Erich Wiesmüller – bei Saegenvier – Dornbirn – 28.1.2016
Visual storytelling
Die Semiotik, die komplexe Struktur der semiotischen Zeichen auf den Wiesmüller’schen Großformaten – sie beziehen ihre Aussagen aus sich, aus dem entbundenen ursprünglichen Kontext, aus dem die Nachricht stammt. Der Künstler passt sie – als in seiner schiller’schen Eigenheit als Homo ludens – wie in einem visuellen Puzzle-Spiel wieder ein und lässt sie damit kaskadisch in einen Whirlpool H.C. Artmann’-scher Manier – hineinpflanzen, organisch wie polyvalent, einer botanisierten Werbetrommel gleich her- und überleiten aus einem konzertierten Universum. Damit werden seine bildräumlichen Inszenierungen, so lese ich diese Wiesmüller’sche Kunst hier im Ostzimmer der Saegenvier In-Corporation, seine bühnenbildigen Botschaften lesen sich wie ein sozialer Kommentar, in der Intention, dem Zustand der Welt etwas entgegenzusetzen, eine Gegenwelt, die Menschen über sich und andere nachdenken, zweifeln und auch lachen lässt. Sie sind online Polemiken, reden nicht an, sondern sind Seismographik in ihrem selbstreferentiellen Ton und verweisen in ihrer gewagten und mitunter frechen, nie appellativen Gestik der Leichtigkeit auf einen Zustand des Noch-Nicht. In ihrer künstlerischen Gestaltung greifen die Textverschnitte die alte Idee des Almanachs auf: Sätze, Headlines, Sprüche, epigrammatisch kurze Texte …. zu versammeln. Für die Bühne. Eine Bühne. Das Aufzählen ist seit Jahrhunderten kulturgeschichtlich ein altes Prinzip zu dokumentieren, festzuhalten, das, was auf der Ebene des Synchronen mit in die Speicher genommen werden soll, was uns eben wichtig ist, wie in einer Zeitkapsel aufbewahrt mitzunehmen. Diese, früher als Exemplasammlung bezeichneten Botschaften wirken animierend und unverschämt erfrischend. Kühn eigentlich. Die Texte sind mehr als affirmative
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Sprüche, sie verströmen nicht etwas wie goldene Wehmutswonne oder süßen Schwermutzauber, wie einer der wohl berühmtesten Spaziergänger, Robert Walser, meinte, er, der sich in einer so glücklichen Mischung aus Einfalt und höchster Klugheit beim Spazieren drüben am Schweizer Berg, dort, wo die Müsle schlofa gond, voller Heiterkeit den Wind um die Nase blasen ließ. Das Brisante an diesen Sprüchen ist deren provokative Aufforderung, die Plätze der Kunst in eine neue Konstellation zu setzen. Das heißt, das Hier und Dort der Bühnenräume stehen in ständiger Beziehung, eigentlich einer angespannten Beziehung, die wesentlich durch unser Erinnern verursacht wird. Doch dann ist da noch etwas, das wir in unserem tiefsten Menschsein, weil wir Menschen sind, in diesen Leinwänden, die eigentlich Bühnenbilder des Lebens sind, spüren. Diesen Hunger nach Überwindung des Hier und Dort – so sagte Hölderlin – n ennen wir Liebe. Des Künstlers Textkompilationen erscheinen wie Ideogramme und dienen wie die Schrift überhaupt in ihrer allerersten Funktion, als Dokument. Als sie um 3200 vor einer Zeitrechnung in Urk / Uruk, der ersten Stadt der Welt entwickelt wurden, regiert Gilgamensch, ein Gott-König-Vater als Vorläufer einer die später ins Arramäische mündende patriarchale Kultur, und funktioniert am Rande als reine Gedächtnisstütze. Hier jedoch, heute, bei Wiesmüller, sind es Dokumente künstlerischer Gesten. In ihrer federleichten Leichtigkeit und unverschämten Fröhlichkeit sind sie Berichte über diese schemenhaften Figuren, die durch die Bildraumbilder gehen, als scheuten sie das Momentum des Bildes, wie sie John Berger für die Fotographie festhält, das Wesentliche, Das-Bild-Eigentliche, das zwischen den Übermalungen und Verklebungen hervorlugt. Gefüttert aus
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den Archiven, überführt er die für die Raum-Objekt-Beziehungen künstlerischen Interventionen in eine neue, unverbrauchte, noch nie autorisiert organisierte Bühnenwelt. Wir sehen Waiting for Godot, „Vergesst die Kultur, haltet euch ans Chaos“ Hamlet ist schon in den R4 eingestiegen, und Gertrud ist die Promenade hinunter gelaufen, in roten Schuhen. Die Birke am Gehsteig steht wie der Baum im Samuel Becketts Bühnenanleitung. En attendant Godot. Die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir, die an einem nicht näher definierten Ort, einer Landstraße mit einem kahlen Baum, ihre Zeit damit verbringen, „nichts zu tun“ und auf eine Person namens Godot warten, die sie nicht kennen, von der sie nichts Genaues wissen, nicht einmal, ob es sie überhaupt gibt. Godot selbst erscheint in der Tat bis zuletzt nicht, das Warten auf ihn ist offensichtlich vergeblich. Am Ende eines jeden der beiden weitgehend identischen Akte erscheint ein angeblich von ihm ausgesandter etwas ängstlicher Botenjunge, ein Ziegenhirte, der verkündet, dass sich Godots Ankunft weiter verzögern wird, er aber ganz bestimmt kommen werde. Es ist wie bei Beckett, Wiesmüllers Kunst tröstet nicht, sie ist kein Heils- und Erlösungsversprechen. Alles was seine Kunst im Kern ihres bühnendramatischen Geschehens und ihrer geschnipselten Vielfalt, ist, ist die im Kern, wennschon, definierbare Aufgabe der Kunst an sich: zu irritieren. Und wer denn meint, dieses Geschnipsle sei das Resümee des Wiesmüllerschen Zufallsgenerators, stemmt sich kühn in die Kopfstände. Denn dort gibt es nur jene faszinierend wunderbare OpernKomposition Europera I und II von John Cage. Europeras ist der Name einer Serie von fünf Opern des Komponisten John Cage. Sie sind in seinem typischen experimentellen Stil gehalten. Cage 1912 Los Angelos bis 1922 New York City. In seinen
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Opern Europeras 1 & 2 aus 128 Opern in 32 Bildern dekonstruiert John Cage mittels Zufallsoperationen die Sprache der klassischen Opern des 18. und 19. Jahrhunderts. Er unterwarf nicht nur die Musik dem Zufallsgenerator, sondern auch Bühnenbild, Requi-siten, Licht, Tanzfiguren und Opernarien. 1 & 2 bildet wohl Cages größte und radikalste Musiktheaterarbeit. John Cage hörte die Premiere seiner letzten Oper im Garten des Museum of Modern Art in New York, “Oh Summer’s Child“ - es war die letzte Aufführung, die er erlebte. Es war August 1992. Rodins Balzac und Giacomettis Figur der Leichtigkeit hörten zu. Die Bühne der Opern ist in 64 Quadrate aufgeteilt, welche das Schema für den Bühnenablauf bilden. Die Positionen der Menschen und Gegenstände auf der Bühne sind zufallsbestimmt. Die Aufführungsdauer beträgt exakt 60 Minuten. Innerhalb dieses Zeitraumes wurden mit Hilfe des ältesten chinesischen Orakelbuches I-Ging zufällige Zeiteinheiten festgelegt, während derer die einzelnen Beteiligten ihre Aktionen ausführen. Die Collage ist das Kunstmedium des 20. Jahrhunderts. Collage und Recycling. Die Geschichte von Ulysses mit Leopold Bloom habe ich immer wieder erzählt. Poldy ist ein Recycler. In Catholic Dublin. Wofür er nicht viele Jahre Zeit hatte. Nur einen Tag. Der sechzehnte Juni 1904. Er geht ins Kino. Kauft sich ein Ticket, das Poldy Bloom zigfach wieder erwähnt. 27 mal. Joyce kam zweimal aus Pula und Triest zurück nach Dublin. Einmal zum Begräbnis seines Vaters. Das zweite Mal 1907, als er mit Stanislaus Joyce, seinem Bruder, das erste Kino in Dublin eröffnete. Lange spielten sie dort nicht. Abendlich versammelten sich Tausende und Abertausende vor dem Kino. Und protestierten. Gegen den Teufel. Und den Untergang der Welt. Ähnlich war es in Habana/Cuba 1902 und anderen Städten in
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Europa. In wiederum anderen schleppte sich dieses Drama der Verdrängun-gen fort, bis weit herauf in diese Tage. Die Dilemmata sind noch nicht geklärt. Erich Wiesmüller Almanache erzählen davon. Des Künstlers Hauptmaterial ist die Zeitung, das Zeitungspapier, er wendet sich der Leinwand zu, geht heraus aus den früheren Raumcollagen, um seine künstlerischen Fragen in neue Kontexte einzufügen. In Bühnenräume. Auf jedem Bild entsteht ein nahezu mysteriös erscheinendes Universum, das mit der Syntax der Konstellationen auf dem Bühnenbild spielt, die Karten neu mischt, die Grammatiken neu arrangiert. „Es ist etwas in der Luft, klebrig und zäh, etwas, das keine Farbe hat“, wie Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht, das er 1955 in den Band „Die Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“ aufnahm, schreibt. Es, das Netz, kann auch jetzt bedrohlich sein. Außer man sieht, was dem Künstler hier und heute gebührt: Erich Wiesmüller ist ein Signaletiker der Kunst. Womit es nicht weiters verwundert, dass er heute Abend genau hier an diesem Ort und nicht anderswo so willkommen ist.
Peter Niedermair für Erich Wiesmüller und Saegen4 Sigi Ramoser 5