DIE SIEBEN TODSUNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS PREMIERE: 2. FEBRUAR 2019 – SCHAUSPIELHAUS
INSZENIERUNG: ANNA-SOPHIE MAHLER FEATURING PEACHES
BALLETT MIT GESANG VON KURT WEILL, TEXT VON BERTOLT BRECHT
LIVE TESTIMONIAL BY PEACHES
LIVE TESTIMONIAL BY PEACHES DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS BALLETT MIT GESANG VON KURT WEILL TEXT VON BERTOLT BRECHT
DIE SIEBEN TODSÜNDEN Ballett mit Gesang von Kurt Weill. Text von Bertolt Brecht. Fassung für tiefe Frauenstimme bearbeitet von Wilhelm BrücknerRüggeberg, englische Übersetzung: W. H. Auden und Chester Kallman KING KONG THEORIE von Virginie Despentes SEVEN HEAVENLY SINS von Peaches THE UNANSWERED QUESTION von Charles Ives MIT Elliott Carlton Hines * Josephine Köhler Gergely Németi Peaches Christopher Sokolowski * Florian Spiess Louis Stiens Melinda Witham sowie als Zweite Geige Kirsten Frantz/ Veronika Unger und an der Gitarre Jonas Khalil/ Martin Wiedmann
REGIE Anna-Sophie Mahler featuring Peaches MUSIKALISCHE LEITUNG Stefan Schreiber CHOREOGRAFIE Louis Stiens
AUFFÜHRUNGSDAUER 1:30 Stunden, keine Pause
STUDIENLEITUNG Alan Hamilton TON Frank Bürger
BÜHNE Katrin Connan
MUSIKALISCHE ASSISTENZ UND KORREPETITION Harald Braun
KOSTÜME Marysol del Castillo
BOXCOACH Alexander Butz
PEACHES’ KOSTÜME HEAVENLY SINS Charlie Le Mindu
KÜNSTLERISCHE PRODUKTIONS LEITUNG TECHNIK OPER Susanne Gschwender
VAGINA-KOSTÜME UND LED-HARNISCH Courtesy of Peaches Collection
BÜHNENBILDASSISTENZ Francesca Carletti
LICHT Jörg Schuchardt DRAMATURGIE Katinka Deecke
* Mitglied des Internationalen Opernstudios
ES SPIELT DAS Staatsorchester Stuttgart
BALLETTMEISTERIN Sonia Santiago
REGIEASSISTENZ UND ABENDSPIELLEITUNG Carmen C. Kruse, Benjamin Zeeb
KOSTÜMASSISTENZ Ulf Brauner INSPIZIENZ Lars Erik Bohling, Michael Steiner REGIEHOSPITANZ UND ÜBERTITELINSPIZIENZ Sophie Bischoff BÜHNENBILDHOSPITANZ Joanna Trawka KOSTÜMHOSPITANZ Sonja Stolzenwald
KOPRODUKTION VON STAATSOPER STUTTGART, STUTTGARTER BALLETT UND SCHAUSPIEL STUTTGART
PUT YOUR DICK IN THE AIR FUCK THE KISS YOUR PAIN AWAY CYST SHAKE THE SYSTEM
Peaches ï‚Š
ELIMINATE THE CLASS
ZUM ABEND
D
ass der Menschheit nichts Schlimmeres passieren kann, als ein weiteres Jahrhundert des ungebremsten Kapitalismus, dürfte allgemein bekannt sein. Weiterer Aufklärungsarbeit über die zerstörerische Kraft des Wachstums bedarf es nicht, wie es um die Welt steht, weiß heute jedes Kind. „Daher, liebe Theater“, so mag man als aufgeklärter Kunstliebhaber womöglich meinen, „bitte kramt doch nicht immer wieder die alten Kamellen von Bert Brecht und Kurt Weill hervor, die uns lehren sollen, dass der Kapitalismus Teufelswerk ist – muss man denn auch im Jahr 2019 noch wiederholen, was längst errungen und allgemein bekannt ist?“ „Ja“, antworten darauf vielleicht sanft die Theater, „denn bisher hat sich nichts geändert, im Gegenteil, es wird sogar immer schlimmer und wenn das stimmt, dürfen wir doch erst recht nicht resignieren und das Verhängnis seinen Lauf nehmen lassen!“ „Aber müssen es denn“, so mag der davon noch nicht ganz überzeugte Kunstliebhaber weiterfragen, „partout Die sieben Todsünden sein, ein Stück, das für seine Kapitalismuskritik ausgerechnet ein katholisches Angstinstrument nutzt, das so unzeitgemäß ist, dass kaum jemand diese sogenannten Todsünden auswendig aufzählen kann?“ „Ja“, antworten geduldig wiederum die Theater, „denn die Todsünden sind für Brecht und Weill ja nur ein griffiges Vehikel, um die Funktionsweise des Kapitalismus anschaulich zu machen und auch ohne die Sieben Sünden parat zu haben, kann man den dialektischen Gedankenspielen durchaus folgen. Außerdem“, so fahren die Theater immer selbstsicherer fort, „können die Todsünden so überholt nicht sein, wenn sogar ein prominenter Autor wie der Sohn und FAZ-Theaterkritiker Simon Strauß darüber ein ganzes Buch schreibt!“ Und wie zum Beweis schließen die drei künstlerischen Sparten der Würt-
tembergischen Staats theater sich zu Beginn des Jahres 2019 zusammen und machen Die sieben Todsünden von Bertolt Brecht und Kurt Weill zum Ausgangspunkt ihrer ersten Kooperation seit 23 Jahren. Damals, als das so genannte „Ballett mit Gesang“ im Jahr 1933 entstand, scherte es noch niemanden, dass die beiden Urheber und auch der Auftraggeber und Choreograf George Balanchine allesamt weiß, männlich und heterosexuell waren. Heute, im Jahr 2019 hingegen, kann man nicht umhin, sogleich zu bemerken, missmutig womöglich, dass die drei trotz Exil und politischer Verfolgung sich in durchaus pri vilegierten Situationen befanden. Um so mehr als dass vor allem Brecht ja durchaus fürstlich von den Begabungen der ihn umgebenden Frauen profitierte, so dass Ruth Berlau, Elisabeth Hauptmann, Marieluise Fleißer, Helene Weigel, Margarete Steffin und wie sie alle heißen, erst spät oder gar nicht die Früchte ihrer Arbeit für den Meister ernten konnten. Und ausgerechnet die Lebensgeschichte einer Frau haben die beiden Männer Bertolt Brecht und Kurt Weill nun ins Zentrum ihrer Sieben Tod sünden gestellt, die Geschichte von Anna, die sich den gnadenlosen Regeln ihrer Familie und des Gelderwerbs unterwerfen muss. Diese Familie, die Anna mal mehr mal minder gewaltvoll zwingt, sich einem äußerst rigorosen Regime zu unterwerfen, lassen Brecht und Weill dabei inklusive der für eine Bassstimme geschriebenen Rolle der Mutter, sinnigerweise von vier Männern singen, genauer gesagt von vier Opernsängern. Sollte man also heutzutage ob der Erkenntnis der Privilegien der Autoren das Stück von den Spielplänen verbannen? Vielleicht. Andererseits könnte man die (womöglich recht banale) Erkenntnis über die historische Identität der beiden Autoren zwar berücksichtigen, aber Die sieben Todsünden trotzdem als überraschend ab-
gründige Parabel auf strukturelle Gewalt verschiedener Couleur betrachten. Denn es ist ja gerade die merkwürdige Selbstverständlichkeit, mit der patriarchale Strukturen sich nach wie vor halten, die Brecht und Weill in ihrem Stück durchleuchten. Man kann Die sieben Todsünden somit als Bestandsaufnahme betrachten, als eine unterhaltsame Lektion darüber, warum der eine entscheidet und die andere spurt. Denn angesichts von Frauenzeitschriften mit millionenstarken Auflagen, eines stagnierenden Gender Pay Gap und der nach wie vor zu 80 Prozent von Frauen erledigten Hausarbeit kann man wahrlich nicht sagen, dass das Patriarchat Geschichte wäre und derartige Lektionen überflüssig. Selbst wenn es vereinzelt Frauen gibt, die ökonomisch und sozial selbstbestimmt sind, so befestigen diese tokens doch oft nur die streng biologische Einteilung der Welt in Mann und Frau, statt ein Zeichen für die selbstverständliche Gleichberechtigung aller zu sein, gleich welchen Geschlechts, welcher Klasse, welcher Hautfarbe sie sind. Warum können nur so wenige unabhängig und selbstbestimmt ihren Weg gehen? Warum sind nur so wenige Menschen frei und warum so viele unfrei? Und kann eine einzelne Person überhaupt den Mut und die Beharrlichkeit aufbringen, sich gegen die perfiden Methoden von Unterdrückung, Ausbeutung und Einflussnahme zu wehren? Verantwortlich für Ausgrenzung und Gewalt sind nicht nur „die Anderen“, auch die Benachteiligten selbst können häufig nicht anders als tatenlos hinzunehmen, dass sie schlecht behandelt werden, verprügelt, missbraucht, gedemütigt, getötet. „Man wird nicht unterdrückt geboren, sondern man wird es“, wie die französische Philosophin Manon Garcia eine berühmte feministische Sentenz von Simone de Beauvoir auf größere Unterdrückungszusammenhänge erweitert. Der Widerstand, der feministische, antirassistische, soziale, queere Widerstand formiert sich nur langsam und so hat sich seit der Ent-
stehung der Sieben Todsünden an den Verhältnissen wenig geändert. Allerdings ist es wohl zu einfach, bei dieser Bestandsaufnahme stehenzubleiben, zumal im Theater auch Anklage und Kritik meist vor dem ersten Klatschen verhallen. Vielleicht aber kann man im Theater ausprobieren, wie es anders gehen könnte? Darum geht es im zweiten Teil dieses Theaterabends. Es ist der Teil von Peaches, der kanadischen Elektro clash-Sängerin Peaches, die in feministischen und queeren Kreisen ein wahrer Star ist, weil sie auf beispielhafte Weise gegen alle Widerstände und Verletzungen ihre Unabhängigkeit gesucht und gefunden hat. Seit Jahrzehnten ist sie als unabhängige Künstlerin im männer- und geldgetriebenen Musikbusiness erfolgreich und hat dabei ihre Sexualität so frei und wild und schön erfunden, dass das Patriarchat einpacken kann. Die von Brecht und Weill geschilderte Welt hat Peaches hinter sich gelassen und einen eigenständigen, individuellen, selbstbestimmten Weg gefunden, am Leben zu sein. Es geht an diesem Abend nicht so sehr um die Kritik bestehender Verhältnisse. Vielmehr geht es darum, die Verhältnisse, zumindest die eigenen, neu zu erfinden. Zusammen mit dem Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Stefan Schreiber, der Schauspielerin Josephine Köhler, dem Balletttänzer und Choreografen Louis Stiens und der Balletttänzerin Melinda Witham wird Peaches an diesem Abend auf der Bühne stehen. Wie kommt man raus aus der systemischen Gewalt und den strukturellen Zwängen? Die Regisseurin Anna-Sophie Mahler und ihre Kolla borateur*innen wollen die großen Fragen nach der Möglichkeit von individueller Freiheit und den Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben stellen. Und dabei eine gute Zeit haben. Put your dick in the air. KD
Das komplette Programmheft zu „DIE SIEBEN TODSÜNDEN/ SEVEN HEAVENLY SINS“ können Sie beim Besucherservice oder in unserem Theatershop zum Preis von 2,50 € erwerben.