COOL DOWN | Das hat noch gefehlt
DA S H AT N O C H G E F E H LT
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DER ZAH LEN KNAST von Achim Achilles
ch gestehe: Ich habe gesessen. Viele Jahre. In einem schrecklichen Gefängnis. Ich habe es mir selbst gebaut. Es war eng und muffig, dumpf und einsam. Ich war im Tunnel. Immer gestarrt auf diese Dinger, aus maximal sieben Strichen zusammengesetzt: Zahlen. Nervensägen. Sie verwandeln Mensch in Maschine. Höchste Zeit, dem Ziffern-Knast zu entfliehen, weg von der Tartanbahn.
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Den ersten Schritt machte ich beim Berliner Halbmarathon direkt vor der Tür: einfach nur zugucken, klatschen, freuen. Wie befreiend, diese Hatz nach der persönlichen Bestzeit, in Läuferkreisen „PBZ“ genannt, einfach mal sein zu lassen. Jeder Athlet kann noch im Koma die Zeiten seiner schnellsten Läufe aufsagen. Und wer nicht durch dreifachen Kreuzbandriss lahmgelegt ist, der hechelt immer aufs Neue den Spitzenzeiten von früher hinterher. Wie Marlene Dietrich, die ewig 39 sein wollte. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Bestzeiten sind eine prima Sache, sie sind die Goldmedaille des Freizeitläufers. Ziele müssen sein, sie motivieren und sorgen für geordnetes Leben. Aber wie die Ziele aussehen, das darf der Läufer noch selbst definieren. Warum messen wir allein den Zahlen so viel Macht bei und nicht dem fröhlichen Nachmittag mit netten Menschen an frischer Luft, dem wohligen Gefühl der Erschöpfung, dem seelisch sättigenden Nachspüren, wie es ist, sich mal wieder überwunden zu haben? Hat die millionenfache Jagd nach Sekundensplittern mehr Glück oder mehr Elend über die Läufer-Gemeinde gebracht? Bei allem Respekt für jeden, der sich verbessert hat – es gibt das Heer der Namenlosen, die gescheitert sind an sich oder irgendwelchen Plänen; gut möglich, dass große
Erwartungen und noch größere Enttäuschungen den einen oder anderen nachhaltig traumatisiert haben. Warum dem Körper in verbissenem Training Gewalt antun und die Familie mit schlechter Laune quälen? Jaja, ich weiß: Wer die Zahlenhatz verweigert, ist ein Weichei oder Warmduscher. Mir egal. Dafür habe ich diese Psycho-Nummer vom Hals, den blöden Ehrgeiz, die mangelnde Erholung, den Kreis-Lauf im Mentalknast. Am Start war ich jedes Mal verbissen und ängstlich und angespannt. Spaß? Ging so. Stattdessen panische Blicke auf die Uhr. Und wieder knapp vorbei. Die Wochen danach war der Knast sogar noch enger: kaputt, an Körper, Seele, Selbstwert. Doch wie ein Süchtiger zum nächsten Wettbewerb. Drogenabhängigkeit mit Drogen bekämpfen. Klappt zuverlässig nicht. Schluss mit dem Mist. Ich will die Lust am Laufen nicht verlieren und die Knochen heile lassen. Wohlfühlen, so heißt das wahre Ziel. Natürlich freue ich mich über eine gute Zeit und bewundere andere für große Leistungen. Aber neidfrei lebt sich’s leichter. In all den Jahren der Lauferei habe ich kapiert, dass eine ruhige Stunde ganz allein im Frühnebel wertvoller ist als Zehntelsekunden, die für die Geschichte des Sports ziemlich unerheblich sind. Ich behalte meine Bestzeiten als Schatz in meiner persönlichen Truhe, so wie Liebschaften, Schulnoten und kühne Pläne. Lacht über mich, weil ich langsam bin. Man kann ja auch nach anderen Zahlen laufen. Beim nächsten Fünf-Kilometer-Rennen werde ich mein Geburtsdatum zu laufen versuchen: 22 Minuten, 4 Sekunden und 1964 Zehntausendstel. Aber ohne Uhr.
Achim Achilles, Jahrgang 1964, ist Deutschlands bekanntester Hobby-Läufer – nie erfolgreich, aber immer gut gelaunt. Er lebt verheiratet mit einer verständnisvollen Frau in Berlin, läuft aber überall, wo es wehtut. Motto des Wunderathleten und Spiegel-Online-Kolumnisten: „Qualität kommt von Qual.“ Mehr von ihm gibt es auf seiner Website www.achim-achilles.de oder in seinen Bestsellern „Achilles’ Verse“, „Achilles’ Laufberater“ und „Der Lauf-Gourmet“.
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RUNNING | 6/2013
FOTO: BEATRICE BEHRENS
Das ist Achim Achilles