REPORTAGE | Budhia Singh
Sport statt fluchen Die Judohalle von Biranchi Das liegt nahe der Armenviertel – dort wo Kriminalität, Kindersterblichkeit und Unterernährung an der Tagesordnung sind. Wie alle Kinder, die unter erbärmlichen Bedingungen in Indien aufwachsen, flucht Budhia gern. Um ihm die hässlichen Schimpfwörter auszutreiben, befiehlt Biranchi Das dem kleinen Jungen, im Kreis zu rennen. Als er nach fünf Stunden zurückkehrt, dreht Budhia Singh immer noch seine Runden. An diesem Tag entschließt der eigentliche Judo-Trainer, aus seinem Sprössling einen Langstreckenläufer zu machen. Ein hartes, kräftezehrendes Training beginnt. Der Vierjährige rennt bis zu 190 Kilometer in der Woche, meist barfüßig auf Asphalt – oft ohne einen einzigen Schluck Wasser bei nahezu unerträglicher Hitze. „Wenn er während des Laufens trinkt, schwächelt er“, räsoniert Biranchi Das überzeugt. Der indische Staat lässt den Trainer gewähren und verbietet Budhia nur ab und an aufgrund seines Alters die Teilnahme an offiziellen Wettbewerben.
Slumdog Marathonär?
Puri, im Mai 2006
Was aus dem einstigen Laufwunder Budhia Singh wurde
Der 2008 erschienene Film „Slumdog Millionär“ wurde mit acht Oscars ausgezeichnet. Er erzählt die fiktive Geschichte des in Mumbai lebenden Straßenkinds Jamal Malik, dem es gelingt, durch seine Lebenserfahrung alle Fragen im TV-Quiz „Wer wird Millionär?“ richtig zu beantworten und 20 Millionen Rupien zu gewinnen. Zur selben Zeit lebt die sechsjährige Halbwaise Budhia Singh in einem Sportinternat im indischen Bundesstaat Odisha. 48 Marathons im zarten Alter von vier Jahren brachten ihm den Namen „Marathon Boy“ ein. Ob er den OlympiaTraum seines Lehrers und Entdeckers, Biranchi Das, jemals realisieren wird, mag dahin gestellt sein – auch das ist eine oscarverdächtige Geschichte.
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u Beginn des Films „Slumdog Millionär“ wird folgende Frage wie bei einem Fernsehquiz eingeblendet:
Mumbai, 2006 Jamal Malik ist eine Frage entfernt vom Gewinn von 20 Millionen Rupien. Wie hat er das gemacht?
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A: Er hat betrogen B: Er hatte Glück C: Er ist ein Genie D: Es ist Schicksal Nach 120 spannenden Minuten erfährt der Zuschauer die Lösung: Antwort D ist richtig.
Ein Leben wie im Film Als Budhia Singh auf die Welt kommt, stellt sich nur eine Frage: Wie wird es dieses kleine, hilflose Wesen schaffen, durchzukommen? Dann startet ein Leben wie im Film. An welchem Tag Budhia Singh genau das Licht der Welt in
RUNNING | 5/2014
FOTOS: MARATHON BOY, DOKUMENTATION VON GEMMA ATWAL, ES 24.06.2013, 23.30 UHR IM SWR FERNSEHEN,© SWR
von Lea Clara Hofmann den Slums von Bhubaneswar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Odisha, erblickt, weiß man nicht genau. Seine Mutter Sukanti Singh gebärt ihn irgendwann im Februar 2002 neben Eisenbahnschienen jenseits jeglicher medizinischen Betreuung. Die Familie ist zu arm, um ein Kind durchzubringen und verkauft das Baby im Alter von zwei Jahren für 800 Rupien (knapp 10,– Euro) an einen Straßenhändler. Da der Alkoholiker gegen Budhia körperliche Gewalt anwendet, bittet Sukanti Singh den Judo-Lehrer und Waisenkind-Betreuer Biranchi Das, ihren Jungen aufzunehmen. Dieser ersteht Budhia zurück, und der Slumboy begibt sich in die Obhut des (angeblich) sozial engagierten Sportlers.
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Der inzwischen von Biranchi Das adoptierte Junge kann 48 Marathons nachweisen, doch es fehlt seinem Lehrer eine Auszeichnung. Für den Eintrag ins indische Rekordbuch „Limca“ rennt Budhia an einem Tag im Mai 2006 65 Kilometer in sieben Stunden und zwei Minuten durch die aufsteigende Wärme Nordostindiens. Begleitet wird er von jeder Menge Kameras und Polizisten. Das Volk ist begeistert und behängt den kleinen Akteur mit Blumenketten als Zeichen der Anerkennung. Man ist sich sicher: Budhia wird dem Land Indien zu Ruhm und Ehre bei internationalen Sportereignissen verhelfen. Als Biranchi Das den Vierjährigen dazu ansticht, eine Ehrenmeile zu drehen, kollabiert dieser. Nur ein Arzt kann dem vollkommen dehydrierten, sich permanent übergebenden Jungen helfen. Später äußert der Mediziner: „Wenn ich nicht sofort vor Ort und Stelle gewesen wäre, hätte der Junge nicht überlebt.“
REPORTAGE | Budhia Singh
Zurück zur Mutter Budhias leibliche Mutter und das indische Jugendamt schalten sich nach diesem Ereignis ein. Biranchi Das muss aufgrund des Verdachts auf Kindesmisshandlung ins Gefängnis – Sukanti Singh, die zudem verärgert ist, nichts vom Profit ihres Marathon Boys abzubekommen, nimmt den Sohn wieder bei sich auf. Es beginnt eine Zeit der medialen Schlammschlacht. Ärztliche Untersuchungen können nicht bestätigen, dass die Narben, welche die mittellose Slumbewohnerin an dem Körper ihres Sohnes entdeckt, von Biranchi Das zugefügt wurden. Der PR-Profi, der vor laufender Kamera stets das perfekte Image des Gutmenschen und seriösen Trainers abgibt, kommt frei. Budhia äußert sich negativ über die Methoden seines Mentors, den er wie alle anderen Pflegekinder „Sir“ nennt. Auch die Frage, ob das Kind wirklich Spaß am langen Laufen hat, ist offen. Wer so jung ist und unter solchen schwierigen Bedingungen aufwächst, hat es nicht gelernt, seine eigene Meinung und Emotionen zu äußern und spricht nach, was man ihm vorsagt.
Bhubaneswar, im September 2006 Nach wie vor behauptet Sukanti Singh, dass Biranchi Das aufgrund der sportlichen Leistungen ihres Jungen zu großem Reichtum gekommen ist. Dieser widerspricht der Behauptung vehement und beruft sich auf die hohen Kosten für die Anreisen zu den vielen Wettbewerben. Inzwischen weist das Jugendamt von Orisha bei Budhia Unterernährung, Blutarmut und HerzRhythmus-Störungen aufgrund von Stress nach. Von nun an ist es indischen Kindern unter 14 Jahren komplett untersagt, an Langstreckenläufen teilzunehmen. Die Bevölkerung hält diese Maßnahmen überwiegend für lächerlich. Sie sah für das Straßenkind eine Chance auf ein Leben auf der Überholspur, welche jetzt zunichtegemacht wurde. Budhia zieht mit der Erlaubnis seiner Mutter in ein vom Staat geführtes Sportinternat. Mittels eines Stipendiums gelingt ihm sogar der Zutritt zur renommierten DAV Public School. 2008
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◗ Als Vierjähriger lief Budhia Singh bis zu 190 Wochenkilometer.
bricht die Verbindung zu seinem Entdecker ab. Biranchi Das kommt bei einer Schießerei ums Leben. Mit seinem tragischen Tod schwindet der Glaube an Budhias Statement im Film Marathon Boy: „Eines Tages werde ich den kompletten Weg zu den Olympischen Spielen rennen.“
Bhubaneswar, im Jahr 2014 Aus dem einstigen „Slumpuppy“ ist ein ordentliches Schulkind geworden. Budhia drückt bis 16.00 Uhr die Schulbank in seinem Internat. Danach steht Sport auf dem Programm: nicht mehr als acht bis zwölf Kilometer Laufen in der Woche, ein paar Einheiten Stretching sowie Fußball und Diskuswurf. Der Junge, der einst dazu auserkoren war, Olympia zu gewinnen, darf in zwei Jahren offiziell an 600-Meter-Rennen teilnehmen. Mit 20 besteht die Möglichkeit einer Marathonregistrierung. Seine jetzige Trainerin Rupanwita Panda äußert sich zurückhaltend bezüglich seiner Leistungen: „Er muss besser werden. Seine Schritte sind kurz, und er schwankt zu sehr mit dem Kopf, was zu hohen Energieverlusten führt. Er muss auch zunehmen und Muskeln aufbauen. Wir versuchen, seine Zeiten bei Sprints zu verbessern und können Erfolge verzeichnen.“ Nach wie vor ist Budhias Gabe zu Ausdauerläufen evident: „Er ist immer noch in der Lage, Bahnen im Stadium zu rennen, während ältere Mitschüler schon längst aufgegeben haben.“ Wenngleich der indische Staat für Kleider, Essen und Studium aufkommt, bleibt Budhias sportliche Zukunft ungewiss: „Die Medien haben vollkommen grundlos einen Star aus
ihm gemacht“, so die gnadenlose Aussage eines weiteren Coachs.
Bleibt noch die Frage Inzwischen jährt sich der fünfte Todestag seines Entdeckers, der seine Vision im Film „Marathon Boy“ klar zur Aussprache gebracht hat: „Die Geschichte von morgen wird berichten, dass es einmal einen Biranchi Das gegeben hat, der sich unentwegt für die Armen in Form von sportlichen Ausbildungen eingesetzt hat. Das ist mein einziges Bestreben.“ Viele einstige Slumkinder verdanken dem „Mann mit den zwei Gesichtern“ tatsächlich eine Anstellung beim indischen Militär. Budhia Singh, leiblicher Sohn einer indischen Tagelöhnerin und eines verstorbenen Alkoholikers, hat wiederum die Chance auf eine unbeschwerte Jugend und einen Schulabschluss in einem Bundesstaat, welcher die höchste Rate an Kindsmorden aufweist. Wie hat er das gemacht? A: Durch Maßnahmen des indischen Staates B: Er hatte Glück C: Er ist ein Genie D: Es ist Schicksal
DVD-TIPPS ZUM THEMA: Marathon Boy ASIN: B005UBW4KS Preis: ca. 15,– Euro
Slumdog Millionär ASIN: B001S6YBVY Preis: ca. 8,– Euro
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