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7. Etappe

»Mein Sohn fährt Fahrrad, seit er vier ist«, prahlte Murat, der muskulöse Sprinter unseres Teams Fonar.

»Dann muss er ja schon weit gekommen sein«, scherzte Steve, doch keiner lachte über seinen Witz. Der Humor meines Freundes war nicht der beste, um das Eis zu brechen, oder, was das anbelangt, um irgendetwas anderes zu brechen als eine Nase beim oft folgenden Streit.

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Wir aßen in einem kleinen Hotel am Stadtrand von Rennes, erschöpft von der siebten Etappe. Auch dieser Tag war frustrierend, verregnet und von Stürzen geprägt gewesen. Keinem war nach Feiern zumute, und sich über Murat lustig zu machen, war auch nicht gerade förderlich für die Gesundheit – seine Muskeln und sein breites Kreuz waren ebenso beeindruckend wie seine Wutausbrüche.

Aber so war Steve, naiv, was Risiken betraf, ignorant gegenüber den Gefühlen anderer. Aber ich wusste, dass dahinter keine böse Absicht steckte. Im Grunde war er ein lieber Mensch und auf seine Art großzügig. Es gibt Kollegen, die ihre Karriere oder ihren Vertrag verlängerten, nur weil Steve sie auf Twitter oder in einem seiner unzähligen Interviews gelobt hatte. Ich glaube, seine Unfähigkeit, die Ängste und Unsicherheiten anderer Leute zu verstehen, hat mit seiner Überzeugung zu tun, dem Rest der Welt gehe es genauso gut wie ihm, einem sehr nützlichen Wunschdenken, um ohne Schuldgefühle sein privilegiertes Leben anzunehmen.

Trotz allem zeigten das beklommene Schweigen, das am Tisch eintrat, und das Geräusch von Murats auf den Teller fallender Gabel, dass Steve gegen ein ungeschriebenes Gesetz des Teams verstoßen hatte. Wie so oft, wenn er in Bedrängnis geriet, suchte er Blickkontakt zu mir in der Hoffnung, auf ein Lächeln zu stoßen, das allen zu verstehen gab, dass sein Kommentar nur ein harmloser Scherz und keine Verspottung von Murats Sohn gewesen war. Und wie so oft in der Vergangenheit tat ich mehr als das.

»Ja, der Kleine wird es weit bringen. Wisst ihr noch, wie er uns beim letzten Training eine Weile gefolgt ist und uns fast eingeholt hat? Endlich besteht Hoffnung, dass der Radsport einen hübschen Murat bekommt«, sagte ich, und jetzt lachten einige am Tisch. Der Spitzname »Die Bestie«, unter dem der kräftige Katalane bekannt war, hatte zu gleichen Teilen mit seinem unregelmäßigen, wie mit Faustschlägen geformten Gesicht und der unbändigen Wucht seiner Sprints zu tun, und Murat war stolz auf seinen Kampfnamen.

Zehn Minuten später zerstreute sich das Team, und jeder ging auf sein Zimmer. Abgesehen vom misslungenen Scherz meines Freundes herrschte absolute Niedergeschlagenheit unter den Fahrern. Wir hatten gerade einmal ein Drittel der dreitausenddreihundertfünfzig Kilometer der diesjährigen Tour de France absolviert, doch bereits in den ersten sieben Tagen hatten wegen Stürzen und Skandalen mehr Fahrer aufgegeben als in den gesamten einundzwanzig Etappen des Vorjahres.

Am Morgen war der Spanier Carlos Santamaría wegen einer Dopinganschuldigung vom Rennen ausgeschlossen worden, was alle überraschte, denn er galt als erbitterter Kämpfer für Sauberkeit und Ehre im Radsport. Das Echo war gewaltig, denn Santamaría, Kapitän des Teams Astana, lag auf dem dritten Rang der Gesamtwertung.

Nur Steve war gut gelaunt. Einige seiner größten Rivalen hatten Federn lassen müssen, und seine Chancen, die Tour zu gewinnen, waren deutlich gestiegen. Er lud mich ein, noch etwas zu plaudern und einen dieser Energydrinks zu trinken, die seinen Namen trugen. Ich sagte ihm, ich sei völlig erledigt, und ging zum Fahrstuhl. Ich spürte seine Enttäuschung, denn seit den ersten gemeinsamen Rennen war es für uns zur Gewohnheit geworden, abends noch eine Weile über den Verlauf der letzten Etappe und die Herausforderungen der nächsten zu reden. Wenn wir das nicht taten, lag es daran, dass Steve etwas Besseres vorhatte: zu Beginn seiner Kariere Frauen und in den letzten Jahren Treffen mit seinem Manager, stets in Begleitung eines neuen Sponsors. Aber heute war ich es, der etwas Besseres zu tun hatte, und sei es nur, mich aufs Ohr zu hauen.

Steve und ich waren die Einzigen im Team, die das Privileg eines Einzelzimmers genossen – eine Klausel in seinem Vertrag, die großzügig auf meine Person erweitert worden war. Er sah mir ein paar Sekunden nach, als ich ihm den Rücken kehrte und durch die Lobby davonging, dann hatte er mich schon vergessen, so wie er es mit allem tat, was nicht seinen Wünschen entsprach. Vermutlich bemerkte er gar nicht, dass ich nie bei den Fahrstühlen ankam.

»Herr Moreau, hätten Sie ein paar Minuten für mich Zeit?«

Mein Puls beschleunigte sich auf eine Weise, wie ich es nicht einmal von einer harten Steigung oder einem langen Rennen kannte. Und dafür gab es einen Grund: Niemand nannte mich beim Nachnamen. Der elegante Typ, der mich jetzt leicht am Arm berührte, als wollte er mich an der Flucht hindern, sah nicht aus wie ein Reporter, der sich ins Hotel geschlichen hatte. Stattdessen wirkte er wie die Personifizierung des schlimmsten aller

Albträume: Sein makelloser Anzug und der gepflegte Schnurrbart erinnerten an einen Funktionär irgendeiner Behörde, und unter diesen Umständen konnte das nur die gefürchtete WADA sein, die Welt-Anti-Doping-Agentur.

Obwohl ich überzeugt war, nichts Verbotenes getan zu haben, wusste ich, dass in den Urinproben der letzten Tage illegale Substanzen entdeckt worden sein könnten, die unfreiwillig in meinen Körper gelangt waren, und auch Laborfehler waren nie unmöglich; ich wäre nicht der Erste, der wegen einer verunreinigten Probe vom Rennen ausgeschlossen wird. Ich musste an Carlos Santamaría denken und sah schon meinen Namen auf den morgigen Titelseiten prangen.

»Worum geht’s?«, antwortete ich misstrauisch und zog unbewusst den Arm weg im Versuch, alles Unangenehme, was auf mich zukommen könnte, von mir fernzuhalten.

»Könnten wir uns einen Augenblick in dem Kaminzimmer dort drüben unterhalten, Sergeant Moreau? Ich werde Ihnen nicht lange die Zeit stehlen.« In Wahrheit war ich nie über den Rang eines Gefreiten hinausgekommen, aber es war nicht der Moment, um irgendwem zu widersprechen. Tatsächlich gab es an der einen Seite der Lobby einen kleinen Raum, der von einem Kamin mit künstlichem Feuer beleuchtet wurde; die Hotels an der Strecke sind nicht gerade der Inbegriff von Luxus und Komfort, und auch nicht von gutem Geschmack.

Ich folgte ihm in das Separee mit dem Gefühl, eine Mausefalle zu betreten. Die Anspielung auf meine militärische Vergangenheit weckte meine Neugier, änderte aber nichts an meinen Befürchtungen.

»Erlauben Sie, dass ich mich Ihnen vorstelle, ich bin Kommissar Favre.« Mit der flinken Geste einer tausendmal wiederholten Bewegung hielt er mir flüchtig einen Ausweis hin. »Und natürlich«, fuhr er mit einem höflichen Nicken fort, »ein Bewunderer Ihrer sportlichen Erfolge.«

Seine Worte, aber vor allem seine etwas schmierige Art führten dazu, dass die Neugier meine Angst verdrängte. Er wirkte nicht wie jemand, der mich wegen Dopings verhaften wollte, auch wenn nicht auszuschließen war, dass er mich über den Umlauf von verbotenen Substanzen befragen wollte. Was er als Nächstes sagte, schien das zu bestätigen.

»Wir brauchen Ihre Hilfe, Sergeant. Bitte, setzen Sie sich doch, machen Sie es sich bequem.«

Ich nahm auf dem kleinen Sofa Platz, das so bequem war wie ein Zahnarztstuhl. Der Kommissar wiederholte den Dienstgrad; ich dachte, falls ich ein Problem hätte, wäre es besser, Sergeant als Gefreiter zu sein, also nahm ich die Beförderung wortlos hin.

»Was Doping angeht, kann ich Ihnen nicht helfen. Ich bin sauber. Ich habe nie etwas genommen und mich von allen ferngehalten, die etwas mit diesem Mist zu tun haben. Das sollten Sie wissen.«

»Uns macht etwas anderes, viel Schlimmeres Sorgen.« Er schwieg einen Moment, beugte sich zu mir herüber und fügte fast flüsternd hinzu: »Unter Ihnen ist ein Mörder.« Anschließend richtete er sich wieder auf und wartete meine Reaktion ab. Wahrscheinlich enttäuschte ich ihn, denn ich zeigte keine. Der Satz war so absurd, dass mein Gehirn nicht wusste, wie es ihn verarbeiten sollte, zumindest nicht sofort. Stattdessen nahm ich im Schein des falschen Kaminfeuers den Glanz des Wachses auf seinem eleganten Schnurrbart über den wulstigen, feuchten Lippen wahr. Ein Anblick, den einige Frauen bestimmt verführerisch und andere abstoßend fänden.

Von meinem Schweigen enttäuscht, ging er dazu über, mir die Sache näher zu erklären. Es hörte sich an, als würde er einen militärischen Bericht vortragen.

»Erstens: Hugo Lampar, Australier und bester Bergfahrer des

Teams Locomotiv, wurde vor zwei Wochen bei einer Trainingsfahrt auf einer einsamen Landstraße angefahren. Es gab keine Zeugen. Zahlreiche Brüche und keine Chance, an der Tour teilzunehmen. Ohne ihn sind die Aussichten von Serguei Talancón gering, wenn nicht gleich null.

Zweitens: Drei Tage vor Beginn der Rundfahrt wurde Henkel wenige Meter von seinem Hotel entfernt am Abend überfallen. Obwohl er erklärt, keinerlei Widerstand geleistet und sein Portemonnaie sofort ausgehändigt zu haben, regte einer der Diebe sich über die geringe Beute auf, schlug ihn nieder und zertrümmerte ihm mit mehreren Tritten den Fußknöchel, sodass Henkel diesen, zumindest eine Zeit lang, nicht bewegen kann. Er gehörte nicht zu den Hauptfavoriten, aber sein unerwarteter dritter Platz beim Giro d’Italia mit gerade einmal vierundzwanzig Jahren ließ einen Teil der Presse glauben, der Deutsche könnte in diesem Jahr bei der Tour für eine Überraschung sorgen.

Drittens: Der Engländer Cunningham wurde kurz vor dem Prolog mit einem Antihistaminikum vergiftet. Er war der einzige ernstzunehmende Gegner von Steve Panata, Ihrem Teamkollegen, beim Zeitfahren, Sergeant. Cunningham verlor drei Minuten auf ihn, wodurch er für den Rest der Tour keine Bedrohung mehr darstellt. Die Ärzte können sich nicht erklären, wie das Medikament in seinen Körper gelangt ist. Er hat das Gleiche gegessen wie der Rest des Teams und nicht unter Allergien gelitten.

Viertens: Vor ein paar Tagen, auf der fünften Etappe, liefen zwei Zuschauer genau vor dem Team Movistar auf die Straße und taten so, als wollten sie in die Kamera des Motorrads winken, das vor dem Hauptfeld fuhr. Cuadrados Helfer hatten keine Chance zu reagieren, und es kam zu einem Massensturz. Vier Fahrer von Movistar mussten das Rennen beenden, und dem Kolumbianer steht für den Rest der Tour nur noch die Hälfte seines Teams zur

Verfügung. Die Typen, die den Sturz verursacht haben, sind radikale Hooligans aus Marseille und nicht dafür bekannt, große Radsportfans zu sein. Sie liegen ebenfalls im Krankenhaus. Und etwas ist sehr interessant: Einer von ihnen hat erst kürzlich eine Überweisung von achttausend Euro auf sein Konto erhalten.«

Der Kommissar schwieg einen Moment und beobachtete mich wieder, während ich die Informationen sacken ließ. Keiner dieser Zwischenfälle war neu für mich, weder für mich noch sonst irgendwen, obwohl mir die Details bisher nicht bekannt gewesen waren. Die Sache mit Movistar beunruhigte mich am meisten. Ohne die Hälfte seines Teams hatten sich Óscar Cuadrados Chancen in Luft aufgelöst, und das veränderte die ganze Tour. Wenn es stimmte, was der Kommissar sagte, war es kein Unfall gewesen, jemand hatte in die Geschichte des Radsports eingegriffen.

Trotzdem glaubte ich nicht an die These eines Anschlags auf die Tour, und erst recht nicht an den Versuch, einige der Favoriten aus dem Weg zu räumen. Jedes Jahr forderte die Tour ihre Opfer, manchmal auf tragische Weise. Wir Profis hatten uns damit abgefunden, dass einige Jahre schlimmer waren als andere, und dieses gehörte offenbar dazu.

»Ein mysteriöser Raubüberfall und ein paar Unfälle bedeuten nicht zwangsläufig, dass eine Verschwörung dahintersteckt. In den zehn Jahren, in denen ich die Tour gefahren bin, habe ich alles Mögliche erlebt. Ist es nicht etwas übertrieben, von einem Mörder unter uns zu reden?«

»Ich war noch nicht fertig«, sagte der Kommissar wichtigtuerisch, schwieg lange und genoss die Wirkung seiner Worte. »Vor zwei Stunden haben wir die Leiche von Saul Fleming gefunden. Er lag mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne seines Hotelzimmers. Es sollte nach Selbstmord aussehen, aber wer auch immer dafür verantwortlich ist, er hat ziemlich stümperhafte Arbeit geleistet. Flemings Tod hat uns veranlasst, mit Ihnen zu reden.«

Diesmal bekam der Kommissar die Reaktion, die er erwartet hatte. Auf meinem Gesicht musste sich das Entsetzen spiegeln, das das Bild des guten, in seinem eigenen Blut liegenden Sauls in mir auslöste. Wir waren nie Freunde gewesen, hatten aber große Achtung voreinander gehabt. Fleming war für Stark, was ich für Steve war. Wir hatten unzählige Schlachten auf dem Rad ausgetragen und dabei unsere jeweiligen Kapitäne beschützt. Ohne es zu sagen, trugen wir auf den Bergetappen einen speziellen Wettkampf innerhalb des eigentlichen Wettkampfs aus: Wer würde seinen Kapitän am längsten unterstützen? Bei dem Gedanken, dass der Engländer mich nie wieder bei einem Anstieg herausfordern würde, lief mir ein Schauer über den Rücken. Etwas hatte sich für immer geändert.

Meine zweite Reaktion war weniger emotional, aber nicht weniger schrecklich. Ohne Fleming war Stark verloren. Dieser, ein Landsmann von ihm, lag auf dem fünften Platz der Gesamtwertung, nur sechzehn Sekunden hinter Steve, und bestimmt hatte er die Hoffnung gehabt, diesen Rückstand auf den noch kommenden Bergetappen wettzumachen. Er war der bessere Kletterer der beiden, aber er würde ein Wunder brauchen, um Steve ohne Flemings Hilfe zu bezwingen.

»Sie werden verstehen, warum wir Sie brauchen, Sergeant.«

»Nein, das tue ich nicht.« Mein Gehirn war noch immer gefangen von dem Bild einer Badewanne, die viel zu kurz war für die langen, dürren Arme meines Rivalen.

»Wir sind zum Schluss gekommen, dass der oder die Täter zum Kreis der Tour gehören; sie haben mit absoluter Präzision gehandelt, um das Ergebnis des Rennens zu beeinflussen.«

»Das kann jeder getan haben«, wandte ich ein. Mir fiel es schwer, zu glauben, dass jemand aus unserer abgeschotteten Gemeinschaft auf jemanden der eigenen Leute einen Anschlag verüben könnte. Trotz der Rivalität waren das Fahrerfeld und folglich auch die Mechaniker, Ärzte, Masseure, Manager und Trainer wie eine große Familie. »Jeder Fan kennt die Favoriten und weiß um seine Stärken und Schwächen.«

»Kommen Sie, Sergeant Moreau, Sie wissen genau, dass kein Fan Zugang zu den Küchen der Teams, zu den Rädern der Konkurrenten oder zu den Hotelzimmern eines so hermetisch abgeriegelten Teams wie Batesman hat.«

Mit Letzterem hatte der Kommissar recht. Das Team von Stark und Fleming bestand ausschließlich aus britischen Fahrern, und auch die Betreuer waren alles Briten. Die übrigen Mannschaften waren bunt gemischt, mit Fahrern aus allen Kontinenten. Nicht so Batesman, das Team war wie eine Insel für sich, fast eine Bruderschaft. Nicht umsonst hatten die Kollegen dem Team den Spitznamen Brexit gegeben.

»Was ist mit den Leuten, die Sportwetten abschließen? Da geht es teils um Vermögen«, ließ ich nicht locker, obwohl das Argument nicht besonders überzeugend war. »Und es gibt Sponsoren, die viel riskieren und Millionen investieren, was gut oder schlecht ausgehen kann, je nachdem, wie das Ergebnis ausfällt.«

»Wir schließen keine dieser Hypothesen aus und ermitteln in jede Richtung. Aber selbst wenn das Motiv ein anderes sein sollte, stammen die Täter und vielleicht auch die Drahtzieher ganz offensichtlich aus dem direkten Umfeld der Tour.«

»Und warum ich?«

»Das liegt doch auf der Hand, Sergeant: Wer einmal bei der Armee war, bleibt das im Grunde sein Leben lang. Sie haben eine Ausbildung als Militärpolizist. Ich habe mir Ihre Akte angesehen und weiß, dass zu Ihrer Ausbildung auch Ermittlungsmethoden gehörten und Sie damals sogar ein paar Fälle gelöst haben«, sagte der Kommissar und legte eine Mappe mit einem Dienststempel auf den kleinen Tisch zwischen uns. Ich bat ihn mit einem Blick um Erlaubnis, schlug die Mappe auf und überflog das gute Dutzend zum Großteil verblichener Blätter. Vermutlich wollte er mir zeigen, dass ich mehr als ein Radprofi war, dass ich ein Mitglied des französischen Staats war und diese Akte das bestätigte. Doch mir fiel nur auf, wie viel Zeit seither vergangen war. Ich sah das leicht gebräunte Gesicht, die blauen Augen und das lockige Haar auf den verschiedenen Fotos von mir, die mich an das Leben erinnerten, das ich geführt hatte, bevor der Radsport alles verschlungen hatte. Mir fielen die drei- oder viertägigen Seminare in Paris ein, an denen ich vor zwölf Jahren zusammen mit Gendarmen und Polizisten aus der Provinz teilgenommen hatte, aber an viel mehr als ein paar vage Grundkenntnisse in Ballistik und Gerichtsmedizin, die uns in verrauchten Seminarräumen vermittelt wurden, konnte ich mich nicht erinnern. Ich dachte an Claude, die kleine Ermittlerin aus Biarritz, mit der ich als Ausgleich zu den langweiligen und bürokratischen Seminaren auf eigene Faust ein paar Fragen der forensischen Anatomie durchgegangen war.

»Was ist daran so lustig, Sergeant?«

Mein Lächeln wegen der angenehmen Erinnerung war dem Kommissar nicht entgangen. Er betrachtete mich wie ein Mechaniker, der auf seiner Werkbank ein Rad drehen lässt, um einen kaum wahrnehmbaren Defekt zu finden. Vermutlich hatte er keine große Lust, jemandem zu vertrauen, der kein Polizist war, und das tun zu müssen, war bestimmt nicht seine Idee gewesen. Wahrscheinlich suchte er nur nach Gründen, warum es nicht angebracht war, mich in diesen Fall hineinzuziehen.

»Nichts, das ist nur ein Ausdruck meiner Ohnmacht. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen könnte, selbst wenn Ihre Ver- mutungen richtig sind. Ich weiß nicht, wie gut Sie sich mit Radsport auskennen. Die Anforderungen in einem Team, das an der Tour teilnimmt, sind riesig, und das nicht nur in körperlicher Hinsicht. Es erfordert absolute Konzentration, man kann unmöglich Detektiv spielen, wenn man an nichts anderes denkt, als den Tag zu überleben und zur nächsten Etappe anzutreten.«

»Den Tag zu überleben«, wiederholte der Kommissar. »Eine interessante Wortwahl, Sergeant Moreau. Genau diese Frage stellen wir uns auch: Wer von Ihnen wird am nächsten Tag nicht mehr leben. Bis jetzt gab es keine Opfer in Ihrem Team, aber solange wir die Hintergründe für das alles nicht kennen, sind Sie und Ihre Kollegen in Gefahr.«

Bei seinen Worten fröstelte es mich. Wenn der Mörder es nicht auf Stark, sondern auf Steve abgesehen gehabt hätte, wäre wahrscheinlich ich es gewesen, der in der Badewanne verblutet wäre. Ich versuchte, mich an meine Position im Feld zu erinnern, als die falschen Fans vor ein paar Tagen dem Team Movistar vor die Räder liefen. Unser Team fuhr vorne, und wir waren gerade um eine Kurve gebogen, als wir direkt hinter uns den Sturz hörten. Die Hooligans aus Marseille hatten es nicht auf uns abgesehen. Eine schlimme Vorahnung befiel mich, doch in dem Moment unterbrach uns ein Mann, der den Raum betrat, sich zu uns an den Tisch setzte und sich mir zuwandte.

»Wir brauchen Sie, Hannibal. Wir müssen dringend etwas unternehmen«, sagte Sam Jitrik, ohne dass er mir hätte vorgestellt werden müssen. »Der Kommissar hat Ihnen bestimmt gesagt, wie ernst die Sache ist. Wir haben uns die Argumente der Polizei durch den Kopf gehen lassen und denken, dass sie recht hat: Hinter den Unfällen steckt Absicht«, erklärte der Chef der Tour der France, der Schutzheilige der Rundfahrt, der wichtigste Mann des Radsports. »Wenn es so ist, handelt es sich um die größte Bedrohung der Tour in ihrer Geschichte. Wir haben noch zwei Wochen vor uns, aber wenn es zu weiteren Verbrechen kommt, können die Behörden das Rennen jederzeit abbrechen. So etwas hat es in mehr als hundert Jahren nicht gegeben.« Seine ernsten, mit Grabesstimme vorgetragenen Worte wurden unterstrichen von einem langen Zeigefinder, der hin und her schwang wie der Taktstock eines Dirigenten. Obwohl er zweiundsiebzig Jahre alt war und saß, war seine Gestalt beeindruckend; er war ein Mann, der gut gealtert war.

»Sie könnten die Sicherheitsmaßnahmen erhöhen, weniger Zuschauer an der Strecke zulassen, unsere Hotels abriegeln«, erwiderte ich, nur um etwas zu sagen. Obwohl ich schon seit zehn Jahren die Tour bestritt, war es das erste Mal, dass ich ein Wort mit dem großen Meister wechselte.

»Die Abriegelung würde nicht viel bringen, wenn die Verantwortlichen unter uns sind, oder?«

»Und nur Sie können uns helfen, Sie sind ein Offizier der französischen Armee und einer der bekanntesten und am meisten geachteten Fahrer im Feld«, sprang Favre ihm bei. »Wir können sonst niemandem vertrauen. Was wir Ihnen mitgeteilt haben, darf keiner wissen, das würde die Täter warnen.«

»Ganz zu schweigen von dem gefundenen Fressen für die Presse und von der Panik, die das auslösen würde. Die Rundfahrt wäre in Gefahr«, sagte Jitrik, räusperte sich, hob den Zeigefinger und verlieh seiner Stimme einen feierlichen Ton. »Die Tour de France ist eine der großen, weltweit bedeutenden Institutionen unseres Landes und für uns die wichtigste. Wir können nicht dulden, dass sie sich in einen blutigen, skandalträchtigen Zirkus verwandelt. Die Tour zu schützen, ist eine Staatsangelegenheit. Ich appelliere an Ihr Gewissen als Franzose, Offizier und vor allem Radprofi.«

Jitrik schienen seine eigenen Worte zu bewegen, und wäre ich nicht so besorgt gewesen, hätten sie mich wahrscheinlich auch berührt. Ich wollte entgegnen, dass ich kein Offizier und nicht einmal ein waschechter Franzose sei und dass ich mich weigerte, einzugestehen, jemand aus unserer großen Radsportfamilie könnte dazu fähig sein, einen Kollegen zu ermorden, um den Verlauf des Rennens zu beeinflussen, doch ich sagte nichts und nickte nur. Wir besprachen das weitere Vorgehen für die nächsten Tage und trennten uns ein paar Minuten später. Unter normalen Umständen wäre es kein schlechter Abend gewesen; ich belegte den zehnten Rang in der Gesamtwertung, ein ungewohnter Platz für einen Domestiken. Ich schlief schlecht, obwohl ich die Tür fest verriegelt hatte – die Badewanne mit den Sprüngen und den schlecht kaschierten Rostflecken, die nebenan im Badezimmer stand, war die Protagonistin der wenigen Träume, die ich in dieser Nacht hatte.

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