Das Kissen ist von Blut durchtränkt. Meine Haare pappen am Kopf; das T-Shirt klebt an meinen Brüsten. Er trägt eine schwarze Lederhose und ein weißes Hemd. Seine Schuhe sind vom Waldboden beschmutzt. Er kehrt mir den Rücken zu und pisst, mit der linken Schulter an einen Baum gelehnt, ins Gras. Der Strahl macht ein anmaßendes, zischendes Geräusch. Ich sitze in seinem Auto, einem flachen, roten Sportwagen. Die tiefen Lederpolster umschmiegen meinen Körper. In der Mitte des Lenkrads prangt ein sich aufbäumender schwarzer Hengst auf gelbem Grund. Detail um Detail türmt sich auf, doch mein Blick wird von einer Pistole auf der Mittelkonsole geködert. In meiner Hand ist die Waffe schwerer als erwartet. Ich steige aus dem Auto, entsichere die Waffe. Er dreht den Kopf, starrt mich verwundert an. Ich ziele und drücke ab, dreimal, viermal. Blut schießt aus den Löchern in seinem Hemd und nässt mich ein, eine dickflüssige Soße, eklig und klebrig. Er steht noch da, als sei ihm nicht bewusst, dass er soeben erschossen worden ist. Dann kippt er vornüber in die eigene Pisse. Mein Kissen ist durchnässt von dieser Pisse. Oder ist es Blut? Ist es sein Blut? Oder meines?
Manchmal wünsche ich, ich wäre ein Computer und könnte überflüssige Dateien von der Festplatte meines Gehirns tilgen. Weg mit dem Erinnerungsschrott, weg mit dem Datenmüll aus der Vergangenheit. Doch die Erinnerung verschwindet nicht. Sie flackert auf, poppt auf wie lästige Werbung, die sich nicht wegklicken lässt. Sie schleicht sich heimtückisch an und rüttelt mich wach, belästigt mich mit ihren verstörenden Bildern und grellen Videosequenzen. Nein, ich bin nicht in Blut getränkt und auch nicht in Pisse. Das Kissen ist nass von meinem Schweiß. Ist es Richard, den ich erschossen habe? Nein, es ist nicht Richard. Richard schläft neben mir. Er hat die Beine angezogen wie ein Fötus mit gestreiften Boxershorts. Die Maske vor seinem Gesicht verleiht ihm das Aussehen eines Aliens wie im Film. Ein Gummischlauch geht von ihr ab, dessen Ende auf ein kleines Metallkästchen auf dem Nachttisch gepfropft ist. Dieses presst durch den Schlauch und die Maske Luft in Richards Nase. An die leisen Seufzer, die dem Plastikrüssel entweichen, habe ich mich gern gewöhnt; sie sind der Grund dafür, dass mein Mann nicht mehr schnarcht und dass seine Atmung nicht mehr minutenlang stillsteht, um mit einem Knall wieder einzusetzen. Dass er keine nächtlichen Fehden mit seinen Atemwegen mehr austragen muss, sei gut für sein Herz, sagt sein Arzt, denn Schlafapnoe könne Herzinfarkte verursachen, Bluthochdruck und auch Impotenz. Und vielleicht ist sie gut für meinen Schlaf, dachte ich, als Richard vor ein paar Monaten mit der Apparatur nach Hause 10
kam, für die er sich schämt, weil er glaubt, sie raube ihm seine sexuelle Ausstrahlung. Dass ich, als er noch schnarchte, fast jeden Morgen um drei oder vier mit verklebtem Haar und verschwitztem Pyjama aufschreckte, war jedoch nicht dem Gerassel aus Richards Kehle zuzuschreiben. Nein, es ist die verdammte Vergangenheit, die mich mit Albträumen attackiert. Der Mann in Leonardo da Vincis Darstellung des Goldenen Schnitts liegt mit gespreizten Armen und Beinen auf einer Scheibe, die sich langsam dreht. Seine Hände und Füße sind mit Lederriemen befestigt, aber es ist gar kein Mann; es ist eine Frau. Ich bin es. Nackt. Ich kann mich nicht bewegen. Die Scheibe dreht sich langsam. Im Halbdunkel, durch flackernden Fackelschein spärlich erhellt, kann ich bocksfüßige Faune ausmachen, die zu den Klängen einer Panflöte tanzen. Wieso tragen die Faune weiße Arztkittel? Einer bremst die Scheibe. Er tastet mich mit seinen dicken Händen, die in blauen Gummihandschuhen stecken, ab. Dann öffnet er den Arztkittel, klaubt seinen rot geschwollenen Penis hervor und rammt ihn in mich hinein. Ich schreie auf. Richard nestelt an der Maske, nimmt sie ab. Sie hat Druckspuren auf seinen Wangen und der Stirn hinterlassen: »Schatz, ist alles in Ordnung?« »Ja, Richi, ich hatte nur einen blöden Traum.« »Erzähl«, wispert er, schon wieder im Halbschlaf. 11
»Morgen früh«, verspreche ich und weiß, dass er den Vorfall dann vergessen haben wird. Richard hat keine Ahnung, und das soll so bleiben. Er hat keine Ahnung von meiner Vergangenheit. Und er hat keine Ahnung von meinen Albträumen. Nie habe ich von ihnen erzählt, auch nicht vom ärgsten, von jenem, der mich am meisten verstört: Richards Vater Friederich sitzt am Klavier, Sophia, unsere Tochter, auf seinem Schoß; sie ist fast noch ein Baby. Der Großvater zeigt ihr auf den schwarzen und weißen Tasten ein paar Griffe, doch die Tasten liegen viel zu weit auseinander, als dass sie die Akkorde mit ihren Patschhändchen nachmachen könnte. Sophia ist nackt; der Großvater trägt eine Badehose. Plötzlich bemerke ich, dass er heimlich in sie eingedrungen ist. Ich entreiße ihm das Kind, dann schlage ich auf ihn ein; er schützt seinen Kopf mit beiden Armen. Meine Mutter kommt hinzu und beschimpft mich. Ich gehe auch auf sie los, zerre, getrieben von ohnmächtiger Wut, an ihren grauen Haarsträhnen, reiße sie ihr in Büscheln vom Kopf. Nicht Sophia! Nicht auch sie! Mutter schreit. Oder habe ich geschrien? Ich erwache. Richard schläft. *
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Elena saß, die nackten Füße untergeschlagen, auf ihrem zerschlissenen Bürostuhl vor ihrem alten Computer. Sie tippte mit zwei Fingern, wandte sich dann mir zu und fragte mich auf Englisch nach meinem Geburtsdatum. »22. November 1965.« Sie drehte sich um und tippte das Datum ein. »Weißt du zufällig die Geburtsstunde?« Meine Mutter hat mir oft vorgehalten, sie habe volle vierundzwanzig Stunden kämpfen müssen: »Vier-und-zwan-zig Stunden hast du gebraucht, Steißlage, schrecklich; und wie du ausgesehen hast, als du endlich da warst. Der Kopf ganz zerdrückt. Ich dachte, du überlebst das nie, und ich auch nicht. Heute würde man einen Kaiserschnitt machen. Du wolltest und wolltest nicht kommen; von acht Uhr bis am nächsten Morgen kurz vor acht.« Es klang, als mache sie mich für die Geburtswehen verantwortlich und erwarte als Gegenleistung lebenslange Dankbarkeit. Ich selbst habe stets ein gutes Vorzeichen darin gesehen, dass ich genau zur Frühstückszeit auf die Welt gekommen bin. Früher war ich ein Nachtmensch, jetzt bin ich ein Morgenmensch. Ich stehe auf, bevor Richard erwacht. Einst wollte ich so seinen frühmorgendlichen Erregungsphasen ausweichen, aber das hat sich längst gegeben. Ich nehme mir Zeit für Joghurt, Datteln, Spiegeleier und einen Kaffee mit viel Milch und drei Löffeln Zucker. Allein sitze ich am Küchentisch, habe die Terrassentür geöffnet und genieße den prickelnden Luftzug des frühen Tages, schaue hinaus auf die Wiese, auf der manchmal Kühe weiden. Ich winke ihnen zu: »Guten Morgen, ihr Süßen!« Sie glotzen 13
verständnislos. Dann setze ich mich auf den Gartenstuhl unter dem Vordach und rauche eine Zigarette, die einzige des Tages. »Am Morgen, ungefähr um Viertel vor acht«, antwortete ich Elena. »Und wo bist du geboren?« »In der Nähe von Zürich, Switzerland.« Schwitzend saß ich auf einem von Elenas roten, mit brüchigem Kunstleder bezogenen Sofas. Durch das offene Fenster wallte feuchte, nach Abgasen riechende Hitze herein; Lastwagen und alte, dröhnende Amerikanerwagen ließen das Haus erzittern. Mein Körper schien an dem Möbelstück zu kleben; ich fühlte mich elend. »Wie schreibt man das?« »Zuerich«, buchstabierte ich. »Ich finde das nicht«, sagte sie. »Ist Zürich wirklich in Switzerland?« »Es ist die größte Stadt der Schweiz.« »Und wieso ist sie nicht auf meiner Liste?«, fragte Elena. Ich stand auf und stellte mich hinter sie. Aus ihrem dunklen, dichten Haar stieg der Geruch ihres Pfirsichshampoos. »Bist du sicher, dass du ›Switzerland‹ eingegeben hast?«, fragte ich. Sie öffnete das Verzeichnis mit den Ländernamen; wir befanden uns in Swasiland und mussten beide furchtbar lachen. »Wo ist Swasiland? Nie gehört.« »In Afrika«, sagte ich, »zwischen Mosambik und Südafrika, ein Mini-Königreich, wenn ich mich richtig erinnere; wie die Hauptstadt heißt, weiß ich nicht mehr. Doch, warte, sie klingt wie eine exotische Frucht: Mbabane, glaube ich.« 14
In Geografie bin ich stets gut gewesen. »Das ist mir übrigens bei diesen Auswahllisten auch schon passiert, dass ich in Schweden oder Serbien gelandet bin statt in der Schweiz. Abgesehen davon, dass viele Amerikaner Sweden und Switzerland eh miteinander verwechseln.« »Wir Kubaner ebenfalls«, sagte Elena und haute gleichzeitig mit den Zeigefingern auf die Tastatur, »und andere europäische Länder auch, Slowenien und die Slowakei oder Lettland und Litauen.« Auf dem Monitor formte sich eine runde, kompliziert aussehende Schwarz-Weiß-Grafik, die in zwölf Sektoren unterteilt war. Das Ganze gespickt mit roten und grünen Linien und zahlreichen Symbolen. Elena machte mit dem Zeigefinger eine Kreisbewegung vor dem Bildschirm. »Tu carta natal, dein Geburtshoroskop. Du bist noch im Zeichen des Skorpions geboren, aber ganz knapp; genau am Übergang zum Schützen.« Angestrengt starrte sie auf die Darstellung, schwieg lange, und ihr Blick verengte sich. »Das dachte ich mir.« »Was dachtest du dir?« »Es sieht nicht so gut aus; deine Konstellation deutet auf Schwierigkeiten hin. Du hast mit großen Herausforderungen zu kämpfen gehabt, oder vielleicht kämpfst du noch immer.« »Das kann man so sagen«, antwortete ich. Elena stand auf, setzte sich neben mich auf das Sofa und legte ihren Arm um mich. *
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Richard habe ich wegen einer Schulterluxation kennengelernt, an einem nebligen, aber warmen Tag im Spätherbst 1987. Die Nacht zuvor war dramatisch gewesen, denn Mutter war mit brennender Zigarette eingeschlafen. Nur mit einem Schlüpfer bekleidet war sie aus ihrem Zimmer gestürmt, und ich, aufgeschreckt von ihren Schreien, aber noch nicht richtig wach, hatte in der Küche instinktiv nach einem Putzeimer gegriffen und Wasser auf das glimmende und qualmende Loch geschüttet, das in der Matratze klaffte. Dass Mutter sich, wenn sie nicht gerade die Spielautomaten im Casino fütterte, abends in der Küche betrank und danach im Bett rauchte, war typisch für sie. Auf mich hörte sie nicht, wenn ich sie warnte, und dass mich der kalte Zigarettenrauch in unserem Haus störte, kümmerte sie nicht. Jetzt war ihr Bett durchnässt und ihr Zimmer stank nach verschmortem Kunststoff. Sie, die mich sonst von sich fernhielt, wusste nichts Besseres, als sich in mein Bett zu drängen und an mich zu drücken. Ich floh hinüber ins Wohnzimmer, legte mich auf das Sofa und schlief schlecht. Ich war fast zweiundzwanzig Jahre alt und unausgeschlafen, als Richard in mein Leben trat. Er war drei Jahre älter und der im wilden Wasser treibende Baumstamm, an den man sich verzweifelt klammert, wenn man am Ertrinken ist. In jenem Jahr hatte etwas stattgefunden, was die Medien als »Heißen Herbst« etikettierten, zuerst im eigentlichen, dann im symbolischen Sinn: Im September wallten Wüstenwinde durch das Land; die Sonne brannte, und es gab schweißtreibende Temperaturen von mehr als dreißig Grad Celsius. 16
Danach, im Oktober, war es noch immer kopfschmerzträchtig schwül, und in Bern randalierten Jugendliche wegen der alten Reitschule beim Bahnviadukt, die nach einer Besetzung jahrelang verriegelt und verrammelt gewesen war und jetzt erneut besetzt wurde, bevor die Bagger und Abrissbirnen auffahren konnten. Einige meiner Mitstudenten, aufgewachsen zwischen impressionistischen Bildern und protzigen Stilmöbeln in den reichen Vierteln oben am Berg, die Väter Anwälte, Ärzte, Bankiers oder Professoren, die Mütter gelangweilte Frauen, die ihre endlosen Pirouetten in einer Gesellschaft drehten, die sich für besser hielt, reisten in die Bundesstadt, versteckten ihre Gesichter hinter schwarz-weiß gemusterten Palästinensertüchern, schrien im Chor revolutionäre Parolen und warfen Steine gegen Schaufenster. Dann stürmten ein paar von ihnen das Stadttheater am Kornhausplatz und bewarfen das Publikum, das sich nach dem ersten Akt von »Anatevka« ein Gläschen Champagner gönnte, mit Farbbeuteln. Aber das alles bekam ich nur beiläufig mit; es betraf mich nicht und interessierte mich nicht wirklich. Dass ich Richard kennenlernte, war, wie gesagt, Zufall. Normalerweise traf ich Männer in Diskotheken oder in spärlich beleuchteten Bars, wo ich mich auf hochbeinigen Hockern drapierte, mich im diffusen, vom Zigarettenrauch vernebelten Licht ausstellte und wo sie ihre Feuerzeuge für meine Marlboro aufflammen ließen und mir Drinks offerierten, die ich mit einem sorgfältig eingeübten Nicken akzeptierte: Cuba Libre, wenn ich müde, Highball, wenn ich aufgekratzt war, und Bloody Mary 17
gegen Trübsinn. Ich mochte die träge Dickflüssigkeit dieses tomatigen Getränks. Nur im unruhigen Schlummer wurde der Tomatensaft zu Blut, das mir über das Gesicht rann und das Kissen nässte. Im seltsamen Sammelsurium der Analogien, die mein Gehirn ohne Unterlass fabrizierte, war es nur ein kurzer Weg von der Bloody Mary zu einem Roman, der damals auf meinem Nachttisch lag, »Die Ballade von der Typhoid Mary«, die Geschichte einer irischen Einwanderin in Amerika, die Krankheit und Tod über jene Männer brachte, die ihr zu nahe kamen. Ich bewunderte Mary, die sich dieser Männer so souverän entledigte, und ärgerte mich Jahre später über mein schwammiges Gedächtnis, als ich das zerschlissene Buch des mittlerweile im Rhein ertrunkenen Dichters mit dem poetischen Namen Federspiel wieder zur Hand nahm und feststellte, dass Mary, die sanfte Helferin und begabte Köchin, nicht nur ihre Beischläfer in den Tod befördert hatte, sondern auch Frauen und Kinder. Bei Sommerwetter verdrehte ich Männern in der Badeanstalt am See mit dem weltläufigen Namen Lido den Kopf, wenn ich im knappen Bikini auf dem aufgeschütteten Sandstrand auf und ab stolzierte, mit jenem Gang, den ich den Mannequins auf den Laufstegen der Mailänder Modeschauen abgeguckt hatte: den einen Fuß in gerader Linie vor den anderen setzen, die linke Hand auf die Hüfte gestützt, was den Körper in eine wiegende Bewegung versetzt. Ich träumte mich an solchen Strandtagen in die Rolle von Audrey Hepburn hinein, nicht die Hepburn in »Breakfast at Tiffany’s«, sondern die in »Funny Face«, einem modernen Aschenputtel-Märchen, in dem aus einem unscheinbaren 18
Artur Kilian Vogel »Uranus in der Jungfrau« ISBN 978-3-906195-74-2 (Gebunden) ISBN 973-906195-75-9 (E-Book) Jetzt bei Ihrem Buchhändler oder über www.salisverlag.com ***