Die Abweichungen Clemens J. Setz
Auszug
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UrauffĂźhrung
Die Abweichungen Clemens J. Setz
Die Abweichungen Clemens J. Setz
Lisa Kaindl / Eine Besucherin Franz Kaindl Tom Kaindl / Assistent / Stimme des Autors Emily Oesterle / Kuratorin Walter Oesterle Adam Oesterle Ulrike Schab Hans Schab Mutter der Kuratorin
Inszenierung Bühne Kostüme Licht Dramaturgie Regieassistenz Bühnenbildassistenz Kostümbildassistenz Soufflage Inspizienz
Katharina Hauter Sven Prietz Julius Forster Josephine Köhler Boris Burgstaller Reinhard Mahlberg Anke Schubert Peter Rühring Verena Buss Elmar Goerden Silvia Merlo & Ulf Stengl Lydia Kirchleitner Sebastian Isbert Sina Katharina Flubacher Magdalena Schönfeld Francesca Carletti Clara Rosina Straßer Francisca Pinheiro Ribeiro Hans Beck
Kammertheater
Aufführungsrechte Suhrkamp Theaterverlag, Berlin Aufführungsdauer 1:50 Stunden, keine Pause Uraufführung 18. November 2018
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Technische Direktion Schauspiel Guido Schneitz | Technische Leitung Kammertheater
Stephan Abeck | Technische Einrichtung Nils Marstaller | Beleuchtung Eckhard Lewe | Toneinrichtung Thomas Tinkl, Maik Waschfeld | Requisite Norbert Eitel | Direktion Dekorationswerkstätten Bernhard Leykauf | Technische Produktions planung Monika Hoeger | Leitung Malsaal Lisa Fuß | Leitung Bildhauerei Maik Glemser | Leitung Dekorationsabteilung Dirk Herle | Leitung Nähsaal Heidi Lange | Leitung Schreinerei Oliver Bundschuh | Leitung Schlosserei Patrick Knopke | Maskendirektion Jörg Müller | Leitung Maske Nena Frei | Maske Susanna Lang, Bettina Löffler | Kostümdirektion Elke Wolter | Produktionsleitung Kostüme Kerstin Hägele | Gewandmeister*Innen Mareile Eder, Vivien Schlickel (Damen), Anna Volk, Aaron Schilling (Herren) | Leitung Färberei Martina Lutz, Milenko Mociljanin | Leitung Modisterei Eike Schnatmann | Leitung Rüstmeisterei Achim Bitzer | Leitung Schuhmacherei Verena Bähr, Alfred Budenz | Kunstgewerbe Nicola Baumann, Daniel Strobel | Leitung Statisterie Isabelle Grupp Die Maskenabteilung der Staatstheater Stuttgart wird unterstützt durch MAC Cosmetics
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Das Auftreten des Zimmermädchens Eva Behrendt im Gespräch mit Clemens J. Setz Eva Behrendt: Bei unserem letzten Gespräch haben Sie erzählt, dass Sie nur ungern ins Theater gehen – nicht wegen der Kunst, sondern aufgrund der Raumsituation, die Sie zum Sitzen verhaftet. Gehen Sie lieber in Kunstausstellungen?
lung besuchen wie die in meinem Stück beschriebene. Selbst wenn dort meine eigene Wohnung ausgestellt wäre mit skandalösen kleinen Veränderungen, die mir in der Seele wehtun. Ich wäre keiner von denen, die versuchen würden, das zu verhindern.
Clemens J. Setz: Oh ja, da kann man sich bewegen! Da denkt es sich besser. Man sitzt als Autor eh zu viel. Es gibt zwar Strategien, die dem entgegenwirken, Texte ins Handy diktieren beim Spazierengehen, am Stehpult schreiben … Ich versuche inzwischen, mindestens fünf Stunden am Tag aktiv zu sein, Laufen, Radfahren, Liegestütz, Yoga, oder einfach nur gehen und Dinge besorgen.
EB: Sie erwähnen im Stück den Begriff der Outsider Art und auch deren Vertreter Henry Darger. CJS: Er war ein Hausmeister aus Chicago, nach dessen Tod 1973 man zehntausend graphic-novel-artige Zeichnungen in dem kleinen Raum fand, den er 50 Jahre bewohnt hatte. Er war ein völliger Einzelgänger, Mönch quasi, ging nur dreimal am Tag in die Messe und sonst nichts. Er hat ein riesiges Epos geschaffen von Mädchen, die gegen das Böse kämpfen, das ist wunderschön gezeichnet, wobei er nie im Leben nackte Frauen gesehen hat, er wusste nichts von deren Anatomie. Deshalb hat er die Mädchen wie Buben gezeichnet. Ein ganz merkwürdiges Werk ist das. Er hat sogar jeden Tag das Wetter festgehalten, und zwar nicht nur, wie es war, sondern auch, wie es hätte sein sollen.
EB: Am Ende schreiben Sie noch ein Buch über Marathonläufe, wie Haruki Murakami. CJS: Tolles Buch eigentlich, obwohl er nicht verrät, wie er dorthin gekommen ist. Aber das macht Sinn, wir sind ja dafür gemacht. Das heißt, ich bin nicht dafür gemacht, werde aber dort hinkommen. Mit viel Übung. Vielleicht! Ich wache eigentlich jeden Tag auf und möchte richtig lange rennen, 30 km oder so. Dann tue ich es fast nie. Aber zurück zu den Galerien, die mir jedenfalls sehr angenehm sind. Ich würde auch sicher so eine Miniaturenausstel-
EB: Ist das als Motiv ins Stück eingeflossen? Die Wohnungen, wie sie sind, und wie sie sein sollten?
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CJS: Das war eine Idee, die mir immer wieder durch den Kopf ging. Dass man, wenn man ein Abbild macht von etwas, es gern dahin verändert, wie es sein sollte. Es gibt ja auch diesen Amerikaner Wilson Alwyn Bentley, der als erster mit dem Mikroskop Schneeflocken fotografiert und ein Buch mit diesen wunderschönen, sechseckigen Kristallen publiziert hat. Aber er wurde heftig dafür kritisiert, dass er die Bilder retuschiert hat, und zwar immer dann, wenn die Flocken schon an einer Stelle zu schmelzen begonnen hatten. Er hat das gar nicht verstanden, weil er meinte, erst durch seine Retusche die göttliche Symmetrie, die Schönheit der Natur, die Sphärenmusik in den Schneeflocken überhaupt sichtbar gemacht zu haben. Eben ihre tiefere, ihre ekstatische Wahrheit.
EB: Diese Kommunikation kann aber, das zeigen Die Abweichungen sehr deutlich, sehr unterschiedlich verlaufen. Vor allem, wenn die Zuschauer zugleich die Dargestellten sind. Darf man das überhaupt, jemanden ungefragt abbilden? Oder ist das eine Grenzüberschreitung? Diese ethische Frage an die Kunst steht im Zentrum des Stücks. CJS: Es ist immer interessant in der Kunst oder in der Literatur, wenn jemand gegen Tote kämpft. Oder gegen deren Erbe. Besonders absurd, wenn jemand sich gegen ein Kunstwerk auflehnt, wenn dieses Kunstwerk mit ihm persönlich zu tun hat. Das ist eine donquichotteske, aber auch magische Situation. Man sagt ja auch nicht umsonst: de mortuis nihil nisi bene, über die Toten nur Gutes, was Unsinn ist, aber vielleicht mit unserem Bedürfnis zu tun hat, jemand, der ein schreckliches Leben hatte, dem man schon zu Lebzeiten hätte helfen müssen, wenigstens im Tod zu schonen – wie eben diese Künstlerin, die als Putzfrau gearbeitet hat. Eine der Figuren lehnt sich sehr auf gegen ihr Werk und versucht wirklich alles, um es aus dem Blick zu schaffen, bis hin zu Stalking und Bully-Verhalten. Andere finden das erregend und toll, wieder andere lässt es kalt wie die Jungen, die einfach unbehelligt weiterleben wollen. Ich mag das, wenn ein Toter eine Figur bildet, wenn er weiterhin wirksam im Leben der Leute ist. So wie bei dem Männerpaar, das tatsächlich, wie im Kunstwerk vorgeschlagen, mal den Schrank umstellt, um zu schauen, ob die Tote nicht doch Recht hat.
EB: Diese Formulierung kommt auch im Stück vor, in Zusammenhang mit dem Filmemacher Werner Herzog. CJS: Herzog fügt seinen Dokumentar filmen immer ein inszeniertes Detail hinzu, das den verhandelten Gegenstand noch einmal in besonderer Weise zum Leuchten bringt. Das ist sehr verpönt bei Ultrarealisten, die finden, man solle nur abbilden, nur darstellen, nur aufbereiten als Künstler oder Schriftsteller. Werner Herzog widerspricht mit großem Zorn und mit Leidenschaft, indem er sagt, wichtig sei nicht die „accountance truth“, also die buchhalterische Wahrheit, sondern die ekstatische. Aufbereiten tut man immer für die Allgemeinheit, technisch, pragmatisch, während sich die ekstatische Wahrheit viel persönlicher an den Rezipienten adressiert. Als würde der Künstler unmittelbar mit ihm kommunizieren.
EB: Sie spielen, scheint mir, aber zugleich auch damit, dass die Abweichungen, also die „Vorschläge“ der Toten, ein
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tieferes Wissen über ihre Klienten offenbaren könnten. Auf Auflösungen wartet man vergebens.
gung zum Alltag zu gehören, vielleicht, weil es praktisch keine Kontrollinstanzen gibt. Und weil das Klischee des Berufs historisch so tief verankert ist.
CJS: Ich mag Auflösungen, habe sie früher vermieden, dann aber gemerkt, dass das nur Hochnäsigkeit war, pseudopostmodernes Blabla. Hier nun aber gibt es ein Mysterium, das bewahrt werden muss vor der Zerfledderfreude und Deutungswucht der die Künstlerin zu Lebzeiten ablehnenden Zeitgenossen. Das aufzulösen, wäre irgendwie brutal.
EB: Deshalb mutmaßt ja auch der Lehrer Franz intuitiv, dass es sich bei dieser Kunst um einen sozialen Racheakt handelt. Seine Frau meint, sie fühle sich „betrogen“ vom Selbstmord der Putzfrau, und erschaudert bei der Vorstellung, sie könne die Sachen ihres Sohns berührt haben. Ist das Angst vor der Kontamination mit dem Tod? Oder Ausdruck dafür, dass dieses Arbeitsverhältnis ungeheuer intim war?
EB: In Ihrem Stück ist man nicht unbedingt empathisch mit den erbosten Wohnungseigentümern. Und das hängt mit der anderen großen Konfliktlinie des Stücks zusammen, dem sozialen Gefälle zwischen der Künstlerin als Putzfrau und ihren bürgerlichen Klienten. Ist die abweichende Kopie die Waffe, mit der sie sich – wenn auch zu Lebzeiten heimlich – zur Wehr setzt?
CJS: In alten Romanen gibt es doch manchmal so Formulierungen: „Das Auftreten des Zimmermädchen verhinderte jedes weitere Gespräch.“ Die waren natürlich auch Ordnungsinstanzen, vor denen man das Gesicht verlieren konnte. Wenn man befleckte Kleidung hinterließ, wussten die das, und mit ihnen auch noch andere aus den unteren Klassen. Wobei diese Klassenschranken heute natürlich nicht mehr so eindeutig sind. Die Kunden meiner Leipziger Freundin zum Beispiel sind nicht un bedingt wohlhabend und bürgerlich, gönnen sich die Putzhilfe aber irgendwie, sparen regelrecht darauf. Manche schieben sogar das Bezahlen auf. Und doch bleiben die Verhaltensmuster gleich, obwohl die ökonomische Realität eine andere ist.
CJS: Durch die Nachforschungen zum Beispiel der Kuratorin im Stück wird auch klar, dass sie nicht einfach nur einen schlecht bezahlten Job hatte, sondern auch wirklich verschiedene Rollen, von idealisiert bis körperlich misshandelt und verachtet. Eine gute Freundin von mir aus Leipzig, Malerin, die ihr Geld als Putzfrau verdient, macht auch immer wieder endlose Demütigungserfahrungen in diesem Job, in dem man keine Lobby, keine Öffentlichkeit und keinen gewerkschaftlichen Rückhalt hat. Eigentlich so ähnlich wie in der Prostitution, obwohl die Jobs kaum zu vergleichen sind. In beiden vor allem von Frauen ausgeübten Berufen scheint Demüti-
Gekürzte Version des Interviews von Eva Behrendt aus der Zeitschrift Theater heute, 10/2018.
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„ Das Interieur ist nicht nur das Universum, sondern auch das Etui des Privatmanns. Wohnen heißt Spuren hinterlassen. “ Walter Benjamin
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Über ekstatische Wahrheit von Werner Herzog
„Der Zusammenbruch der Sternenwelten wird sich – wie die Schöpfung – in grandioser Schönheit vollziehen.“ Dieses Zitat von Blaise Pascal stammt nicht von Pascal, sondern von mir. Ich möchte hinzufügen, dass er, Pascal, es sicher auch nicht schöner hätte sagen können. Vom Absoluten, vom Erhabenen, von ekstatischer Wahrheit soll hier die Rede sein, und dieses gefälschte und dennoch, wie ich später ausführen will, nicht gefälschte Zitat soll als ein erster Hinweis dienen, wovon mein Diskurs hier handeln soll. Mit diesem vorangestellten Zitat hebe ich den Zuschauer, bevor überhaupt das erste Bild zu sehen ist, auf eine hohe Ebene, von der aus er den Film betritt. Und ich, als der Autor des Films, lasse ihn bis zum Ende des Films nie wieder von dieser Höhe herunter. Nur von dieser Erhabenheit wird so etwas wie eine tiefere, dem Faktischen eher feindliche Wahrheit möglich, eine Illumination, eine ekstatische Wahrheit, wie ich es nenne. Ich möchte Ihnen von einer Begegnung mit Wahrheit berichten, die mir von den Dreharbeiten von Fitzcarraldo her unvergessen ist. Drehort war der peruanische Dschungel östlich der Anden. Die Dorfbewohner waren sich nicht sicher, ob es wahr sei, dass jenseits des Andengebirges ein ungeheuer großes Wasser läge, ein Ozean. Wir fuhren zu einem Restaurant am Strand südlich von Lima und aßen dort. Unsere beiden indianischen Delegierten bestellten jedoch nichts und sahen auf die Brandung
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Das komplette Programmheft zu „Die ABWEICHUNGEN“ können Sie beim Besucherservice oder in unserem Theatershop zum Preis von 2,50 € erwerben. 12