Mats Staub. Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens

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Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens

KOSTENLOSE LESEPROBE

KOSTENLOSE LESEPROBE


April 1931: Am Tag meiner Einschulung in einem kleinen Dorf an der polnischen Grenze korrigiere ich den Lehrer vor der Klasse: »Lüg nicht, es gibt doch keinen Osterhasen!« S. 171

Juni 1932: Bei einer Ruderbootpartie mit Vater und Großvater auf einem mit Seerosen bewachsenen Seitenarm der Peene greife ich nach einer Seerose und falle ins Wasser. Unter Wasser beobachte ich, wie sich das Sonnenlicht an der Wasseroberfläche bricht und zwischen die Seerosenstängel fällt. Ich komme mir vor wie in einem Märchenwald und empfinde tiefe Faszination, Wohlbefinden und Vertrautheit. S. 173 April 1933: Da meine Eltern das Schulgeld nicht bezahlen konnten, habe ich mir mit einer schwierigen Prüfung eine Freistelle am Gymnasium erkämpft. Aber dann werde ich von der Schule gewiesen, weil mein Vater Mitglied in der Eisenbahnergewerkschaft ist. Mein Traum, Lehrerin zu werden, ist damit geplatzt. S. 169 August 1934: Nachdem ich drei Jahre lang immer geschrien habe, muss ich plötzlich nicht mehr schreien. Ich bin sehr erleichtert und fühle mich viel wohler. S. 175 Juni 1938: Eine Woche vor meinem vierten Geburtstag stirbt Nonna, meine Großmutter. Ich bin zu klein, um auf die Beerdigung zu gehen. Aber ich darf der Leiche noch einen letzten Kuss geben. S. 178

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Februar 1939: Mein Großvater lädt meine Mutter, meinen Bruder und mich nach Bern in die »Ferien« ein, weil er weiß, dass die Grenzen bald geschlossen werden. Mein Vater bleibt als Journalist in Berlin. S. 184 Juli 1939: Zur Aufgabe meiner Familie gehört es, jeden Mittag um 12 Uhr die Kirchenglocken zu läuten. An einem Sommertag läutet mein Bruder eine Stunde zu früh. Sofort müssen wir allen im Tal verkünden gehen, dass noch Frieden sei und keine allgemeine Mobilmachung. S. 175

August 1939: Aus wunderschönen Sommerferientagen an der Ostsee heraus wird mein Vater zum Wehrdienst einberufen – meine harmonische Kindheit nimmt ein jähes Ende. S. 173 September 1939: Wir sind von Prag nach Teplitz-Schönau umgezogen, weil die Deutschen in böhmischen Randgebieten zusammengefasst werden sollen. Meine Großmutter stürzt ins Bad, wo meine Mutter mich wäscht, und ruft: »Es gibt Krieg, wir müssen Mehl und Zucker kaufen!« S. 181 März 1940: Mein Bruder und ich werden Schlüsselkinder: Meine Mutter muss arbeiten und erhält keine Unterstützung von ihrer Familie, weil sie meinen Vater, einen Flüchtling aus Kiew, geheiratet hatte. Hie und da kommt mein Vater plötzlich zu uns und geht plötzlich wieder weg. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie er über die Grenze kam. S. 184

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Mai 1940: Mein Vater ist als Soldat in Basel stationiert. Wegen der allgemeinen Befürchtung, dass die Deutschen bald einmarschieren, schickt er unserer Familie einen Abschiedsbrief, falls er nicht mehr heimkommt. Auf der Straße vor unserem Haus stehen Basler Autos Schlange, die von der Grenze in die Berge flüchten. S. 175 Juli 1940: Mit dem Beginn der Bombenangriffe auf Deutschland ändert sich mein Schulalltag und wir Schüler werden zur Nachtwache eingesetzt. Um uns die langen Nächte zu verkürzen, benutzen wir den Konferenztisch des Lehrerzimmers zum Pingpongspielen. S. 173 April 1941: Meine Mutter läuft weinend mit einer Wolldecke durch die Wohnung, alle sprechen Tschechisch. Ich bin die Einzige in der Familie, die in Prag nicht mehr Tschechisch gelernt hat, und jetzt benutzen es die Großen immer, wenn ich etwas nicht verstehen soll. Später erfahre ich, dass mein Vater wegen einer Verleumdung von der Gestapo ein Jahr lang inhaftiert wurde. S. 181 Mai 1941: Nach zwei Jahren Lehre bei einer Zeitung ist Schluss mit Plänen für den Beruf. Ich werde zum Arbeits- und Kriegshilfsdienst einberufen. Die Arbeit ist sehr hart für uns Frauen, die Männer sind im Krieg. S. 169

Juni 1942: In der Schule wird alles gesammelt, was sich wiederverwerten lässt: Kaffeesatz, Papier, leere Tuben. Mein Lehrer rühmt mich, weil ich barfuß zur Schule komme – so schone ich meine Schuhe. S. 178

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September 1942: Mein heiß geliebter und verbündeter Bruder verlässt mich und geht in den Kindergarten. Zum Trost hinterlässt er mir ein Picknick unter einem alten Hut. S. 188 November 1942: Weil die Tür des Abteils nicht richtig geschlossen war, falle ich morgens um fünf auf der Fahrt zum Arbeitsdienst in Königsberg aus dem fahrenden Zug. Wie in Trance gehe ich blutüberströmt durch den Schnee die vier Kilometer zurück nach Hause. Erst als meine Schwester mich anspricht, falle ich in Ohnmacht. S. 171

April 1943: Ich wechsle in die Sekundarschule Adelboden. Täglich stehe ich um 5 Uhr auf und gehe zu Fuß, auf Skiern oder mit dem Fahrrad zur Schule. Ich bin der erste Schüler aus der Mitte des Engstligentals, der überhaupt die Sekundarschule besucht. Die Leute im Tal sagen: »Der Schulmeisterbub braucht eine Spezialbehandlung«, sie schauen mich an wie eine Kuh mit langen Hörnern. S. 176 September 1943: Ich werde in Marienwerder (Westpreußen) eingeschult und als Erstes von den Bauernjungen in meiner Klasse verprügelt. S. 186 September 1943: Feldurlaub meines Vaters, sechs Wochen nach meiner Geburt. In ihr Notizbuch schreibt meine Mutter glücklich, dass mein Vater so sorgsam mit mir umgeht und so hilfsbereit ist. Im Oktober, kurz nach seiner Rückkehr, stirbt er auf dem Marsch in die russische Gefangenschaft. S. 192 10


Januar 1944: In der Zeitung sind Bilder von den Bombenangriffen in Berlin, wohin mein Vater versetzt worden ist. Ich habe gerade lesen gelernt und versuche, die Schlagzeilen zu entziffern. S. 181 Februar 1944: Ich erlebe einen englischen Tieffliegerangriff auf unseren Zug auf der Fahrt von Berlin nach Goslar. Ich sehe tote und schwer verletzte Kinder. Ich bete: »Lieber Gott, lass uns leben!« S. 186 Februar 1944: Mein Vater nimmt sich krank und depressiv das Leben. Seine Eltern geben meiner Mutter die Schuld. Einmal kommt der Großvater aus Kiew mit einer Pistole zu meiner Mutter, um sie zu töten. Mein kleiner Schweizer Großvater erklärt dem russischen Hünen ganz ruhig, er solle die Waffe weglegen und nach Hause gehen. Wir Kinder schauen zu. S. 184 März 1944: Drei schwere Fliegerangriffe zerstören Frankfurt und unser Zuhause. Meine Eltern verlieren zum zweiten Mal alles. S. 169 September 1944: Ich beginne die Primarschule. Mein Lehrer kommt mir vor wie der Erzengel Gabriel. Trotzdem verstehe ich die Verbindung zwischen Wort und Bild im ersten Lesebuch nicht und habe beim Kopfrechnen mein erstes Blackout. S. 188

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Mai 1945: Kriegsende. Mit den Amerikanern kommt eine neue Welt. Wir sind frei und glücklich, überlebt zu haben. Die Zeitung gibt es nicht mehr. Ich finde Arbeit bei »Radio Frankfurt«, einem Sender der Militär-Regierung. Dort finde ich auch meinen Mann – er ist genauso jung wie ich. S. 169 Juni 1945: Nach der Flucht mit Mutter und zwei Geschwistern über das zugefrorene Haff kommen wir in Pommern unter. Dort treffen wir in einer Flüchtlingsunterkunft völlig zufällig auf die drei kleinen Kinder meines Bruders, der als Soldat dient und dessen Frau in diesem Lager verstorben ist. Ich erkenne die Kinder nur an den Kleidern, die sie früher von uns bekommen hatten. S. 171 August 1945: Mein Vater, zu Fuß aus Berlin zurückgekehrt, paukt mit mir tschechische Vokabeln und Grammatik. Meine Mutter bringt mir einige tschechische Lieder bei. Die singe ich möglichst laut, wenn sie sich auf der Straße mit Bekannten auf Deutsch unterhält, was verboten ist. Wir müssen unsere Wohnung räumen und ziehen in die Praxis unseres Ohrenarztes, der, wie viele Deutsche, in Panik geraten war und sich umgebracht hat, nachdem die Russen die Ostgrenze überschritten hatten. S. 182

Januar 1946: Anna und Johann wohnen in unserem dreistöckigen Haus. Da meine Eltern nicht viel Zeit für mich haben, kümmern sie sich um mich. Obwohl sie arm sind, geben sie mir sehr viel: Wärme, Zuwendung, Verlässlichkeit. Sie werden meine Großeltern, ich liebe sie sehr. S. 201

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Sven * 1937

Stuttgart Berlin Schildow Goslar Manchester Düsseldorf Haan Freiburg im Breisgau Saarbrücken New York Hannover Tübingen Frankfurt am Main Kronberg Hoffnungsthal Honrath Bergisch Gladbach Paris Dresden

Rechtsanwalt Personalleiter Vertriebsdirektor Leiter Öffentlichkeitsarbeit

September 1943: Ich werde in Marienwerder (Westpreußen) eingeschult und als Erstes von den Bauernjungen in meiner Klasse verprügelt. Februar 1944: Ich erlebe einen englischen Tieffliegerangriff auf unseren Zug auf der Fahrt von Berlin nach Goslar. Ich sehe tote und schwer verletzte Kinder. Ich bete: »Lieber Gott, lass uns leben!« September 1949: Ich besuche die Highschool in Manchester und bin nach einem halben Jahr der Beste in Englisch. Dezember 1961: Ich bestehe in Freiburg im Breisgau das erste juristische Staatsexamen als Bester von 102 Teilnehmern und halte mich für sehr klug.

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Oktober 1963: Ich lerne an der Columbia Law School in New York die große Liebe meines Lebens kennen: eine Malerin, Tochter eines orthodoxen jüdischen Rabbiners. Die Beziehung scheitert, als ich nach Deutschland zurückkehre, weil sie nicht bereit ist, deutschen Boden zu betreten. September 1965: Ich lerne in Hannover meine Frau Dorothea kennen, mit der ich heute noch verheiratet bin und glücklich in Dresden lebe. Februar 1970: Unsere Tochter Anja wird in Frankfurt geboren. November 1972: Wir holen unsere zweite Tochter Inka Maria im Alter von sechs Monaten am Flughafen Köln ab: Ein Findelkind aus Ambato, Ecuador, das wir adoptiert haben. Dezember 1973: Ich hole unseren Adoptivsohn Björn im Alter von einer Woche in München ab und fliege mit ihm nach Köln. Juli 1980: Die Wella AG in Darmstadt, die mir die Stelle als Personalvorstand zugesagt hatte, kündigt mir nach sechs Monaten. Ich stürze in ein tiefes Loch und lerne wieder beten, da ich das als eine göttliche Fügung verstehe. 20.02.2014

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Soraya * 1978

Teheran Sissach Kaiseraugst Pratteln Saas-Fee Wien Chennai Zürich

Babysitterin Nachhilfelehrerin Kellnerin Verkäuferin Sachbearbeiterin Politikerin Ausstellungsmacherin

April 1979: Mit dem Flugzeug fliehen meine Eltern mit mir aus dem Iran in die Schweiz, das Heimatland meiner Mutter. Zwei Wochen später sind die Grenzen dicht. April 1987: Meine neue Mitschülerin hänselt mich die ganze Zeit. Niemand mag mich hier. August 1992: Ich schaffe den Sprung ins Progymnasium. Hier finde ich endlich Freunde. Dezember 1998: Ich verlasse mein Elternhaus zum ersten Mal für mehrere Monate, um Geld für mein Studium zu verdienen. September 2002: Ankunft am Westbahnhof: Ein Jahr in Wien erwartet mich, ich bin aufgeregt und freue mich. Die beste Zeit meines Lebens beginnt. Februar 2004: Ich werde ins kommunale Parlament gewählt. Mein Vater spricht nach Monaten des Schweigens plötzlich wieder mit mir.

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August 2004: Ankunft in Indien. Das Land mit seiner Armut, dem Chaos, der Unordnung, den Menschenmassen, Gerüchen und Farben schwappt wie eine Welle über mich und zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Dezember 2004: Meine erste längere Beziehung zerbricht, nachdem er straffällig geworden ist. Er sitzt im Waaghof. Ich fühle mich wie im falschen Film und habe die Schnauze voll. November 2009: Ich reise nach Indien, um meine zukünftigen Schwiegereltern kennenzulernen. Ich bin wahnsinnig nervös. Hoffentlich mögen sie mich. September 2012: Er will Kinder, ich will keine. Es ist aus. 30.12.2012

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Was ist wichtig? Was war wichtig? Was sind, von heute aus gesehen, wichtigste Ereignisse meines Lebens? Welches Porträt von mir entsteht, wenn ich genau zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens schildern kann? Und welche Ereignisse wählen Jüngere und Ältere, die Frau oder der Mann mit ganz anderem Hintergrund und Lebenslauf? Welche Geschichten und welche Lücken entstehen, wenn jede und jeder genau zehn Ereignisse schildern kann? Mats Staub lädt mit seinem Langzeitprojekt dazu ein, diese Fragen selbst zu beantworten: »Zehn wichtigste Ereignisse meines Lebens« besteht seit 2012 als redaktionell betreute Online-Sammlung, die stetig wächst. In diesem Buch sind nun tausend wichtigste Ereignisse versammelt: Mats Staub hat eine Auswahl von hundert Listen nach Geburtsjahr geordnet, von Charlotte *1922 bis Resa *1994. Und in einer Chronik führt er diese Ereignisse von April 1931 bis März 2014 zu einer so persönlichen wie lückenhaften Weltgeschichte zusammen. »Die einzelnen Einträge sind kurz und bündig, und dieses Lakonische, Direkte wirkt enorm stark. Was da stattfindet, ist das pralle Leben, das manchmal auch aus ganz kleinen poetischen Momenten besteht.« (SRF 2 Kultur, 13.03.2013) Klappenbroschur: ISBN 978-3-906195-19-3 www.salisverlag.com

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