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8. Etappe

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7. Etappe

7. Etappe

»Bedrückt dich was, Mojito?«, begrüßte mich Fiona, während ich mich auf dem festmontierten Rad abstrampelte, um mich für die heutige Etappe aufzuwärmen. Es gab viele Gründe, Fiona zu lieben, ihre Geografiekenntnisse gehörten ganz sicher nicht dazu. Aus irgendeinem Grund hatte sie den Mojito für ein kolumbianisches Getränk gehalten und mir vor ein paar Jahren diesen Spitznamen verpasst. Im Privaten nannte sie mich »Drache«, aber in der Öffentlichkeit zog sie »Mojito« vor; sie fand den Namen fröhlicher. Zum Glück war keiner ihrem Beispiel gefolgt – ich konnte diesen verdammten Drink nicht ausstehen.

»Warum fragst du?« Ich war selbst überrascht von meinem scharfen Ton.

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»Seit ich dich beobachte, hast du kein einziges Mal auf den Powermeter geschaut. So bringt das Aufwärmen nichts.« Fiona hatte recht, die richtige Vorbereitung verlangte eine exakte Tretleistung, die für jeden Fahrer berechnet worden war und darin bestand, pro Minute eine bestimme Wattzahl zu erreichen. Den Powermeter zu ignorieren, hieß nichts anderes, als Energie zu verschleudern.

»Ich war abgelenkt. Ich habe Fleming den ganzen Morgen nicht gesehen. Die von Brexit haben schon zwei Runden auf der Rolle hinter sich, aber er ist nicht aufgetaucht, und meine Strategie für heute hängt davon ab, was er macht, um Stark nach vorne zu bringen.« Das war nicht völlig gelogen; trotz der Neuigkeiten vom Abend zuvor hatte ich den ganzen Morgen auf den

Engländer gewartet und gehofft, mit seinem Erscheinen würde wieder Normalität einkehren. Fleming zu sehen, würde bedeuten, dass das Gespräch mit dem Kommissar ein Albtraum, ein schlechter Scherz oder etwas in der Art gewesen war.

Fiona zögerte, was ungewöhnlich für sie war. Als Chefontrolleurin der Tour-Organisation entging ihr nur selten etwas.

»Fleming wird nicht mehr kommen.« Sie senkte die Stimme. »Heute Nachmittag werden die Behörden einen Bericht veröffentlichen; gestern Abend wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, sein Zustand ist kritisch. Mehr weiß ich nicht.«

Meine Miene schien sie zu besorgen, denn ganz gegen ihre Gewohnheit streichelte sie mit der Hand über meinen gekrümmten Rücken. Normalerweise vermied sie in der Öffentlichkeit jede intime Geste, obwohl alle bei der Tour wussten, dass wir ein Paar waren – oder besser gesagt, und das musste ich wohl akzeptieren: dass sie mich als ihren Freund ausgewählt hatte.

»Komm heute Abend ins Wohnmobil, Mojito, und dann reden wir. Und konzentrier dich auf die Etappe und deine Aufgaben.« Sie drückte zärtlich meinen Nacken, während sie den Blick auf den Powermeter richtete. Und tatsächlich, er zeigte sechshundertachtzig Watt an, ein Wert, der eher einem Zielsprint als einem Aufwärmprogramm entsprach.

Fiona wusste mehr. Aber wenige Minuten vor dem Start der Etappe würde sie es mir nicht erzählen. Hunderteinundachtzig überwiegend flache, aber nicht ganz ungefährliche Kilometer lagen vor uns. Es waren keine Angriffe der Kapitäne zu erwarten, die sich für die Berge schonen würden, doch Tage wie dieser, bei denen das Fahrerfeld bis zum Schluss geschlossen zusammenbleiben würde, bargen das größte Risiko für Massenstürze.

Meine Aufgabe war es, das Team möglichst nah an der Spitze zu halten und eventuelle Fluchtversuche der ersten fünfzehn der Gesamtwertung zu vereiteln. Falls jemandem von ihnen die Flucht gelänge, würde die Verfolgung viel Kraft kosten und könnte schnell in einem Fiasko enden.

Zum Glück verlief die Etappe ohne Zwischenfälle: Sechs Ausreißversuche weniger wichtiger Fahrer wurden schließlich vom Feld geschluckt. Die Fahrer ahnten, dass etwas nicht in Ordnung war – die Durchschnittsgeschwindigkeit von achtunddreißig Kilometern pro Stunde lag deutlich unter der von vierundvierzig der vergangenen Tage. Im Verlauf der Etappe erkundigten sich meine Kollegen immer wieder nach Fleming, und es kursierten alle mögliche Gerüchte über die sich häufenden Unglücksfälle. Trotzdem schrieben alle diese seltsame Phase, die wir durchmachten, weiterhin dem Schicksal zu.

Die fünf vergleichsweise ruhigen und wenig fordernden Stunden erlaubten mir, in aller Ruhe über die Informationen nachzudenken, die mir der Kommissar anvertraut hatte. Schon nach weniger als fünfzig Kilometern war ich zu dem Schluss gekommen, dass die Angriffe auf die Tour nur zwei Ziele haben konnten: zum einen, dem Wettbewerb zu schaden, unabhängig davon, wer die Tour gewinnen könnte. In dem Fall ginge es um jemanden, der daran interessiert war, immer wieder wahllos zuzuschlagen, bis die Rundfahrt abgebrochen würde oder zumindest in Verruf geraten wäre. Das Motiv für die Anschläge wäre Hass oder irgendein für die Tour schädliches ökonomisches oder sportliches Interesse. Ich erinnerte mich an Teams, die in den letzten Jahren bei der Tour unerwünscht waren, und einige Fahrer, die aus verschiedenen Gründen gegen die Organisatoren wetterten.

Ich konnte nicht anders und betrachtete Viktor Radek, einen hitzköpfigen polnischen Fahrer, der ein paar Meter vor mir fuhr. Vor drei Jahren hatte er wegen eines Sturzes, den er einem Fahrfehler eines der offiziellen Motorräder zuschrieb, vier Minuten und dadurch den fünften Rang in der Gesamtwertung verloren. Die Jury lehnte seinen Einspruch und die Streichung des Rückstands ab, und Radek verließ aus Protest die Rundfahrt und schwor, nie wieder an ihr teilzunehmen. Doch zur Überraschung aller war er jetzt wieder dabei, im Trikot von Locus. Ich beschloss, ihn auf meiner Liste der Verdächtigen nach ganz oben zu setzen.

Fast unbeabsichtigt befand ich mich ein paar Kilometer weiter plötzlich neben ihm. Jede seiner Gesten schien meinen Verdacht zu bestätigen; wenn es so etwas wie das Klischee eines Schurken gab, dann traf es auf Radek zu. Obwohl das Rennen im Vergleich zu den letzten Tagen entspannt verlief, ähnelte sein Gesichtsausdruck dem einer fauchenden Raubkatze. Der getrocknete Speichel in seinen Mundwinkeln ließ ihn verrückt und bösartig aussehen. Ich fragte mich, ob er in diesem Moment bereits über seinen nächsten Prankenhieb nachdachte. Ich sah die verrostete Badewanne in meinem Zimmer vor mir, trat etwas langsamer in die Pedale und ging auf Abstand zu ihm.

Zwanzig Kilometer weiter zwang ich mich, wie ein Polizist zu denken. Neben Hass und Groll war Neid das andere große Motiv, um ein Verbrechen zu begehen, und bei einem so prestigeträchtigen Wettbewerb wie der Tour de France konnte das nur bedeuten, dass die Angriffe das Ziel verfolgten, das Ergebnis des Rennens zu beeinflussen. Das klang absurd, aber das war es nicht: Die Fahrer riskieren im wahrsten Sinne des Wortes ihr Leben bei schwindelerregenden Abfahrten mit bis zu neunzig Stundenkilometern, und einige setzten dabei auf die Angst der anderen und ritten selbstmörderische Attacken. Und wenn sie bereit waren zu sterben, warum sollten sie dann nicht auch bereit sein zu töten?

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