René Maran Ein Mensch wie jeder andere
Roman
Mit einem Nachwort von Mohamed Mbougar Sarr
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Roman
Mit einem Nachwort von Mohamed Mbougar Sarr
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Roman Mit einem Nachwort von Mohamed Mbougar Sarr
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt
Ein Mensch wie jeder andere spielt in den 1920er Jahren und wurde erstmals 1947 in Frankreich veröffentlicht. Der Roman erzählt von existenziellen Verletzungen durch einen allgegenwärtigen Rassismus. Der Schwarze Protagonist und Ich-Erzähler Jean Veneuse hat die herabwürdigenden Zuschreibungen von außen derart verinnerlicht, dass sie in Selbsthass umschlagen und sein Dasein, insbesondere seine Liebe zu einer weißen Frau, vergiften.
Die Entscheidung, in der vorliegenden deutschen Erstübersetzung die rassistische Sprache des Originals beizubehalten, beruht vor allem darauf, dass die Brutalität der rassistischen Haltungen innerhalb der Erzählung auch im Deutschen nicht beschönigt werden soll.
Veneuse ist selbst Kolonialbeamter, damit zugleich Opfer und Repräsentant des Machtapparates. Er sieht, wie die Kolonialisierung entmenschlicht. Und doch lesen wir mit Unbehagen, wie rassistisch Veneuse über sich selbst und über andere spricht. Auch in seinem Blick auf Frauen reicht er die eigene Objektivierung weiter.
René Maran, 1921 für Batouala als erster Schwarzer Schriftsteller mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, legte mit Ein Mensch wie jeder andere einen Roman vor, dessen Ambiguität im historischen Kontext zu betrachten ist. Wie schreibt im Nachwort dieses Bandes der senegalesische Autor Mohamed Mbougar Sarr, der einhundert Jahre später für Die geheimste Erinnerung der Menschen den Prix Goncourt erhielt? »Wir sollten Maran endlich gründlicher lesen.«
Für Lucien Descaves, als Zeichen meiner Anerkennung und meiner Dankbarkeit
Manche Menschen glauben, Einfachheit sei ein Zeichen für wenig Erfindungsreichtum. Sie bedenken nicht, dass jede Erfindung darin besteht, etwas aus nichts zu machen.
Jean Racine, Vorwort zu Berenike
Ich heiße Jean Veneuse. Vielleicht steht es mir als Neger gar nicht zu, mit Vertraulichkeiten, wie sie nachfolgend zu lesen sein werden, an die Öffentlichkeit zu gehen. Man hat mir den Rat gegeben, es trotzdem zu tun, denn es sei an der Zeit herauszufinden, wie die Gesellschaft dazu stehe.
Ich höre schon die Kritik, die laut werden wird. Der Franzose, wird man behaupten, habe nie Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe gehabt. Was für ein Irrtum! Es lässt sich nicht leugnen, dass im heutigen Frankreich mehr oder weniger tiefe Spuren von Rassismus existieren. Man wird dieses gesellschaftliche Übel aber nur eindämmen
können, wenn man bereit ist, sich den Problemen, die es aufwirft, zu stellen und sie zu lösen.
Der Europäer im Allgemeinen und der Franzose im Besonderen begnügen sich nicht damit, den Neger ihrer Kolonien zu ignorieren, sie missachten auch den, den sie sich nach ihrem Bild herangezogen haben. Wie aber, wenn sie den einen ignorieren und den anderen missachten, sollen sie sie dann verstehen? Die Schwarzen, umgekehrt, sind unaufhörlich damit beschäftigt, ihre Erzieher zu studieren und zu ergründen. Sie durchdenken sie ohne Unterlass, durchleuchten sie mit Beobachtungsgeist und spotten über ihre Anmaßungen, Schwächen und ihr irrationales Verhalten, dennoch fühlen sie sich ihnen von Herzen verbunden.
Es ist also nur natürlich, dass einer von ihnen versucht hat, seine Schulden gegenüber der weißen Zivilisation zusammenzustellen. Der vorliegende Bericht, weniger Thesenbuch oder eine Bewertung der Rassenfrage als die Beschreibung eines Seelenzustandes, soll einen Einblick in diese vorläufige Bestandsaufnahme gewähren.
Die Notizen, aus denen sich diese zusammensetzt und die nur an zwei, drei Stellen etwas überholt sind, stammen aus alten Haushalts und Reisetagebüchern, in denen er dreizehn Jahre lang, mit Unterbrechungen, die Höhen und Tiefen seines Lebens als kleiner Kolonialbeamter festhielt.
Diese Seiten werden nur eine vage Vorstellung der seelischen Nöte und der Langeweile vermitteln, die ihn in Afrika quälten. Langeweile ohne Überraschung, Einsamkeit ohne Abenteuer, nichts als Weite und das Leiden eines allzu sensiblen Geistes, der sich nach innen kehrt angesichts der Feindlichkeit des Lichts und der Heucheleien der Zivilisation – er hat kaum etwas anderes erlebt in dieser Zeit, in der das Klima des Landes seiner Vorfahren ihn zu betören versuchte.
Er hätte sich gern aufgeopfert, sich verausgabt. Aber er, den seine Bücher mit Idealismus gesättigt hatten, war nur da, um bloße materielle Interessen zu verteidigen. Er hätte gern nichts gesehen, nichts gewusst, nichts gehört. Aber wie sollte man das anstellen in solch urtümlichen Gegenden, wo man gezwungen ist zu hören, was man nicht sehen will?
Einer heimlichen Liebe, die ihm als Trost und Zuflucht diente, gelang es schließlich, seine Enttäuschungen und seinen Schmerz zu lindern. Lange Zeit versuchte er, sich diese Liebe zu verbieten, aus Schüchternheit und aus Gewissensnot, bis er der Bücher, die ihm fern der Heimat Gesellschaft leisteten, überdrüssig wurde; er war das bittere Vergnügen leid, das er beim Blättern darin empfand, beim Verfassen von Kommentaren, die er am Rand oder in Notizheften vermerkte, und so beschloss er eines Tages, seinem Schicksal zu folgen.
Das vorliegende Buch beschreibt im Grunde nichts anderes als den Weg zweier Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und zweier Herzen zueinander. Möge es durch seine ungeschönte Einfachheit Vorurteile, Sophismen und Ressentiments, die die schwankenden Annahmen der oft fehlbaren Wissenschaft in ethnische Imperative verwandeln wollen, zum Schweigen bringen.
Vormittag des 25. November. Es ist kalt, sehr kalt. Der Herbst erdrückt Bordeaux mit tiefhängenden Wolken an einem schmutzigen und regnerischen Himmel. Ab und zu pfeift der Wind durch die Boulevards und Straßen, verwirbelt die Dunstschleier und verteilt sie über die Stadt. Dann, wie von Zauberhand, schweigt er. Und das schwere Knarren der Fuhrwerke, Kübel und Muldenkipper, das eindringliche Klingeln der Straßenbahnen und das Hupen werden leiser, verstummen schließlich, als hätten die dichten horizontalen Schwaden, die wie fleckig graue Wattebänder durch die Luft ziehen, sie verschluckt.
Das Wetter wird milder, für etwa drei Stunden, und der Wind lässt nach. Die Häuser schwitzen Traurigkeit. Aus den Regenrinnen und von den feucht glänzenden Dächern tropft, trüb und eisig, Wasser auf die Pflastersteine, die Trottoirs werden immer rutschiger und speckiger. Und allmählich nebelt alles ein.
Es herrscht Gedränge am Quai Louis XVIII, wo, hoch auf dem Wasser, das Passagierschiff Europe der Reederei Chargeurs Réunis bereitliegt, um in See zu stechen.
Ich, Jean Veneuse, befinde mich inmitten der Menschenmenge. Ich bin Zeuge meiner eigenen Abreise. Ich habe mich verdoppelt, von meiner Person gelöst. Nicht ich gehe fort, sondern ein anderes Ich, das mir beinahe fremd ist und gewiss nicht meine Seele hat, auch wenn es mir ähnelt wie ein Bruder. Dieses andere Ich wird gleich über die Gangway gehen, die das Land mit dem Schiff verbindet. Dabei wird zwischen den Freunden,
die dieses Ich hierher begleitet haben, und mir ein unendlicher Raum entstehen.
Meine Freunde … Im Augenblick stehen sie schweigend neben mir. Woran sie wohl denken, Charles Kurtz, Gérard Alcan und seine bezaubernde Freundin, die kleine Simone, von uns dreien Monna genannt, angesichts dieses großen Sarges von Passagierschiff, das darauf wartet, dass man ihm die Absolution für seine lange Reise erteilt?
Ich beobachte sie verstohlen. Sie haben rote Augen, ihre Lippen sind zusammengepresst. Und ich … Ich bin in Gedanken weit weg, in Paris, an der Seite der Frau, die ich nicht hätte verlassen dürfen, die ich hätte mitnehmen müssen.
Andrée … Noch weine ich nicht: Es sind zu viele Leute um mich herum. Aber mir ist kalt, vor Kummer.
Mit Kohle gefüllte Schütten hängen an Ketten von Kränen herab, die sie in weiten Kreisen durch die Luft transportieren. Sobald die Kräne anhalten, schwingen die Ketten wie große Pendel, bis sie unsanft, zitternd und ruckartig, direkt über einem Zug mit leeren Waggons zum Stillstand kommen. Dann öffnen die Schütten ihre knirschenden Kiefer, die Kohle fällt heraus, und ihr Staub zerstreut sich in alle Richtungen.
Die Post ist angekommen. Alle Papiere sind in Ordnung. Eilig werden die letzten Vorbereitungen für die Abreise getroffen.
Möge es doch endlich Ruhe geben, dieses Herz, das immer bereit ist zu fühlen. Es ist an der Zeit, sich von den lieben Gewohnheiten, den Erinnerungen und Freunden loszureißen.
»Adieu, Gérard.«
»Adieu, Kurtz.«
»Adieu, Veneuse! Gute Reise!«
»Du schreibst uns regelmäßig, ja?«
»Was für eine Frage!«
»Vor allem nicht zu viele Grübeleien!«
»Was das angeht, du weißt ja, mein lieber Kurtz …«
»Und ich! Und ich! Bin ich denn schon vergessen? Zähle ich gar nicht mehr? Ich sollte …«
»Aber nein, Monna, ich habe Sie doch nicht vergessen, und …«
»Seien Sie still. Ich hasse Sie. Man verlässt seine Freunde nicht einfach so. Das könnten Sie auch gar nicht! Heute dürfen wir uns zum Abschied küssen. Nicht wahr, Gérard?«
Ja, ja, bedeutet Gérard ihr mit einem Nicken.
Ich bin so aufgewühlt, dass ich keine Worte finde. Mir ist heiß und kalt zugleich. Mein Blick verschwimmt. Ich umarme Monna, der Tränen über das Gesicht laufen. Ich umarme meine Freunde. Dann entferne ich mich mit schnellen Schritten in Richtung Gangway, wo ich mit einem Paar zusammenstoße.
Ich stammle eine Entschuldigung und will gerade weitergehen, als ein Mann ruft:
»He, Sie da! Veneuse! Was ist los mit Ihnen? Erkennt man jetzt seine Kameraden nicht mehr?«
»Na, so was, Divrande! Guten Tag. Wie geht es Ihnen? Kehren Sie in die Kolonie zurück?«
»Noch nicht. Aber kommen Sie doch her, ich möchte Sie jemandem vorstellen, Sie Schüchterner! Jean Veneuse … Madame Demours. Madame Demours ist die Frau eines Kollegen im Tschad. Sie folgt ihrem Mann nun dorthin. Es ist ihre erste Reise! Ich sollte sie eigentlich begleiten, mich um sie und ihr Gepäck kümmern, Demours – wir haben zusammen unseren Militärdienst geleistet – hat sie in meine Obhut gegeben. Ich hätte ihm den Gefallen gerne getan. Aber, unmöglich. Mich halten familiäre Angelegenheiten noch eine Weile hier fest. Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie für mich einspringen? Das kann ich doch, nicht wahr?«
Hol sie der Teufel! Dennoch verneige ich mich vor Madame
Demours, zum Zeichen der Zustimmung. Sie dankt mir lächelnd und streckt mir die Hand entgegen. Als ich mich entferne, höre ich, wie Divrande zu ihr sagt:
»Ein guter Junge, dieser Veneuse. Etwas trübsinnig und schweigsam, aber sehr hilfsbereit. Auf den können Sie sich verlassen, Sie werden sehen. Er ist ein Neger, wie man sich viele Weiße wünschte. Besonderes Kennzeichen: Er verbringt seine Zeit mit Lesen oder Schreiben. Manche behaupten sogar, dass er heimlich die Muse küsst.«
Bei mir denke ich: Kommen Sie, guter Mann! Eine Frau, allein auf einem Schiff. Da muss ich mich nicht lange um sie kümmern.
Alle Passagiere sind an Bord.
Die Schiffsjungen laufen mit einer Klingel durch die erste, zweite und dritte Klasse. Auf dem Dampfer sind jetzt nur noch die, die auch dort sein sollen.
Ein Kommando: Die Gangway wird eingezogen. Die Anker werden eingeholt, wie scharfe Zähne hängen sie an ihren Ketten vor den Klüsen.
Es ist so weit. Die Leinen werden eine nach der anderen losgeworfen. Winden schnarren, die Maschinen dröhnen dumpf.
Stille. Ich steige die Stufen zum Spardeck der zweiten Klasse hinauf. Wo sind Kurtz, Alcan, Monna? Ah, dort. Sie winken mir zu.
Adieu, Alcan! Adieu, Kurtz! Adieu, Monna!
Monna, als ich mich eben von Ihnen verabschiedete, hielt ich Andrée im Arm, ihr galten mein Überschwang, meine Zärtlichkeit, mein Bedauern.
Adieu, Monna.
Hastige, stürmische Schritte, Gebrüll, Pfeifen, kurze Anweisungen. Es geht gleich los.
Es geht los …
Nach und nach zieht die Flut das Schiff fort vom Kai, wo Angehörige und Freunde zum Abschied weinend ihre Taschentücher schwenken.
Die Propeller sind klar. Stahlseile werden gezogen, von der Kommandobrücke tönt ein schrilles Klingeln. Der Maschinentelegraf übermittelt die Befehle des Kapitäns an die synchron arbeitenden Zeiger im Maschinenraum. Ein Ruck, wiederkehrend und jedes Mal länger, erschüttert die Tiefen der Europe, bald vibriert das gesamte Schiff. Am Heck, hinter dem Ruder, brodelt wütend das gelblich-schlammige Wasser. Die Kais rücken in immer weitere Ferne, sie werden klein und kleiner, winzig. Die angrenzenden Häuserreihen werden unschärfer, die tausend Geräusche der Stadt verhallen, sie verschmelzen zu einem einzigen geheimnisvollen Klangteppich.
Adieu, Alcan! Adieu, Kurtz! Adieu, Monna!
Es schnürt mir die Kehle zu. Ich lehne mich an die Reling und richte den Blick nach vorn, mal beiße ich in mein Taschentuch und mal in meine Finger, bis Blut hervorquillt. Ich schaue auf all das, was ich vielleicht nie wiedersehen werde: die mit Waren vollgestopften Hangars, die Bogenlampen, die Gasbrenner, die Fischerboote der Kabeljaufänger, die Fabrikschornsteine, die Kirchtürme, die Rauchschwaden. Tränen verschleiern mir die Augen. Adieu, adieu. Was ist das für ein Sprudeln, wieso ist die Luft auf einmal feuchter? Ich weiß nicht mehr, was um mich herum geschieht. Wir haben abgelegt.
Das Schiff gleitet sanft voran. Der Bug teilt das Wasser, das sich zu beiden Seiten an die Schiffswände schmiegt und hinter dem Heck, leise rauschend, wieder zusammenfließt.
Nacheinander tun das eine und das andere Ufer so, als liefen sie mit offenen Armen auf den Dampfer zu. Der aber – als wollte er sich nicht mit ihnen, solchen Zwergen, abgeben – betrachtet sie nur verächtlich aus den Winkeln seiner Bullaugen und hält sie sorgfältig auf Abstand, und auch den Kähnen, den Transportschiffen und dem übrigen Gesindel von Booten, dicht an dicht bei den Molen und Docks gedrängt, schenkt er kaum Beachtung; sie schauen zu, wie er in weiser Langsamkeit vorbeizieht, hinausragt über Frachter, Kohlen- und Transatlantikschiffe, während die von ihm verdrängten Wassermassen sich in immer größeren Wellen schäumend an den Ufern brechen.
Zwischen den kahlen Bäumen auf der Steuerbordseite ist bereits Lormont zu sehen, von den Villen oben auf den Hügeln überblickt man das große Durcheinander der eisernen Schiffskonstruktionen zu Füßen des Städtchens. Gegenüber, auf der Backbordseite, die rauchenden Werke von Dyle et Bacalan und die Trockendocks.
An einer Flussbiegung heult kurz die Schiffssirene auf. Bordeaux ist verschwunden, aber da, steuerbord, liegt Bassens mit seinen Kränen, die vor Untätigkeit Rost ansetzen, den Piers, die ausgestorben wirken, und den langen Fabrikschornsteinen.
Wir lassen Bassens hinter uns, und die Entfernung staucht alles zusammen. Da sind keine Fabriken mehr, keine Piers, nur noch kahlgeschorene, fliehende Ufer. Die Luft riecht nach Jod, Salz, Teer, Seetang, Kombüse und nasser Erde.
Es regnet. Der Regen sprenkelt den Fluss mit Tausenden kleiner Wassernoten. Nach und nach wird der trübe Himmel von Schatten geflutet. Es herrscht Dämmerung, eher eine Winter- als eine Herbstdämmerung. Links und rechts zieht unebenes Gelände vorüber – Blaye, Pauillac, Trompeloup –, eine Abfolge dunkelgrüner Streifen, durchsetzt mit winzigen
goldenen Punkten, Lichtern, die, kaum erst wahrgenommen, wieder erlöschen.
Im Licht der Plichten, das auf dem Wasser schimmert, sieht man Quallen dahinströmen, graue Vögel geben dem Schiff Geleit.
Das Krächzen der Vögel verliert sich im Wind, im Regen und im Dunkel. Denn es ist schon spät. Eine sanfte Hügellandschaft verdeckt die letzten Lichter des Festlands. Die Hügel selbst sind nicht zu erkennen. Hier und da scheinen grüne, gelbe oder rote Signale auf, stehen mal zu zweit Spalier, mal allein, und reißen ein Loch in die dichte Dunkelheit. Es sind Feuerschiffe und Leuchttonnen, die den Fluss markieren, aus ihren unsichtbaren Nüstern dringen gedämpft Buhrufe. Und dort drüben, hin zum offenen Meer, der Leuchtturm von Cordouan, ein strahlender Wegbegleiter.
Ronces-les-Bains, Le Verdon, Pontaillac, Royan, Soulac, Vallières, Saint-Gemmes-de-Didonne, Meschers, Trompeloup, Pauillac, Blaye, Bassens, Lormont, Bordeaux, wo seid ihr?
Gischt spritzt auf. Es regnet, und es bläst ein starker Wind. Und es ist finster auf offener See.
Ich habe Bordeaux verlassen. Nein, das kann nicht wahr sein. Ein schlechter Traum.
Es klingelt. Noch einmal. Essenszeit. Es klingelt und klingelt. Ich habe keinen Hunger.
Einige Passagiere müssen sich übergeben. Auf dem unruhigen Ozean bewegt sich der Dampfer wie ein riesiger Tümmler vorwärts, bebt, schaukelt und schlingert, aber er zwingt den tosenden Wellen seinen Willen auf.
Die Anstrengung lässt sein Herz in hastigen Stößen schlagen. Doch er setzt seine Fahrt unbeirrt fort. Ringsum ist nur noch der unerschöpfliche Meeresatem zu hören.
Im Heck, gegen die Ruderkammer gelehnt, kämpft eine Frau schluchzend gegen die Seekrankheit an, sie hat Schluckauf.
Madame Demours … Was hat sie da zu suchen? Nun ja, jeder ist wohl für sich selbst verantwortlich. Sie ist alt genug, um allein zurechtzukommen. Was mich betrifft, vergrabe ich mein nasses Gesicht in den Händen und stehe weinend im seewindgepeitschten Schatten, denn ich werde ab heute zwei lange Jahre niemanden mehr haben, mit dem ich meine Hoffnungen und Qualen, meine Schmerzen und Freuden teilen kann.
Ich komme zu mir. Wo bin ich? Ach ja. Ich fröstele, schaue mich suchend nach Madame Demours um. Sie ist fort. Wie spät mag es sein? Wie lange habe ich geweint?
Niemand ist zu sehen auf dem rutschigen Deck. Niemand in den Gängen. Ein großer schwarzer Schlaf hat sich über unsere schwimmende Stadt gelegt.
Mit schweren Schritten erreiche ich die schmale Kabine, in der meine drei Mitreisenden liegen. Sie schnarchen.
Ich lausche ihnen eine Weile, dann schlüpfe ich leise unter meine Decke. Arme Teufel! Ihre Sorgen, sofern sie welche haben, schlummern so seelenruhig wie sie selbst. Der Schlaf erlaubt ihnen zu vergessen, was mich jetzt umso stärker quält.
Mein Frankreich. Deine Wälder, deine Hügel, alles, was dich so schön sein lässt: Adieu. Und auch Sie, heimlich geliebtes Geschöpf, leben Sie wohl. Sie … Erst jetzt begreife ich unser Schweigen, weiß das kurze Aufblitzen mancher Ihrer Blicke zu deuten.
Aber wie kann ich Ihnen dieses Schweigen vorwerfen, ich, der in Ihrer Gegenwart aus Furcht und aus Stolz immer geschwiegen hat?
War es falsch, dass ich mein Herz gequält habe? Sicherlich hätten Sie das gesagt, hätte ich Ihnen gestanden, was ich Ihnen verschwieg. Bitte, tadeln Sie mich nicht wegen meiner Scheu. Sie wissen nicht – Sie können es nicht wissen –, dass mir meine Hautfarbe den Ausdruck normalster Gefühle verbietet.
Das war mir bis vor Kurzem selbst nicht klar. Dazu musste ich erst in die Kolonien gehen. Dort habe ich diesbezüglich mehr gelernt, als mir lieb war.
Inzwischen weiß ich, weder Bildung noch Klugheit kommen gegen Rassenvorurteile an. Ich weiß, dass die meisten meiner Vorgesetzten in mir immer nur einen Neger sehen wollten, nichts als einen »dreckigen Neger«, den man auf Abstand halten, brechen, erniedrigen muss; einen »dreckigen Neger«, des kleinsten Aufstiegs unwürdig und trotz seiner Manieren, oder vielleicht gerade deswegen, auch jeglicher Achtung.
Was bleibt einem also übrig, als sich gegen die Welt, die einen ablehnt, abzuschotten und sie wieder und wieder ergründen zu wollen? Eben das habe ich bis zum heutigen Tag getan. Und so wird es wohl weitergehen, bis der Tod mich von diesem erstickenden Komplex befreit.
Vor allem, erzählen Sie mir nichts von Frankreich, den Franzosen und ihrem Geist der Brüderlichkeit. Brüderlichkeit ist nur ein Wort. Es mag in Frankreich, für die Franzosen in Frankreich, einen Wert haben, doch für die Franzosen in den Kolonien ist es völlig ohne Belang. Und es wird eine Worthülse bleiben, solange sich der Europäer darüber empört, dass ein Neger über die Grenzen seiner Rasse hinaus lieben und heiraten darf.
Deshalb, meine Geliebte, haben Sie mich immer distanziert und melancholisch erlebt. Darum habe ich es nie gewagt, Ihnen meine Gefühle zu offenbaren, trotz unseres beredten Schweigens, der Berührung unserer Hände und Ihrer Blicke.
Dabei würde ich heute Abend so gern … Aber der Gedanke verfängt nicht.
Es ist spät, ich bin müde. Ich sollte besser schlafen. Ich schließe die Augen und versuche, mit wiegendem Kopf in den Rhythmus des Schiffes zu finden, das in der Nacht die Ebenen des Meeres durchfurcht.
Es regnet gegen die Bullaugen. Ich träume. Ach, das schöne Schiff. Ich schwimme ihm mühelos hinterher. Es taucht in die Wellen ein, schüttelt sich, taucht aus den Schaumkronen wieder auf. Ich bewege mich mit ihm auf und ab, auf und …
Es regnet. Ich werde sanft geschaukelt, ganz sanft. Ich fühle mich mit einem Mal leicht, nicht greifbar, körperlos. Ich spüre, wie ich Gesichtern, einem Bild zulächle: Monna, Madame Demours, Andrée. Dann versinke ich in einem schwindelerregenden, schwarzen Abgrund. Und dann nichts mehr: Schlaf.
Der Verlag Elster & Salis dankt allen Rechteinhabern für die Abdruckgenehmigung. Wenn in einigen Fällen die Inhaber der Rechte nicht feststellbar oder erreichbar waren und es besteht ein berechtigter Anspruch auf Vergütung, bitten wir um eine Nachricht an info@elstersalis.com.
Paul Claudel, Deux poèmes d’été. Gallimard, Paris, 1914 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Henrik Ibsen, Ein Volksfeind. Aus dem Norwegischen von Wilhelm Lange, Reclam, Berlin, 1883
André Lafon, Poèmes provinciaux. Éditions du Beffroi, Roubaix, 1908 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Pierre Loti, Les désenchantées. CalmannLévy, Paris, 1906 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Jean Racine, Vorwort zu Bérénice, in: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard, Paris, 1999 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Jean Racine, Phèdre, in: Œuvres complètes. Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard, Paris, 1999 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Jacques Rivière, Rimbaud. Simon Kra, Paris, 1931 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Stendhal, De l’amour. Gallimard, Paris, 1980 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
André Suarès, Sur la Vie. Emile-Paul, Paris, 1925 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Vincent Voiture, Œuvres. Charpentier, Paris, 1885 (Übersetzung von Claudia Marquardt)
Walt Whitmans Werk. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Hans Reisiger, S. Fischer Verlag, Berlin, 1922
Mohamed Mbougar Sarr zitiert in seinem Nachwort auf S. 199 und S. 200 aus: Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Turia + Kant, Wien, 2016 (S. 69, S. 58 und S. 55)
Bei ihrer Übersetzung hat Claudia Marquardt sich in einigen Passagen von Eva Moldenhauer inspirieren lassen, die kurze Auszüge aus René Marans Roman für die deutsche Ausgabe von Frantz Fanons Essayband Schwarze Haut, weiße Masken übersetzte.
Der Verlag bedankt sich herzlich bei Pascal Collin, der freundlicherweise die dem Umschlagmotiv zugrunde liegende Postkarte zur Verfügung stellte, sowie bei Roland Mornet für seine Unterstützung bei der Motivsuche.
Titel der Originalausgabe
Un homme pareil aux autres © Les éditions du typhon, 2021
René Maran
Ein Mensch wie jeder andere Roman Aus dem Französischen von Claudia Marquardt Mit einem Nachwort von Mohamed Mbougar Sarr
Für die deutsche Ausgabe © 2023, Elster & Salis AG Löwenstraße 2, CH-8001 Zürich, Schweiz www.elstersalis.com
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Lektorat Sabine Wolf
Korrektorat
Gertrud Germann
Satz
Peter Löffelholz
Gestaltungskonzept
Clemens Theobert Schedler, Büro für konkrete Gestaltung
Schriften
Questa Sans, entworfen von Jos Buivenga und Martin Majoor
Novel, entworfen von Christoph Dunst
Druck und Bindung
CPI books GmbH
Eine Geschichte der Liebe und der existenziellen Verletzungen durch Rassismus während der Kolonialzeit.
Jean Veneuse geht im Bordeaux der 1920er Jahre an Bord eines Passagierdampfers nach Afrika, wo ihn eine Stelle als Kolonialbeamter im Tschad erwartet. Der junge Mann reist schweren Herzens, verfolgt von der Erinnerung an die Frau, die ihn liebt und vor der er doch flieht: Denn Andrée Marielle ist weiß und er Schwarz. Unentwegt auf seine Hautfarbe zurückgeworfen und von den Verheerungen des Rassismus zerfressen, läuft Jean Gefahr, alles zu verlieren: seine Karriere, sein Leben und seine Liebe.
In seinem persönlichsten Roman geht der französische Schriftsteller René Maran von einem blinden Fleck im Denken aus: dem des internalisierten Rassismus, bei dem der erlittene Hass in Selbsthass umschlägt. Die Geschichte umspannt zwei Kontinente, verbindet Abenteuererzählung mit Introspektion, erkundet die Verwüstungen des Kolonialismus ebenso wie die Blindheit des Herzens und löst Schockwellen aus, die Wege zur Emanzipation öffnen.
Ein literarischer Meilenstein in deutscher Erstübersetzung und »das beste Buch René Marans« (François Busnel), der in seinen Romanen die Kolonialpolitik der Europäer demaskierte und als erster Schwarzer Schriftsteller mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde.
»Ein großer Text der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, mit all seinen Ambiguitäten.«