Georg Inderbitzin. Mein Leben mit Barry. Die Geschichte eines heldenhaften Bernhardiners

Page 1

Georg Inderbitzin

Mein Leben mit

BARRY Die Geschichte eines heldenhaften Bernhardiners

KOSTENLOSE LESEPROBE


6. Kapitel Nach diesem Vorfall ließen mich Célestin und Vittorio eine Zeit lang in Ruhe. Sie waren zu weit gegangen. Trotzdem zog ich mich noch mehr von meinen Mitbrüdern zurück und begab mich dafür sooft es ging zu den Hunden. Bei ihnen fühlte ich mich deutlich geborgener, und auch mit Julien verstand ich mich gut. Auch er war ein einfacher Mann der Berge, und so hatten wir vieles gemein. Er gab mir Hinweise, wie das Wetter zu deuten war. Auf jedem Berg, in jedem Tal sind die Anzeichen für einen Wetterumschwung anders. Außerdem lehrte er mich den Umgang mit den Hunden. »Komm mit!«, forderte er mich eines Tages auf und brachte mich in die Ecke, in der Stella, das große Weibchen, lag. »Fällt dir etwas auf?«, fragte er. Ich betrachtete sie, rief sie zu mir. Sie stand träge auf. »Sie hat zugenommen«, bemerkte ich. »Sie ist trächtig«, antwortete Julien. »Schau hier, ihren Bauch und ihre Zitzen. Sie wird bald Junge bekommen.« Ich tätschelte Stella den Schädel. »Das ist wunderbar. Du wirst Junge haben.« Julien schüttelte den Kopf. »Eigentlich dürfte das nicht sein. Wir sperren die 73


Weibchen ein, wenn sie im Spätsommer oder Herbst läufig sind. Oder wir bringen sie zu Bauern ins Tal. Im Winter sind die Bedingungen hier oben zu garstig für trächtige Weibchen und Welpen. Ich kann mir nicht erklären, wie das geschehen konnte.« Er blickte zu Romulus hinüber, dem größten Rüden. »Ich habe ihn im Verdacht. Er ist schlau und weiß, seinen Willen durchzusetzen. Die Natur hat ihren Lauf genommen.« »Was geschieht nun mit ihr?«, fragte ich besorgt. »Es ist unmöglich, sie jetzt noch ins Tal hinunterzubringen. Die Jungen werden hier zur Welt kommen, aber es ist fraglich, ob sie oder die Mutter überleben werden. Das letzte Mal, dass sich so etwas ereignet hat, waren alle tot, ehe der Frühling kam.« Ich schaute ihn erschrocken an. Julien zuckte mit den Schultern. »Es ist ein hartes Leben hier oben. Nur die Stärksten überleben.« Dabei sah er mich nachdenklich an, als hege er Zweifel, ob ich zu diesen gehörte. Von diesem Tag an schaute ich jeden Abend nach Stella und versuchte, ihr sooft wie möglich etwas aus der Küche zu bringen, damit sie genug Kraft haben würde. Auch ich brauchte viel Kraft, meine ersten Wintermonate auf dem Pass waren schwierig. Die Kälte, die auf dieser Höhe herrschte, auch bei Tage, war unmenschlich. Selbst für einen Bergbauernbuben wie mich war es zuweilen fast unerträglich. Vor allem während der Messen und wenn wir lernten, also herumsaßen, ohne uns groß zu bewegen. Immer wieder kam es vor, dass 74


wir tagelang eingeschneit waren, sodass nicht einmal mehr die Hundepatrouillen nach draußen konnten. Nach ein paar Wochen konnte sich Stella kaum mehr bewegen, und eines Morgens, im Februar 1800, brachte sie acht kleine Hunde zur Welt. Julien kam nach der Terz mit der frohen Botschaft zu mir und ich folgte ihm eilends in den Stall. Nie werde ich den Anblick vergessen, der sich mir bot: diese kleinen, blinden Wesen, die sich um die erschöpfte Stella drängten. Julien warnte mich, zu nahe hinzugehen, da sie ihren Nachwuchs verteidigen würde, was sie unnötig Kraft kosten würde, die sie zum Überleben brauchte. Aus gebührender Distanz betrachtete ich sie und ihre Welpen. Es gelang mir nur schwer, mich loszureißen und zum Studium zurückzukehren. Doch von diesem Tag an wurde mir das Dasein in der rauen, kalten Umgebung leichter. In den ersten Tagen besuchte ich die jungen Hunde, sooft ich nur konnte. So oft, dass ich kaum mehr zum Schlafen kam. Sogar Bruder Pietro bemerkte, dass mir die Augen zufielen, kaum dass ich mich einmal hinsetzte. Die Geburt der Welpen versetzte das gesamte Hospiz in Aufregung. Alle Patres und Novizen kamen in den Stall, um sie sich anzuschauen. Diese kleinen Wesen entlockten selbst dem strengen und kühlen Novizenmeister Danilo ein Lächeln. Bruder Célestin, der sich normalerweise überhaupt nicht um die Hunde scherte, war ganz vernarrt in die Kleinen. Am liebsten hätte er einen für sich gehabt. Dabei waren diese Hunde doch kein Spiel75


zeug, sondern sollten eines Tages wichtige Dienste leisten. Bruder Célestin dachte eben stets zuerst an sich. Stella ließ fast niemanden an sich und ihren Wurf heran. Julien achtete streng darauf, dass sie sich nicht zu sehr aufregte und dass die Besuche nicht überhandnahmen. Ich konnte mich Stella und ihren Jungen schon nach zwei Tagen nähern, sie ließ mich ihre Welpen anfassen und in den Arm nehmen. Sie kannte mich und vertraute mir offenbar. Mir fiel auf, dass eines der Hündchen immer ein wenig abseits lag, sogar beim Säugen. »Was ist mit dem Kleinen?«, fragte ich Julien. Er seufzte. »Es ist überzählig. Stella hat nur sieben Zitzen. Die stärksten Jungen suchen sich die besten aus. Vor allem in diesem rauen Umfeld kann das über Leben und Tod entscheiden. Wer keine Zitze findet, lebt nicht lange.« Entsetzt schaute ich auf das kleine Häuflein Elend. »Aber können sie sich denn nicht abwechseln, sollten wir nicht einen der Stärkeren zurückhalten, damit der Kleine trinken kann?« »Nein, damit würden wir beider Überleben gefährden. Wir dürfen in den Verlauf der Natur nicht eingreifen. Es ist Gottes Wille, welche seiner Geschöpfe leben und welche sterben. Wir wissen nicht, ob überhaupt einer der kleinen Hunde überleben wird. Wenn wir eingreifen, richten wir vielleicht mehr Schaden an, als dass wir helfen. Wie so oft, wenn der Mensch etwas Gutes tun will, kann es schlimme Folgen haben.« 76


Ich wollte etwas einwenden, aber ich wusste, dass ich damit nichts erreichen würde. Wahrscheinlich hatte er ja recht. Ich versuchte, es zu verstehen und anzunehmen, aber der Anblick des kleinen Hundes, der dem Tod geweiht war, brach mir das Herz. Als ich in dieser Nacht in meinem Bett lag, musste ich immerzu an das kleine Wesen denken, das vielleicht schon sein Leben aushauchte. Sein Schicksal erinnerte mich an meine eigene Geschichte. Auch von mir hatte man geglaubt, dass ich zu schwach für dieses Leben sei. Aber ich hatte überlebt, trotzte jetzt, mit zwölf Jahren, dem Winter und arbeitete mehr als mancher Erwachsene. Obwohl ich völlig erschöpft war, fand ich keinen Schlaf. Schließlich stand ich auf und verließ vorsichtig meine Zelle. Leise schlich ich zu den Hunden hinüber. Da sie mich so gut kannten, blieben sie still, als ich hereinkam. Mit einer Kerze in der Hand ging ich zu dem Platz, an dem Stella und ihre Jungen schliefen. Der Kleine lag an ihrem Bein, während die anderen sich wohlig an ihren Bauch schmiegten. Stella hatte ein Auge offen und sah mich an. Ich hob das winzige Wesen auf und steckte es in meinen Habit. Stella bewegte sanft den Kopf, so als wollte sie mir ihren Segen geben. Als wollte sie sagen: Ich kann ihn nicht retten, tu du es, wenn es in deiner Macht steht. Sie ließ es zu, dass ich mich mit ihrem Jungen entfernte. Mit dem Hund, der warm an meinem Bauch lag, schlich ich mich in die Küche hinüber. Zu meinem Leidwesen war Bruder Pietro am Küchen77


tisch eingeschlafen, vor sich ein Glas Wein. Als ich die Tür zur Milchkammer öffnete, schreckte er hoch. »Giorgio, was tust du hier, mitten in der Nacht? Du willst doch nicht etwa naschen?« »Nein, ich brauche Milch.« »Milch?« Ich zeigte ihm den kleinen Hund. Bruder Pietro fuhr hoch. »Madonna mia, wo hast du den Hund her, raus aus meiner Küche mit euch!«, schimpfte er. »Er ist ganz schwach und wird sterben, wenn wir ihn nicht aufpäppeln. Ich bin sicher, dass er durchkommen wird. Du musst mir helfen.« »Du bist wahnsinnig, die Hunde gehören in den Stall! Was soll denn aus ihm werden?« »Das sehen wir, wenn er die nächsten Tage überlebt hat.« Bruder Pietro verwarf die Hände und stieß eine Reihe deftiger Flüche aus, die einem Droschkenkutscher die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten. »Schau ihn dir an, wir müssen ihm helfen! Wenn er nicht überlebt, haben wir ein wenig Milch vergeudet, das ist doch nicht so schlimm.« Ich hielt das kleine, blinde, flauschige Ding in meiner Hand und streckte es Bruder Pietro entgegen. Er hielt inne mit Fluchen, sah sich die Kreatur näher an und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »O Dio mio, ist der süß. O Dio, du wirst uns in Schwierigkeiten bringen. Aber nun gut, komm.« 78


Er holte aus der Kammer Ziegenmilch, machte sie warm und füllte sie in eine ovale, bauchige Glasflasche mit einem winzigen Ausguss. Sie war eigentlich für Kleinkinder gedacht. Es kam immer wieder vor, dass eine Mutter mit einem kleinen Kind über den Pass kam, auf der Flucht vor der Schande oder auf dem Weg zum Vater, wie sie manchmal erzählten, oft auch nicht, und wie es Tradition war, wurde nicht gefragt. Das Hündchen trank gierig, aber Bruder Pietro nahm ihm das Fläschchen bald weg, worauf es ein leises Wimmern ausstieß. »Du darfst ihm nicht zu viel auf einmal geben. Lass ihn alle paar Stunden ein wenig trinken, sonst kann es ihm mehr schaden als nützen. Halt die Milch an deinem Körper warm und komm morgen frische holen.« Ich bedankte mich, versteckte die Flasche und das Hündchen unter meinem Novizenhabit und schlich mich zurück in meine Zelle. Ich nahm das kleine Tier in mein Lager. Weil ich Angst hatte, es zu erdrücken, wachte ich oft auf. Ich flößte ihm jedes Mal etwas Milch ein. Morgens um fünf bettete ich das kleine Wesen warm ein und eilte zur Frühmesse. Als ich, nachdem ich kurz in der Zelle nachgeschaut und dem Hündchen etwas zu trinken gegeben hatte, in den Stall ging, hatte Julien natürlich das Fehlen des Welpen bemerkt. »Siehst du«, sagte er, »das schwächste der Jungen ist schon fort. Wahrscheinlich hat es einer der großen Rüden getötet oder es ist nachts gestorben und Stella hat es gefressen.« 79


»Gefressen? Ihr eigenes Junges?«, fragte ich, entsetzt von der Vorstellung, dass dies tatsächlich hätte geschehen können. Wahrscheinlich hatte ich die Hunde, allen voran Stella, schon dermaßen ins Herz geschlossen, dass ich ihnen so eine Grausamkeit nicht zutraute. Vor allem, da ich wusste, dass sie nichts dergleichen getan hatte. »Ihr glaubt wirklich, dass die Tiere so grausam sind?« »Das hat mit Grausamkeit nichts zu tun. Es ist einfach der Lauf der Natur. Es kann vorkommen, dass die Mutter, wenn das Junge im Sterben liegt, es mit einem Biss erlöst und es dann verschlingt. Ihr Instinkt gebietet ihr, das eigene Überleben und das des stärkeren Nachwuchses zu sichern. Manchmal sind es auch die Rüden, die Welpen, die nicht die ihren sind, auffressen. Doch bei einer Mutter wie Stella könnten sie nur eines erwischen, das sie selbst aufgegeben hat.« Schon wollte ich widersprechen, als ich bemerkte, wie Stella mich anschaute. Mir kam es vor, als sagte sie mir mit ihrem Blick, ich solle doch endlich still sein und unser kleines Geheimnis bewahren. Ich beugte mich zu ihr herunter und streichelte ihren großen Kopf. Sie beschnupperte mich eindringlich und leckte dann meine Hand. Julien schaute kopfschüttelnd zu. »Du kannst es wirklich gut mit den Hunden. Außer mir lässt sie niemanden an sich heran. Du würdest fürwahr einen guten Marronnier abgeben.« »Dazu wird es wohl nicht kommen, doch wenn ich erst 80


einmal Chorherr bin, werde ich mich dafür einsetzen, dass es den Hunden immer gut geht.« »Große Worte«, sagte Julien. »Zuerst musst du mal dein erstes Jahr bestehen.« Er pfiff Romulus und Remus, die großen Rüden, zu sich. »Ich breche zum Kontrollgang auf.« »Ich habe noch viel zu lernen und muss heute drinnen bleiben«, erwiderte ich. Ich machte, dass ich zurück in die Zelle kam. Das Hündchen lag in dem kleinen Nest, das ich ihm auf meinem Lager eingerichtet hatte, die Augen noch immer geschlossen. Ich gab ihm wieder das Fläschchen. Während es trank, öffnete es plötzlich die Augen. Nie werde ich diesen ersten Blick aus den winzigen schwarzen Augen vergessen. In diesem Moment wusste ich, dass es meine Aufgabe war, mich um diesen Hund zu kümmern. Was immer kommen würde, ich würde auf ihn aufpassen, das war meine Mission, denn dieser Hund war etwas Besonderes. Das spürte ich. So wie es die Vorsehung war, die mich auf den Großen Sankt Bernhard geführt hatte, so hatte mich die Vorsehung auserkoren, dieses kleine Wesen zu retten, da es Großes vollbringen würde. »Ich werde dich hier verstecken, bis du stark genug bist. Du musst ganz still sein, damit man dich nicht entdeckt«, flüsterte ich ihm zu. Der Hund schaute mich an. Ich hoffte, dass er mich verstand. Ich setzte ihn zu meinen Füßen auf den Steinboden, auf dem er ungeschickt herumtapste und auf der 81


glatten Fläche immer wieder ausglitt. Es war schwierig, nicht zu lachen. »Du brauchst einen Namen«, sagte ich und hob ihn wieder hoch. Mir fiel die Geschichte ein, die Pater Arnold erzählt hatte. Die Geschichte von dem tapferen Hund, der sein bester Freund gewesen war. »Bäri sollst du heißen«, sagte ich leise. »So hieß ein Vorfahre von dir. Wie er sollst auch du ein großer, tapferer Hund werden.« Das Hündchen fiepte. Offenbar war es einverstanden mit diesem Namen. Bäri schlief weiterhin in meinem Bett und ich musste meine Zelle immer öfter im Geheimen reinigen. Hin und wieder trug ich ihn unter dem Habit in die Küche. Bruder Pietro war unterdessen auch schon völlig vernarrt in Bäri und fütterte ihn mit schmackhaften Speiseresten. So wurde Bäri jeden Tag stärker. Bald rannte er in meiner Zelle oder der Küche auf und ab, bald begann er, das Holz meines Hockers anzunagen. Und dann entdeckte er seine Stimme.

82


Die Tagebücher von Georg Inderbitzin, dem Mönch im Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard, der Anfang des 19. Jahrhunderts den legendären Barry aufgezogen und mit ihm gelebt hat.

Im Jahr 1800 entdeckt der Novize Georg Inderbitzin im Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard einen verstoßenen Bernhardinerwelpen und rettet ihm das Leben. Unter widrigen Umständen wachsen Hund und Novize heran und werden unzertrennliche Freunde, der Bernhardiner wird zum Lebensretter verschütteter Berggänger. Der Mythos des Barry ging um die Welt und gehört zu den Schweizer Legenden wie Heidi oder Wilhelm Tell. Doch Barry hat es wirklich gegeben, er hat von 1800 bis 1814 gelebt und über 40 Menschen das Leben gerettet. In »Mein Leben mit Barry« lesen wir die ganze Lebensgeschichte des legendären Bernhardinerhundes und diejenige des Mönchs Georg Inderbitzin, die untrennbar mit Barry zusammenhängt. Und ob wahr oder nicht, Barrys Leben wird hier spannend und rührend erzählt. »Mein Leben mit Barry«: Die einzigartige Geschichte über den heldenhaften Bernhardinerhund.

Gebunden ISBN 978-3-906195-09-4 E-Book ISBN 978-3-906195-10-0

www.salisverlag.com


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.