CafĂŠ Populaire Nora Abdel-Maksoud
CAFÉ POPULAIRE Nora Abdel-Maksoud
Svenja Der Don Püppi Aram
Amina Merai Valentin Richter Felix Strobel David Müller
Inszenierung Anja Schoenwald Bühne Saskia Bellmann Kostüme Ulf Brauner Licht Stefan Schmidt Dramaturgie Bastian Boß
Musikalische Einrichtung Meike Boltersdorf Probensoufflage Frank Laske Inspizienz Ralf Fuhrmann
Foyer Kammertheater
Aufführungsrechte Aufführungsdauer Deutsche Erstaufführung
schæfersphilippen ™ Theater und Medien GbR, Köln 1:15 Stunden, keine Pause 20. April 2019
Technische Direktion Schauspiel Guido Schneitz | Technische Leitung Kammer theater Stephan Abeck | Technische Einrichtung Nils Marstaller | Beleuchtung Stefan Schmidt | Ton Thomas Tinkl, Maik Waschfeld | Requisite Uwe Puschmann, Norbert Eitel | Direktor der Dekorationswerkstätten Bernhard Leykauf | Technische Produktionsplanung Tobias Laaber | Leitung Malsaal Lisa Fuß | Leitung Bildhauerei Maik Glemser | Leitung Dekorationsabteilung Dirk Herle | Leitung Schreinerei Alexander Kurtz | Leitung Schlosserei Patrick Knopke | Maskendirektion Jörg Müller | Leitung Maske Nena Frei | Maske Bettina Löffler, Sarah Lechner | Kostümdirektion Elke Wolter | Gewandmeister*Innen Mareile Eder, Vivien Schlickel (Damen), Anna Volk, Aaron Schilling (Herren) | Leitung Färberei Martina Lutz, Milenko Mociljanin | Leitung Modisterei Eike Schnatmann | Leitung Rüstmeisterei Achim Bitzer | Leitung Schuhmacherei Verena Bähr, Alfred Budenz | Leitung Kunstgewerbe Nicola Baumann, Daniel Strobel Die Maskenabteilung der Staatstheater Stuttgart wird unterstützt durch MAC Cosmetics Textnachweise
Mirja Gabathuler: Die feinsten Unterschiede. In: Radikal jung 2019. Das Festival für junge Regie. Hrsg. von Kilian Engels und C. Bernd Sucher. Berlin, 2019. Michael Reitz: Noch feinere Unterschiede? Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. Deutschlandfunk, online, 26.11.2017. Die Texte wurden für das Programmheft gekürzt. Bildnachweis
Fotograf Björn Klein TITEL Valentin Richter Plakat Felix Strobel, Amina Merai, Valentin Richter, David Müller Impressum Café Populaire (Programmheft Nr. 16)
Herausgeber Schauspiel Stuttgart Intendant Burkhard C. Kosminski stellv. Intendant & Chefdramaturg Ingoh Brux Künstlerische Betriebsdirektorin Mary Aniella Petersen Redaktion Bastian Boß Corporate Design Double Standards Berlin Gestaltung Peter Meyer Herstellung Offizin Scheufele Spielzeit 18/19
NOCH FEINERE UNTERSCHIEDE? Von Michael Reitz
Der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930 – 2002) ging 1979 in seinem Buch Die feinen Unterschiede davon aus, dass in den modernen Industriegesellschaften die traditionelle Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Schicht zwar noch existiert, dass sie aber nicht mehr nur durch die ökonomische Position eines Menschen gekennzeichnet sei. Nicht nur das ökonomische Kapital mache die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft aus, sondern auch sein kulturelles. Jeder Mensch, so Bourdieu, versuche deshalb, nicht nur wirtschaftlich aufzusteigen, sondern auch mit der Aneignung kulturellen Wissens und kultureller Kompetenz. Laut Bourdieu hängt das Handeln eines sozialen Akteurs von dessen Position im sozialen Raum ab. Es gibt keine persönlichen Vorlieben, sie sind bestimmt durch die Position. Ein hoher Stellenwert kommt dabei dem Geschmack zu. Geschmack bildet sich nach Pierre Bourdieu durch etwas, das er „Habitus“ nennt. Dieser Habitus ist unveränderbar, selbst bei den stärksten sozialen
Aufstiegen und den katastrophalsten Abstiegen sieht man einem Menschen immer noch an, aus welchem sozialen, salopp gesagt, Stall er kommt. Der Millionärserbe, dessen Vater durch einen gelungenen Börsencoup oder eine zündende Geschäftsidee plötzlich zu Wohlstand gekommen war, liest nur Krimis, liebt die Musik von André Rieu und besucht am liebsten das Boulevardtheater. Habitus, das ist die Gesamtheit unserer Gewohnheiten, Gesten, Vorlieben, die Art, wie wir uns kleiden, reden und bewegen, welche Musik wir hören – und welche nicht. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen dem Habitus und den sozialen Beziehungen, die sich Pierre Bourdieu zufolge nicht vermischen lassen: Die Gäste eines Schützenfestes werden nicht – oder sehr selten – auf einer Vernissage zu finden sein und umgekehrt. Auf beiden Seiten kommt es dabei aus unterschiedlichen Gründen zur gleichen Haltung: Das ist nichts für uns! Die soziale Welt funktioniert wie ein Spiel, bei dem jeder seine ihm von der Bank des Casinos ausgehändigten Chips
einsetzt. Allen gemeinsam ist dabei der Kampf um Anerkennung, der Wille, als unterschiedlich und unterscheidbar wahrgenommen zu werden. „Mit der Investition in ein Spiel, mit seiner Besetzung und mit der Anerkennung, die der Wettbewerb mit den anderen bringen kann, bietet die soziale Welt den Menschen, was ihnen am meisten fehlt: eine Rechtfertigung ihrer Existenz.“ (Bourdieu) Dies gilt vor allem für die unteren Schichten, für diejenigen, die aufsteigen wollen. Und denen es wichtig ist, nicht mehr als Lohnempfänger oder Kulturbanausen angesehen zu werden. Wer erfolgreich an dem gesellschaftlichen Spiel teilnehmen will, muss nicht nur dessen Regeln kennen, sondern auch eine Antenne dafür haben, wie man sich selbst zu einem Original macht, mit Bourdieu gesagt „ausdifferenziert“, von allen Instanzen anerkannt wird.
Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert Die soziale Welt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten so stark verändert wie kaum zuvor in einem solchen Zeitraum. Seit dem Siegeszug von Globalisierung und Neoliberalismus haben sich stringente Schichten- oder Milieumodelle immer mehr aufgelöst. Heute existieren überall Hybridformen, Verflüssigungen, es gibt nichts Festes mehr. Weder in den Beziehungen der Menschen zueinander noch in den ökonomischen Verhältnissen. Wir leben in einer Welt, in der buchstäblich mit allem zu rechnen ist. Heute herrscht der hybride Konsument vor. Der Banker kauft im gleichen Supermarkt wie der Sachbearbeiter seines Unternehmens. Die Trennung zwischen oben und unten, ablesbar an den Gewohnheiten und Vorlieben, ist zu Beginn
des 21. Jahrhunderts nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die sozialen Grenzen haben sich verschoben, die kulturellen ebenfalls. Dass der Habitus etwas verwehrt, ist gegenwärtig eine zumindest fragwürdige Behauptung. Lebensstile ergeben sich nicht mehr aus der objektiven Lage im sozialen Gefüge. Es gibt keine einheitlichen Milieus mehr und somit auch keine Einheit der Interessenlagen. Jugendlichen in der Ausbildung wird empfohlen, sich mit der Tatsache anzufreunden, dass sie in ihrem Leben mit einem Beruf nicht auskommen werden. Das ist auch möglich geworden, da es heute wesentlich einfacher ist, die Milieus zu wechseln. Spektakulär ist das nicht, es ist das Erfordernis eines wirtschaftlichen Systems, dass auf die optimale und vollständige Verwertbarkeit aller Ressourcen ausgerichtet ist. Aber auch die Chancen des Abstiegs sind vielfältiger geworden. Der gesamte soziale Marschbefehl hat sich verändert. Ging es vor einigen Jahrzehnten noch darum, die oberen Stockwerke zu erreichen – Ulrich Beck nannte das den Fahrstuhleffekt der Gesellschaft – wird ein Großteil der Energie heute dafür verwendet, nicht abzuschmieren auf der sozialen Rutschbahn. Für viele Menschen ist es ein manifestes Gefühl, immer wieder von vorne anfangen zu müssen, trotz hoher Beschleunigung nicht von der Stelle zu kommen und ständig in Angst zu leben, dass sich plötzlich alles verändert. Die Abstürze sind wesentlich verheerender als zu Zeiten der sozialen Marktwirtschaft mit ihrem sozialen Netz. Das betrifft längst nicht mehr nur die schlecht oder gar nicht ausgebildeten Arbeitnehmer. Das Schreckensetikett „Prekariat“ droht dem per Zeitvertrag verpflichteten Universitätslehrer ebenso wie dem Architekten, der keine Aufträge mehr bekommt, weil die Kommunen Pleite gehen.
Bourdieu online Als Pierre Bourdieu 2002 starb, gab es zwar schon das Internet. Soziale Netzwerke wie Instagram, Twitter oder Face book waren jedoch noch nicht oder nicht in der heutigen Verbreitung vorhanden. In der hochvernetzten Gesellschaft der Hypermoderne ergibt sich ein neues Szenario. Die soziale Rolle wird ersetzt und ergänzt durch die Selbstdarstellung in den sozialen Medien. Das Außenbild des Akteurs ist fast noch wichtiger als
der Status selbst. Ging es Bourdieu um das tatsächliche Erreichen eines bestimmten Niveaus, geht es dort nur um die Suggestion, den Schein: Essen, Kleidung, Urlaubsorte fotografieren und ins Netz stellen. Kulturelles Kapital kann mittlerweile durch Vortäuschung erworben werden. Der Verdacht liegt nahe, dass Geschmack als signifikantes Merkmal in Zeiten des Internets und als Ausdruck der Verortung in einer bestimmten Klasse an Bedeutung verliert.
© Jan Krattiger Nora Abdel-Maksoud wurde 1983 in München geboren. Sie ist Schauspielerin, Autorin und Regisseurin. Ihre oft im Kunst- und Medienumfeld angesiedelten satirischen Theaterstücke bringt sie selbst zur Uraufführung, u. a. am Maxim Gorki Theater Berlin, wo sie als Schauspielerin regelmäßig gastiert. 2017 wurde sie von Theater heute als beste Nachwuchsregisseurin ausgezeichnet und erhielt den Kurt-HübnerPreis für Regie. Mehrfach wurden ihre Inszenierungen zum Festival radikal jung am Münchner Volkstheater eingeladen, 2019 auch Café Populaire, das für das Neumarkt Theater Zürich entstand.
DIE FEINSTEN UNTERSCHIEDE von Mirja Gabathuler
Wer glaubt, der Klassenbegriff sei überholt, den lässt Nora AbdelMaksoud im Verlauf ihres Stücks Café Populaire genüsslich auflaufen. Das Thema der sozialen Klassen habe sie eher bemerkt als gefunden: „Ich habe bemerkt, dass ich Menschen in meinem Umfeld unbewusst kategorisiere. Dass ich innerhalb von Sekunden feststelle, wer dieselbe Musik hört wie ich, wer einen ähnlichen Ausbildungsgrad hat.“ Woran das liege, habe sie sich gefragt. Denn es lasse sich ja nicht einfach an Schuhen oder Haarstruktur eines Gegenübers ablesen. „Anscheinend gibt es ein unsichtbares System, das einen Menschen einordnen lässt.“ Ein blinder Fleck, den die Theatermacherin auch bei sich selbst entdeckte: „Je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr hat sich gezeigt, dass Klasse, Distinktion und der eigene Habitus bei allem, was man tut, eine Rolle spielt.“ Das führe dazu, dass man unter Seinesgleichen bleibe, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, im Lieblingscafé. Im Theater. Wenn man sich mit sozialen Klassen beschäftige, dränge sich aber auch relativ schnell eine politische Dimension auf, sagt Nora AbdelMaksoud: „Mir ist zum Beispiel aufgefallen, wie das Fernsehen daraus Kapital schlägt, Sozialhilfeempfänger verächtlich zu machen.“ Im englischsprachigen Raum werde stets innerhalb des Triptychons „Race, Class, Gender“ über Diskriminierung nachgedacht. Im deutschsprachigen Raum hingegen werde Klasse kaum als Kategorie der Herrschaftskritik mitgedacht. „Dafür gibt es schlicht keine Lobby.“ In Café Populaire wird niemand verschont, in alle Richtungen werden bissige Pointen abgefeuert: Unterschicht versus Oberschicht,
Cola-Proletariat versus Champagner-Sozialismus. Nora AbdelMaksouds Theater lebt davon, dass es dem Publikum das Gefühl lässt, alles zu durchschauen, Altbekanntes wiederzuerkennen – um ihm dann doch immer eine Wendung voraus zu sein. Es unterläuft die Erwartungen des Publikums, torpediert mit Twists dessen Sehgewohnheiten und legt die Schlüsse offen, die man als Zuschauer*in per Default gezogen hat. Der anhaltende Lachreiz geht daher Hand in Hand mit einem diffusen Gefühl des Ertapptwerdens. „Es gibt unterschiedliche Stufen kultureller Wertigkeit“, proklamiert der Don in Café Populaire in Richtung des Publikums: „Da sind wir uns wohl einig. Immerhin sitzen Sie in einem Theater!“ Dieser Schnösel, der über diejenigen herzieht, die nichts mehr lieben als „Boulevard, Shakira, Richard David Precht“, behält recht. Lachen kann nur, wer die feinen Unterschiede kennt, die hier durchexerziert werden. Die wahren Schnösel, das sind wir. Nora Abdel-Maksoud kennt die Klasse der Bürgersprosse und Akademikerkinder, die sie hier augenzwinkernd, aber unmissverständlich vorführt, nur zu gut. „Ich bin ja selbst auch eher ein Kleinbürgerkind“, meint sie lachend. Sie kennt die Codes, mit denen subtil auf das eigene Bildungsniveau verwiesen wird: Man spricht gendergerecht, konsumiert kritisch und im Gestus der Zurückhaltung. Die Figuren auf der Bühne erscheinen darin als Komplizen, als Vertraute – und führen im nächsten Moment mit ihrer negativen Katharsis vor, wie klein der Schritt vom Gutgemeinten zur Grenze des guten Geschmacks ist. Nora Abdel-Maksouds dramaturgische Strategie scheint es zu sein, jene in ihrer bequemen Selbstgewissheit zu überrumpeln, die sich in ihrem Wertekatalog allzu sicher geben. Und trotzdem schwingt sich das Theater hier nicht zur moralischen Anstalt auf, sondern meint immer auch sich selbst, wenn es im Medium der Satire zur spitzzüngigen Gesellschaftskritik ausholt. Es gibt kein Entkommen aus dem Distinktionsdschungel der Abgrenzungsneurosen, so die Botschaft von Café Populaire. Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, ist eine halbwegs gute Ausflucht. Aber auch nicht mehr.
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