Menschenrechte. Weiterschreiben

Page 1



SVENJA HERRMANN, ULRIKE ULRICH (HRSG.)

MENSCHENRECHTE WEITERSCHREIBEN 30 literarische Texte zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte


| WIR DANKEN FÜR DIE GROSSZÜGIGE UNTERSTÜTZUNG | AARGAUER KURATORIUM, GEORGES UND JENNY BLOCH-STIFTUNG, KANTON GRAUBÜNDEN, KANTON ZÜRICH, OERTLE STIFTUNG, PRO HELVETIA, SGMEKO (SCHWEIZERISCHE GESELLSCHAFT FÜR DIE EUROPÄISCHE MENSCHENRECHTSKONVENTION), STADT BERN, STADT ZÜRICH

DER SALIS VERLAG WIRD VOM BUNDESAMT FÜR KULTUR MIT EINEM STRUKTURBEITRAG FÜR DIE JAHRE 2016–2020 UNTERSTÜTZT.

SVENJA HERRMANN, ULRIKE ULRICH (HRSG.) | MENSCHENRECHTE. WEITERSCHREIBEN | 30 LITERARISCHE TEXTE ZUR ALLGEMEINEN ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE SALIS VERLAG AG, ZÜRICH INFO@SALISVERLAG.COM WWW.SALISVERLAG.COM REDAKTION VERLAG, LEKTORAT | JULIA STIEGLMEIER | REDAKTION AMNESTY INTERNATIONAL | MANUELA REIMANN GRAF | KORREKTORAT | SARA SCHINDLER, PATRICK SCHÄR | SATZ | PETER LÖFFELHOLZ, NACH EINER IDEE VON DANIELA TRUNK | UMSCHLAGGESTALTUNG | ANDRÉ GSTETTENHOFER | REALISATION GESAMTPROJEKT | WWW.TORAT.CH | FOTO UMSCHLAG | ULRIKE ULRICH | GESAMTHERSTELLUNG | CPI BOOKS GMBH, LECK | 1. AUFLAGE 2018 © 2018, SALIS VERLAG AG ALLE RECHTE VORBEHALTEN ISBN | 978-3-906195-76-6 | PRINTED IN GERMANY


| INHALTSVERZEICHNIS |

| VORWORT |

MENSCHENRECHTE. WEITERSCHREIBEN 11

| PRÄAMBEL |

DER ALLGEMEINEN ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE

24

TEXT | GIANNA MOLINARI TITEL | DAS KIND

30

TEXT | FRANCESCO MICIELI TITEL | DAS LEBEN SPIELEN, SENZA DISCRIMINAZIONE

38

TEXT | VANNI BIANCONI TITEL | SONETT

44

TEXT | MAX LOBE TITEL | EINE BABYFLÄSCHCHENGESCHICHTE

58

TEXT | EVA SECK TITEL | ON BODY AND SOUL

70

| ARTIKEL 1 |

| ARTIKEL 2 |

| ARTIKEL 3 |

| ARTIKEL 4 |

| ARTIKEL 5 |

Amnesty International #1 MANON SCHICK FRAUENRECHTE IN DER SCHWEIZ: FORTSCHRITTE IM SCHNECKENTEMPO

76


| ARTIKEL 6 |

| ARTIKEL 7 |

| ARTIKEL 8 |

| ARTIKEL 9 |

| ARTIKEL 10 |

TEXT | SACHA BATTHYANY TITEL | BRIEF AN EINEN UNBEKANNTEN

80

TEXT | SYLVAIN THÉVOZ TITEL | HUMAN RIGHTS, I CARE!

88

TEXT | ALBERTO NESSI TITEL | STACHELDRAHT

100

TEXT | JULIA WEBER TITEL | DER VERSUCH

112

TEXT | DANIEL DE ROULET TITEL | JUSTIZ MENSCHENRECHTE

120

Amnesty International #2 CAROLE SCHEIDEGGER RASSISMUS UND DISKRIMINIERUNG: WIR SIND ALLE GLEICH – ODER?

| ARTIKEL 11 |

| ARTIKEL 12 |

| ARTIKEL 13 |

134

TEXT | GÖRI KLAINGUTI TITEL | RAETIA CANTAT

138

TEXT | FABIO PUSTERLA TITEL | RUND UM ARTIKEL 12

150

TEXT | HENRIETTE VÁSÁRHELYI TITEL | NANG NANG Übergangsobjekte & Übergangsphänomene

160


| ARTIKEL 14 |

| ARTIKEL 15 |

TEXT | BENJAMIN VON WYL TITEL | IHR VERSTÄNDNIS VON MENSCHENRECHTEN IST ABSOLUT KOMPROMISSLOS

168

TEXT | PETRA IVANOV TITEL | MARIA MÖCHTE EINEN PASS

178

Amnesty International #3 BEAT GERBER ASYL UND MIGRATION: ZWISCHEN SCHUTZ UND ABSCHOTTUNG

| ARTIKEL 16 |

| ARTIKEL 17 |

| ARTIKEL 18 |

| ARTIKEL 19 |

| ARTIKEL 20 |

184

TEXT | NOËLLE REVAZ TITEL | LALLA

188

TEXT | LEA GOTTHEIL TITEL | ICH WEISS VON EINEM MANN

200

TEXT | AMINA ABDULKADIR TITEL | ES

208

TEXT | ODILE CORNUZ TITEL | RAUM VON ECHOS

214

TEXT | MONIQUE SCHWITTER TITEL | NUR ER NICHT

230


Amnesty International #4 PATRICK WALDER SICHERHEIT UND MENSCHENRECHTE: GEFÄHRLICHE TERRORBEKÄMPFUNG

| ARTIKEL 21 |

238

TEXT | LEO TUOR TITEL | DIESES VOLK

242

TEXT | LAURA ACCERBONI TITEL | UND ES FÄNGT WIEDER VON VORNE AN

254

TEXT | CATALIN DORIAN FLORESCU TITEL | HEAD OFF

270

TEXT | RUTH SCHWEIKERT TITEL | JMHDRAEUFUIAEVBDAURBU

278

TEXT | YUSUF YEŞILÖZ TITEL | LAMIA

286

Amnesty International #5 DANIÈLE GOSTELI HAUSER UND ALEXANDRA KARLE WIRTSCHAFT UND MENSCHENRECHTE: MEHR ALS EINE FRAGE DER VERANTWORTUNG

294

| ARTIKEL 22 |

| ARTIKEL 23 |

| ARTIKEL 24 |

| ARTIKEL 25 |


| ARTIKEL 26 |

| ARTIKEL 27 |

| ARTIKEL 28 |

| ARTIKEL 29 |

| ARTIKEL 30 |

TEXT | DANIEL MEZGER TITEL | FÜNF ZUSÄTZE IN LEKTIONEN. BLOSS FÜNF, GEHT JA NOCH. WIRD ABER MORGEN ABGEFRAGT!

298

TEXT | ISABELLE CAPRON TITEL | DIE DIGITALEN GÖTTER SIND HUNGRIG

306

TEXT | URS FAES TITEL | UNTERWEGS MIT NONN

318

TEXT | HEIKE FIEDLER TITEL | EIN DIALOG – ANTWORT DES ARTIKELS 29

326

TEXT | WERNER ROHNER TITEL | EXTRATERRITORIAL

340

| KURZBIOGRAFIEN | AUTORINNEN, AUTOREN, ÜBER SETZERINNEN, ÜBERSETZER, HERAUSGEBERINNEN

349

ENDNOTEN

365


Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich

| MENSCHENRECHTE. WEITERSCHREIBEN |

Wie das Buch aussehen würde, wussten wir schon sehr früh. Dass es 30 literarische Texte vereinen soll, zu jedem Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einen. Dass es 30 Autorinnen und Autoren vereinen soll, aus allen Sprachregionen der Schweiz. Dass es außerdem noch Berichte zur aktuellen Lage der Menschenrechte in der Schweiz beinhalten soll. All das wussten wir, als wir den Salis Verlag zum zweiten Mal für ein gemeinsames Buchprojekt zu den Menschenrechten begeistern konnten. Bloß einen Titel hatten wir noch nicht. Den haben wir gefunden, als wir uns erneut vor Augen geführt haben, warum wir ein solches Buch herausgeben. Denn wir tun ja nichts anderes, als Autorinnen und Autoren anzustiften, zu den Menschenrechten zu schreiben. Den Text der Erklärung, der feststeht, der unveränderlich ist, literarisch zu erweitern. Und wir tun es wieder. Wir wollen wissen, wie die Menschenrechte jetzt und von anderen Autorinnen und Autoren gelesen werden. Wie wird dieser meistübersetzte Text, der die Grundlage für zahlreiche verbindliche Abkommen darstellt, heute und in der Schweiz interpretiert und was wird ihm zugeschrieben? Wie und wo ist er lesbar in unserem Leben, Alltag, in unserer Literatur? 30 Autorinnen und Autoren haben sich der Herausforderung gestellt, einen Text zu schreiben zu einem Menschenrechtsartikel, der ihnen zugelost wurde. Sie haben sich mit ihrem Artikel vertraut gemacht, sich mit Begriffen auseinandergesetzt, sie manchmal auch auseinandergenommen. Sie haben Geschichten gefunden, einen Bezug zum eigenen Leben auch. In 30 unterschiedlichen, kritischen und ergreifenden, subtilen und provokativen, poetischen 11


und essayistischen Texten haben sie auf beeindruckende Weise auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte reagiert. Sie haben dafür gesorgt, dass die Menschenrechte nicht abstrakt bleiben. In einer Zeit, in der sie auch an solchen Orten unter Beschuss stehen, an denen ihre Verbindlichkeit bereits für selbstverständlich gehalten wurde. Der literarisch präzisen Arbeit der Übersetzerinnen und Übersetzer ist zu verdanken, dass diese in einem deutschsprachigen Zürcher Verlag erscheinende Anthologie nicht nur Texte aus allen Sprachregionen der Schweiz zusammenbringt, sondern sie auch in deutscher Übersetzung zugänglich macht. Die meisten Texte nehmen – wie wir es angeregt, aber nicht vorausgesetzt haben – Bezug auf die Schweiz. Diese Schweiz hat 2017 vom UNO-Menschenrechtsrat 251 Empfehlungen zur Verbesserung der Menschenrechtslage erhalten. 251 sind viel für ein kleines Land wie die Schweiz, das sich als vorbildliche Demokratie versteht. Und leider ist die Schweiz auch ein Land, das immer wieder Volksinitiativen hervorbringt, die Angriffe auf das Völkerrecht bedeuten (z. B. aktuell die »Selbstbestimmungsinitiative« der SVP, deren Annahme zur Relativierung der Europäischen Menschenrechtskonvention führen würde, bis hin zur möglichen Kündigung). Es gibt also zu tun. Viel zu tun. Fünf so informative wie engagierte Texte von Amnesty International Schweiz zu verschiedenen Menschenrechtsthematiken (Frauenrechte, Diskriminierung, Asyl, Sicherheit, Wirtschaft) zeigen auf, was bereits erreicht wurde, aber auch wie komplex die Anforderungen der Menschenrechte an die Schweiz sind und wie wichtig ihr Schutz ist.

| MENSCHENRECHTE. WEITERSCHREIBEN |


Die Anthologie Menschenrechte. Weiterschreiben soll weiter anstiften, über die Menschenrechte nachzudenken und sie vielleicht auch aus neuen Blickwinkeln zu sehen. Wir glauben, dass es wichtig ist, den Text der Menschenrechtserklärung auf verschiedene Weise präsent zu halten. Wir sind davon überzeugt, dass Literatur einen Beitrag dazu leisten kann, die Bedeutung der Menschenrechte für die Gesellschaft und ihre Kraft für jede und jeden Einzelnen zu verteidigen.

13


DIE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE (RESOLUTION 217 A [III] VOM 10.12.1948) BESTEHT AUS 30 ARTIKELN, BESCHLOSSEN VON DEN VEREINTEN NATIONEN.


ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE PRÄAMBEL


| PRÄAMBEL |

Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt, da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen, da es notwendig ist, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zwischen den Nationen zu fördern, da die Völker der Vereinten Nationen in der Charta ihren Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an die Würde und den Wert der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und Frau erneut bekräftigt und beschlossen haben, den sozialen Fortschritt und bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu fördern, da die Mitgliedstaaten sich verpflichtet haben, in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen auf die allgemeine Achtung und Einhaltung der Menschenrechte und Grundfreiheiten hinzuwirken, da ein gemeinsames Verständnis dieser Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, 27


verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten selbst wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete zu gewährleisten.

| PRÄAMBEL |


ARTIKEL 1 ALLE MENSCHEN SIND FREI UND GLEICH AN WÜRDE UND RECHTEN GEBOREN. SIE SIND MIT VERNUNFT UND GEWISSEN BEGABT UND SOLLEN EINANDER IM GEIST DER BRÜDERLICHKEIT BEGEGNEN.


GIANNA MOLINARI DAS KIND


| GIANNA MOLINARI |


| DAS KIND |

Sie möchte nicht mehr alles sehen. Sie hat genug gesehen. Aber sie riecht noch gut. Riecht das Haus, die Möbel. Sie riecht den Regen, der bald kommen wird. Spürt den Wind in ihrem alten Gesicht. Die grauen feinen Haare trägt sie offen. Die alte Frau steht am Fenster. Sie sieht das Kind spielen. Das Kind ist barfuß und der Boden ist jetzt vom Regen nass. Es springt in eine Pfütze. Sie winkt. Das Kind winkt nicht. Da ist alles, was das Haus braucht, damit es ein Haus ist, sagt die Schwester. Da sind Wände, Fenster, Türen. Da ist ein Dach. Das Dach ist gut, sagt die Schwester. Das Kind schweigt. Das Kind schaut in die Blätterkrone des Baumes und sieht das Lichtspiel darin. Das Kind wurde nicht gefragt, ob es hier sein möchte. Das Kind mag Aprikosen aus der Dose und das Innere vom Brot. Die Schwester sagt, dass die Sterne von überall zu sehen seien. Das Kind hat Angst, in den Nachthimmel zu schauen. Die alte Frau hat ein Kaninchengehege im Garten. Das Kind steht vor dem Zaun und steckt ein Löwenzahnblatt durch die Masche. Das Kind sagt etwas in einer Sprache, die nur der Schwester und ihm gehört. Das Kaninchen hört nicht hin. Das Kind geht zurück ins Haus. Im Haus ist es still.

33


Da ist alles, was das Zimmer braucht, damit es ein Zimmer ist. Da sind vier Wände, eine Tür, ein Fenster. Da ist ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank, ein Spiegel, zwei Betten mit Kissen und Decken. Das Kind liegt unter der Decke und hat die Augen offen. Das Kind hat Angst. Es stand in der Nacht in einem dunklen Wald und dann trieb es auf einem Boot im offenen Meer. Das Kind wünscht sich das Meer weg. Die Schwester fragt die alte Frau, ob sie das Kaninchen streicheln darf. Die alte Frau lächelt. Die Hand der Schwester krault das Fell. Das Kind steht daneben und schweigt. Die alte Frau schenkt dem Kind ein Bilderbuch. Das Bilderbuch erzählt die Geschichte eines Blattes. Das Blatt wird vom Wind getragen, fällt auf einen Gartentisch oder bleibt auf einer Wiese liegen. Aber nur für kurze Zeit. Dann kommt erneut der Wind und trägt das Blatt an einen anderen Ort. Das Glück kommt zu allen, sagt die alte Frau. Das Kind sammelt Blätter. Es legt die Blätter unter sein Bett, in den Schrank, unter die Bettdecke. Das Zimmer, das alles hat, was das Zimmer zu einem Zimmer macht, ist ein Blätterwerk. Das Glück fehlt. Wir lernen eine neue Sprache, sagt die Schwester. Das Kind schweigt. | GIANNA MOLINARI |


Wenn wir die neue Sprache sprechen, dann wird alles leichter. Die Schwester ist oft beim Kaninchengehege. Das Kind ist oft in seinem Blätterwerk. Bei der alten Frau zu Hause läuft immer das Radio. Mein grausames Fenster zur Welt, sagt sie. Sie möchte nicht hinhören und hört doch hin. Sie hört noch gut. Die alte Frau kocht für die Schwester und das Kind Spaghetti mit Tomatensauce. Eine Stimme aus dem Radio sagt den Namen einer Stadt. Die Schwester lässt das Glas fallen. Das Glas zerbricht und im Spaghettiteller liegen jetzt Scherben. Und das Wasser tropft vom Tisch. Die alte Frau kämmt ihr graues feines Haar. Sie denkt an die Schwester, das Kind und an den Namen der Stadt. Das Gewissen ist ein Gefäß mit Löchern, sagt sie. Die Würde ist ein Gewand, dem ein Knopf fehlt. Die Schwester bleibt oft lange weg. Warte nicht auf mich, sagt die Schwester und zieht die Tür hinter sich zu. Das Kind wartet unter der Decke. Das Kind wünscht sich die Schwester her. Wenn neue Briefe im Briefkasten liegen, dann nimmt die Schwester das Kind an der Hand und geht zur alten Frau. Die Frau öffnet die Briefe mit einem goldenen Brieföffner, nimmt dann ihre Lupe. Ihr rechtes Auge wird ein Riesenauge. Die Schwester lacht. 35


Mit der Lupe fährt die alte Frau jede Zeile nach. Bis an das Blattende. Die alte Frau telefoniert dann oft, und während sie am Telefon ist, nickt sie der Schwester und dem Kind zu. Das Kind ist groß geworden. Das Kind spricht die neue Sprache gut. So gut, dass niemand merkt, dass es eine Sprache hatte, die nur ihm und seiner Schwester gehörte. Wenn wir die neue Sprache sprechen, dann wird alles leichter. Sie möchte nicht mehr alles sehen. Sie hat genug gesehen. Aber sie riecht noch gut. Riecht das Haus, die Möbel. Sie riecht den Regen, der bald kommen wird. Spürt den Wind in ihrem alten Gesicht. Die alte Frau ist noch älter geworden. Die grauen feinen Haare trägt sie offen. Die alte Frau steht am Fenster. Das Kaninchengehege ist leer. An einem Morgen im letzten Frühjahr stand das Türchen offen, war das Kaninchen weg. Die alte Frau hört den Regen auf den Asphalt der Straße prasseln. Und sie sieht ein Blatt, das vom Baum fällt und in der Pfütze liegen bleibt.

| GIANNA MOLINARI |


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.