Jorge Zepeda Patterson. Die Korrupten LESEPROBE

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KOSTENLOSE LESEPROBE

Jorge Zepeda Patterson Die Korrupten

Roman

Aus dem mexikanischen Spanisch von Nadine Mutz


1 Dienstag, 19. November, 17.00 Uhr Pamela In einem ersten Reflex wollte sie sich den Rock richten, der ihr bis zur Hüfte hochgerutscht war. Da spürte sie die Stricke um ihre Handgelenke. Der dumpfe Schmerz im Unterkiefer erinnerte sie daran, wo sie war. Der Dicke, der sie ruhiggestellt und geknebelt hatte, war noch da und legte sich gerade auf der Kommode seine Werkzeuge zurecht. Pamela erkannte eine schwere Decke, einen stumpfen Hammer und eine Art kurzen Baseballschläger aus Metall. Sie wandte den Blick ab. Sie schlug die Beine übereinander, soweit die Fesseln es ihr erlaubten, um den Blick auf ihre berühmten Oberschenkel freizugeben. Trotz ihrer dreiundvierzig Jahre war sie immer noch eine der begehrtesten Frauen des Landes. Kritiker behaupteten, den Erfolg im nationalen Filmbusiness habe sie allein ihren Beinen zu verdanken. Hoffentlich helfen sie mir auch hier aus der Klemme, dachte sie. Sie setzte auf eine Verführung in letzter Not. Mehr konnte sie mit dem Knebel im Mund auch nicht tun. Der Mann war völlig in seine Aufgabe vertieft, als wäre sie überhaupt nicht da. Akribisch und mit stoischer Gelassenheit spazierte er zwischen dem Koffer und der Kommode hin und her wie ein Ladenbesitzer, der seine Auslagen für den bevorstehenden Tag vorbereitete. Pamela begriff, dass ihre aufreizende Pose den Mann völlig kaltließ. Er hatte nicht das geringste Interesse, sie zu vögeln. Was eine gute Nachricht hätte sein können, verwandelte sich schnell in eine furchtbare Erkenntnis. Ihr Bauch verkrampfte sich, und Panik stieg in ihr auf. Sie fragte


sich, ob man den Kerl geschickt hatte, um Informationen aus ihr herauszupressen. Verzweifelt ging sie in Gedanken alles durch, was womöglich von Interesse sein könnte, all die kleinen Staatsgeheimnisse, von denen sie im Laufe ihres bewegten Lebens erfahren hatte. Ihrem Peiniger, wer auch immer er war, mochte vielleicht ihr Körper gleichgültig sein, doch ihre Geheimnisse, sagte sich Pamela, hatten zweifellos einen gewissen Marktwert. Sie legte sich die Informationen zurecht, die sie anzubieten hatte: das Flugzeug, die Videos, der Deal. Doch als sich der Dicke schließlich zu ihr umdrehte, ließ sie alle Hoffnung fahren. Er hatte sich einen Lederschurz umgebunden und hielt in der Hand den Hammer. Sein Blick war völlig ungerührt. Er machte auch keine Anstalten, ihr den Knebel aus dem Mund zu nehmen, um sie auszufragen. Er sah sie einfach nur an, als überlegte er, wie die bevorstehende Aufgabe am besten zu bewerkstelligen sei. Pamela stellte die Beine gerade hin und zupfte sich, so gut sie konnte, den Rock zurecht. Dann schloss sie die Augen.

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2 Montag, 25. November, 10.30 Uhr Tomás Britney Spears sah lüstern zu Tomás herauf, das Kinn auf ein Schambein gestützt. Und das Geilste daran war, dass es sein Schambein war, dachte Tomás. Sie lagen zwischen zerwühlten Laken in seinem Bett, über dessen Kopfende die getragenen Hemden der letzten Woche hingen. Ein Teller mit EdamameSchalen auf dem Schreibtisch verbreitete einen unangenehmen Geruch. Nichts davon schien Britney zu stören, zumindest ließ der Ausdruck von Verzückung auf ihrem Gesicht das vermuten. Er richtete den Blick zur Decke, als sie den Kopf wieder senkte und sich zwischen seinen Beinen zu schaffen machte. Tomás ließ sich von der Lust mitreißen, während er über die begnadete Kehle der Sängerin sinnierte. Die Wonne verwandelte sich in Bestürzung, als Britney anfing, sonderbare Laute auszustoßen, als würde sie jeden Moment krepieren. Schweißgebadet schrak er auf, den erigierten Penis in der Hand. Jemand klingelte hartnäckig an seiner Wohnungstür. Er warf sich den Morgenmantel über und schlurfte den kleinen Flur entlang zum Eingang. Kurz darauf blickte er in Marios hochrotes, verschwitztes Gesicht. »Was ist denn? Du hast mich aus dem Schlaf gerissen, ich war gerade kurz davor, Britney Spears zu vögeln«, beschwerte sich Tomás und ließ Mario herein, verwirrt und sauer über den vereitelten Fick. »Mit oder ohne Kondom?« »Wer vögelt im Traum schon mit Kondom?«


»Na, dann hättest du dir ohne mich vielleicht noch einen Tripper eingefangen«, erwiderte Mario. Tomás, der am liebsten gleich wieder zu Britney ins Bett gekrochen wäre, tröstete sich mit dem Gedanken, dass man sich im Traum auch nicht anstecken konnte. Aber in einem Punkt musste er Mario recht geben: Meine niederen Instinkte könnten durchaus einen besseren Geschmack haben. »Ich versuche seit Stunden, dich anzurufen. Hast du noch überhaupt nichts mitgekriegt?«, fragte Mario mit gequälter Miene und ließ den Blick auf der Suche nach dem Handy seines Freundes durchs Zimmer schweifen. »Was ist denn los, Mann? Brennt’s irgendwo?« Das Problem mit Mario ist, dachte Tomás, dass er es mit seiner Sorge um andere immer übertreibt, vor allem, wenn es um mich geht. Man merkt, dass er nicht besonders viele Freunde hat. »Kann ich noch nicht sagen, aber wie’s aussieht, kann’s ein Flächenbrand werden.« »Jetzt sag endlich, was los ist, da kriegt man ja Angst.« Im Grunde glaubte Tomás nicht, dass Mario in der Lage war, jemandem Angst zu machen, aber er konnte einen in den Wahnsinn treiben. »In den Nachrichten gibt es heute Morgen kein anderes Thema als deine Kolumne. Der Staatsanwalt hat sie als heiße Luft abgetan, aber jemand von der PRD hat in der Sendung von Carmen Aristegui bestätigt, dass sie gegen den Innenminister ein Verfahren einleiten wollen.« Tomás war noch zu verschlafen, um sich zu erinnern, was er am Tag zuvor geschrieben hatte. Doch die Erwähnung des Staatsanwalts und des einflussreichen Innenministers ließen bei ihm die Alarmglocken schrillen und vertrieben den letzten Hauch seiner Nacht mit Britney. Allmählich erinnerte er sich an


die eine oder andere Zeile der eilig getippten Kolumne, die er am Vorabend an die Zeitung geschickt hatte. »Und Los Pinos? Haben die in der Residenz des Präsidenten schon was von sich hören lassen? Wie spät ist es?«, fragte Tomás und blickte zum Fenster. Der schmale Streifen Sonnenlicht, der durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang, machte lediglich den im Zimmer schwebenden Staub sichtbar und gab kaum Hinweise darauf, wie weit fortgeschritten der Tag schon war, an dem es, glaubte man Mario, einen Flächenbrand geben würde. Tomás versuchte, sich an die Einzelheiten seiner Kolumne zu erinnern, aber der Kater machte es ihm schwer. Er war stolz auf seine gesunde Einstellung, sich über einen Text, unter den er einmal einen Schlusspunkt gesetzt hatte, keine weiteren Gedanken mehr zu machen. Es war schon lange her, dass er sich über die Wirkung seiner Kolumne den Kopf zerbrochen hatte. Doch nach dem, was Mario berichtete, würde sein gestriger Artikel nicht so schnell im Reich des Vergessens versinken wie die anderen. Während Tomás in der Hoffnung auf Antworten in seinem Gedächtnis kramte und den Computer hochfuhr, zog Mario die Vorhänge auf und durchsuchte die Küchenschränke nach Kaffee. Der erste Blick auf den Bildschirm bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Normalerweise schrieb er über Politik, nicht über Polizeimeldungen, aber diesmal hatte er spontan ein paar exklusive Informationen verwertet, nebensächliche Details über den Fund von Pamela Dosantos’ Leiche vor fünf Tagen. Er hatte ansonsten lediglich zusammengefasst, was über den Fall bekannt war, und ein paar vage Bemerkungen hinzugefügt, um auf die neunhundert Wörter zu kommen, die der Meinungs-


redakteur verlangte. Wie so viele seiner letzten Artikel hatte er auch diesen einfach runtergetippt, beflügelt von der Aussicht, anschließend seine Freunde im La Nueva Flor del Son zum Salsatanzen zu treffen. Mario riss ihn aus seinen abschweifenden Gedanken. »Jetzt geh schon Duschen und zieh dir eine Krawatte an, die Journalisten werden dir heute die Bude einrennen.« Die Bemerkung lenkte Tomás’ Gedanken auf ein anderes, wenngleich im Moment nebensächliches Problem: den erbärmlichen Zustand seiner insgesamt vier Krawatten, die er so gut wie nie trug. »Woher hast du eigentlich die Informationen?«, wollte Mario wissen. »Welche Informationen? Was soll die ganze Aufregung überhaupt? Ich habe doch nur den Fall Dosantos zusammengefasst, von dem sowieso die halbe Welt redet«, verteidigte sich Tomás und begann laut vom Bildschirm abzulesen: Medienberichten zufolge betraten Alfonso Estrada, von Beruf Maurer, und Ricarda Pereda, Hausfrau, für ein romantisches Tête-à-tête das verlassene Brachgelände in der Calle Filadelfia in der Colonia Del Valle. Eine große Teppichrolle im Gestrüpp, vom Bürgersteig aus nicht sichtbar, schien ihnen für ihr Vorhaben gerade recht: »Ein kuscheliger Plausch«, wenn es nach Ricarda ging – »eine schnelle Nummer«, hätte man Alfonso gefragt. Wie auch immer die Entscheidung ausgefallen wäre, das Stelldichein war beendet, als sie den Fuß entdeckten, der an einem Ende aus dem aufgerollten Teppich ragte.


»Im restlichen Text beschreibe ich nur den beruflichen Werdegang der Dosantos, ihre ruhmreiche Karriere, ihren gefeierten Auftritt in der Telenovela La Reina del Sur und als Geliebte großer Potentaten und einflussreicher Männer. Außerdem weise ich noch darauf hin, dass sie kürzlich ein Restaurant in Polanco eröffnet hat, mit großem Erfolg, und lege nahe, dass man vielleicht unter den Unternehmern und Politikern ermitteln sollte, die dort regelmäßig verkehren. Aber Namen habe ich keine genannt, keinen einzigen«, beendete Tomás erschöpft sein langes Plädoyer. »Das war auch gar nicht nötig«, erwiderte Mario. »Es weiß auch so jeder, von wem die Rede ist.« Und da fiel bei Tomás endlich der Groschen. In dem Artikel behauptete er, die Polizeikräfte gingen davon aus, dass man die Leiche auf dem Brachgelände deponiert habe, zumal das Fehlen von Blut darauf hindeute, dass die Dosantos an einem anderen Ort verstümmelt und ermordet worden sei. Zu allem Überfluss hatte er dann noch geschrieben, dass die Aufmerksamkeit der Behörden einer alten Villa mit der Hausnummer 18 in ebenjener Calle Filadelfia gelten sollte, vierzig Meter vom Fundort des Opfers entfernt. Tomás musste einräumen, dass ein seriöser Journalist das Gebäude zuerst überprüft hätte, bevor er es in einem Zeitungsartikel erwähnte; er selbst hätte genau das vor ein paar Jahren noch getan. Aber er war schon seit einiger Zeit ziemlich frustriert wegen seiner Kolumne, die niemand zu lesen schien – außer Mario und vielleicht einem Dutzend Bekannter, und die auch nicht immer mit dem größten Wohlwollen. Er verspürte wieder das unangenehme Stechen, das ihn schon am Vortag heimgesucht hatte, als er die Hausnummer erwähnt hatte, ohne den Bewohner des Hauses zu kennen. Noch


hatte er genügend Skrupel, dass die Alarmglocken läuteten, wenn er gegen journalistische Grundregeln verstieß, doch manchmal überwog sein Zynismus. Jedenfalls führten die Gewissensbisse nicht mehr zwingend zur Selbstzensur. Tomás erinnerte sich jetzt, dass es in demselben Artikel noch eine weitere Stelle gab, die ihm Bauchschmerzen bereitet hatte. Er hatte geschrieben: »… so würde es am Ende doch niemanden überraschen, wenn wir nach erfolgreichem Abschluss der Ermittlungen feststellten, dass das Leben wieder einmal die Kunst nachahmt.« Ihn hatte nicht nur das alberne Klischee gewurmt, sondern auch die Andeutung, Dosantos’ Filme hätten etwas mit Kunst zu tun. Dennoch hatte er den Satz stehen lassen und den Text abgeschickt. »Wem gehört denn das Haus?«, fragte Tomás inzwischen doch nervös. »Du weißt es wirklich nicht?«, erwiderte Mario ungläubig und stellte die Geduld seines Freundes einmal mehr auf die Probe. »Raus damit, wer wohnt da?«, bellte Tomás verärgert, weil Mario ihn so lange hinhielt. »Wie zum Teufel konntest du eine Adresse veröffentlichen, ohne vorher zu überprüfen, wer da wohnt?«, gab Mario zurück und rächte sich für die jahrelange Demütigung, immer nur das fünfte Rad am Wagen zu sein. Tomás war inzwischen so aufgebracht, dass er unwillkürlich Marios versehrtes Bein anstarrte, über das nie gesprochen wurde. Als er ihm wieder in die Augen sah, war dessen Blick wie gewohnt ausweichend. Immerhin lieferte Mario ihm jetzt die gewünschte Information. »Wie es aussieht, befindet sich in dem Haus seit Kurzem das Ersatzbüro des Innenministers. Du hast also praktisch Salazar öffentlich an den Pranger gestellt.«


Das saß. Augusto Salazar war der meistgefürchtete Mann der neuen Regierung. Die PRI war nach zwölf Jahren in der Opposition unter einer schwachen, ineffizienten PAN-Regierung wieder in Los Pinos eingezogen. Der deutliche Sieg des neuen Präsidenten Alonso Prida war in den Augen vieler ein Zeichen dafür, dass das Land sich nach einer starken Führung sehnte. Die Opposition sowie zahlreiche Politikbeobachter waren der Auffassung, Salazar, als rechte Hand des Präsidenten, sei entschlossen, den Volkswillen als Vorwand zu missbrauchen, um ein autoritäres Regime aufzubauen und der PRI über mehrere Amtszeiten hinweg eine stabile Herrschaft zu garantieren. Tomás klopfte Mario auf die Schulter und ließ sich auf einen Sessel sinken. Er brauchte jetzt einen Freund und keinen Sparringspartner. Er konnte sich zwar nicht denken, was Salazar mit dem Mord an Dosantos zu tun haben könnte, aber ihm war klar, dass er sich mit der Andeutung eines Zusammenhangs eine hübsche Grube gegraben hatte. »Vielleicht sollte ich für eine Weile ins Ausland gehen, bis sich alles geklärt hat«, sagte Tomás wenig überzeugt. Mit den achthundert Dollar, die er zurückgelegt hatte, würde er nicht weit kommen. »Jetzt warte erst mal ab«, erwiderte Mario. »Du bist im Moment der Einzige, der vermeintlich über den Tatort Bescheid weiß. Wenn du jetzt abhaust, könnte die Polizei annehmen, dass du selbst in die Sache verwickelt bist. Als Flüchtiger machst du dich verdächtig.« »Mach keine Witze, ich hab mit der Sache nichts zu tun. Das Detail hab ich von einem Freund, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, es in meinen Artikel einzubauen, das ist alles«, verteidigte sich Tomás.


»Und wer ist dieser ominöse ›Freund‹?«, erkundigte sich Mario und malte Anführungsstriche in die Luft. »Kennst du nicht«, antwortete der Journalist düster. Bei dem Gedanken an seinen Informanten wurde Tomás klar, dass es sich bei der Grube wohl eher um einen Abgrund handelte. »Man hat dir eine Falle gestellt. Wir müssen uns mit Amelia und Jaime treffen.«


3 1984 Gefangen im Überschuss der Hormone scharwenzelten die drei Jugendlichen um Amelia herum. Seit der Grundschule war sie die Anführerin der Gruppe, die sich die Blauen nannte. Der Name rührte von der Farbe der französischen Notizbücher her, die ihnen Jaimes Vater von seinen Reisen mitbrachte. Tomás und Jaime versuchten gelegentlich, Amelia die Führung streitig zu machen, doch deren Schlagfertigkeit war nach wie vor konkurrenzlos. Jaime hatte einen reichen Vater, eine Riesenvilla mit Swimmingpool im Garten und immer die neuesten Sachen aus dem Ausland auf seiner Seite, und Tomás punktete mit seiner Sanftmut und Warmherzigkeit. Mario hatte nichts vorzuweisen, aber er war ein treuer Freund und machte bei allen Schandtaten mit, die seinen Kameraden so einfielen. Amelia war diejenige, die sie alle als Gruppe zusammenhielt. Im Schutz ihrer schlagfertigen Antworten, mit denen sie ihnen so manchen Typen an der Schule vom Leib hielt, verbrachten sie ihre Kindheit. Mit ihrer Begabung, Lehrern und Schülern bleibende Spitznamen zu verpassen, verschaffte sie sich allgemeinen Respekt. Mit vierzehn kam ein weiteres schlagendes Argument hinzu: ihr Körper, der sich schneller entwickelte als der ihrer Freunde. Damals redeten die vier über kaum etwas anderes als Liebe und Sex, und auch auf diesem Gebiet war Amelia den anderen um Längen voraus. Als Tochter einer feministischen Sexualwissenschaftlerin wuchs Amelia in einem Haushalt auf, in dem die Kinder so offen über ihren Penis beziehungsweise ihre Vagina redeten wie andere über eine Halsentzündung oder das rasante


Wachstum der Fingernägel. Anfangs war sie überrascht über die verärgerten und manchmal sogar aggressiven Reaktionen ihrer Mitschüler, wenn sie über diese Dinge sprach. Doch als sie in die Pubertät kamen, wurde ihr zunehmend bewusst, welche Vorteile ihr die Ungezwungenheit und das Wissen auf einem Gebiet verschafften, das alle faszinierte. Sie hielt Vorträge und schüchterte ihre Kameraden ein, für die sie zu einer Art Orakel wurde, das ihnen offenbarte, was sie von den dunklen, unbekannten und unwiderstehlichen Gefilden ihres zukünftigen Sexuallebens zu erwarten hatten. Aber die Rolle brachte sie mitunter auch in Schwierigkeiten. An einem Freitagmittag zwischen zwei Unterrichtsstunden sahen die vier Freunde ihren Klassenkameraden bei einem leidenschaftlich ausgetragenen Basketballspiel zu. Die Blauen verstanden sich selbst als kultivierte Intellektuelle. Ein paar Monate zuvor hatte sich Tomás mit seiner Auffassung durchgesetzt – vor allem gegen Jaime –, Sport zu treiben sei widernatürlich. Tomás selbst war durchaus athletisch, doch er entwickelte eine Vorliebe fürs Lesen und war zu dem Schluss gekommen, dass er mit seinen sachkundigen und provokativen Aussagen mehr punkten konnte als mit gelegentlichen Korbwürfen. »Habt ihr jemals eine Kuh gesehen, die wie bekloppt herumrennt, nur damit sie ins Schwitzen kommt? Der Sport ist wider die Natur«, konfrontierte er die anderen mit einem Argument, das diese kaum widerlegen konnten. »Aber es ist gesund, Sport zu treiben«, entgegnete Jaime, der von allen am sportlichsten war und jeden Nachmittag in einem Karateverein trainierte. »Klar, aber nur so lange, bis du dir den Knöchel verstauchst oder dir jemand mit einem Kopfstoß die Nase bricht, dann wird es ungesund«, konterte Amelia, die zwar gut im Volleyball war,


sich aber über den immer deutlicher hervortretenden körperlichen Nachteil gegenüber ihren männlichen Spielgefährten ärgerte. »Für den Mann ist der Sport ein Weg, seine Fähigkeiten als Jäger und Krieger zu trainieren und bei Gefahr reagieren zu können«, verteidigte sich Jaime mit einem Satz, den er von seinem Karatelehrer gehört hatte. »Schwachsinn«, hielt Amelia dagegen. »Die Zivilisation hat mit der Entwicklung des Gehirns zu tun, nicht mit der der Muskeln. Auf Bäume klettern zu können, ist kein zivilisatorischer Vorteil.« Und damit war die Diskussion beendet. Das Basketballspiel zog die Aufmerksamkeit der Blauen auf sich, als Möhre – so hatte Amelia den Mitschüler einige Monate zuvor treffend getauft – dem Nazi, dem größten Angeber der Schule, einen Schubs verpasste. Sie wussten, dass das Konsequenzen haben würde. Möhre blickte ungeduldig zur Uhr, die auf einer Seite des Sportplatzes hing, und es war nicht zu übersehen, dass er das erlösende Läuten der Schulglocke herbeisehnte. Die Retourkutsche des Nazis ließ nicht lange auf sich warten: Bei der nächstbesten Gelegenheit stürzte er sich auf sein Opfer und verpasste ihm einen Ellbogenstoß gegen den Kopf. Möhre ging wie ein Mehlsack zu Boden, sein Schädel machte beim Aufprall auf den Bodenplatten ein merkwürdiges Geräusch. »Idiot«, sagte Amelia. »Mann, Möhre!«, rief Mario entsetzt, unterdrückte aber den Impuls, hinzurennen, als er sah, dass seine Freunde sich nicht rührten. »Man müsste ihm das Handwerk legen«, sagte Tomás leise und wünschte sich, er hätte die Muskeln und den Mumm, um sich mit dem Nazi anlegen zu können. Wie in den meisten Fällen war seine Einstellung edler als seine Taten.


»Keine Sorge, in dem Muskelpaket steckt nur ein armer kleiner Wicht. Er wird sich sein eigenes Grab schaufeln«, warf Amelia verächtlich ein. Jaime war sich da nicht so sicher. In mehr als einer Situation hatte er den Nazi um seine breiten Schultern und die Autorität beneidet, die ihm sein Körperbau bei den Mitschülern verschaffte. »Na ja, unter der Dusche ist er alles andere als ein Wicht. Und auf der Toilette weiß man nicht, ob er pinkelt oder eine Kobra in die Tränke hält«, entgegnete er. Die drei Jungs feierten den Kommentar unter dem kritischen Blick Amelias. »Der Witz ist alt und grottenschlecht. Immer diese Märchen. Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die besagen, je größer der Penis, umso wahrscheinlicher ist es, dass der Kerl schwul ist«, setzte sie noch einen drauf. Die drei protestierten und waren sich einig, dass sie sich das ausgedacht hatte. Mario jedoch überlegte insgeheim, dass er sich, wenn das stimmte, wenigstens keine Gedanken mehr über seinen winzigen Penis machen musste. »Im Ernst, das hab ich in einem Buch von meiner Mutter gelesen«, behauptete Amelia im Brustton der Überzeugung. In Wahrheit erinnerte sie sich nicht mehr genau, ob, und wenn ja, wo sie es gelesen hatte, aber da musste sie jetzt durch. Zurückrudern kam für sie nicht infrage. Ihre Freunde wollten jedenfalls nichts davon wissen und verlangten Beweise. Sie versicherte ihnen, Beweise seien überhaupt kein Problem, sie würde sie am nächsten Tag zu Jaime mitbringen, wo sie sich wie jeden Samstag zum Schwimmen und gemeinsamen Mittagessen verabredet hatten. Es würde das letzte Treffen sein, bevor sie sich die ganzen Sommerferien über nicht sahen. Amelia würde die nächsten


Ein Leben für die Wahrheit? Hastig schreibt der Journalist Tomás Arizmendi in Mexiko-City seine Kolumne über den Mord an der Schauspielerin Dosantos, der Geliebten des gefürchteten Innenministers Salazar. Tomás erwähnt darin ungeprüft ein Detail, das ihm vorher zugespielt wurde. Damit löst er eine Lawine von unabsehbaren Konsequenzen aus. Bald wird klar, dass Tomás manipuliert wurde und er dringend den Mörder finden muss – um sein eigenes Leben zu retten. Eine Gruppe alter Jugendfreunde, die »Blauen« genannt, kommt ihm zu Hilfe: der Sicherheitsberater Jaime, der Universitätsdozent Mario und Amelia, die Oppositionsführerin der Linken. Die »Blauen« versuchen, Tomás aus der Schusslinie des Innenministers zu ziehen und die Hintergründe des mysteriösen Mordes aufzuklären. Dabei kommen sie einem langjährigen Polit-Skandal auf die Spur, den sie für ihre eigenen politischen Überzeugungen nutzen wollen. Doch ein brutales Drogenkartell auf der einen Seite und korrupte Politiker auf der anderen lassen sich das nicht einfach so gefallen. Ein realistischer Thriller von aufklärerischer Kraft und mitreißender Spannung, nach Milena oder der schönste Oberschenkelknochen der Welt der neue Roman der preisgekrönten Trilogie Zepedas über die Mechanismen von Kriminalität und Korruption. »Weit mehr noch als ein Thriller ist Die Korrupten ein großes politisches Buch, das von den Erfahrungen seines Autors, eines Ökonomen, Soziologen und Chefredakteurs mehrerer Zeitungen, genährt wird. Jorge Zepeda Patterson brilliert (…) in der subtilen Beherrschung der erzählerischen Mittel. Und er belegt, dass die Modernität des Roman Noir in seiner moralischen Ambiguität liegt.« Le Monde

ISBN 978-3-906903-15-6

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung und unter www.elstersalis.com


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