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VORWORTE
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde des Schauspiel Leipzig,
wenn ich jetzt und hier mit großer Neugier auf den Spielplan der kommenden Saison blicke und als Kulturbürgermeisterin unserer Stadt dabei immer auch die ganze Kulturstadt Leipzig betrachte, fällt mein Fokus zuallererst auf die nicht unerhebliche Anzahl von künstlerischen Kooperationen mit ganz unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren. Schon Tradition hat dabei die Zusammenarbeit mit dem Gewandhaus, zugrunde liegt dieses Mal einer der ungewöhnlichsten Gedicht-Zyklen der deutschen Literatur: „Kindertodtenlieder“ von Friedrich Rückert. Ein sehr spannendes Projekt im Rahmen des Mahler-Festivals 2023. Erwartungsvoll blicke ich auf die Zusammenarbeit mit dem Leipziger Theaterkollektiv Compania Sincara, dessen Arbeit von der Stadt Leipzig im Rahmen des frisch ins Leben gerufenen Pilotförderprogramms „Im Dreiklang für Leipzig“ gewürdigt wird. Die Stadt setzt ein Zeichen für Kooperationen zwischen Freier Szene und Stadttheater und in diesem Jahr insbesondere für das innovative Maskentheater der Compania Sincara. Als erstes Projekt im Rahmen der Dreiklang-Förderung wird die Compania künstlerisch mit dem Schauspiel Leipzig und der Schaubühne Lindenfels kooperieren. Was ist geplant? Shakespeare, aber anders. Leipzig kann gespannt sein, wie die schrägen Vögel der Compania Sincara die Stadt 2022 / 23 in eine Insel Shakespeare’schen Spaßes verwandeln werden.
Sehr interessiert schaue ich auch auf das neue Programm „KATAPULT — Performance Plattform Leipzig“, für welches die Residenz des Schauspiel Leipzig erneut zusammen mit LOFFT — DAS THEATER und Schaubühne Lindenfels Produktionsplätze für freie Projekte ausschreibt und sie im Festival-Charakter zur Aufführung bringen wird. Liebe Besucherinnen und Besucher, „wirklich nur Theater“ — unter diesem Motto und in verschiedenen Gewichtungen wird die Beziehung von Wirklichkeit und Theater in der neuen Spielzeit am Schauspiel Leipzig befragt. Auch in unser aller Alltag haben sich mehr und mehr Ambivalenzen angesammelt. Realität und Fiktion und der aufklärerische Anspruch auf Wahrheit durchdringen unser Leben. Umso wichtiger ist es, Theater als einen Ort zu erleben, der sich diesem Wechselverhältnis zwischen Realität und Fiktion verschreibt. Das offensive Bekenntnis zu Phantasie und Traum kann befreiend wirken im verknäult verworrenen Diskurs unserer Gesellschaft. Probieren Sie es aus! Ich wünsche uns allen inspirierende Theatererlebnisse und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Schauspiel Leipzig eine erfolgreiche neue Spielzeit.
Dr. Skadi Jennicke Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig Mai 2022
Liebe Leipzigerinnen und Leipziger, sehr verehrtes Publikum,
Theater befindet sich immer im Spannungsfeld zwischen der Realität und der Bühnenwelt. Zwischen einer Wirklichkeit, die immer neue, unerwartete oder unerbittliche Schwerpunkte setzt, und einer Bühnenwelt, die vielleicht genau diese Wirklichkeiten thematisiert — oder vielleicht völlig andere, oder ganz eigene Welten erschafft. Je fordernder und dynamischer die Wirklichkeit ist, desto mehr erreicht sie auf die eine oder andere Weise, sei es über Stoffe, über Diskurse oder Konzepte, die Bühne. Zuletzt im Winter 2021 / 22 hat sich die Wirklichkeit zum dritten Mal in kurzer Zeit so sehr durchgesetzt, dass es live kein Theater mehr gab für Monate. Das war eine komplett neue Erfahrung. Und dreimal aber durften wir die Erfahrung machen, dass nach diesen Schließungen Sie, unser Publikum, immer wieder zurückkamen — und wir sehr oft vor ausverkauftem Saal spielen konnten. Jeweils wieder Menschen an der Abendkasse zu erleben, die anstehen für ein Theaterticket — das hat was mit uns gemacht, die wir Theater machen, machen wollen. Und wenn in Zeiten der Pandemie die Wirklichkeit so sehr das Theater überlagert hat, dass dabei die Wirklichkeit gewonnen hat, ist es nun wirklich Zeit für Theater. „wirklich nur theater“. Aus diesen drei Worten besteht unser aktuelles Motto — und immer wieder neu und anders zusammengesetzt und in verschiedenen Gewichtungen, ergeben sie unser Motto immer wieder neu. Und ergeben sie Theater immer wieder anders. Ein spielerisches Motto für ein Programm, das die Beziehung von Wirklichkeit und Theater befragt, das sich mit der Realität verbindet und das Spielerische in den Blick nimmt. Theater steht in vielen Bezügen: in Bezug zu unserer Gegenwart, in Bezug zu theatralen Werken und Ästhetiken aus verschiedensten Jahrhunderten sowie in Bezug zu künstlerischen Phantasien jenseits jeden Alltags und jeder Realität. Unser Vorhaben für die vor uns liegende Saison: Theater als Kraft neu zu erleben, die sich in der Spielbreite zwischen drängenden Wirklichkeit(en) und der Freiheit eigener Welten bewegt, zwischen Realitäten und Kunstwelten. Es ist die Einladung auf das weite Spektrum der Möglichkeiten für Theater. Dieses Spektrum wird abgesteckt durch Produktionen wie etwa „LUNA LUNA“, „Romeo und Julia“, „zwei herren von real madrid“, „Fischer Fritz“ oder „Letzte Station Torgau“. In „LUNA LUNA“ entfaltet Maren Kames ein kleines Gesamtkunstwerk, das auf den Spuren des Dadaismus und der Konkreten Poesie eine Reise bis ins Weltall und zurück unternimmt. Und das mit viel Phantasie — und mit viel Musik, weswegen „LUNA LUNA“ auch die Reihe unserer Chor-Projekte fortsetzt. Und schon lange hat kein Text mehr so nur vordergründig alltagsreal eine völlig bizarre Geschichte erzählt wie Leo Meiers „zwei herren von real madrid“. Zwei Texte, die sich Wirklichkeits-Zuschreibungen ziemlich konsequent, aber dafür auch ziemlich kunstvoll entziehen — und sehr selbstbewusst eigene Welten erschaffen. Auch in „Fischer Fritz“ setzt die Autorin Raphaela Bardutzky ganz auf die Möglichkeiten der spielerischen Mittel des Theaters und der Sprache — um damit eine Geschichte zu erzählen, die mitten in unsere Gegenwart führt. In „Letzte Station Torgau“ wiederum untersucht das DokumentartheaterTeam Regine Dura und Hans-Werner Kroesinger ein sehr reales Thema, dessen Langzeitfolgen immer noch präsent sind: das System der sogenannten Jugendwerkhöfe, das das Ministerium der Volksbildung der DDR installierte. In der Uraufführung von Uwe Johnsons „Jahrestage“ begibt sich Hausregisseurin Anna-Sophie Mahler auf die Suche nach den weiten Bezügen dieses Werkes, das die Wechsel des 20. Jahrhunderts in sich verbindet. Ein Werk, das die Kraft der Phantasie ebenso thematisiert wie die Folgen deutscher Realitäten. Ein Nachspielen dieses Werkes ist kaum vorstellbar — aber mit den Mitteln des Theaters eigene Fragen zu stellen, an das Buch und seine Welten ebenso wie an das 20. Jahrhundert.
Shakespeares „Romeo und Julia“ ist selbst schon quasi eine Metapher für Theater geworden — eine über alle Realitäten weit hinausgehende Geschichte, die doch als eine der großen Liebesgeschichten aller Zeiten gilt. Shakespeare ist stark präsent in dieser Saison, und das noch zweimal in der Diskothek: Teresa Schergaut und Patrick Isermeyer aus unserem Schauspielensemble entwickeln gemeinsam mit Hausregisseurin Claudia Bauer ein Projekt zu „Antonius und Kleopatra“. Und die Leipziger freie Gruppe Compania Sincara, die in der neuen Spielzeit mit dem Schauspiel Leipzig und der Schaubühne Lindenfels zusammenarbeitet, beschäftigt sich mit dem „Hamlet“ — und das tut sie auf Basis einer jahrhundertealten Theaterpraxis, die das Markenzeichen der Gruppe geworden ist: das Spiel mit Masken. Auch auf den anderen Bühnen entstehen diese Saison Kooperationen, die neue Verbindungen stiften oder bewährte fortsetzen. Wir freuen uns sehr, dass wieder eine Kooperation mit dem Gewandhaus ansteht: Im Rahmen des Mahler Festivals 2023 erkunden wir am Schauspielhaus dasjenige Werk Mahlers, das aus einem der ungewöhnlichsten Gedicht-Zyklen der deutschen Literatur entstanden ist, aus Friedrich Rückerts „Kindertotenliedern“. Und in Koproduktion zwischen dem Schauspielhaus Bochum und dem Schauspiel Leipzig wird Johan Simons eine Inszenierung erarbeiten, der zu den prägenden Personen der Theater-Gegenwart zählt und immer wieder das Theater mit seinen Erzählweisen und Ästhetiken neu erkundet. Und für die Neuauflage des sehr erfolgreichen Programms „KATAPULT — Performance Plattform Leipzig“ schreibt die Residenz des Schauspiel Leipzig zusammen mit LOFFT — DAS THEATER und Schaubühne Lindenfels in dieser Spielzeit erneut sechs Produktionsplätze für freie Projekte aus, die in einem gebündelten Festival im Sommer 2023 zur Premiere kommen. Zuvor lotet auch das Programm der Residenz mit freien Performance-Gruppen ein weites Feld von Möglichkeiten der Wirklichkeitsaneignung aus: Ein breites Spektrum künstlerischer Positionen und Erfahrungen, die sich allzu eindeutigen Vorstellungen unserer Wirklichkeit produktiv entgegenstellen. Die besondere Programmatik des Schauspiel Leipzig, die sich auch aus den Profilen der Diskothek und der Residenz ergibt, bildet die Basis für die Kooperation des Internationalen Stückemarktes des Berliner Theatertreffens 2022 und des Schauspiel Leipzig: Wenn dieses Heft in Druck ist, entscheidet sich beim Berliner Theatertreffen, welche der fünf internationalen Projekte, Autorinnen und Autoren dieses Stückemarkt-Jahrgangs dann in der Saison 2023/ 24 eine Produktion an einem dieser beiden Spielorte des Schauspiel Leipzig verwirklichen werden. Neu hinzukommen wird im Schauspielhaus ab Herbst 2022 ein eigener Ort für besondere Formate, von szenischen Projekten bis zu Lesungen: das Foyer 1, das ins Garderobenfoyer des Schauspielhauses einzieht und dem künstlerischen Nachwuchs des Hauses eine Bühne gibt. Über die Zeit der Corona-Monate konnten wir das Angebot der Audiodeskription vorbereiten und ausbauen, so dass wir nun in diesem Bereich für die vorliegende Saison ein Angebot an Stücken und Stoffen bereithalten können wie nie zuvor: Zehn Produktionen bieten wir mit live eingesprochenen Kommentaren für Blinde und Sehbeeinträchtigte an. Auch das Angebot an Stücken mit englischer Übertitelung umfasst nun mittlerweile sechs Inszenierungen. Wir werden sehen, welche Impulse und Aufgaben die Wirklichkeit uns im Verlauf dieser Saison geben wird, dem Theater und der Gesellschaft. Das große Spannungsfeld zwischen Träumen und Realitäten, das uns alle an vielen Punkten beschäftigt, zwischen einer Gegenwart und vielen Sehnsüchten, wird auch Gegenstand einer weiteren Gesprächsreihe unter der Leitung des Publizisten Jens Bisky sein. Die Termine zu diesen Gesprächen, wie auch die vielen Spieltermine, die in diesem Heft noch nicht verzeichnet sein konnten, werden wir nachreichen, wenn wir die Wirklichkeit der kommenden Monate besser überblicken können. Wie auch immer die Wirklichkeit sich entwickeln wird: Bleiben Sie uns weiterhin gewogen, wir freuen uns auf ein Wiedersehen im Theater!
Ihr
Enrico Lübbe Leipzig, April 2022