Melchior Werdenberg. Scheinwelten

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Melchior Werdenberg Scheinwelten

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Der Salis Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Melchior Werdenberg Scheinwelten Verlag

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Elster & Salis AG Löwenstraße 2, CH-8001 Zürich info@elstersalis.com www.elstersalis.com

André Gstettenhofer, Patrick Schär Patrick Schär Peter Löffelholz André Gstettenhofer © Julian Bledowski, »aliensurvive« (Ausschnitt), 2018 www.torat.ch CPI Books GmbH, Leck 1. Auflage 2019 © 2019, Salis Verlag AG Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-906195-91-9 Printed in Germany


Inhalt

Aconit Napel Boilerroom Das Begräbnisprojekt Das Scheitern Der Trainer Die drei Grazien Doorwayjunkie Hans im Glück Gracias por todo Heilige Stunde Heimo Glanz Katzensee Kunstliebe Liebenswürdigkeiten Mittelstation Nuit blanche Rapport einer Ehe Lörrach Rehetobel Toter Fisch Trainspotting Die Schildkröte

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7 25 31 39 43 53 59 63 67 73 77 95 99 103 111 117 121 125 131 133 147 153



Gracias por todo

»Männer ab 30 schlagen öfter zu.« Die Schlagzeile der Gratiszeitung ließ ihn kalt. Noch war er nicht dreißig, und Frauen schlug er nur, wenn es nicht anders ging. Das Zitat des Professors, der seinen Befund damit zu erklären versuchte, dass Männer sich nach dreißig öfter als Versager fühlten, weil sie erkannt hätten, dass sie ihre Erwartungen in diesem Leben nicht würden erfüllen können, las er nur mit halbem Verstand. Ein Erkenntnisgewinn blieb aus. Schien ihm nicht nötig. Er hatte sein Leben im Griff. Am vergangenen Wochenende hatte er seine Traumfrau kennengelernt. Als um fünf Uhr früh die Kellner die letzten Gäste zum Verlassen des Lokals aufforderten, blieb eine zierliche Frau auf ihrem Barstuhl hängen. Beinahe wäre sie hinuntergekippt, aber er hatte sie aufgefangen und halb schleppend, halb tragend zum Ausgang begleitet. Draußen war es kalt. Kein Taxi wartete auf die letzten Nachtvögel. Er legte sie auf den Rücksitz seines Autos, sie war bereits weggetreten. In seiner Einzimmerwohnung legte er sie ins Bett, zog sie vorsichtig aus, ließ sie schlafen und half sich selbst. Mit 67


zittriger Hand strich er der schlafenden Frau, die fast noch ein Mädchen war, über das strähnige Haar. Zwischendurch schrie sie auf, aber sein Streicheln schien sie zu beruhigen. Er fühlte sich stark, er sah sie nicht nur als Beute, er wollte ihr Beschützer sein. In diesem Rest von Nacht fand er keinen Schlaf mehr. Die Kleine, so nannte er sie für sich, schlief unruhig, aber doch fest. Er hatte dieses Gefühl der Zweisamkeit lange vermisst. Jetzt, mit dem nackten Fleisch an seiner Seite, dessen Geruch sich süßlich in seinen Nasenflügeln bemerkbar machte, war er ganz Mann. Sie hatte ihm gefehlt, er hatte sie gefunden, er würde sie nie mehr aufgeben, er brauchte sie. Sie gehörte ihm. Im Betrieb meldete er sich krank. Die Fliesen konnten auch ohne ihn gelegt werden. Er musste sich der Kleinen widmen, die mit einem furchtbaren Kater aufgewacht war. Sie wirkte verstört. Er schien ihr fremd, als hätte sie ihn noch nie wahrgenommen. Die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wie die Kleine heißen könnte, versuchte er zu überspielen. »Honey«, sprach er sie an, der Name war ihm spontan eingefallen, er fand ihn passend, »dein Rudi ist für dich da.« Nach zwei Wochen, während derer sich die Kleine nicht aus dem Haus bewegt hatte, wollte er Nägel mit Köpfen machen. Mittlerweile kannte er ihren Namen. Lisa hieß sie. Sie erinnerte ihn mit ihrer Zahnlücke an die Ex von dem 68


Depp. Die Ähnlichkeit gefiel ihm. Er las wenig, aber er hatte mitbekommen, wie der bekannte Star sich das Sternchen zu Eigen gemacht hatte. Er konnte seiner Lisa kein großes Anwesen in der Provence bieten, aber seine Loge würde ihr Taubenschlag sein. Sie musste sich bei ihm anmelden, das war sein Wunsch, um der Beziehung einen offiziellen Anstrich zu geben. Einen formellen Eheschluss brauchte es nicht. Lisa schien das Nichtstun zu gefallen. Ihre Aushilfsstelle in der Bar, aus der sie Rudi gerettet hatte, hatte sie verloren. Und sowieso, er wollte nicht, dass sie ihren jugendlichen Körper den Blicken lüsterner Männer aussetzte. Lieber behielt er sie bei sich zu Hause, auch wenn seine finanziellen Verhältnisse dadurch nicht entspannter wurden. Der Konsumkredit, den er sich für die Stereoanlage, den Flatscreen und die Couch besorgt hatte, drückte ebenso wie das Leasing für seinen 3er-BMW. Gestern auf dem Nachhauseweg hatte er mit seinem letzten Bargeld gerade noch das Tattoo mit dem Namen und dem Geburtsdatum von Lisa auf seinem Oberarm bezahlen können. Die Wohnung hatten sie ihm bald gekündigt. Die Arbeitsstelle war er auch los. Zu oft hatte er sich am Morgen nicht von Lisa trennen mögen. War es nicht wahr, dass er ihr sein Leben geopfert hatte? Jetzt war die Zeit gekommen, dass sie ihm etwas zurückgeben musste, sonst würden sie nicht nur bald auf der Straße stehen, sondern bereits übers Wochenende hungern müssen. Er wusste nur etwas, was sie 69


wirklich konnte. Sie musste anschaffen gehen, es gab keine Alternative. Für Bargeld, sagte er sich, konnte er seinen Gefühlen auch Vorgaben machen. Die Kleine war nicht begeistert darüber, als Rudi sie auf den Strich schickte. Er versuchte es abwechslungsweise mit Bitten und Drohen. Nach einigen Stunden und ein paar Dosen Prosecco hatte er sie so weit. Nur als absolute Ausnahme mache ich das und dann nie wieder, hatte sie ihm gesagt und war im Badezimmer verschwunden. Es tat ihm weh, als er zusehen musste, wie sie sich schick machte. Die geschwungenen Lippen bemalte sie mit einem kirschroten Stift. Er musste sich zwingen, ihr nicht ins Gesicht zu schlagen. Seine Liebe kehrte sich in Hass, aber er hielt sich krampfhaft zurück. Er selbst hatte ihr befohlen, sich zu verkaufen, nur hatte er nicht bedacht, welche Gefühle sich daraus bei ihm einstellen würden. Er fuhr sie zum Straßenstrich hinter dem Hauptbahnhof. Ließ sie aussteigen, wo sie sich zu dem Dutzend jungen Frauen gesellte, die in ähnlich offensiver Aufmachung auf Freier warteten. Er hatte sie aus der Distanz beobachten wollen, doch die aufkommende Eifersucht ließ das nicht zu. Ziellos fuhr er durch die beleuchteten Straßen der Innenstadt, teilnahmslos beobachtete er die Nachtgänger. Sah er ein Mädchen auf dem Gehsteig Arm in Arm mit einem Mann, spuckte er aus dem Wagen auf die Straße. Bereits nach einer halben Stunde war er zurück am Strichplatz. Lisa hatte schon auf 70


ihn gewartet. Sie rannte auf sein Auto zu, zeigte stolz zwei blaue Scheine. Rudi forderte sie auf einzusteigen. Noch leuchteten ihre Augen, dann veränderte sich ihr Blick. Angst überkam sie, als sie Rudis Anspannung bemerkte. Sein Gesicht war eine Fratze. Sie versuchte sich auf dem Nebensitz ganz klein zu machen. Er hielt am Straßenrand, beugte sich zu ihr hinüber, umschlang sie wie zum Kuss. Du hattest wohl noch Spaß dabei, zischte er sie an. Mit beiden Händen umfasste er ihren Hals, drückte zu, ließ nicht los, bis er spürte, dass die Kleine nie mehr atmen würde. Jetzt gehörte sie ihm für immer. Bevor ihn die Polizei verhaften konnte, besuchte er noch einmal das Tattoo-Studio. Das Todesdatum auf seinem Oberarm, das war er ihr schuldig.

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Foto: privat


Zum Autor

Melchior Werdenberg, geboren 1954, wuchs in der Ostschweiz auf und lebt in Zürich. Er war Bezirksanwalt und Richter, vorwiegend im Bereich der Drogen- und Wirtschaftskriminalität. Seit 1994 ist er als Rechtsanwalt tätig. Seine Spezialgebiete sind das Wirtschaftsstrafrecht sowie das Private Equity Business. Er ist außerdem Autor, Herausgeber und bekennender Liebhaber von Friedrich Glauser. Zuletzt erschienen: »Nachtschatten«, Elster 2016 »Halbwelten«, Elster 2015 »Teilwelten – Geschichten vom Werden«, Elster 2014 Als Herausgeber: »Julian Bledowski, Observation«, Bilder mit Gedichten von Friedrich Glauser, Elster 2016 »Schaumkronen«, Gedichte und Aphorismen von Friedrich Glauser, Elster 2013

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»Auch die Justiz lebt von dem, was die Religion einverlangt, wofür sie aber nie bezahlt. Glauben macht selig.«

Gestresste Banker verzocken sich, Kunsthändler verlieren die Nerven, Schriftsteller scheitern, Modelle dealen unter der Hand. Werdenberg begleitet seine Figuren durch vielfältige Wirren, ohne Scham oder Zynismus. Er folgt einer Toten im Zug nach Mailand, spürt einer vergifteten Familiensaga in der Bergwelt nach und begleitet arme Seelen in die Psychiatrie oder den Tod. An den Rändern der Realität betreten Charaktere die Szene, die man zu kennen glaubt, bis eine Volte ungeahnte Abgründe offenbart. Dabei gehen Lakonie und Todesgefahr eine schlagfertige Allianz ein, denn Werdenberg handhabt die konzise Form der Kurzgeschichte so messerscharf wie seine Helden ihre Mordwerkzeuge.

Erhältlich in Ihrer Buchhandlung und über www.elstersalis.com

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