REPORTAGE | Team Hoyt
FOTOS: TEAM HOYT
Das Team Hoyt
von Edith Zuschmann
Einen Wettkampf zu bestreiten, ist herausfordernd, in 35 Jahren 1.077 Mal zu starten ist beachtlich, in jedem dieser Rennen seinen rund 55 Kilogramm wiegenden und schwer beeinträchtigten Sohn in einem Rollstuhl vor sich herzuschieben, grenzt ans Unvorstellbare. Dick und Rick Hoyt tun es und schrieben mit ihrer Lauf- und Triathlonleidenschaft eine unfassbare Geschichte: Sie sind das Team Hoyt.
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aufend ein Bein vor das andere zu setzen bleibt Rick sein Leben lang verwehrt. Er leidet an infantiler Zerebralparese. Bei der Geburt 1962 hatte sich die Nabelschnur um seinen Hals gewickelt, wodurch das Gehirn keine ausreichende Sauerstoffversorgung erhielt. Die Ärzte betrachteten ihn als hoffnungslosen Fall, ein Lebewesen, das sich niemals kon-
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trolliert bewegen und keine kognitiven Fähigkeiten entwickeln könne. Doch seine Eltern gaben ihn nicht auf, pflegten ihn liebevoll. Die Augenbewegungen und das herzhafte Lachen zeigten ihnen, dass Rick an seiner Umwelt teilnahm und sein Geist hellwach war. Diese Tatsache motivierte Ingenieure der Tufts University (Med-
Wenn wir laufen, fühle ich mich nicht behindert.
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ford/USA), mit Rick einen Computer zu entwickeln, den er durch Kopfbewegung steuern konnte. Endlich war er imstande, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Die technische Entwicklung ermöglichte ihm eine schulische Ausbildung, einen CollegeAbschluss und schlussendlich einen Arbeitsplatz am Boston College. „Go Bruins“ das waren die ersten Worte des damals 13-Jährigen. Damit demonstrierte er den Eltern seine große Sportbegeisterung, insbesondere für die Eishockey-Mannschaft Boston Bruins. Er
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» ◗ Mittlerweile ist der Lauf-Rollstuhl eine Hightech-Entwicklung ...
wollte nicht nur Zuschauer sein, er wollte ein Teil davon werden. „1977 las Rick von einem Charity Run für ein verunglücktes Kind und bat mich, mit ihm an diesem Fünf-Meilen-Rennen teilzunehmen“, erinnert sich Dick. Der damals als Oberstleutnant in der Air National Guard tätige Enddreißiger war zuvor nie mehr als eine Meile gelaufen. Er wollte seinen Sohn nicht enttäuschen und folgte dem Wunsch. „Die Reaktionen waren alles andere als angenehm. Läufer wie Zuschauer starrten uns an. Keiner wusste so recht, wie er mit uns umgehen sollte“, schildert Hoyt. „Anfangs verweigerte uns die Rennleitung den Start, doch dann gaben sie uns die Startnummer 00, im Glauben, wir würden nach der ersten Kurve aufgeben.“ Läufer wie Zuschauer staunten nicht schlecht, als Dick den für diese Zwecke ungeeigneten Rollstuhl laufend über die Ziellinie schob. Rick
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Dick rannte mit einem Zementsack im Rollstuhl bis zu 70 Meilen pro Woche.
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strahlte über das ganze Gesicht, eine herzzerreißende Entschädigung für die Qualen des Vaters. „In den Tagen danach war nicht Rick bewegungsunfähig, sondern ich“, erzählt Dick lachend. Doch dann schrieb Rick einen Satz, der alles veränderte: „Wenn wir laufen, fühle ich mich nicht behindert.“ Diese neu gewonnene Freiheit seines Sohnes ließ ihn seine Interessen und seine Komfortzone vergessen. Er stellte für Rick alles auf den Kopf. Er begann regelmäßig zu laufen und machte sich auf die Suche nach einem Ingenieur, der für Rick einen adäquaten Lauf-Rollstuhl bauen konnte. Während des Sports wurde aus ihnen eine Symbiose. Der Sohn entwickelte sich zum glücklichsten Wesen und sein Vater tat alles dafür, diesen Zustand zu erhalten. Der eine trieb den anderen an. Rennen für Rennen
◗ ... in der Anfangsphase sah das noch etwas anders aus
verbesserten sie ihre Zeiten. Da Rick das Bostoner College besuchte, lag es nahe, beim Boston Marathon zu starten. 1981 fragten sie beim Veranstalter nach einer Startnummer. Da es für geschobene Rollstühle keine Leistungsklasse gab, lehnte man sie offiziell ab. So starteten sie am Ende des Feldes als „Banditen“. Ambitioniert rollte Dick – im wahrsten Sinne des Wortes – das Feld von hinten auf. Entlang der Strecke warf man ihnen vorerst verwunderte Blicke entgegen, dann folgten fanatische Anfeuerungsrufe. „Dieser erste Marathon war einfach unglaublich“, erinnert sich Dick. Nach 3:18 Stunden kamen sie ins Ziel. Doch diese Leistung reichte nicht für einen offiziellen Startplatz im Folgejahr. Erst die Erbringung der Bostoner Qualifikationszeit für Rick (!), die unter 2:50 Stunden lag, sollte eine Zulassung ermöglichen. Team Hoyt arbeitete hart, sehr hart. Dick rannte mit einem
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Bilanz des Team Hoyt bis Anfang September 2012 • 1.077 Starts bei Lauf- und Triathlonveranstaltungen • 247 Triathlon-Events davon sechs Langdistanzen (Ironman) • fast 100 Halbmarathons • 70 Marathons • lediglich ein Rennen wurde wegen eines Radunfalls nicht beendet • mehr dazu: www.team-hoyt.com ◗ Vater und Sohn am Strand von Hawaii
Zementsack im Rollstuhl bis zu 70 Meilen pro Woche. Er wollte den Traum seines Sohnes wahrmachen, Widerstände überwinden und der Welt beweisen, dass sie auch diese Hürde schaffen. Beim Marine Corps Marathon in Washington D.C. finishten sie in 2:45 Stunden. Im Jahr darauf empfing Boston die beiden mit offenen Armen. „Jetzt war Rick ein Athlet“, so Dick, „eine ganze Person.“ Seither liefen sie 30 Mal in Boston. Im April 2012 erhielten sie dafür ihr eigenes Denkmal – eine Bronzestatue an der Startlinie in Hopkinton. Ihre sportlichen Auftritte brachten Team Hoyt, allen voran Dick, viel negative Kritik ein: „Ich erhielt zahlreiche Anrufe und Schreiben von Menschen, die mein Handeln verwerflich fanden. Wie konnte ich nur stundenlang meinen Sohn in unbequemer Haltung durch die Gegend schieben? Sie verurteilten mich als Egoist und prangerten unsere Teilnahmen als ein Zurschaustellen von Behinderten an.“ Für Dick unverständlich. Er wollte nur für seinen Sohn agieren, der den Sport
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liebte. Gleichzeitig nahmen die Menschen das strahlende Lächeln von Rick wahr und fühlten sich vom Tun der beiden inspiriert. Mit zunehmender Präsenz verstummten die Kritiker. Immer mehr Eltern getrauten sich, mit ihren beeinträchtigten Kindern an die Öffentlichkeit zu gehen und an Sport-Bewerben teilzunehmen. Für die Erfolge, aber auch das Niederbrechen von Widerständen, bezahlte Dick einen hohen Preis: Seine Ehe scheiterte, er kam in finanzielle Schwierigkeiten und er stellte sein eigenes Leben für Rick hintan. „Der Sport trug einen wesentlichen Teil dazu bei, dass Rick heute ein selbstständiges Leben führen kann. Er hat einen Job und er lebt in seinen eigenen vier Wänden. Es ist unglaublich, was er geleistet hat“, zeigt sich Dick stolz und meint weiter: „Nicht nur wir haben profitiert. Beeinträchtigte Menschen sind heute weltweit akzeptiert und integriert, das ist eine große Sache.“ 1989 gründete das Team Hoyt die gleichnamige Foundation und
◗ Das Team Hoyt während der Teilnahme an einem Wettkampf in Deutschland (Foto oben)
◗ Bei Triathlon-Wettbewerben zieht Dick seinen Sohn in einem Schlauchboot hinter sich durchs Wasser (Foto unten)
sammelt seither Gelder für Behinderteneinrichtungen. Die Jahre gingen an den beiden nicht spurlos vorbei. Dick ist 72, Rick 50. Sie werden langsamer und ihre Starts weniger. Aber das hält sie nicht davon ab, weiterzumachen.
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