RATGEBER | Idealgewicht
Weitere kursierende Indizes wie Bauchumfang, Taille-Hüfte- oder Taille-Größe-Verhältnis kämpfen mit analogen Problemen.
Schmaler, leichter, schneller Gibt es das ideale Marathongewicht?
Zur Läuferwelt Der BMI
Der ideale Läuferkörper hat wenig „Ballast“, aber genügend leistungsfördernde Muskelmasse sowie die richtige Art und Verteilung von Fettgewebe vorzuweisen. Das Erreichen des individuell passenden Minimalgewichtes darf nie auf Kosten der Muskulatur gehen. Beschränkungen der täglichen Eiweißaufnahme unter ein Gramm pro Kilogramm Körpergewicht sind kontraproduktiv. Den neidvollen Blick auf die
Obwohl bereits 1870 von Adolphe Quetelet (1796–1874) errechnet, ist die nach ihm benannte „Körper-Kennzahl für den mittleren Menschen“ erst in den letzten Jahren unter dem Namen BodyMass-Index (BMI) in Mode gekommen. Wie hoch der Quotient aus Körpergewicht [kg] und Quadrat der Größe [m] im Idealfall sein darf, wird kontrovers diskutiert. Aktuell wird Frauen ein Wert von 19 bis 24 und Männern ein solcher zwischen 20 und 25 empfohlen. Statistisch soll das die höchste Lebenserwartung bescheren. Allerdings gelten diese Werte nur für den mittleren Lebensbereich. Denn für die Jugend und das Alter, aber auch für bestimmte Sportler-Gruppen, sagt diese Statistik anderes aus.
Lange galt der von Pierre Paul Broca (1824–1880) entwickelte Index (BI) als richtungweisend. + : Normalgewicht [kg] = Körpergröße [cm] – 100 (Bsp. 170 cm ➞ BInorm = 70 kg) : Idealgewicht = Normalgewicht – 10 % (Bsp. BIid = 63 kg) : Idealgewicht = Normalgewicht – 15 % (Bsp. BIid = 59,5 kg)
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Wenngleich der ideale Broca-Mann (1,70 m, 63 kg) mit einem BMI von 21,8 genauso wie die ideale Broca-Frau (170 m, 59,5 kg) mit dem BMI 20,6 auch die Quetelet-Anhänger erfreut, darf dieser Konsens nicht über viele Ungereimtheiten hinwegtäuschen, die keinen der beiden Indizes zum universellen Gewichtswegweiser für die Gesundheit und sportliche Leistungsfähigkeit machen: ■ fehlende Berücksichtigung der Körperzusammensetzung (Fett, Muskelmasse) sowie des ■ genetisch determinierten Körperbautyps (ektomorph/schlaksig-dünn, mesomorph/athletisch, endomorph/ pyknisch-untersetzt) ■ keine Eignung für besonders große und kleine Menschen ■ unterschiedliche Optimalwerte für verschiedene Gesundheitsfaktoren (Bsp. Optimal-BMILebenserwartung ≠ Optimal-BMIInfektresistenz)
feingliedrigen Proportionen einer Paula Radcliffe (BMI 18,0), eines Haile Gebrselassie (20,6) oder Dennis Kimetto (18,8) kann sich der gemeine europäische Läufer sparen.
Genetisch festgelegt
ILLUSTRATION: KLEMENS WAHL
Ballast kostet Energie – eine weniger träge Masse bedeutet ein höheres Tempo. Das klingt banal, aber so einfach sind die Zusammenhänge zwischen Körpergewicht und Laufleistung jedoch nicht. Seit 150 Jahren sucht der „generalisierungssüchtige“ Mensch die Zauberformel für das ideale Körpergewicht.
„Vorne laufen die Bleistifte, hinten die Radiergummis“ (angebliches Steffny-Zitat)
Umwandlung schnell kontrahierender anaerober weißer Fasern in die masseärmeren, aber mitochondrienreichen aeroben roten Ausdauerfasern nachgewiesen ist, wird ein genetisch mesomorph (athletisch) gepolter Läufer die grazile Gestalt eines afrikanischen Weltklassemarathonis nie erreichen.
Gefahren lauern
Viele Ungereimtheiten
von Dr. Stefan Graf
Alte Läuferweisheit:
Entscheidende anthropometrische Faktoren wie ein voluminöser Thorax mit großem Lungenvolumen, die Verteilung von weißen Sprinter- und roten Ausdauermuskelfasern und günstige Hebelverhältnisse der Extremitäten sind genetisch festgelegt und durch das Training kaum beeinflussbar. Wenngleich die ausdauertrainingsbedingte
Versucht er dennoch, seinen BMI deutlich unter 20 ( ) respektive 19 ( ) zu senken, so läuft dieser Sportler nicht nur Gefahr, mit dem Verlust von Muskelmasse Kraft und Leistung einzubüßen, sondern schwächt darüber hinaus sein Immunsystem. Zudem hat die Neurowissenschaft nachgewiesen, dass ein BMI von 17,5 abwärts Veränderungen im Hirnstoffwechsel auslöst, die zu Störungen der eigenen Körperwahrnehmung (Körperschemastörung) führen. Solche sind ein Alarmsignal, in den Teufelskreis einer lebensbedrohlichen Essstörung (Anorexie) zu geraten. Sportler, bei denen ein niedriges Körpergewicht für die Leistungserbringung bedeutsam ist, sind besonders gefährdet.
Rätsel gelöst? Den schlacksig dürren Artgenossen, der essen kann, was und wie viel er will, aber trotzdem „halb verhungert“ aussieht, trifft man in der Läuferszene häufig. Ging man bislang nur von „schlechter Futterverwertung“ aus, mehren sich die Befunde, dass im braunen Fettgewebe der Schlüssel zur Erkenntnis liegen könnte. Weiße Fettzellen bilden die teils ungeliebten Depots, deren Übermaß als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gilt. Brau-
nes Fettgewebe erhält seine Farbe durch einen hohen Gehalt an Mitochondrien, die hier aber kein Adenosintriphosphat (ATP) synthetisieren, sondern Fett(-Säuren) für die Wärmeproduktion verbrennen. Diese „braune“ Thermogenese hält Säuglinge warm. Beim Erwachsenen ist es vor allem auf die Hals- und Schlüsselbeinregion reduziert – in unterschiedlichem Ausmaß. Je höher der Anteil des „schmelzbaren“ Braunfetts, desto geringer ist das Risiko zur Fettdepot- und Übergewichtsentwicklung.
Der Wunsch-Mythos „Schwere Knochen“ sind ein (Wunsch-) Mythos. Das menschliche Skelett macht 12 bis 15 Prozent des Körpergewichts aus. Bei einem 70-Kilogramm-Athleten sind das rund 8,5 bis 10,5 Kilogramm Knochenmasse. Das erklärt maximal Gewichtsschwankungen von zwei Kilogramm – zumal oft die Ursache und die Wirkung verwechselt werden. Nicht „schwere Knochen“ bedingen das Übergewicht, sondern das Übergewicht induziert Knochenanbauvorgänge, um den erhöhten statischen Anforderungen gerecht zu werden.
Software im Bauch Es bringt nichts, sich unerreichbare Vorbilder aus afrikanischen Hochlandregionen (Dauerhöhentraining!) zu suchen, wenn die ererbten Gene morphologisch anders gepolt sind. Mit einem 19er-BMI rennt man dann womöglich der eigenen Bestzeit hinterher, die man mit zwei BMI-Einheiten mehr auf den Rippen bei bester Gesundheit erzielt hat. Aller technisch-programmatischen Trainingssteuerung zum Trotz ist es bei der Findung des eigenen Gewichtsoptimums keinesfalls der schlechteste Weg, auf sein Bauch- beziehungsweise Körpergefühl zu vertrauen. Das Wohlfühlgewicht ist oft jenes, das die Mobilisierung der größten Kraftreserven und die höchste psychische Ausgeglichenheit beschert. Das macht die allenfalls einige Sekunden bringende Zeitersparnis mit weniger Gewicht, aber einem unbehaglichen Körpergefühl, allemal wett.
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