Alex Senn. Geheimratsecken.

Page 1

KOSTENLOSE LESEPROBE


Kapitel 1

Der Anfang Jede Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Manchmal tritt ein Ende unmittelbar nach dem Anfang ein. Auf die Eröffnung folgt der Schlussakt. Auf Sonne Regen. Auf Ebbe Flut. Auf den Beginn folgt das Finale. Auf den ersten Schritt der letzte. Auf Hallo Tschüss. Ach, was weiû ich schon. * Ich bin 1983 geboren. Im August. Am 28. Ungefähr um 11:32 Uhr. Im Kreiskrankenhaus im fränkischen Würzburg, das zwar tatsächlich eine Burg hat, doch die Würze stets vermissen lieû. Wahrscheinlich waren bei meiner Geburt eine Hebamme anwesend, womöglich ein Arzt und mit ziemlicher Sicherheit meine Mutter. Mein Vater war natürlich auch vor Ort, in Begleitung seiner für heutige Verhältnisse überdimensionalen Panasonic PK 805. Während meiner kompletten Kindheit lieû er keine Gelegenheit aus, sein Kameraobjektiv zielgenau auf meine damals noch kindlich-süûe Visage zu richten. Meine Geburt war gleichgesetzt mit dem Startschuss des Dokumentationswahnsinns meines Vaters. Eine Leidenschaft, die mir beim letzten Weihnachtsfest zum Verhängnis wurde. Aber dazu später mehr. Meine Tante Lissbet glänzte bei meiner Geburt durch Abwesenheit. Keiner war sich jemals sicher, wo sich die gute Dame gerade aufhielt. Im Kreiûsaal jedenfalls nicht. Wahrscheinlich weilte sie auf einer ihrer zahlreichen Berufsreisen, auf welchen sie ihren Stammkundinnen ± die sie gut und gerne kurzerhand nach Afrika 7


einfliegen lieûen, da ihnen ihre Frisur wichtiger war als die frei laufenden Elefanten auf Safariexkursionen ± neue flotte Haarschnitte verpasste. Lissbet ist nämlich hauptberuflich eine Vollblut-Friseurin. Neudeutsch: Hair-Stylist oder Haar-Designerin. Lissbet war über Jahre hinweg mein gröûter Fan. Seit Tag eins hatten wir den richtigen Draht zueinander. Sie war nicht gerade Mutterersatz für mich, da meine Mutter ja früher noch liebenswürdig war, jedoch hatte sie immer ein offenes Ohr für all meine Anliegen. Mit Lissbet konnte ich ungezwungen über Frauengeschichten, mangelhafte schulische Leistungen oder erste Erfahrungen mit Alkohol reden. Die mütterlichen Tabuthemen. Lissbet hatte immer einen Ratschlag parat. Leider gab es neulich eine Episode, die eine kleine Knitterfalte in meine Beziehung zu Lissbet zauberte. Dieser kurze, aber schmerzvolle Besuch in ihrem Salon sollte einen prägenden Einfluss auf meine unmittelbare Zukunft haben. Ich erinnere mich an diese haarsträubende Situation genauso präzise wie an mein erstes Tor beim Fuûball, wo ich ungeschickt geschickt wie ein verlassener Pudel im Strafraum stand und von der Seite angeschossen wurde. Donnerstagnachmittag. Mitte August. Kurz nach den Abschlussexamen an der Uni. Einige Kommilitonen und ich waren auf die Idee gekommen, während der Prüfungsperiode die gleichen Rituale durchzuziehen wie Eishockeyspieler in der Play-off-Phase, wenn sie sich bis zum Ausscheiden oder bestenfalls bis zum Gewinn des Stanley Cups einen Bart stehen lassen. Nur mit der kleinen Addition, auch die Haare wachsen zu lassen. Ich entschloss mich, Lissbet einen Besuch abzustatten, schlussendlich mussten die Haare auf dem Kopf gestutzt und der kratzende Bart entfernt werden. 8


Ich setzte mich in die U-Bahn und fuhr zu Lissbets Salon in Schwabing. Sie begrüûte mich wie gewohnt mit einer herzhaften Umarmung und lachte sich bei meinem zugegebenermaûen verwilderten äuûerlichen Erscheinungsbild ihre vier Buchstaben ab. Ich konnte mir ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen. »Na, wie war die letzte Zeit an der Uni? Erzähl mir von den Leuten, die du kennengelernt hast. Irgendwelche feschen Mädels dabei?« Tante Lissbet hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. »Na ja«, antwortete ich etwas verlegen, während sie mir den Kabinettumhang anlegte, »es gab da schon die eine oder andere, die ich ganz interessant fand.« »Interessant? Du redest ja wie eine Frau, Jonas. Der Sprachgebrauch der allgemeinen Männlichkeit darf ruhig etwas, na, wie soll ich sagen, schamloser sein. Ich bin es, Lissbet. Wir können über alles reden. Schon vergessen?« »Nee, klar, na ja, also die Maite finde ich schon ganz süû«, antwortete ich genervt. »Süû? Du meinst sexy, attraktiv, betttauglich?« »Womöglich, Potenzial ist vorhanden!« »Ja und, ist was gelaufen?« »Mit ihr? Nein, aber es gab schon den einen oder anderen Austausch von Zärtlichkeit. Aber nichts Tiefgründiges! Die Trennung von meiner Ex ist ja noch nicht so lange her«, gab ich offen zu und ging davon aus, dass dieses Thema damit beendet war. War es nicht. »Austausch von Zärtlichkeit? Jonas! Du meinst, ihr habt wild rumgeknutscht, seid euch an die Wäsche gegangen und habt rumgefummelt?« »Lissbet, bitte, ins Detail müssen wir jetzt nicht unbedingt gehen. Lass uns mal zum Schneiden kommen.« 9


Nachdem mein Bart gestutzt war, wusch mir Susi, Lissbets Auszubildende, die Haare. Verdammt, wie die mit ihren Fingern umgehen konnte. Paradiesisch. Tatsächlich bin ich sogar dabei eingeschlafen und habe kurz von einer zauberhaften Natalie Portman im Bikini unter Palmen geträumt. Nur sie und ich. Ein wahnsinniges Gefühl. Bruchteile später wurde ich unsanft und erbarmungslos aus meinem Traum gerissen, nicht ahnend, was mir bevorstehen würde. »Jonas, schau dir mal den Abfluss im Waschbecken an!«, forderte Susi mich auf. »Wie bitte?« Ich drehte mich langsam um. Susi schaute etwas verdutzt. Unsicher streckte sie mir eine Handvoll Haare entgegen. »Ich bin eigentlich immer davon ausgegangen, dass Hygiene das oberste Gebot bei euch ist ¼«, warf ich ein. »Ist es auch«, entgegnete Susi irritiert. »Warum meinst du denn? Hast du jemals einen Kopfpilz, Juckreiz oder Sonstiges aus unserem Salon mitgeschleppt?« »Nee, natürlich nicht. Mich wundert's halt, warum das ganze Waschbecken voller Haare ist. Solltet ihr das nicht nach jedem Kunden reinigen?« Lissbet kam dazu. »Jonas, seit wann legst du denn so groûen Wert auf Hygiene in unserem Laden? Susi hat das Waschbecken, fünf Minuten bevor du hier hereingelatscht bist, sauber gemacht. Die Haare gehören deiner Wenigkeit!« »Meine? Das ist unmöglich! Schau dir mal die Menge an, das gleicht ja einer Schafschur.« Um ehrlich zu sein, habe ich noch nie darauf geachtet, wie viele Haare ich beim Waschen verliere. Nachdem auch Lissbet den 10


Haarknäuel näher gemustert hatte, schwante mir nichts Gutes. Ihrer Mimik zufolge dürften die Haare in der Tat von mir stammen ± und es waren nicht wenige. Offenbar fühlte sich Lissbet in ihrer Haarschneiderehre gekränkt und begann, richtig Fahrt aufzunehmen. Ich traute meinen Ohren kaum. »Das sind definitiv deine, das sehe ich sofort. Die Länge, die Farbe. Versuch mir hier nichts vorzumachen, Jonas. Und schieb erst recht nicht die Schuld auf die Hygiene in meinem Salon. Da reagiere ich sensibel drauf.« »Nee, nee, war ja nur 'ne Frage«, versuchte ich mich aus der Affäre zu ziehen, was mir auch gelang. Lissbet spulte ihr normales Programm ab. Ich schnappte mir so eine hochintellektuelle Klatschzeitschrift und las einen Artikel über Blablabla trifft Kucknicht-blöd auf einer Berliner Filmpremiere. Auf einmal hielt Lissbet inne und schaute verwundert auf meinen Kopf, was ich in der Reflexion des Spiegels erkennen konnte. »Du, Jonas, also wenn ich mich recht erinnere, dann hattest du auch schon mal dichteres Haar!« »Dichteres Haar?« »Haare, die dichter, flächendeckend aneinandergereiht sind.« »Solange mein Lebenslauf lückenlos ist, spielt das ja keine Rolle«, scherzte ich entspannt, noch immer nicht ganz im Klaren über die Ernsthaftigkeit von Lissbets Entdeckungen. »Damit sollte man nicht spaûen. Ich glaube, bei dir haben sich Geheimratsecken gebildet.« »Geheimratswas?« »Geheimratsecken. Das sind in den meisten Fällen die ersten Anzeichen einer Glatzenbildung. Ist doch einiges weniger geworden an den Schläfen.« 11


»Geheimratsschläfen?« »Geheimratsecken, Jonas. Schade eigentlich. Du hattest solch dichtes Haar. Ich hoffe, das verändert nicht deine Gesichtsform. Ob das die Mädels mögen, in deinem Alter? Kommt oft vor bei Männern. Aber eher bei älteren Geistesblitzen. Ach, wie ärgerlich! Sieht wohl so aus, als bekämst du eine Glatze.« George Clooney bricht sich bei Dreharbeiten seine Nase. Til Schweiger kaut an Lilo Wanders Fingernägeln. Mir wurde es blitzartig schlecht. Bis jetzt schenkte ich meiner Haarpracht ungefähr so viel Aufmerksamkeit wie Magermodels triefenden Dönerbuden. Das sollte sich jedoch schnell ändern. Ich soll eine Glatze bekommen? Danke für diese Direktheit, Lissbet, dachte ich beim Verlassen des Salons. Es gibt bestimmt sensiblere und feinfühligere Arten und Weisen, einem jungen Menschen so etwas mitzuteilen. Nicht gleich nach den ersten Anhaltspunkten mit voreiligen Trugschlüssen mit der Türe ins Haus fallen. »Ach, wie schade, so ärgerlich, was die Mädels wohl denken«, äffte ich Lissbet laut nach. Bitte, liebe Lissbet, das nächste Mal eine kleinere Portion Mitten-ins-Gesicht. Anstatt einen verkohlten Braten sofort zum Hauptgang aufzutischen, sollte man den Appetit mit einer leicht verträglichen Vorspeise aus Handschmeichlern und Seelennahrung anregen. Ich renne ja auch nicht zu einer guten Freundin und sage: »Derb, wie groû dein Pickel auf der Nase ist.« Wahrscheinlich hatte ich einfach einen Bad-Hair-Day. Eine einmalige Angelegenheit. Beim nächsten Mal würde alles wieder beim Alten sein. Ablenken. Schwamm drüber, anstatt sich vollzusaugen. Ich entschied mich, den unerwartet aufregenden Tag mit einer kleinen Joggingsession zu Ende zu bringen und vor dem Fernseher einzupennen. 12


ALEX SENN GEHEIMRATSECKEN

Salis Verlag AG, Zürich www.salisverlag.com www.facebook.com/salisverlag www.twitter.com/salisverlag info@salisverlag.com

Lektorat Korrektorat Buchgestaltung, Umschlag Satz Umschlagbilder Gesamtherstellung

1. Auflage 2014 © 2014, Salis Verlag AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-906195-09-4 Printed in Germany

Patrick Schär, Basel Ina Serif, Basel Salis Verlag AG, Zürich Barbara Herrmann, Freiburg vectorstock.com CPI Books GmbH, Leck


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.