RUNNING Nr. 171 | Kinderleichtathletik

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sportfest der Schülerklassen steht kurz bevor. Auf der Rundbahn laufen sich gerade in einem farbenfrohen Schwarm die allerkleinsten Teilnehmer warm. Unter ihnen ist auch Sophia, die ihr deutlich zu langes Trikot vielmehr als Kleid trägt, doch das soll sie nicht daran hindern, am heutigen Tag für ihren Heimatverein an den Start zu gehen.

Das KinderleichtathletikKonzept des DLV

Sophia und die anderen werden heute Vormittag einen Dreikampf bestreiten, der selbst alten Leichtathletik-Hasen neu vorkommen sollte. Für die Bambinis stehen die Disziplinen Drehwurf, Einbein-Hüpfer-Staffel und der 2 x 30-Meter-Sprint auf dem Programm. Der Grund dafür ist die kontrovers diskutierte Kinderleichtathletik-Reform des DLV, die 2013 bundesweit eingeführt wurde.

Eine Analyse nach zwei Jahren Wettkampf-Reform

Das Fundament des neuen Wettkampfsystems der UnterZwölfjährigen stellt die gemischte Teambildung dar. Die Kinder treten bis zu ihrem zehnten Lebensjahr ausschließlich in geschlechtergemischten Gruppen von sechs bis elf Teilnehmern an, während es für die Zehnund Elfjährigen zusätzlich eine Einzelwertung gibt. Das Spektrum der verschiedenen Disziplinen ist neu angelegt, sodass es das traditionelle Dreierlei aus Schlagballwurf, 50-Meter-Sprint und Weitsprung ersetzt und damit als umfangreiche Vorbereitung auf die spätere Vielfalt in allen Leichtathletik-Bereichen dient. Von Team-Biathlon über Stabweitsprung bis hin zum Medizinballstoß kann der jeweilige Veranstalter aus zehn vorgegebenen Disziplinen pro Altersstufe auswählen. Ziel sei es, die Kinder dadurch auf lange Sicht an die Vereinsleichtathletik zu binden, erklärt David Deister, Projektmanager des neuen Systems beim DLV. Man habe sich nach der Leichtathletik-WM 2009 zusammengesetzt, um ein neues Leitbild in Sachen Nachwuchsgewinnung und Attraktivitätssteigerung für die jüngsten Altersklassen auszuarbeiten. Gerade die Punkte „Spaß“ und „Freunde treffen“ stünden für die Kinder bei der Wahl des Sportvereins im Fokus. „Bei der Auswertung wurde allerdings klar, dass die Leichtathletik für Kinder bisher doch recht monoton und langweilig war“, erläutert Deister. „Der Anspruch, den wir haben, ist, dass es wirklich ein entwicklungsgemäßes Wettkampfsystem ist. Zum einen soll es die Kinder da abholen, wo sie sind, was sie können und was sie sich wünschen, und zum anderen zeigen wir durch eine gewisse Disziplinentwicklung, dass wir uns hin zur olympischen Leichtathletik bewegen wollen.“

Seit 2013 gilt bundesweit ein neues Wettkampfsystem in der Kinderleichtathletik. Während Verbände und Wissenschaftler dem umstrittenen KINDERLEICHTathletik-Konzept des Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) einen großen Mehrwert zusprechen, stoßen die Neuerungen in vielen Sportvereinen auf Kritik und Ablehnung.

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uf dem alten Sportplatz im rheinland-pfälzischen Holzappel herrscht ein buntes Treiben. Die alte Aschenbahn ist bevölkert von tobenden Kindern, hektischen Eltern und Kampfrichtern – das Bahneröffnungs-

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FOTO: ZITA ZENGERLING

von Zita Zengerling

In diesem Sinne steht für die zukünftigen Leistungsträger beim Bahneröffnungssportfest in Holzappel zuerst die Einbein-Hüpfer-Staffel an der Tagesordnung. Die Teams müssen insgesamt sechzehn Hula-Hoop-Reifen einbeinig durchspringen, nach der Hälfte wird das Bein gewechselt. Es gibt zwei Durchgänge, damit jedes Kind einmal drankommt. Die beste Staffelzeit zählt. Mit ihren vier Jahren gehört die kleine Sophia hier zu den jüngsten Athletin-

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nen der Gruppe, doch sie meistert den Rundkurs bravourös.

Gerade durch diese Leistungsdifferenzen innerhalb der Gruppe wird allerdings deutlich, dass im neuen System vor allem die Begeisterung im Vordergrund steht. Jedes Kind, das den Parcours schafft, wird von den nebenstehenden Eltern frenetisch beklatscht. Und so schafft es Sophias zweifelnde Konkurrentin schließlich doch durch die Runde. DLV-Projektmanager Deister bestätigt die Erkenntnis: „Es geht nicht darum, hier eine Kaderschmiede für akzelerierte, talentierte und oft trainierende Kinder zu schaffen, sondern es geht darum, möglichst alle Kinder mitzunehmen.“

„Bei der Auswertung wurde allerdings klar, dass die Leichtathletik für Kinder bisher doch recht monoton und langweilig war.“ Bei den ein bis zwei Jahre älteren Teilnehmern im Alter von sieben bis neun sieht das bereits etwas anders aus. „In der U10 fordern die Kinder den Wettkampf und auch den Einzelwettkampf. Sie lieben es, Weiten und Zeiten zu vergleichen. Dazu gibt ihnen die KINDERLEICHTathletik leider wenige Ansätze“,

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„Es geht nicht darum, hier eine Kaderschmiede für akzelerierte, talentierte und oft trainierende Kinder zu schaffen, sondern es geht darum, möglichst alle Kinder mitzunehmen.“

■ Das Highlight jedes Wettkampftages ist die Siegerehrung, bei der jedes Teammitglied eine Urkunde erhält.

beobachtet Katharina Schwanke, selbst Kaderathletin und Kinder-Trainerin. So werden bei Sophias drei Jahre älterer Schwester Sarah schon fleißig die Leistungen des 40-Meter-Sprints sowie der Wechselsprünge gegeneinander aufgewogen. Dies stellt eine enorme Herausforderung auch für die Talentsicherung in den Vereinen dar. „Trotz individuell guter Leistungen landet man durch die verpflichtende Teambildung vielfach weiter hinten. So geht die Trainingsmotivation der leistungsstarken Kinder völlig verloren. Weniger sportliche Kinder, die durch einige Leistungsträger überraschend gut abschneiden, freuen sich natürlich. Nur darauf lässt sich kein Leistungssport aufbauen“, kritisiert die Trainerin und Verantwortliche des Wettkampf-Veranstalters, Renate Meisner (Name von der Redaktion geändert). Zu einem direkten Kräftemessen kommt es da lediglich in den Laufdisziplinen. Der Bereich der Ausdauer wird im neuen System durch den Tandem-Teambiathlon, einem 400- bis 600-Meter-Lauf mit Zielwurfaufgaben, bedient, der am Ende des Wettkampftages von den sechs besten Kindern einer Mannschaft durchgeführt werden soll. Dadurch wolle man den ungeliebten Ausdauerlauf aufwerten, so DLV-Projektmanager David Deister. „Die Kinder wissen, dass ihr Ergebnisbeitrag eine wichtige Rolle spielt, und auf einmal entsteht eine Situation, in der alle Kinder, weil sie die anderen Diszipli-

nen ja auch gemacht haben, jetzt auch gerne die letzte, ausdauernde Disziplin gemeinsam machen wollen.“

Durch die verpflichtende Groß-Teambildung sowie die finanziellen Bürden kindgerechter Neuanschaffungen gerieten vor allem kleine Vereine und Leichtathletik-Gemeinschaften in Schwierigkeiten, so Pädagogin Meisner. Auch beim Blick auf das Starterfeld der heutigen Bahneröffnung wird das deutlich. Nur ein einziges Team aus einem anderen Verein hat in den betroffenen Altersklassen den Weg zum Sportfest nach Holzappel gefunden. In einigen anderen Vereinen des Kreises ist die Kinderleichtathletik-Abteilung durch die Umstellung völlig weggebrochen.

Die Freiburger Sportpsychologin Dr. Kathrin Wunsch gibt beim Ausdauersport der Kleinen allerdings Folgendes zu bedenken: „Bei Kindern wird schneller als bei Erwachsenen von aerober auf anaerobe Energiegewinnung umgestellt. Eine hohe Laktatproduktion führt bei Kindern zu schnellerer Ausbelastung, weshalb ein rein aerobes Training angestrebt wird. Kinder sollten daher keine Mittelstrecken (400 Meter oder 800 Meter) laufen, da ihr Körper mit der erhöhten Laktat-Produktion schlecht umgehen kann. Gegen ein Training längerer Strecken im niedrigen und mittleren Intensitätsbereich ist jedoch nichts einzuwenden – eher im Gegenteil.“ Daher dürfen bei der Bahneröffnung in Holzappel auch erst die Älteren den 800-Meter-Lauf absolvieren, während sich die Jüngsten bereits zur Siegerehrung abseits des alten Aschenplatzes einfinden. Die Freude ist groß, denn alle Teilnehmer erhalten eine Urkunde. Sowohl Sarah als auch Sophia haben mit ihren Teams in den jeweiligen Altersklassen einen Podestplatz ergattert. Am Ende des Wettkampftages sind die beiden Geschwister mächtig stolz auf ihre Leistung. „Es hat voll Spaß gemacht“, meint Sarah. Die verantwortlichen Veranstalter sehen das Gesamtbild allerdings differenzier-

Im Sinne der Kinder, die dann tatsächlich noch an den neuen Wettkämpfen teilnehmen, sei das System dennoch ein Schritt in die richtige Richtung, findet Karolin Heckemeyer, Sportsoziologin der Fachhochschule Nordwestschweiz. „Sport ist nicht per se etwas Gutes. Sport kann Kindern ganz unterschiedliche Erfahrungen bescheren – positive oder negative.“ Im Vordergrund stehe deshalb hauptsächlich der Spaß, das positive Erlebnis der Kleinen. „Es sind die Bedingungen, unter denen Kinder Sport treiben, die beeinflussen, was Sport und Bewegung Kindern bringt“, so die Soziologin. Gerade durch das Gemeinschaftsgefühl und die geschlechtergemischten Mannschaften setze das neue Kinderleichtathletik-Konzept hier die richtigen Akzente.

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Eine etwas ältere Konkurrentin hat mit der koordinativen Herausforderung dagegen größere Probleme. Nach der Hälfte bleibt sie stehen und erklärt den Umstehenden seelenruhig, sie könne diese Disziplin eben einfach nicht so gut. Dr. Kathrin Wunsch, Sportpsychologin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, bemerkt dazu, dass sich Kinder motorisch ganz unterschiedlich entwickeln. „Der Stand der Entwicklung hängt von zahlreichen Faktoren ab, wie zum Beispiel der genetischen Disposition, dem Geschlecht, der Körperkonstitution, sozioökonomischen Variablen oder zum Beispiel auch dem Ort des Aufwachsens.“

ter. „Das KINDERLEICHTathletik-System stellt ein hervorragendes Trainingskonzept dar, ist aber für den Wettkampf ungeeignet“, erklärt Veranstalterin und Kindertrainerin Renate Meisner. „Wir als Gegner des Wettkampfsystems führen notgedrungen diese Wettkämpfe durch, weil die Kinder sonst gar keine Startmöglichkeiten haben, bis sie zehn Jahre alt werden. Dann sind die Ersten schon weg, denn Auszeichnungen, also Urkunden, Medaillen, Pokale, spornen an.“

Dennoch erkennt auch Projektmanager David Deister: „Das System ist noch längst nicht etabliert.“ So wurden bereits Anfang 2015 politische Zugeständnisse an die klassischen Disziplinen für die Zehn- und Elfjährigen gemacht. Den Kindern dürfte das am Ende des Tages jedoch egal sein, wenn sie, wie Sophia und Sarah, stolz ihre Urkunden vorzeigen und den Daheimgebliebenen vom spannenden Wettkampftag erzählen, während dessen Form bei vielen Trainern und Organisatoren weiterhin für Kopfzerbrechen sorgt.

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30. OKTOBER 2016 frankfurt-marathon.com


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