Shelley Kästner. Jewish Roulette - Vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen

Page 1


Inhaltsverzeichnis

12

Vorwort Shelley Kästner

15

Vorwort Prof. Dr. Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker

17

Es gibt keine anderen Die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die ihr preisgekröntes Buch Vielleicht Esther über Kriegsopfer des Zweiten Weltkriegs auf Deutsch schrieb, weil das die Sprache der Täter ist

23

Zwischen Stühlen Lea Rosh, Vorsitzende des Förderkreises »Denkmal für die ermordeten Juden Europas«, die sich fragt, ob es wirklich nötig ist, dass beide Elternteile in Auschwitz umgekommen sind, damit die Leute es einem verzeihen, wenn man sich für die ermordeten Juden engagiert

33

Die Grande Dame des israelischen Theaters


40

Der frustrierende Konflikt Michal, eine säkulare Jüdin, die gefangen ist im frustrierenden Konflikt zwischen Juden und Palästinensern

50

Zurück zur Familientradition Bettina, die als Tochter eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter zum Judentum übergetreten ist

58

Hans-Ruedi ist jetzt Schlomoh Ein Journalist, der von einer extrem linken Lebens­ einstellung zu einer extrem jüdisch­orthodoxen Position wechselte und gemeinsam mit seiner deutschen Frau und Tochter zum Judentum übergetreten ist

67

Eine ganz normale Bauernfamilie Eine Familie, die seit Jahrhunderten in der Schweiz ansässig ist und nach jüdisch­orthodoxen Regeln lebt

73

Man sollte alles hinterfragen und nicht Mitläufer sein Schilderungen von Eduard Kornfeld, der seit dem Erleiden des Holocausts Probleme mit der Religion hat


86

Mein Vater ist ein Holocaustüberlebender Rahel, die den Überlebenskampf ihres Vaters als Hypothek mit sich herumträgt

93

Ich habe meinen Sohn nicht beschneiden lassen Eine Deutsche, die als »Dreivierteljüdin« von den Nazis verfolgt wurde, während ihre vierteljüdische Cousine mit einem Nazi­Bonzen verheiratet war und unbehelligt blieb

102

Generation X Betrachtungen eines Vierzehnjährigen, der in einer religions­ losen Familie aufgewachsen ist und doch als Jude gilt

106

Mein Leben ist mit einer grossen Verwirrung gepflastert Mischa, der seine Kindheit, die aus Bruchstücken zusammengesetzt ist, endlich aufarbeiten will

113

Sag niemandem, dass du jüdisch bist Eine Schweizerin, die während ihrer Kindheit als Tochter einer Jüdin und eines Katholiken einer subtilen Form von Antisemitismus ausgesetzt war


119

Auch du? Eine Frau, die erst im Alter von 54 Jahren erfuhr, dass sich ihr Großvater, ein berühmter amerikanisch­ presbyterianischer Priester, eine falsche Identität zugelegt hatte, um zu verschleiern, dass er jüdischer Herkunft war

129

Kannst du jüdisch sein, wenn du dich in dieser Religion nicht auskennst? Peter, der als Mitglied der Church of Scotland aufwuchs und erst mit 26 per Zufall erfuhr, dass seine beiden Eltern Juden waren

135

Linker Antisemitismus macht mich krank Ein abtrünniger Orthodoxer, der im Alter wieder näher ans Judentum gerückt ist

142

Man kann auch ein guter Jude sein, wenn man die religiösen Gebote nicht so streng einhält Ein 24­jähriger Ex­Chasside, der jetzt in einer Bar und als Jiddisch­Coach arbeitet


150

Der atheistische Orthodoxe Ein orthodoxer Jude, der den Glauben an Gott verloren hat und seither den Spagat machen muss zwischen der säkularen und der orthodoxen Welt

158

Sein oder Nichtsein Shelley Kästner, die sich fragt, wie ihr Leben ohne jüdischen Hintergrund oder mit einem ungebrochenen Verhältnis zum Judentum verlaufen wäre

165

Für mich ist die Wahrheit entscheidend Thomas Kästner, dem seine Mutter unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, dass sein Vater, die deutsche Dichterikone Erich Kästner, Halbjude sei

170

Wir sind alle gemischt Joëlle Apter, die eine Genanalysefirma betreibt, selbst einem jüdischen Elternhaus entstammt und mit ihrer Familie ein Judentum ohne Gott zelebriert

174 175

Dank Zur Autorin


Vorwort

Was würde Ihnen als Erstes einfallen, würden Sie gefragt, wie sich Juden von Nichtjuden unterscheiden? »Juden essen kein Schweinefleisch« – »Das sind Männer mit Bärten, Schläfenlocken und großen Hüten« – »Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat«? Wissen Sie, ob Sie jüdisch sind oder nicht? Sind Sie da ganz sicher? Und was wäre wenn? Auf einer Gedenktafel, die zu Ehren des 2005 verstorbenen Pariser Erzbischofs Jean-Marie Lustiger in der Kathedrale NotreDame platziert wurde, findet sich folgender Text: Je suis né juif. J’ai reçu le nom de mon grand­père paternel, Aron. Devenu chrétien par la foi et le baptême, je suis demeuré juif comme le demeuraient les Apôtres. J‘ai pour saints patrons Aron le Grand Prêtre, saint Jean l’Apôtre, sainte Marie pleine de grâce. Nommé 139e archevêque de Paris par Sa Sainteté le pape Jean­Paul II, j’ai été intronisé dans cette cathédrale le 27 février 1981, puis j’y ai exercé tout mon ministère. Passants, priez pour moi. Aron Jean­Marie cardinal Lustiger 1 Archevêque de Paris 12


Lustiger bezeichnet sich gleichermaßen als Jude wie als Christ. Und hebt damit die mit unglaublich viel Bedeutung aufgeladene und scheinbar undurchdringliche Grenze zwischen Juden und Christen auf. Eine Grenze, die jahrhundertelang als fadenscheinige Begründung herhalten musste für Ausgrenzung, Diffamierung, Enteignung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen. Jewish Roulette zeigt die vielseitigen Facetten der ererbten, angenommenen oder verloren gegangenen Zugehörigkeit zum Judentum und spannt den Bogen vom jüdischen Erzbischof bis zum atheistischen Orthodoxen. Es werden Lebensgeschichten beleuchtet, die unterschiedlicher nicht sein könnten und deren Erzählerinnen und Erzähler alle dem Judentum zugerechnet werden. Dabei zeigt sich: So etwas wie »die jüdische Identität« gibt es nicht. Die Gesprächspartnerinnen und -partner stammen aus der Schweiz, aus Deutschland, Frankreich, Tschechien, der Ukraine, Slowenien, Schottland, England, Israel und den USA. Viele haben eine jüdische Mutter, manche auch einen jüdischen Vater. Einige 1 Von Geburt an bin ich jüdisch. Ich trage denselben Namen wie mein Großvater väterlicherseits, Aron. Obschon ich durch Glauben und Taufe Christ geworden bin, blieb ich doch gleichzeitig jüdisch, wie vor mir schon die Apostel. Meine heiligen Patrone sind der Hohepriester Aron, der heilige Apostel Johannes und die heilige Maria voll der Gnade. Von Papst Johannes Paul II. wurde ich zum 139. Erzbischof von Paris ernannt und am 27. Februar 1981 in dieser Kathedrale inthronisiert. Mein gesamtes Priesteramt habe ich hier verrichtet. Wer hier vorbeigeht, möge für mich beten. Aron Jean-Marie Kardinal Lustiger, Erzbischof von Paris.

13


haben erst im Laufe ihres Lebens erfahren, dass sie jüdischer Herkunft sind. Andere wiederum sind vom Christentum zum Judentum übergetreten oder haben der jüdischen Religion entsagt und leben vollkommen assimiliert an die vom Christentum geprägte Kultur. Viele pflegen gleichzeitig die jüdischen und die christlichen Feiertage, und dies sehr häufig ohne an Gott zu glauben. Ein Orthodoxer outet sich als Atheist und beschreibt, wie er es schafft, in zwei extrem verschiedenen Welten zu leben. Einige meiner Gesprächspartnerinnen und -partner haben nur einen jüdischen Elternteil und stehen zwischen den Stühlen. Andere wurden von ihren Familien dazu angehalten, ihre jüdischen Wurzeln totzuschweigen, um sich im Falle eines wieder aufammenden Antisemitismus nicht in Gefahr zu bringen. Einige von ihnen tragen berühmte Namen, wie zum Beispiel die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja, die bekannte Journalistin Lea Rosh, die das Denkmal für die ermordeten Juden Europas mitinitiiert hat, die 2015 verstorbene Grande Dame des israelischen Theaters Orna Porat oder Thomas Kästner, der Sohn von Erich Kästner. Anhand der Gespräche lässt sich nachvollziehen, warum der Wechsel von einer Kultur zur anderen manchmal Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern kann und welche geschichtlichen Ereignisse eine Assimilation befördert oder dazu geführt haben, dass das Judentum gestärkt wurde. Um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Viele Juden haben eine jüdische Mutter, einige essen Schweinefleisch, die wenigsten tragen Bart, Schläfenlocken und große Hüte.

14


Vorwort Prof. Dr. Peter Schneider, Psychoanalytiker und Satiriker Ich bin ein schlechter Gewährsmann für eine affirmative Sicht auf Identität. Ich bekomme keine leuchtenden Augen, wenn es um Identität geht. Im Gegenteil: Das Wort verursacht bei mir Engegefühle. Für mich ist Identität nicht der wahre Kern, der übrig bleibt, wenn man alles Kontingente abzieht, das einem im Leben widerfahren ist; sie ist vielmehr selbst etwas Kontingentes: der Effekt vielfältiger Identifizierungen und Gegenidentifizierungen, das Produkt zahlreicher Erfahrungen, die ihrerseits schrecklich kontingent gewesen sind. Zunächst einmal der Identifizierungen mit Mutter und Vater – und zwar aus der Position einer umfassenden Ohnmacht gegenüber einer umfassend erscheinenden Macht. Diese Identifizierungen sind notwendig im doppelten Sinne: Sie fügen einerseits das Subjekt in eine vorgegebene Ordnung ein, die es selbst nicht gemacht hat; sie sind andererseits aber auch aus der Not geboren. Aus der Not der Identifizierungen soll man keine Tugend machen – zum Beispiel die Tugend einer Identität. Ich bin auch kein Freund der derzeit grassierenden Anthropo-Botanik mit ihrem Gerede von den »Wurzeln«. Bin ich eine Birke? Wenn, dann höchstens die aus Hildegard Knefs Lied »Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke«. Und wenn in deutschen Festtagsreden das neu erblühte »jüdische Leben« gepriesen wird, dann berührt mich das seltsam. In meinen Ohren 15


klingt das wie ein Lob, dass das Plansoll zur Wiederansiedlung des Luchses und der Juden erfüllt wurde und beide nun wieder von der roten Liste gestrichen werden können. In Gestalt unserer »jüdisch-christlichen Kultur« ist »das Jüdische« in unserer Gesellschaft Teil einer Pathosformel geworden, die im Moment vor allem dazu dient, eine Abwehrfront gegen die »islamische Überfremdung« aufzubauen. Darüber hinaus ist es 2 3 Klezmer - und Schtetl -Kitsch geworden. Eine furchtbar homogenisierte Pampe. A lot of my best friends are Jews. Eine Menge meiner LieblingsNervensägen aber auch. Dazu sind zwei Drittel meiner dreiköpfigen Familie Juden. An der Tür unserer Berliner Ferienwohnung 4 hängt eine Mesusa . Eine Idee meines Sohnes, um meine Frau mit dem pied-à-terre in der Reichshauptstadt auszusöhnen. Für mich fungiert sie als eine Art Knoblauchkranz gegen den verbliebenen Stasi-Mief in unserem wunderbaren Plattenbau. Sagen wir so: In einem Kuddelmuddel von Bedeutungen ist das Jüdische ziemlich präsent, aber weder als religiöses noch als nationales oder ethnisches Bekenntnis, sondern auf diese unbestimmbare Art, die 5 wahrscheinlich viele säkulare Juden und ihre gojischen Familienangehörigen pflegen. Es ist nicht präsent in dem Sinne, dass uns der Nahostkonflikt besonders am Herzen liegt. Und wir haben auch keine Idee, wie man ihn noch in diesem Jahr beilegen könnte.

2 3 4 5

Volksmusik aus dem aschkenasischen Judentum. Siedlung mit vielen jüdischen Bewohnern. Schriftkapsel, die am Türpfosten angebracht wird. Nichtjüdisch. Ein Goi (Plural Gojim) ist ein Nichtjude.

16


ISBN 978-3-906195-78-0 (Gebunden) ISBN 973-906195-79-7 (E-Book) Jetzt bei Ihrem Buchhändler oder über www.salisverlag.com


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.