschaft einer bislang kommunalen (bezirklichen) Jugendfreizeiteinrichtung beworben. Der Verband sieht sich dabei als Brücke zwischen seiner örtlichen Mitgliedseinrichtung Kiezoase und der mobilen Jugend- und Kinderarbeit von Outreach, die einen Schwerpunkt in der betreffenden Region (Schöneberg-Nord) hat. Bei der Entwicklung des Konzeptes ging es uns zum einen darum, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie angesichts der zunehmenden Bedeutung von (Ganztags-)Schule im Tagesablauf von Kindern und Jugendlichen die Jugend(freizeit)arbeit durch Konzentration auf die verbleibenden Freizeitanteile zukunftssicher gemacht werden kann. Zum andern wollten wir eine Mehrfachnutzung der Raumressourcen erreichen, ohne die legitimen Nutzungsrechte von Kindern und Jugendlichen zu beschneiden. Zum 1.01.2010 wird der Verband die Trägerschaft der Einrichtung übernehmen und das Konzept einem gründlichen Realitätstest unterziehen.

26


Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit, Landesgruppe Berlin e.V., bewirbt sich um die Trägerschaft der Kinderund Jugendfreizeiteinrichtung in der Frobenstr. 27. Er tut dies in seiner Doppelfunktion als Dachverband seiner Mitgliedsorganisation Kiezoase Schöneberg und als Träger des Projektes Outreach / Mobile Jugendarbeit. Damit ist die Absicht verbunden, die Einrichtung Frobenstr. 27 mit einem integrierten Konzept zu nutzen, das Schnittstellen zu den sozialräumlich benachbarten Arbeitsfeldern bzw. Einrichtungen der Kiezoase (Familientreffpunkt Kurmärkische Str., Nachbarschaftstreff Steinmetzstraße, Schulbezogene Sozialarbeit und Ganztagsbetreuung Neumark-GS, Fresh 30) und zum Bereich der mobilen Jugendarbeit von Outreach im Schöneberger Norden (im Kulmer Kiez und im Bülow Kiez) sowie zur mobilen Kinderarbeit im Steinmetz Kiez hat.

Wir gehen davon aus, dass die außerschulische Jugendarbeit perspektivisch vor einem Funktionswandel steht, der mit der stetig wachsenden Bedeutung des Schulbereiches einhergeht, der einen zeitlich immer größeren Anteil der Lebensgestaltung von Kindern und Jugendlichen beansprucht. Das Nutzungskonzept für die Frobenstr. 27 trägt dem in doppelter Weise Rechnung, einmal indem von vornherein die KERNZEITEN für die Kinder- und Jugendarbeit (insbesondere den „offenen Bereich“) in die Zeiten außerhalb der Ganztagsschulzeit verlegt werden (späterer Nachmittag, früher Abend, Wochenende, Ferien) und dann, indem für die Übergangszeit, in der das Ganztagsschulangebot noch nicht für alle Kinder gilt, eine Angebotsschiene am frühen Nachmittag geschaffen wird, die sich gezielt an die Kinder richtet, die vom Ganztagsschulangebot nicht erfasst sind. Auch diesen Kindern wird auf diese Weise die Chance gegeben, sich in einem guten Mix von Freizeit und Bildung (Hausaufgabenbetreuung, Gruppenaktivitäten, Projektarbeit) persönlich weiter zu entwickeln. Das Nutzungskonzept sieht klar (auch zeitlich) voneinander abgegrenzte Module vor, deren genauere Struktur zwischen dem pädagogischen Team und den Nutzer/inne/n gemeinsam entwickelt wird. Als Vorgabe des Trägers können folgende Ausgangspunkte gelten: •

Damit wird eine Kooperation weiter entwickelt, die sich in einer guten Mischung von abgestimmter Arbeitsteilung und gemeinsamer Projektdurchführung gerade in dieser Region über Jahre entwickelt hat. Grundidee des Nutzungskonzeptes ist die eindeutige Schwerpunktsetzung in der ortsgebundenen, aber Sozialraum orientierten Kinder- und Jugendarbeit bei gleichzeitiger Nutzung der Raumressourcen für weitere Bedarfe im Stadtteil, die vorzugsweise von den Akteuren des Mehrgenerationenhaus-Verbundes der Kiezoase und der mobilen Kinder- und Jugendarbeit von Outreach angemeldet und mit gestaltet werden: Kinder und Jugendliche aus der Frobenstr. 27 laden gewissermaßen andere zur Mitnutzung ein, stellen aber (mit moderierender pädagogischer Begleitung) ihre eigenen Nutzungsinteressen legitimerweise in den Mittelpunkt. Das drückt sich auch in (zu schaffenden) Leitungsstrukturen aus, in denen starke Mitwirkungsrechte von Kindern und (insbesondere) Jugendlichen verankert werden.

Vormittags von 9-13 Uhr steht das Haus für familienbezogene Angebote zur Verfügung. Aus dem dreiköpfigen pädagogischen Team betreute ein/e Mitarbeiter/in speziell diesen Bereich – in enger Kooperation mit dem Mehrgenerationenhaus-Netz der Kiezoase, die die Frobenstr. 27 während dieser Zeitschiene auch für selbst verantwortete Angebote nutzen kann. Am frühen Nachmittag (14-16 Uhr) gibt es fünfmal in der Woche das gezielte Angebot für Schulkinder ohne Ganztagsschulbetreuung. Dies Angebot wird einen freiwilligen Charakter haben, aber doch eine gewisse Verbindlichkeit der Teilnahme abfordern (Anmeldung, kein „offener Betrieb“). Die Zeit nach 16 Uhr steht für die Kinderund Jugendarbeit (incl.„offener Bereich“) zur Verfügung. Voraussichtlich wird es eine tageweise Aufteilung in Kinder- (bis zum Al ter von 12 Jahren) und Jugendangebote (für 13-18jährige – bei Einbeziehung von Älteren, wenn diese eine verantwortliche Aufgabe, z.B. im Sinne von peer-helping übernehmen: Tägliche stundenweise Aufteilungen haben sich in der Vergangenheit nicht bewährt.

27


Ein Wochenplan könnte demnach z.B. so aussehen:

Montag

9-13 Uhr – Haus steht für Familienangebote zur Verfügung 14-16 Uhr – Schülergruppe keine offene Kinder- und Jugendarbeit des Hauses, Möglichkeit der Raumnutzung für Outreach-Kinder oder Jugendliche

Dienstag

9-13 Uhr – Haus steht für Familienangebote zur Verfügung 14-16 Uhr – Schülergruppe 16-20 Uhr – Kinderarbeit (offener Betrieb und Gruppenangebote)

Mittwoch

9-13 Uhr – Haus steht für Familienangebote zur Verfügung 14-16 Uhr – Schülergruppe 17-21 Uhr – Jugendarbeit (offener Betrieb und Gruppenangebote)

Donnerstag

9-13 Uhr – Haus steht für Familienangebote zur Verfügung 14-16 Uhr – Schülergruppe 16-20 Uhr – Kinderarbeit (offener Betrieb und Gruppenangebote)

Freitag

9-13 Uhr – Haus steht für Familienangebote zur Verfügung 14-16 Uhr – Schülergruppe 17-21 Uhr – Jugendarbeit (offener Betrieb und Gruppenangebote)

Samstag

14-18 Uhr – Familienangebote des Hauses

Sonntag

13-17 Uhr – Aktionstag für Jugendliche mit Angeboten innerhalb und/oder außerhalb des Hauses

Das pädagogische Team soll aus drei Mitarbeiter/innen bestehen: AG-Kosten Leitung Sozialarbeiter/in – Sozialpädagog/in, 28,75 WoStd.

30.000 Euro

(Bezahlung in Anlehnung an IVb BAT) Mitarbeiter/in Kinder- und Familienarbeit (Erzieher/in), 28,75 WoStd.

27.000 Euro

(Bezahlung in Anlehnung an Vc BAT Mitarbeiter/in Jugendarbeit (Erzieher/in), 28,75 WoStd.

27.000 Euro

(Bezahlung in Anlehnung an Vc BAT Bei einem Leistungsvertrag über 100.000 Euro stehen dann für Honorare 6.000 Euro, für Sachkosten 6.600 und für Verwaltungskosten 3.400 Euro (4 % der Personalkosten) zur Verfügung.

28


Essentials zum Konzept und zum Image der Einrichtung: Grundsätzliches/Image: •

Das Haus soll nach außen ausstrahlen, dass es sich um eine Kinder- und Jugendeinrichtung handelt. Es ist gewünscht, dass auch andere Nutzer das Haus für sich entdecken und beleben, aber es sollte nicht seine (originäre) Ausstrahlung als Haus für Kinder und Jugendliche verlieren. In diesem Zusammenhang ist, insbesondere von den Jugendlichen, ein Ressourcenrealismus abzuverlangen, aber gleichzeitig darauf zu achten sie nicht zu überfordern. Ein Punkt um dies umzusetzen und auch nach außen zu dokumentieren sind Öffnungszeiten, die sich an der freien Zeit der Jugendlichen (nach der Schule und an den Wochenenden) orientieren. Wenn das Haus (in den ausgewiesenen Zeiten) nicht durch Jugendarbeit belegt ist, steht es anderen Nutzergruppen offen. offensive Nutzung des Außengeländes (z.B. regelmäßiges Sportangebot)

Trägerkonstruktion: •

VskA ist Träger der Einrichtung und verantwortlich für die konzeptionelle Ausgestaltung und für das Personal. Outreach steht für mobile Jugendarbeit im Kiez (draußen und woanders), nutzt aber mit spezifischen Zielgruppen die Einrichtung und bietet eine hinausreichende Arbeit speziell für die Frobenstr. 27 an. Der bisherige Stützpunkt/Büro von Outreach in der Mansteinstraße kann zu Gunsten eines Büros in der Froben 27 perspektivisch aufge geben werden. Die Kiezoase übernimmt Teilbereiche des Programms (Mehrgenerationenarbeit/ Familienarbeit/Nachbarschaftsarbeit) Die Programmgestaltung und die Organisation wird in gleichberechtigter Kooperation zwischen den beteiligten Partnern organisiert. Entsprechende Instrumente werden entwickelt.

Nutzer/Zielgruppen: Zielgruppe der Villa Eigensinn sind Kinder- und Jugendliche aus dem Einzugsgebiet Schöneberger Norden unabhängig von Geschlecht, Lebenslagen oder

ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten im Alter von 6 bis 18 Jahren. Ältere Jugendliche (bis 21 Jahren) können die Beratungsangebote im Haus in Anspruch nehmen und sich bei entsprechender Eignung ehrenamtlich im Haus engagieren und die MitarbeiterInnen bei ihrer Arbeit unterstützen. Im einzelnen sind folgende Nutzergruppen vorstellbar: 1) Kinder a) Kinder, die durch ein offenes Angebot angesprochen werden und selbstständig die Einrichtung aufsuchen. b)Kinder, die durch mobile soziale Arbeit im öffentlichen Raum angesprochen werden. c) Kindergruppen, die das „Besondere“ erleben wollen (z.B. in Form von Projektwochen oder Schülergruppe als Übergangsangebot ). 2) Jugendliche d) Jugendliche, die durch ein offenes Angebot angesprochen werden. e) Jugendliche, die durch die mobile Jugendarbeit angesprochen werden und andere Gesellungsformen, als die auf der Straße üblichen, erproben wollen. f ) Jugendliche, die sich in Interessengruppen organisieren können, oder Interessengruppen, die dort aufgebaut werden. g) Aktive Jugendliche, wie etwa die peerhelper/ Leuchttürme, die einen Raum/Büro zur Verfügung haben. (Jugendbüro). Den aktiven Jugendlichen wird ein exponierter Platz in der Programmplanung und Hausnutzung zugestanden (z.B. Bildung eines Leitungsteams mit Jugendlichen, Schlüsselgewalt, eigener Etat…) Transparente Raumvergabe (Homepage). 3) Darüberhinaus sollen auch andere Nutzergruppen angesprochen werden • Eltern aus dem Kiez bzw. Eltern der Kinder, die die Einrichtung nutzen • Nachbarn • Familien aus dem Kiez • Schüler, der umliegenden Schulen Wichtig ist allerdings, dass das Haus nicht von vornherein „zugeplant“ wird, sondern dass es Freiräume gibt, um Neues zu probieren. Reale Aneignung und Partizipation sollen möglich sein.

29


Die Kinder- und Jugendeinrichtung „Villa Eigensinn“ soll ein Ort sein, an dem sich Jugendliche aus dem Sozialraum mit Gleichaltrigen treffen und gemeinsam ihre Freizeit verbringen können. Die Einrichtung soll allerdings auch als ein Bildungs- und Erlebnisraum gestaltet werden, der Bildung im Sinne von Lebenskompetenz vermittelt, zur Kommunikation und Kreativität anregt, und in dem eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Weltanschauung herrscht. Um dies zu gewährleisten, müssen Strukturen geschaffen und vor allem durchgesetzt werden, im Rahmen derer sich die MitarbeiterInnen und die Jugendlichen auf gemeinsame Regeln im Umgang miteinander auf der Grundlage von Gerechtigkeit, Toleranz, Respekt und Gewaltfreiheit verständigen. Auch in diesem Sinne ist es wichtig, dass unterschiedlichste Nutzergruppen das Haus frequentieren können. Diese „Gegenwelt“ zum relativ rauen „Straßenalltag“ muss mit ihren Angeboten so attraktiv sein, dass sich die Kinder- und Jugendlichen zum aktiven Mitgestalten und zur Verantwortungsübernahme eingeladen fühlen. Es müssen Angebote sein, in denen die Jugendlichen: • ihre Kompetenzen und Stärken einbringen und positive Erfahrungen mit sich und anderen machen können • Wege kennen lernen, ihre Energien auf konstruktive und kreative Weise zum Ausdruck zu bringen • alternative Auseinandersetzungsmöglichkeiten erlernen • lernen, sich mit Gleichaltrigen auf eine positive Art und Weise zu messen • ihre individuelle Lebenssituation verbessern können

Büro und Beratungsraum, Outreachbüro • • • • •

Multifunktionaler Gruppenraum • • • • • •

Cafébereich/offener Bereich • •

Aufbau eines selbstorganisierten Jugendcafés Ruhigere Angebote wie Brett- und Kartenspiele

themen- und geschlechtsspezifische Projektangebote halboffene Gruppenangebote Gesprächsrunden Rückzugsraum Internet Angebote zur Berufsorientierung und Berufsfindung (Bewerbungen Internetrecherche etc.) Aufbau und Pflege einer Einrichtungs-Homepage

Saal •

Mit dem „Spiegelsaal“ gibt es einen Ort, wo auch jugendkulturelle Angebote wie Musik, Tanz, Theater und andere Kunstformen sowie Partys stattfinden können.

Außengelände • • •

Raumnutzung und Angebote Folgende Angebote sind in den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten z.Zt. angedacht. Für eine Detailplanung werden aber die Wünsche der Nutzerinnen und Nutzer zu berücksichtigen sein.

Einzelfall- und Gruppengespräche Beratungsangebote Gespräche mit Eltern, Lehrern, Kooperationspartnern Mitarbeiterbesprechung Bürotätigkeiten

Sportangebote im Bereich Beachvolleyball, Fußball, Streetball, Grillfeste Regelmäßige Nutzung des Außengeländes durch andere Einrichtungen und Institutionen sowie durch ehrenamtliche Akteure des Kiezes

Hinausreichende Jugendarbeit Die hinausreichende und mobile Jugendarbeit wird in der Kinder- und Jugendeinrichtung Villa Eigensinn ein integraler Bestandteil sein. Die regelmäßige Präsenz im Sozialraum (Kiezrundgänge, Aufsuchen problematischer Treffpunkte und Aufenthaltsorte) wird sowohl die Einbettung in den Kiez erhöhen, als auch das Angebot bekannt machen und neue Kooperationspartner gewinnen. Die hinausreichende und mobile Jugendarbeit wird:

Wohnküche • • • •

Zubereitung von Getränken und Snacks für den Cafébetrieb Selbstorganisierte Kochgruppe Ernährungs- und Kochkurse •

30

bereits bestehende Beziehungen zu Kindernund Jugendlichen, die die Einrichtung nicht aufsuchen wollen oder die sich aufgrund ihres Verhaltens als noch nicht integrierbar erweisen, stabilisieren; Kontakte zu neuen Jugendlichen und


Gruppen im Sozialraum aufbauen; über Angebote und Aktivitäten in und außerhalb der Kinder- und Jugendeinrichtung informieren; mögliche Konflikt- und Krisensituationen im Sozialraum rechtzeitig erkennen und intervenieren; Kontakte zu Eltern, Anwohnern, Gewerbetreibenden und anderen Einrichtungen und Institutionen im Sozialraum pflegen; die Gesamtsituation im Sozialraum einschätzen und darüber informieren können.

Zusammenarbeit und Kooperation Die durchgängige Sozialraumorientierung im Arbeitsansatz von Outreach gewährleistet eine gute Einbettung der Kinder- und Jugendeinrichtung in die soziale Infrastruktur des Kiezes. Durch die Zusammenarbeit mit dem Quartiersmanagement, den Kiez-AGs und anderen Akteuren im Sozialraum lassen sich auch weiterhin Schnittmengen ausmachen, Doppelbetreuungen vermeiden und eine optimale Ressourcennutzung im Sozialraum organisieren. Neben der Intensivierung der Zusammenarbeit mit den anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie den Schulen im Sozialraum kommt es nach unserem Verständnis von Sozialraumorientierung allerdings auch darauf an, BewohnerInnen zu aktivieren und sie in Gestaltungsprozesse einzubeziehen. Eine effektive Vernetzung muss daher den Bereich der Jugendarbeit überschreiten und auch andere relevante lokale Akteure (z. B. Gewerbetreibende, Kulturschaffende, Eltern, Nachbarn) einbeziehen. Diese Art der Vernetzung dient auch der Etablierung einer positiven sozialen Kontrolle, die weniger an Reglementierung interessiert ist, sondern der Kultur des Wegsehens eine Kultur des Sichkümmerns entgegensetzt. Die neue Kinder- und Jugendeinrichtung bietet für die Gestaltung dieses Prozesses, auch aufgrund ihrer attraktiven Nutzungsmöglichkeiten für das Gemeinwesen, gute Voraussetzungen.

Evaluation und Qualitätssicherung Das Team wird die laufende Arbeit reflektieren und gegebenenfalls das Konzept dem veränderten Bedarf der BesucherInnen oder des Sozialraums anpassen. Zur Evaluation und Qualitätssicherung stehen folgende Instrumentarien zur Verfügung: • Selbstevaluation anhand des Handbuches „Qualitätsmanagement der Berliner Jugendfreizeitstätten“ • Anwendung der Methoden der sozialräumlichen Lebensweltanalyse • Regelmäßige Erhebungen zur Nutzung der Angebote im Rahmen der Selbstevaluation • BesucherInnenbefragungen • Wöchentliche Teamsitzung • Regelmäßige Auswertungsgespräche mit dem Jugendamt • Arbeitszeit-Einsatzplan • Schriftlicher Jahresbericht und Jahresplanung • Jahresauswertung mit der regionalen Leitung Schöneberg Nord des Jugendamt Perspektiven der Kooperation zwischen Mehrgenerationenhaus Kiezoase /Familientreffpunkt Kurmärkische Str. und Froben27. Hier wird der weite Horizont der möglichen Angebote abgesteckt, die zur Realisierung mit den vorhandenen Ressourcen (räumlich und finanziell) abgeglichen und mit den potentiellen Nutzer/innen gemeinsam entwickelt werden müssen. Die besondere Herausforderung besteht darin, den Kindern und Jugendlichen in ihrer „Gastgeberrolle“ ein anderes Verhältnis zur Generation ihrer Eltern und zu ihren tatsächlichen Eltern zu ermöglichen, die ihnen viel zu oft als nicht zu hinterfragender Macht- und Rechthaber gegenüber treten. Das wird kein Selbstläufer sein. Es bedarf der Vermittlung. Brücken sollen dadurch geschlagen werden, dass es eine intensive und regelmäßige Zusammenarbeit auf Teamebene mit dem Familientreffpunkt und dem Haus der Kinder geben wird. Mindestens einmal im Monat wird es ein „Gesamtteam“ geben, in dem die Mitarbeiter/innen der Froben27 mit Kolleg/inn/en von Outreach, der Kiezoase und des Hauses der Kinder zusammen treffen. Zu dieser „Gesamt-Team-Runde“ werden auch Delegierte der Mitbestimmungsgremien der Jugendlichen eingeladen. Dabei kann es z.B. um Folgendes gehen:

31


Der folgende Text fasst erste Ergebnisse eines ‘Brainstorming’ mit dem Familientreffpunkt der Kiezoase zusammen. Es handelt sich (noch) nicht um eine konkrete Angebotsplanung Ausbau der Kooperation zwischen Familientreffpunkt, Haus der Kinder und Froben 27 Dadurch Einbeziehung aller Altersgruppen in die sozialräumliche Arbeit im Frobenkiez. In der Zusammenarbeit mit allen im Folgenden genannten Zielgruppen soll es insbesondere um die Anregung von Selbstorganisation und Selbsthilfe gehen; entsprechend dem Early-Excellence Ansatz wird dabei an ihre Stärken und Ressourcen angeknüpft. Die Einbeziehung der Eltern in die Aktivitäten in der Einrichtung Froben 27 schafft für jüngere Kinder und insbesondere für Mädchen einen leichteren Zugang, wenn die Eltern sie „gut aufgehoben“ wissen. Dabei ist zu beachten, dass gemeinsame Aktivitäten der verschiedenen Altersstufen möglich sind, aber auch eigene Bereiche – insbesondere für Kinder und Jugendliche bleiben müssen. Diese Abgrenzung der Räume muss von den pädagogischen Fachkräften sichergestellt werden.

Schwerpunkt Väterarbeit: • • • • •

Ausbau der Zusammenarbeit mit Vätern Gewinnung der Väter als Multiplikatoren in der Nachbarschaftsarbeit (z.B. für sportliche Aktivitäten auf dem Spielplatz und der Freifläche Froben 27) Väter können als Autoritäten wichtige Multiplikatoren sein, wenn es um Themen wie Sicherheit/Gewalt im Kiez geht Zusammenarbeit mit den Vätern im Kontext der intensiven Nachhilfe für Kinder (Sensibilisierung für die Bildungsbelange der Kinder) Wir stellen fest, dass es gerade Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund eher an feedback gerade von ihren Vätern mangelt, da diese ihnen als Autorität/Identifikationsfigur häufig über die Pubertät abhanden kommen Väter haben sich häufig aus den Familien zurück gezogen aus Verunsicherung über ihre Rolle, wenn sie – arbeitslos und ohnmächtig bezüglich der Perspektive ihrer Familie (Aufenthalt und wirtschaftliche Lage) - als „Ernährer“ ausfallen Treffpunkt der Väter (Väterfrühstück, Vätergruppe) bleibt der Familientreffpunkt in deutlicher Abgrenzung vom Kinder- und Jugendtreff gegenüber, der insbesondere an den Nachmittagen den Kindern und Jugendlichen vorbehalten bleibt An den Vormittagen können im Froben 27 Angebote der Qualifizierung (an den PC-Plätzen) und Beratung für Väter sowie Bewegungsangebote (im großen Raum) stattfinden (aus der Erfahrung heraus, dass es einen großen Bedarf nach Einzelunterstützung gibt und außerdem häufig über körperliche Beschwerden geklagt wird Analog zur Zusammenarbeit mit den Müttern, die in den letzten Jahren verstärkt an Qualifizierungen bezüglich Bildungssystem und Bildungskonzepten teilgenommen haben, wollen wir auch die Väter einbeziehen Für die Kinder im Alter bis ca. 12/13 Jahren können gemeinsame Aktivitäten mit Vätern initiiert werden (gute Erfahrungen gibt es mit Schwimmen, Sport, Naturaktivitäten und Ausflügen)

Ziele in der Arbeit mit den Vätern • • •

32

Väter nehmen ihre Verantwortung als Partner und in der Erziehung der Kinder innerhalb der Familien wahr Sie werden sensibilisiert für die Belange und Situation ihrer Kinder in verschiedenen Altersstufen, was ihnen die Balanace zwischen Nähe und „Loslassen“ erleichtert Väter erleben Selbstwirksamkeit und entwickeln Perspektiven für sich selbst (in der Hoffnung, dass sie dann auch eigene Perspektiven und Vorstellungen ihrer Frauen und Kinder besser nachvollziehen und akzeptieren können) Väter werden selbstbewusst in ihrer Rolle und erleben sich als Ansprechpartner und Akteure in der Zusammenarbeit mit Pädagogen und in der Nachbarschaft


Mögliche Kooperationen bei der Arbeit mit Vätern •

• • • •

Voraussichtlich zum 01.11.09 wird für niedrigschwellige und aufsuchende Familienberatung im Familientreffpunkt ein männlicher Berater mit Migrationshintergrund eingestellt – dies wird ein wichtiger Ansprechpartner für die Väter bezüglich familiärer und erzieherischer Fragen Sportvereine Gertrud-Kolmar-Bibliothek/arabischer Sozialarbeiter Zu Qualifizierung und Jobperspektiven: fair, Kumulus plus, Kick Schulen (insbesondere Elternvertreter)

Schwerpunkt Gesundheit im Kiez •

• •

• • •

im Verlauf einer seit 2 Jahren stattfindenden Evaluation der gesundheitsrelevanten Rolle der Arbeit im Familientreffpunkt für die Familien (Projekt „Gesundheit beginnt in der Familie“ des DJI mit der Uni Hamburg) stellte sich heraus, dass es einen großen Bedarf nach Bewegungsangeboten für Kinder und Eltern gibt da bildungsungewohnte Familien jedoch kaum klassische Angebote wie Eltern-Kind-Turnen oder Sportvereine wahrnehmen, wollen wir entsprechende Angebote im Netzwerk von Familientreffpunkt, Haus der Kinder und Froben 27 installieren denkbar wären zirkuspädagogische Workshops durch den Juxirkus, Eltern-Kind-Turnen mit Kleinkindern und Bewegungsangebote auf dem Spielplatz für den großen Raum wäre auch über die Wintermonate an Vormittagen ein Indoor-Spielplatz für Eltern mit kleinen Kindern vor Eintritt in die Kita denkbar (ein Bedarf wird immer wieder von Eltern und Pädagogen im Schöneberger Norden formuliert) gerade beim Fußball könnten auch Väter eingebunden werden, die bereits in der Vergangenheit die Organisation von Turnieren mit verschiedenen Schulmannschaften im Schöneberger Norden unterstützt haben (vielleicht kann auch eine Väter-Mannschaft entstehen) hier könnte eine Kooperation mit „Gesundheit Berlin“ angestrebt werden, die Bewegungsangebote bereits in anderen Stadtbezirken unterstützen (z.B. im Familienzentrum Mehringdamm) Kooperation zum Thema gesunde Ernährung: Kochworkshops und Kurse für Eltern und Kinder in Verknüpfung mit diesem Schwerpunkt im Haus der Kinder (wo bereits Bio-Kost angeboten und mit Kindern gekocht wird) und mit den Garten-Projekten im MGH (Familiengarten am Nachbarschaftstreff Steinmetzstr. und Gemüsegarten/Hochbeet der Schülerinnen im Familientreffpunkt) Die Außenfläche bietet die Möglichkeit, einen Garten in Verantwortung der Kinder und Eltern anzulegen; bereits jetzt gibt es dort ein Haus, das für Familien Bänke und Tische sowie Grillmöglichkeiten bereit hält Die Arbeit am Familiengarten im Nachbarschaftstreff und im Familientreffpunkt hat die Entfremdung der Kinder von den entsprechenden Naturkreisläufen gezeigt Die Eltern haben dabei ihre Erinnerungen an Gärten und Landwirtschaft in den Herkunftsländern wieder entdeckt und viele Ideen und Tatkraft beigesteuert Die Gegebenheiten im Kiez lassen es sinnvoll erscheinen, die Themen, Sexualität und Prävention bezüglich HIV und anderer Krankheiten in die Arbeit mit Eltern, Kindern und Jugendlichen einzubeziehen hier gilt es großen Vorbehalten der muslimischen Eltern Rechnung zu tragen (die das Thema tabuisieren und auch in den Einrichtungen nicht mit den Kindern besprochen wissen wollen)

33


Ziele beim Gesundheitsschwerpunkt •

• • •

die Evaluation durch das DJI im Familientreffpunkt zeigte, dass Eltern die Erfordernisse für ein gesundes Aufwachsen ihrer Kinder durchaus bewusst sind (gesunde Ernährung, Zahnpflege, Bewegung), es mangelt an der Umsetzung es sollen Gelegenheiten geschaffen werden, dass Eltern selbst verantwortlich und lustvoll das Thema Gesundheit in ihren Alltag integrieren dafür eignen sich der große Raum und die Außenfläche sowie die Küche der Einrichtung Froben 27 da im MGH alle Altersgruppen vertreten sind, können die gesundheitsrelevanten Themen vernetzt mit Eltern, Großeltern, Kindern und Jugendlichen der unterschiedlichen Altersstufen angegangen werden (in der Kita, im Familientreffpunkt und in der Kinder- und Jugendeinrichtung) gerade die Auseinandersetzung mit der Prostitution zum Anlass zu nehmen, um das Thema Sexualität einzubeziehen wäre an dieser Stelle im Kiez ein wesentlicher Meilenstein in der sozialräumlichen Arbeit (auch, weil es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und den Prostituierten kommt)

Kooperationen für den Gesundheitsschwerpunkt

• • • • • •

Ärzt/innen, Therapeut/innen KJGD Gesundheitsamt insgesamt, insbesondere Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten OLGA und Fixpunkt e.V., die vor Ort Angebote für Prostituierte machen Gesundheit Berlin e.V. Krankenkassen Juxirkus

Schwerpunkt schulische Unterstützung von Grundschüler/innen und am Übergang zwischen Grund- und Oberschule •

• • •

Ziele: • • • • •

34

da die schulische Unterstützung bei Hausaufgaben sowie individuelle Förderung bei besonderem Bedarf für Grundschüler außerhalb der gebundenen Ganztagsgrundschulen nicht in ausreichendem Maße an der Schulen geleistet wird, besteht nach wie vor in diesem Bereich ein sehr großer Bedarf, der Eltern in großer Zahl den Familientreffpunkt aufsuchen lässt . Dieses Übergangsangebot ist voraussichtlich noch für weitere 2 Jahre erforderlich. hier sollte es Unterstützung in der Einrichtung Froben 27 in der Zeit von 14.00 – 16.00 geben (bevor es wegen offener Angebote zu unruhig im Haus wird) die Unterstützung muss in enger Abstimmung mit den Lehrer/innen und Eltern erfolgen, um beide Seiten in ihrer Verantwortung zu stärken die Einbindung dieses Bereiches erleichtert auch die Integration der Kinder in den offenen Bereich und sonstige Aktivitäten in der Kinder- und Jugendeinrichtung, die vom Familientreffpunkt aus bisher nur wenig gelungen ist gerade für die Kinder mit besonderem schulischem Förderbedarf ist aber die Verbindung mit offenen Angeboten, Spiel und Bewegung sehr wichtig

Verbesserung der schulischen Perspektiven der Kinder und damit Entlastung der Familien, in denen dieses Thema sehr viel Konfliktstoff liefert Eltern kennen sich besser in den Bildungsbelangen der Kinder aus und unterstützen selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten Lehrer/innen bekommen zusätzliches feedback über die individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände der Kinder/Familien Vermittlung zwischen Kindern, Eltern und Lehrer/innen im Bedarfsfall Einbindung der Familienberatung bzw. Überleitung dort hin (Familientreffpunkt/PFH)


Kooperationen • Bildungsnetzwerk Schöneberg Nord • Grundschulen im Schöneberger Norden • Projekt „Hauptsache Schule“ (Jugendwohnen in Koop. mit PFH/Kiezoase) an der Spreewald- und Neumark-Grundschule • Perspektivisch sollten auch Oberschulen im Gebiet einbezogen werden Die beschriebenen Schwerpunkte bedeuten nicht, dass Mütter ausgeklammert werden. Da mit ihnen bereits seit Jahren an vielen Standorten intensiv zusammen gearbeitet wird, wurden hier die Bereiche beschrieben, wo es noch besonderen Entwicklungsbedarf gibt. Insgesamt wird es natürlich vielschichtige Querverbindungen zwischen allen Bereichen von der Frühförderung von Kleinkindern, über die Partizipation von Kindern und Jugendlichen, die Zusammenarbeit mit Eltern bis zur sozialräumlichen Vernetzung geben.

Vom Spielen zum Handeln Stadtspieler ist das Trainingsspiel für Stadtentwicklung und Kreativität Stiftung Agens e.V. (vorm. Netzwerk Südost) Das neueste Produkt aus der Schmiede der Spiele-Entwickler vom (ehem.) Netzwerk Südost entwickelt die Grundideen weiter, die im „Leipziger Messespiel“, in „Alles Dresden“, im „Stadtspiel“ und im „Dorfspiel“ angelegt waren. Es geht um die Freisetzung von kreativen und schöpferischen Potentialen für beteiligungsorientierte Planungsprozesse. Die Entwicklung des neuen Spiels wurde vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung als Pilotprojekt im Programm der “Nationalen Stadtentwicklungspolitik” unterstützt.

stadtspieler lädt Sie ein, Städte im Spiel neu zu erleben. Als Werkzeug für Stadtentwicklung, Bildung, Wirtschaft und Nachbarschaft. stadtspieler lädt Sie ein, spielend neue Perspektiven zu entdecken. Als Werkzeug für Kreativität, Kommunikation und Phantasie. stadtspieler ist ein Trainingsspiel für das echte Leben. Als Werkzeug für Laien und für Profis – für alle, die auf Augenhöhe miteinander reden möchten. Komm ins Spiel

Über den Spass ins Spiel finden:

stadtspieler ist ein strategisches Brettspiel für vier bis sechs Personen. Es wird auf einem fiktiven Stadtplan als Spielfeld gespielt. Auf ihm sollen die Spieler eine Stadt frei nach Ihren Wünschen, Ideen und Vorstellungen bauen – aus Knete werden Ideen zu Bauwerken oder Figuren geformt.

stadtspieler eröffnet neue Perspektiven. Das Spiel bietet Platz für unterschiedlichste Interessen, lässt Ideen entstehen, fördert Teambildung und schafft intensiven Austausch zwischen allen Beteiligten.

stadtspieler schlüpfen dabei in verschiedene Rollen.Mal bauen sie als Investor ein Gebäude, mal besuchen sie als Bewohner einen Nachbarn, mal beschreiben sie als Stadtplaner die Situation. Die Spieler bauen, erfinden Geschichten und setzen sich mit den Vorschlägen der Mitspieler auseinander. Ein Spieler beobachtet das Spiel. stadtspieler verläuft in vier Phasen: In Phase 1 machen sich die Spieler mit den Vorgaben des Spiels vertraut und jeder Spieler baut eine erste Figur oder ein Gebäude. Die 2. Phase ist die längste: Jetzt wird abwechselnd gebaut, besucht und berichtet. Stück für Stück wächst auf dem Stadtplan eine Stadt. In der 3. Phase betrachten alle die entstandene Stadt mit Abstand: Welches ist das Gebäude mit dem größten Zukunftspotenzial? Am Ende der 4. Phase wird der Meisterspieler gewählt. Die Gruppe beendet das Spiel – und diskutiert mit den Aufzeichnungen des Spielbeobachters das Erlebte und die Ideen.

stadtspieler lädt zum Lernen durch den Spaß am Spiel ein. Das Spiel zielt darauf ab, den einzelnen Spieler kompetenter zu machen. Dabei geht es weniger um Sieg oder Niederlage, sondern darum gewinnbringend an Entwicklungs- und Veränderungsprozessen teilzunehmen. stadtspieler produziert Ideen. Die Mitspieler bauen gemeinsam eine Stadt und entwickeln dabei Ideen für Gebäude und für die Nutzungen von Flächen. stadtspieler kann jeder sein. Bewohner eines Stadtteils, Nachbar in einem Straßenzug, das Projektteam eines Unternehmens, eine Schulklasse sowie Moderatoren und Planer in einem Stadtentwicklungsprozess. Mach dein eigenes Spiel stadtspieler besitzt als methodisches Instrument besondere Vorteile gegenüber anderen Formen:

35


Es bietet einen geschützten Raum, um Interaktion zu üben und Inhalte zu klären. Außerdem kann es auf reale Situationen bezogen werden. stadtspieler bringt Interessen und Ziele der Mitspieler auf den Tisch. Teamgeist und Verantwortung werden gestärkt. stadtspieler können sich ihre eigene Spielversion schaffen, indem sie die Spielplatte verändern oder eigene Themen- und Ereigniskarten entwickeln. stadtspieler ist für jeden geeignet und kann ohne professionelle Anleitung gespielt werden. stadtspieler ist mobil einsetzbar zu jeder Zeit an jedem Ort. stadtspieler kann als Brettspiel, aber auch als Großversion im öffentlichen Raum gespielt werden.

2. Ideenentwicklung Im Laufe des Spiels entwickeln die Mitspieler eine Vielzahl von Ideen – keine Spielrunde gleicht der anderen. Die Ideen können dokumentiert und für ein Weiterarbeiten ausgewählt werden. Wenn verschiedene Spielgruppen in getrennten Runden am gleichen Thema arbeiten, entsteht so ein umfassender Ideenpool. 3. Teambildung Das Spiel ist ideal geeignet für Gruppen, die sich spielerisch, aber anhand eines ernsthaften Themas kennen lernen möchten. So kann das Spiel eingesetzt werden, um ein Team neu aufzubauen, aber auch um in bestehenden Teams neue Impulse für eine bessere Zusammenarbeit zu setzen. Auch für Teams, die Stadtentwicklungsprozesse inhaltlich bearbeiten möchten, ist das Spiel geeignet. 4. Einbindung in konkrete Projekte

stadtspieler besitzt eine sinnlich greifbare Qualität. stadtspieler werden praktisch tätig, kommen ins Gespräch und sind ergebnisoffen.

Das Spiel kann sinnvoll in Projektabläufe integriert werden. Hierfür eignen sich besonders gut die Anwendungsfelder Stadtentwicklung, Nachbarschaft, Bildung, Jugend und Schule sowie Wirtschaft. Das Spiel kann in verschiedene Phasen eines Projektes integriert werden:

Das Spiel im Einsatz

1.

Am Anfang um den Prozess der Gruppenbildung und das gegenseitige Kennenlernen voranzutreiben; zur Sensibilisierung für das zu bearbeitende Thema.

2.

Während einer Planungsphase, um aktiv Interessenaustausch zu betreiben und Ideen zu entwickeln.

3.

Bei der Konkretisierung und Qualifizierung von Ideen für einen bestimmten Ort, zum Beispiel für die Entwicklung von Leitbildern.

4.

Bei der Umsetzung eigener selbsorganisierter Projekte, die mithilfe des Spiels entwickelt worden sind.

1. Training von Interaktion und Kreativität Im Mittelpunkt des Spiels steht die Kompetenzentwicklung des einzelnen Spielers. Der Spieler schlüpft in unterschiedliche Rollen, lernt verschiedene Perspektiven kennen und ist gefordert Ideen zu entwickeln und diese den anderen Spielern zu vermitteln. Das Instrument des Spiels bietet hierfür ideale Voraussetzungen, da es keine reale Situation, also nicht den Ernstfall darstellt. Es gibt Regeln für den Ablauf des Spiels, aber nicht für die Ergebnisse. Die Spieler können ihrer Phantasie freien Lauf lassen – und ohne Bedenken kreative Ideen entwickeln, die in der Realität schnell als „unrealisierbar“ gelten, aber vielleicht den notwendigen Impuls zum Weiterdenken liefern.

Das Spiel kann zum Preis von 59 Euro zzgl. 10 Euro Versandkosten bestellt werden bei: Netzwerk-Agens e.V. /Georg Pohl / Mittelweg 147 / 20148 Hamburg info@netzwerk-agens.de / Tel.: 0174 – 3217830 (Auf den ersten Blick scheint das teuer zu sein, aber wenn man bedenkt, dass es methodisch vergleichbare Qualitäten hat wie „Zukunftswerkstätten“ und ähnliche Veranstaltungen, ist es im Gegenteil eine extrem kostengünstige Investition!) – weitere Infos zum Spiel auch unter www.stadtspieler.com -

36


Eine der Wurzeln der Nachbarschaftsheimbewegung in Deutschland ist die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost (SAG), die von Friedrich Siegmund-Schultze kurz vor dem ersten Weltkrieg gegründet wurde. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft wollte durch praktische soziale Reformen zur Überwindung von Klassengegensätzen und damit zum inneren Frieden des Landes beitragen. Sowohl SiegmundSchultze als auch seine Mitstreiter aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft setzten sich ebenso konsequent für den äußeren Frieden ein. Friedrich Siegmund-Schultze wurde Leiter des Versöhnungsbundes. Sein Mitarbeiter Hermann Stöhr bemühte sich vor allem um die Aussöhnung mit Polen. 1939 verweigerte er den Kriegsdienst in der Hitler-Armee, wurde verhaftet, zum Tode verurteilt und 1940 hingerichtet. In Berlin erinnert ein Gedenkstein auf dem nach ihm benannten Platz am Berliner Ostbahnhof an diesen außerordentlich mutigen und konsequenten Vertreter eines besseren Deutschland. Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit wollte mit dazu beitragen, dass Hermann Stöhr nicht vergessen wird, und hat sich deswegen in diesem Herbst an einer Ausstellung beteiligt, die aus Materialien des Berliner Antikriegsmuseums/Friedensbibliothek zusammengestellt und im Bonhöffer-Haus in Stöhrs Heimatstadt Stettin unter dem Titel „Ein unmissverständliches NEIN“ gezeigt wurde. Wir dokumentieren hier einige der Texte aus dieser Ausstellung.

“Ein unmißverständliches NEIN” Hermann Stoehr * 4. 01.1898 Stettin / Szczecin † 21.06.1940 Berlin-Plötzensee Texte einer Ausstellung im Internationalen Begegnungszentrum Dietrich von Bonhöffer in Stettin/Szczecin (Herbst 2009)

Hermann Stöhr wurde am 4.1.1898 in Stettin geboren. Nach dem Gymnasium ging er als Kriegsfreiwilliger zur Marine. 1918 kam er erschüttert aus dem Krieg. Von 1919 bis 1922 studierte Stöhr Volkswirtschaft, öffentliches Recht und Sozialpolitk und promovierte zum Doktor der Staatswissenschaft cum laude. Ab 1923 arbeitete er bei der Zeitschrift „Die Eiche“, beim Internationalen Versöhnungsbund und bei der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost als Mitarbeiter von Friedrich Siegmund-Schultze. Ab Mai 1926 war Stöhr tätig beim Centralausschuß für die Innere Mission und ehrenamtlich beim Versöhnungsbund und in der Friedensarbeit. Dabei bemühte er sich immer, zu wichtigen Zeitfragen Stellung zu nehmen. So schrieb er u.a. verschiedene kritische Artikel zum Verhältnis zwischen Deutschen und Polen. 1931 wurde er aufgrund seiner „polenfreundlichen“ und pazifistischen Haltung arbeitslos. In der Folgezeit arbeitete Stöhr an mehreren Büchern und richtete kritische Anfragen an den Präsidenten des EOK und den Reichsbischof zur Anpassung der Kirche an die Forderungen der NSDAP sowie zur Verfolgung der Juden und Andersdenkenden. 1936 gründete er einen kleinen Verlag. Am 28.2.1939 erhielt Stöhr eine Aufforderung des Wehrbezirkskommandos Stettin. Am 2.3.1939 verweigerte Hermann Stöhr den Kriegsdienst, am 31.8.1939 Festnahme in Stettin, am 7.11 Überstellung nach Torgau, am 9.11.1940 Überführung in das Wehrmachtsgefängnis Berlin, am 16.3.1940 Verurteilung zum Tode. Am 8.6.1940 lehnte Hitler das Gnadengesuch ab. Am 21.6.1940 wurde Hermann Stöhr durch Enthaupten in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Erst im Vorfeld des 100. Geburtstages von Hermann Stöhr gelang es der Friedenbibliothek, Mitarbeitern/innen von Bündnis 90/Die Grünen und der BVV Berlin-Friedrichshain einen zentralen Platz nach ihm zu benennen, am 3.12.1997 das Unrechtsurteil gegen ihn aufheben zu lassen und schließlich zum 100.Geburtstag am 4.1.1998 einen über sieben Tonnen schweren Gedenkstein am Hermann-StöhrPlatz beim Berliner Ostbahnhof aufzustellen.

37


Er hieß bei uns einfach Onkel Hermann, und wir mochten ihn sehr. Er war ein Onkel, der es mit Kindern konnte. Er hatte viel Humor, er konnte gut erzählen. ... Jedesmal, wenn er uns besuchte, brachte er seinen Fotoapparat mit. Ein großer alter Plattenapparat auf einem Stativ. Und ein großes schwarzes Tuch darüber. Und dahinter war er und sagte:„Jetzt ein bißchen mehr rechts, ein bißchen mehr links, und hier, die Forsythien sollen auch noch mit darauf,“ und dann:„Kuckuck ...!“ und das Foto kam. Er hat sehr schöne Fotos gemacht. ... Die Fotos schickte er uns dann später, für jedes Kind diejenigen Fotos, die er von ihm gemacht hatte, extra ... Onkel Hermann war nicht nur ein sehr guter, naher Freund der Eltern, er war auch der Freund von uns Kindern. Wir mochten ihn sehr, denn er gehörte zu jenen Besuchern, die sich Zeit für Kinder nehmen. Er hatte eine stille und gute, behutsame und zugleich humorvolle Art, mit uns umzugehen und uns für alles Mögliche zu interessieren... Dr. Hildemarie Streich, geb. Peter, am 4.1.1998 bei der Einweihung eines Gedenksteines für Hermann Stöhr am Hermann Stöhr-Platz in Berlin Stettin, den 1.Mai 1933 Herrn Rabbiner Dr. Elk, Stettin, Schallehnstr. 21 a Sehr geehrter Herr Rabbiner ! Namens einer kleinen Gruppe evangelischer Christen bringen wir Ihnen und der jüdischen Gemeinde Stettins unser Bedauern darüber zum Ausdruck, daß die Juden in dieser Stadt und im Reich seit dem Judenboykott vom 1.April und auch schon vorher einer feindseligen Haltung weiter Bevölkerungskreise ausgesetzt sind. Der Geist, der Ihnen entgegengetreten ist, entspricht weder rechtem deutschen Wesen noch „positivem Christentum“, das viele Deutsche auf ihre politschen Fahnen geschrieben haben. Es ist unchristlich, Volksgenossen jüdischer Abstammung zu Bürgern zweiter Klasse ... zu degradieren. ... Noch ärger ist es, Volksgenossen lediglich wegen ihrer jüdischen Abstammung zu Feinden des deutschen Volkes zu erklären ... In besonderer Teilnahme gedenken wir der wirtschaftlichen und seelischen Not, in die viele Juden durch diese Geschehnisse und zahlreiche Regierungsmaßnahmen geraten sind. ... So sehr uns auch politische und wirtschaftliche Parolen zu Haß und Feindschaft verführen wollen, erkennen wir es trotzdem als ein Gebot unseres gemeinsamen Vaters, daß zwischen Juden und Christen Verträglichkeit und Frieden, Freundschaft und Liebe herrschen. Pastor O. Rincke, Fr. H. Chinnow, Dr. H. Stöhr, Scharnhorststr. 7 Zu unseren östlichen Nachbarn haben wir weiterhin noch kein rechtes Verhältnis gewonnen. ... Ungesühnt ist der große deutsche Schuldanteil an den vier Teilungen Polens. ... für diese Schuld hat weder die Kirche noch unser Volk Buße getan. Hermann Stöhr in der Zeitschrift „Mut und Kraft“, 1929 Wir bitten auch für alle, die gegenwärtig benachteiligt und verfolgt werden, gleicherweise, ob sie im Irrtum und Unrecht befangen sind oder nicht, ob es sich um Kommunisten, Sozialisten oder Pazifisten, um Christen oder Juden handelt. Besonders gedenken wir der 18.000 Volksgenossen, die nach einer amtlichen Mitteillung vom Juni 1933 in Konzentrationslagern des Deutschen Reiches leben. Teil des Gebetsanliegens, das Hermann Stöhr an den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates sandte, 31.7.1933. Wenn die herrschende Partei die Kinder ihren Eltern mit Gewalt entfremden will, kann da die Kirche schweigen? Hermann Stöhr in einem Brief an den Reichsbischof, 6.11.1933 Lediglich in einem Falle wurde gegen eine Zeitschrift ...wegen der Veröffentlichung des Artikels von Dr. Hermann Stöhr ...„Die Judenfrage als kirchliches Problem“ mit der Beschlagnahme vorgegangen. Es han-

38


delt sich hierbei um eine Abhandlung, in der ... die vom Reich und der nationalsozialistischen Bewegung vertretene Judenpolitik in außerordentlich scharfer Weise kritisiert und angegriffen wird. ... Lagebericht der Staatspolizeistelle Düsseldorf zum Monat März 1935 an das Geheime Staatspolizeiamt Berlin Den Dienst mit der Waffe muß ich aus Gewissensgründen ablehnen. Mir wie meinem Volk sagt Christus: „Wer das Schwert nimmt, soll durchs Schwert umkommen.“ (Matth. 26,53). So halte ich die Waffenrüstung meines Volkes nicht für einen Schutz, sondern für eine Gefahr. Was meinem Volk gefährlich und verderblich ist, daran vermag ich mich nicht zu beteiligen. Positives Christentum weist m.W. den Völkern höhere Ziele, als sich in Kriegs-Rüstungen gegenseitig zu übertreffen und einen immer größeren Prozentsatz der nationalen Energien hierfür einzusetzen. ... Sollte mir statt militärischer Übungen ein entsprechender Arbeitsdienst zuerkannt werden, dann bin ich hierzu bereit, auch wenn ich durch vermehrte und schwierige Arbeit die Aufrichtigkeit meiner Gewissensbedenken gegen den Militärdienst erhärten sollte. Schreiben von Hermann Stöhr an das Wehrbezirkskommando Stettin I (Marine), 2.3.1939 Der Matrose Hermann Stöhr wurde durch Feldurteil des 3. Senats des Reichskriegsgerichts vom 16.3.1940 wegen Zersetzung der Wehrkraft zum Tode verurteilt. Das Urteil ist am 13.6.1940 rechtskräftig geworden und wurde, nachdem der Führer und Reichskanzler von seinem Begnadigungsrecht keinen Gebrauch machte, am 21.6.1940 vollstreckt. Mitteillung des Oberreichskriegsanwalts an das Gericht des 2.Admirals der Ostseestation in Kiel, 28.Juni 1940 Die Nachricht von Herberts Seemannstod ... hat mich tief erschüttert. ... Ich selbst sah Herbert zum letzten Mal Anfang August, da ich ihn in Swinemünde besuchte. Wir lagen am Ostseestrand. Und nachher zeigte er mir noch sein Schiff, seine Kabine und das chinesische Schriftzeichen aus Messing. Das erklärte er mir, es bedeute: Glück, langes Leben, viele Kinder. Nun sind bei ihm trotz seiner Jugend alle vergänglichen Dinge noch früher dahingeschwunden als sie auch einmal bei uns dahinschwinden ... Mit mir steht es so: Ich habe den Militärbehörden seit 2.3.39 erklärt, ich könne meinem Vaterlande nur mit Arbeit dienen, aber nicht mit der Waffe ... und mit einem Eid ... Am 16.März erhielt ich dafür mein Todesurteil und am 13.April wurde das Urteil bestätigt. Jetzt läuft mein Gnadengesuch Hermann Stöhr in einem Brief an seine Schwägerin, 3. Juni 1940 Nur ein einziger Fall eines Mitglieds der evangelischen Kirche ist mir begegnet, das ... den Kriegsdienst verweigerte und hingerichtet wurde: Hermann Stöhr, Mitglied des Internationalen Versöhnungsbundes. ... Seine Kirche aber schwieg und ließ ihn im Stich. Diese Not der Bedrängten wollte sie nicht aufnehmen. Ich suchte ihren damaligen dienstältesten Landesbischof auf, aber D.Marahrens ...schwieg. Das Versagen der offizellen Kirche, nicht nur wegen ihrer Abhängigkeit vom Regime, sondern auch aus ihrer inneren Taubheit gegenüber diesem Gewissensanliegen, war für die Christenheit beschämend. Harald Poelchau, 1965 Einen Gedenkstein für Hermann Stöhr wollen wir heute “einweihen” ... Denn heute vor hundert Jahren wurde Hermann Stöhr geboren. Einen riesigen Stein mitten in der Stadt auf einen Platz hinzustellen ..., ist das eine Geste die dem evangelischen Kriegsdienstverweiger Dr.Hermann Stöhr gerecht wird? Es will mir scheinen, als wäre dieser Stein ... nicht ein Symbol für Hermann Stöhr, der ein weiches Herz hatte, das sich anrühren und erweichen lassen konnte von der Einsicht des Gewissens ...Aber wir können es auch anders sehen: Der große Stein ließe sich als ein Symbol erkennen für die Unmenge der steinernen Herzen, an denen auch Hermann Stöhr zu Grunde gegangen ist. Dr. Rolf Wischnath am 4.Januar 1998 zur Einweihung eines Gedenksteines für Hermann Stöhr am Hermann-Stöhr-Platz in Berlin

39


GlücksSpirale Der Rundbrief erscheint mit finanzieller Unterstützung der Glücksspirale


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.