Stadtforschung Statistik – Ausgabe 1/2011

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Editorial

16 000 000

Zahlen sind Planungsunterlagen, und Prognosen haben hier einen besonderen Stellenwert. Das wird in „Technische Infrastruktur in der Kostenfalle“ nochmals deutlich, wo die Autoren berechnen, wie sich Bevölkerungsveränderungen auf die Abwasserkosten auswirken. Zahlen, die manch einen erschrecken, und vor allem für die Kanalbauer von Interesse sind, weshalb es Sinn macht, denen eine Kopie zukommen zu lassen. Ähnliches – nun aber in Richtung Stadtbücherei – trifft für den Heidbrink-Beitrag zu. Iwanow/Eichhorn/Oertel und Ruten steuern einiges zum Thema Prognose bei. Wichtiges auch deswegen, weil die o.g. Untersuchungen kleinräumige Prognosen zur Voraussetzung haben. Drei Beiträge beleuchten Wahlen. Zum einen Besonderes aus Baden-Württemberg – hier gibt es tatsächlich Wahlen ohne Kandidaten. Zum anderen etwas für Wahl-Taktiker – Kombi-Wahlen. Und dann die Wege zur Berechung der Wählerwanderung – keine leichte Kost. Bei der Monitoring-Methodik melden sich Duisburg und Hagen zu Wort. Beim Zensus ist erst einmal Schweigen angesagt, aber dafür können Sie nach Argentinien und China blicken. Informieren Sie sich über das EU-Projekt TooLS, vielleicht gehören sie zur Zielgruppe. Versäumen Sie nicht den Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen des Unternehmensregisters. Viele von uns befassen sich schwerpunktmäßig mit Umfragen. Da haben Sie zwei Möglichkeiten: Welche Auswirkung hat die schrumpfende Rücklaufquote? Was ergab sich bei der Koordinierten Bürgerbefragung, an der sich viele Städte beteiligten? Wenn Sie noch nicht wissen, dass 16 000 000 die Zahl des Jahres 2010 ist, dann schlagen Sie Seite 15 auf. Martin Schlegel, Hagen

Stadtforschung und Statistik 1/2011

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Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 1 • 2011

Inhalt

Extra

Methodik

Umfragen

Wahlen

Seite

2

Alexandra Klein, Tübingen

Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg Personen statt Parteien

26

Björn Geurtz, Duisburg

Was hilft gegen die Wahlenthaltung? Kombi-Wahlen – Ein Weg zu höherer Wahlbeteiligung

32

Thomas Kellermann, Plattling

Welche Wähler wechselten wie ihre Wahlentscheidung? Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung

34

Ulrike Schönfeld-Nastoll, Zweite Runde der Koordinierten Bürgerbefragung Oberhausen Lebensqualität in deutschen Städten 2009

41

Karl-Heinz Reuband, Düsseldorf

Welchen Einfluss hat die Rücklaufquote auf die Repräsentativität? Rücklaufquoten und Repräsentativität

44

Stefan Böckler, Roland Richter, Duisburg

Daten sammeln und zu Informationen verdichten Kleinräumiges Sozialraummonitoring in Duisburg

17

Martin Schlegel, Hagen

Kleinräumiges Monitoring in Hagen Drei Wohnwertanalysen: 1980 – 1993 – 2006

22

Irene Iwanow, Daniel Eichhorn, Holger Oertel, Dresden

Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ – Erfahrungen aus 8 Jahren Ein Programm für Alle

60

Christa Ruten, Münster

SIKURS – das Prognoseinstrument des KOSIS-Verbundes

66

Gert Nicolini, Leverkusen

Keine Arbeitsstättenzählung – und nun? Beispiel Leverkusen Das statistische Unternehmensregister

67

Karsten Rusche, Andrea Dittrich-Wesbuer, Dortmund

Welche Folgen hat die demografische Entwicklung? Technische Infrastruktur in der Kostenfalle

5

Ingo Heidbrink, Düsseldorf

Der Einfluss demographischer Entwicklung Nutzerstruktur und -veränderung der Stadtbücherei

71

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Inhalt

Rubriken

Streiflichter

Internes

International

Seite

Michael J. Seitz, Hannover

Eurostat-Daten zeigen: Mit der Sozialen Marktwirtschaft schwungvoll aus der Krise

Klaus Trutzel, Nürnberg

Kooperative Entwicklung der kommunalen Informationsinfrastruktur Das EU-Projekt TooLS

55

Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Von Hukou bis zur Einkindehe Volkszählung in China

75

Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Volkszählung in Argentinien – und mehr

77

Martin Schlegel, Hagen

Fehler-Ausgabe

54

Hubert Harfst, Hannover

Staatistische Woche in München Nach- und Nachtgedanken

78

Nicole Krüger, Lemgo

Buchbesprechung FrauRuhrMann – Lebenswelten an der Ruhr

14

Martin Schlegel, Hagen

Zahl des Jahres 2010: 16 Millionen

15

Hubert Harfst, Hannover

Kein Zukunftsmodell

16

Martin Schlegel, Hagen

Buchvorstellung Anonymisierung von Einzeldaten

74

Martin Schlegel, Hagen

Vor 100 Jahren Sinkende Geburtenrate

77

Erika Schlegel, Hagen

Max Frisch 1911 – 1991 Reflexionen einer Leserin

79

Martin Schlegel, Hagen

Damals

80

51

Editorial: 16 000 000

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Bevor der Ernst beginnt: Bielefeld?

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Impressum

31

Autorenverzeichnis

81

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Bevor der Ernst beginnt

Bielefeld?

Es ist das am besten gehütete Geheimnis, aber wir blicken durch. Bielefeld gibt es nicht. Zwar findet man, wenn man mit dem Zug aus Richtung Hagen kommt, hinter Gütersloh einen Bahnhof, an dem groß BIELEFELD steht. Der Bahnhof macht durchaus den Eindruck eines Bahnhofs. Dazu gibt es Durchsagen, die auf Anschlusszüge hinweisen. Auch sieht man zu beiden Seiten der Bahnstrecke Häuser, sogar Fabriken. Zudem bewegen sich Menschen auf den Straßen – nicht viele – und das gesamte Ambiente sieht wie eine tatsächlich existierende Stadt aus. Immer wieder melden sich Leute, die behaupten, in Bielefeld geboren zu sein – was natürlich gar nicht möglich ist, denn Bielefeld gibt es ja nicht. Als Beweis mag herhalten, dass unser Bielefelder Statistik-Kollege, Hans Teschner, der nun wirklich nicht unexistent wirkt, im Zentrum von Avenwedde und nicht in Bielefeld wohnt. Wie könnte er auch? In jedem Münsteraner Wilsberg-Krimi taucht exakt einmal dieses B-Wort auf. Mal wurde der Täter dort geboren, mal geschah die Tat in Münster in der Bielefelder Straße, … Dieser zwanghafte Versuch, sich in einem Krimi die eigene Existenz bescheinigen zu lassen, macht doch klar: Da stimmt was nicht. Allerdings: Wenn es Bielefeld gar nicht gibt, wer finanziert dann die Fernseherwähnung? Für die Historiker unter uns: Die Gegend, die sich heute Bielefeld nennt und wie eine Stadt aussieht, hieß bis 1746 Beilefeld und war Westfalens zentraler Hinrichtungsplatz. Aber das soll uns nicht daran hindern, die diesjährige Frühjahrstagung dort zu begehen. Martin Schlegel, Hagen 4

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Welche Folgen hat die demografische Entwicklung?

Technische Infrastruktur in der Kostenfalle Karsten Rusche, Andrea Dittrich-Wesbuer, Dortmund

Veränderungen in der Wohnraumnachfrage, in der Bevölkerungsstruktur sowie Einwohnerrückgänge im Zuge des demographischen Wandels führen immer häufiger zu einem Überangebot bzw. einer Unterauslastung von kommunalen Infrastrukturen. Diese Tendenzen fallen zeitlich und räumlich mit einem steigenden Erneuerungsbedarf der Versorgungssysteme zusammen und lassen eine erhebliche Kostenbelastung der Öffentlichen Hand, der Nutzer und der Allgemeinheit erwarten. Der Prozess stellt sich räumlich sehr differenziert dar und nimmt vielerorts einen eher schleichenden Verlauf. In der öffentlichen Wahrnehmung wird die Frage der Reorganisation bzw. des Rückbaus von Infrastrukturen bislang vor allem mit dem Osten Deutschlands verbunden. Die Brisanz des Themas wird außerhalb der Städte des Stadtumbaus wenig beachtet. Dennoch wird immer deutlicher, dass auch in Städten mit insgesamt noch steigender oder stagnierender Bevölkerungszahl durch Nachfragerückgänge und Überalterungstendenzen von Teilgebieten ein deutlicher Effizienzverlust der Infrastrukturen zu verzeichnen ist. Erfahrungswerte zu den Folgekosten der Infrastrukturen liegen allerdings nur in geringem Umfang und in unsystematischer Form vor. Die Gewinnung von konkreten Abschät-

zungen und die Ermittlung des weiteren Forschungsbedarfs sind zentrale Anliegen der im Folgenden dargestellten Vorstudie, die im Auftrag des Ministeriums für Bauen und Verkehr (MBV) des Landes NordrheinWestfalen zwischen Oktober 2008 und Juni 2009 durchgeführt wurde. Das Projekt knüpft an vorherige Studien („Kosten und Nutzen zukünftiger Siedlungsentwicklung“, Teil I und II) an, die ebenfalls gemeinsam vom ILS und der Planersocietät für das MBV durchgeführt wurden (vgl. Dittrich-Wesbuer et al. 2008).

Untersuchungsgegenstand Abwasser­ infrastruktur Die Untersuchung wurde auf Vorschlag des MBV in der Stadt Iserlohn durchgeführt. Diese Stadt im Märkischen Kreis weist bereits seit längerem eine rückläufige Einwohnerzahl auf und beteiligt sich aktiv am Programm Stadtumbau West. In diesem Rahmen wurde eine Reihe von Voruntersuchungen durchgeführt, so dass auf eine gute Datenbasis zurückgegriffen werden konnte. Zudem zeigte sich die Stadtverwaltung sehr aufgeschlossen und sicherte ihre Unterstützung bei den Analysen zu. Als erster Schritt der Untersuchung wurden die spezifischen Problemlagen der sozialen Infrastrukturen (Kindergärten

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und Schulen) sowie der technischen Infrastrukturen (Wasser, Abwasser, Fernwärme, Gas, Strom, ÖPNV) beschrieben und ihre Eignung für die Vorstudie abgeschätzt. In Abstimmung mit dem Auftraggeber wurde letztlich die Abwasserinfrastruktur ausgewählt. Für diesen Bereich spricht vor allem die hohe Relevanz für die Kommune als Betreiber, die guten Abbildungsmöglichkeiten im Rahmen einer Modellierung sowie die Datenverfügbarkeit in Iserlohn. Untersuchungsgegenstand sind das quartiersbezogene Abwassernetz sowie dessen Kosten. Übergeordnete Infrastrukturen wie Kläranlagen wurden nicht betrachtet. Die Ergebnisse des Projektes wurden auf einem Expertenworkshop am 26. August in Iserlohn präsentiert und mit weiteren Expertinnen und Experten aus der Abwasserwirtschaft, kommunaler Praxis und Vertretern der Landesministerien diskutiert. Die vielfältigen Anregungen aus diesem Workshop sind in die folgende Ergebnisdarstellung eingeflossen.

Unterauslastung der Infrastruktur

Unterschätzte Brisanz

Untersuchungs­ gebiet Iserlohn Gerlingsen Als Untersuchungsgebiet in Iserlohn wurde der Ortsteil Gerlingsen gewählt, der insgesamt 86,6 Hektar und 3936 Einwohner (Bezugsjahr 2007) umfasst. Dieses Areal eignet 5


Technische Infrastruktur in der Kostenfalle

Noch wenig Leerstände

Abb. 1

6

sich vor allem wegen der Mischung verschiedener Gebäude- und Bauformentypen (Einund Mehrfamilienhäuser sowie einzelne Hochhäuser) sowie Abwassersysteme (Mischund Trennsystem) gut für eine beispielhafte Untersuchung. Zudem weist das in den 60er und 70er Jahren entstandene Gebiet typische Problemlagen von Stadtumbaugebieten auf. So zeichnen sich seit einigen Jahren Akzeptanzprobleme des Wohnangebotes und sozialstrukturelle Veränderungen ab (vgl. Stadt Iserlohn a). Zwar weist das Gebiet zurzeit noch geringe Leerstandsquoten von 0,4 % (Einfamilienhausgebiete im östlichen Bereich) bis 2,1 % (Mehrfamilienhäuser im westlichen Bereich) auf; aktuelle Wanderungsuntersuchungen sowie Wohnungsmarktanalysen der Stadt lassen aber den Schluss zu, dass sich die Nachfrage nach den im Stadtteil angebotenen Wohnungs- und Gebäudetypen in den nächsten Jahren weiter verschlechtern wird (vgl. Stadt Iserlohn b). Dies gilt vor allem für die Wohnungen in Mehrfamilienhäusern (Zeilenbauten und Hochhäuser). Langfristig ist dies aber auch für den Einfamilienhausbestand in Gerlingsen zu

erwarten, in dem bereits jetzt ein im Gemeindevergleich höherer Altersdurchschnitt (+ 3,6 Jahre) zu verzeichnen ist.

Abwassersystem mit Misch- und Trennsystem Das Kanalnetz in Gerlingsen weist eine Länge von 14,1 km auf, wobei 6,3 km auf Kanäle im Trennsystem und 7,8 km auf Kanäle im Mischsystem entfallen. Dies ermöglicht einen Vergleich der unterschiedlichen Systeme. Dabei liegt das Trennsystem vor allem im Bereich geringer Dichten (Einfamilienhausbestand). Die mittlerweile etwa 40 bis 50 Jahre alten Abwasserrohre wurden im Wesentlichen als so genannte Freispiegelleitungen errichtet, die den Wasserabfluss aufgrund des natürlichen Gefälles aufrechterhalten. Üblich sind in Gerlingsen Kanäle aus Steinzeug mit einem Durchmesser von 300 mm. Seltener hingegen sind Kanäle aus Beton, Kunststoff, Stahlbeton oder Mauerwerk und mit größeren oder kleineren Durchmessern. Der Betrachtung wurden letztlich sechs Rohrtypen zugrunde gelegt (Steinzeug und Beton mit jeweils drei verschiedenen Durchmessern).

Szenarien der Bevölkerungsentwicklung Im Ortsteil Gerlingsen sind bereits seit den 1980er Jahren erste Einwohnerrückgänge zu verzeichnen, die relativ gleichmäßig verliefen. Lediglich Anfang der 1990er Jahre konnte sich die Einwohnerzahl kurzzeitig stabilisieren. Gegenüber dem Stand von 1980 wohnen heute etwa 20 % weniger Menschen in Gerlingsen. In den letzten Jahren ist dabei eine Verschärfung des Rückgangs zu beobachten. Das Büro für Stadtentwicklungsplanung der Stadt Iserlohn hat verschiedene Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung des Untersuchungsgebietes berechnet. Die „Basis“-Variante stellt dabei die natürliche Bevölkerungsentwicklung dar, während das Szenario „Trend“ demgegenüber von einem negativen Wanderungssaldo als Fortführung der Entwicklung der vergangenen fünf Jahre ausgeht. Dies entspricht einem Bevölkerungsrückgang gegenüber heute von 28 % bis zum Ende des Prognosehorizontes. Zur weiteren Differenzierung der Ergebnisse wurden aufbauend auf dem Szenario „Trend“ weitere Szenarien gebildet. So konzentrieren sich die Bevölkerungsrückgänge in dem Szenario „Wohnungsmarkt“ auf die Mehrfamilienhausbereiche, während im Einfamilienhausbestand weiterhin eine hohe Nachfrage zu verzeichnen ist. Die Bevölkerungszahl wurde in diesem Szenario auf dem gleichen Niveau wie im Szenario „Trend“ gehalten. Demgegenüber unterstellt das Szenario „Rückbau“ ein weiteres Absinken der Bevölkerung durch den Abriss eines Teils der Wohnungen und den Fortzug

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle der darin lebenden Bewohner. Für diese Rückbaumaßnahmen wurden zwei Einleitungsbereiche mit Mehrfamilienhausbebauung ausgewählt (vgl. Abbildung 2). Grundlage für die im Folgenden dargestellte Modellierung der Abwassermenge und der Kosten bildete das Szenario „Trend“. Zusätzlich wurden einzelne Berechnungen für die Szenarien „Wohnungsmarkt“ und „Rückbau“ vorgenommen.

Einleitungsbereich Einleitungspunkt Bereich mit Trennsystem Rückbaubereich

Methodik der Abwassermodel­ lierung a) Auswirkung von Nach­ fragerückgängen Hauptaufgabenstellung der Vorstudie ist die Erfassung der Kostenentwicklung der Abwasserinfrastruktur, die durch Nachfragerückgänge verursacht werden. Für diese auf einen Zeitraum von 20 Jahren angelegte Betrachtung ist insbesondere der Rückgang des anfallenden Abwassers von Bedeutung. Er wirkt sich auf die erreichbaren Fließgeschwindigkeiten aus und begünstigt das Absetzen von im Abwasser enthaltenen Schwebstoffen und Fremdkörpern im Kanal. Dies kann zu funktionalen Problemen wie beispielsweise der Verstopfung des Kanals führen, aber auch die Qualität des Wassers (Faulprozesse) beeinträchtigen. Zur Verhinderung dieser Probleme werden kostenrelevante Wartungsarbeiten nötig – im Normalfall Spülvorgänge – bei denen große Mengen Wasser unter hohem Druck in einen bestimmten Kanalabschnitt eingeschossen werden. Die Ermittlung der Fließgeschwindigkeit des Abwassers und die Definition von Spülvorgängen sind daher wichtige Schritte zur Ermittlung von Betriebskos­ten (vgl. Kostenmodellierung).

Abb. 2: Gliederung des Abwassersystems im Untersuchungsgebiet

b) Ermittlung der Abwasser­ menge Zur Ermittlung dieser Folgekosten muss ein spezifischer Schmutzwasseranfall je Einwohner und Tag ermittelt und über den Betrachtungszeitraum fortgeschrieben werden. Dabei wurde auf den bei der Gebührenermittlung üblichen Weg einer Berechnung nach Frischwasserverbrauch zurückgegriffen. Der aus den Daten der Stadt ermittelte Wert von durchschnittlich 137 Liter je Tag und Einwohner wurde gemäß dem allgemeinen Stand der Technik als rückläufig angenommen und dem üblichen Trend angeglichen (Rückgang um jährlich 0,5 %). Für die im Gebiet liegende soziale Infrastruktur wurde ein literaturgestützter Wert von 12 Litern je Schüler gerechnet (vgl. Bischof et al. 1998). Die Fließgeschwindigkeiten wurden unter Berücksichtigung typischer Tagesganglinien aus dem Abwasseranfall zur Spitzenstunde ermittelt. Dieser Abwasseranfall beinhaltet auch die übliche Fremdwassermenge (eindringendes Grund- und Oberflächenwasser) von 100 % des

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anfallenden Schmutzwassers. Für das Mischsystem wurde zudem das in die Kanalisation abfließende Regenwasser einbezogen, das über die Niederschlagsmenge und den Abflussbeiwert ermittelt werden kann. Für versiegelte Flächen wird hier davon ausgegangen, dass 90% des Regenwassers in der Kanalisation abfließen, während es bei unversiegelten Flächen nur 10% sind. Entsprechende Daten zur Bodenversiegelung standen als Geodatensatz zur Verfügung.

Schmutzwasseranfall

Für eine räumlich differenzierte Modellierung wurden 29 Einleitungsbereiche definiert. Der Zufluss des Abwassers in die Kanalisation konnte jedoch nicht für die jeweiligen Hausanschlüsse simuliert werden. Als Annäherung wurden 105 Einleitungspunkte festgelegt und die ermittelten Abwassermengen je Einleitungsbereich gleichmäßig darauf verteilt (vgl. Abbildung 2). Die Fließgeschwindigkeiten wurden dann aus den ermittelten Abwassermengen für die einzelnen Kanalabschnitte berechnet.

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle

Tab. 1: Funktionsstufen der Kanäle (Quelle: Bischof et al. 1998; eigene Berechnungen)

Herstellungskosten, Instandhaltungskosten, Betriebskosten

c) Fließgeschwindigkeiten und Funktionsstufen Zur Ermittlung der Häufigkeit der notwendigen Spülvorgänge wurden in Abhängigkeit vom Kanaldurchmesser Fließgeschwindigkeiten als Funktionsschwellen definiert, deren Unterschreitung die Anzahl der Spülvorgänge erhöht (vgl. Tabelle 1). Im Normalbetrieb werden zweijährig Spülvorgänge durchgeführt. Bei Unterschreitung der ersten Stufe werden zwei Spülvorgänge je Jahr notwendig, deren Kosten zudem durch den außerordentlichen Betriebsaufwand höher liegen. Bei Unterschreitung der zweiten Stufe verdoppelt sich nochmals deren Häufigkeit auf vier Spülvorgänge je Jahr. Während die erste Funktionsstufe aus der Literatur übernommen wurde (Hosang/ Bischof 1998), basiert die zweite Stufe auf Erfahrungswerten der Iserlohner Abwasserbetriebe.

Methodik der Kos­ tenmodellierung Annuitätenrechnung

In einem weiteren Schritt wurde eine differenzierte, jahresweise Berechnung der Netz- und Nutzungskosten entwickelt. Für alle Kostenberechnungen wurde das Konzept der Annuitätenrechnung zugrunde gelegt. So

wurden alle einmalig anfallenden, aber mehrjährig wirkenden Kosten auf die Nutzungs- oder Lebensdauer der Investition umverteilt und als abzufinanzierender Kredit behandelt (Zinssatz von 5 %). Dieses Vorgehen ermöglicht den Vergleich der verschiedenen Kos­ tenblöcke.

Trennung in drei Kostenarten Dabei wurde eine Dreiteilung in Herstellungskosten, Instandhaltungskosten und Betriebskosten vorgenommen. Nur die letztgenannten Kosten sind als nutzungsabhängig anzusehen. Für den Bereich der Herstellungskosten wurden zunächst für zwei Gruppen von Rohrtypen die jeweiligen in der kommunalen Praxis angesetzten Nutzungsdauern ermittelt (Steinzeug: 80 Jahre, Beton etc. 50 Jahre). Anschließend wurden für alle sechs Rohrtypen die spezifischen Wiederbeschaffungswerte ermittelt und den jeweiligen Haltungen zugewiesen. Der so ermittelte individuelle Kostenkennwert wurde über die jeweilige Gruppennutzungsdauer in eine Annuität umgerechnet. Weiterhin wurde unterstellt, dass nach dem Ende der Nutzungsdauer direkt eine Neuinvestition in die Abwasserinfrastruktur getätigt wird, d. h. die Infrastruktur wird konstant erneuert.

Tab. 2: Beispiel für Kostensätze von Rohrtypen (Quelle: Stadt Iserlohn, eigene Berechnungen)

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Für die Instandhaltungskosten wurde, ausgehend von Daten der Stadt Iserlohn, ein Kostensatz für die jährliche Instandhaltung eines Meters Abwasserleitung ermittelt. Dieser Kostensatz, der ab dem 15. Lebensjahr einer Haltung – dem üblichen Turnus der Überprüfung der Leitungen – regelmäßig fällig wird, wurde grundsätzlich unabhängig von Durchmessern, Material und Auslastung der Leitungen angesetzt. Er weist aber eine ebenfalls aus den Realdaten abgeleitete Kostensteigerung für die Instandhaltung mit fortschreitendem Alter der Leitungen auf. Im Bereich der Betriebskosten werden die Informationen für die zuvor ermittelten Funktionsstufen jeder Haltung übernommen und weiterverarbeitet. Aus Daten der Stadt Iserlohn wurden für die drei Funktionsstufen verschiedene Kostenkennwerte ermittelt. Sie basieren auf den Kennwerten für planmäßige Regelspülungen im System und den durch Ablagerungen verursachten außerplanmäßigen Spülvorgängen. Diese sind gegenüber den Regelsätzen durch sprungfixe Kosten charakterisiert. So steigen die Kosten für eine Spülung von 0,90 Euro (planmäßig) auf 1,20 Euro (unplanmäßig). Die verschiedenen Kostenarten sind in Tabelle 2 für drei Rohrtypen beispielhaft dargestellt.

Ergebnisse a) Verringerung der Abwassermenge Das Abwasseraufkommen im Untersuchungsraum wird insgesamt deutlich zurückgehen, wie Abbildung 3 verdeutlicht.­ Dargestellt ist dabei das Schmutzwasseraufkommen in der Spitzenstunde, das für die Ermittlung der Funktionsstufen maßgeblich ist. Das Ergebnis im Szenario „Basis“, das keine

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle Wanderungen berücksichtigt, zeigt den erheblichen Effekt der natürlichen Bevölkerungsentwicklung. Der Rückgang um 24 % wird dabei auch durch die generelle Abnahme des anfallenden Schmutzwassers je Einwohner verursacht (vgl. Methodik der Abwassermodellierung). Der Rückgang der Schmutzwassermenge wird im „Trend“-Szenario noch einmal erheblich stärker (33 %). Durch den modellierten Fortzug der Einwohner in den Rückbaubereichen ist in diesem Szenario bereits im Ausgangsjahr ein vermindertes Schmutzwasseraufkommen gegenüber dem „Trend“-Szenario zu erkennen. b) Spezifische Situation der Abwasserinfrastruktur Bevor auf die Ergebnisse zur Auslastung und den Kosten der Infrastruktur eingegangen wird, muss noch auf einige Spezifika des Abwassersys­ tems in Gerlingsen hingewiesen werden. So zeigt eine Modellierung der Abwassermengen bei Erstbesiedelung von Gerlingsen (weitgehender Abschluss der Aufsiedelung des Gebietes im Jahre 1980), dass bereits zu diesem Zeitpunkt Funktionsdefizite in Teilen des Abwassersystems bestanden. Hintergrund sind u.a. die in der Planung des Gebietes verwendeten Prognosen über die Entwicklung des Wasserverbrauchs, die von einem deutlichen Anstieg ausgingen und zur Verwendung großer Nennweiten bei den Rohren insbesondere im geringer besiedelten Teil des Gebietes geführt haben (vgl. Mayr 2009). Entgegen dieser Erwartung ist es real bereits in frühen Phasen zu einem Rückgang des Abwasseraufkommens durch allgemeine Verbrauchsreduktionen sowie zu Bevölkerungsverlusten gekommen, was sich

Entwicklung der Schmutzwassermenge in der Spitzenstunde (Quelle: eigene Berechnungen)

insbesondere seit der Jahrtausendwende verstärkt hat. Dies verschärft die Problemlage für das Gebiet deutlich. Einen gegenläufigen Effekt bewirkt die spezifische topographische Situation des Gebietes. Die günstige Gefällelage sorgt in vielen Teilbereichen trotz geringer Abwassermengen für einen ausreichenden Abfluss und verzögert so Funktionsdefizite. Der Einfluss wird vor allem im südlichen Teil des Trennsystems

Abb. 3

deutlich, wo ein höheres Gefälle die Ausprägung der Funktionsstörung verringert. c) Unterauslastung im Trennsystem Abbildung 4 und 5 zeigen die ermittelten Funktionsstufen im Vergleich zwischen dem heutigen Zustand und der voraussichtlichen Entwicklung im Jahr 2028 im „Trend“-Szenario. Es ist deutlich zu erkennen, dass bereits heute Funktionsdefizite im Abwassernetz bestehen.

Heutige Funktionsdefizite

Abb. 4 und 5: Anteil der Kanalmeter der jeweiligen Funktionsstufen (Quelle: eigene Berechnungen)

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle

Szenario „Wohnungsmarkt“

Szenario „Rückbau“

Für die Ermittlung des Kosten­ unterschiedes zwischen den beiden Untersuchungszeitpunkten ist die mit dem Rückgang des Abwasseraufkommens verbundene Zunahme der Funktionsstufen 1 und 2 maßgeblich, mit der zusätzliche Spülvorgänge erforderlich werden (vgl. Methodik der Abwassermodellierung). Der Unterschied zwischen dem „Trend“-Szenario im Jahre 2028 und der heutigen Situation fällt bei Betrachtung des Gesamtsystems nur sehr moderat aus (vgl. Abbildung 4 und Abbildung 5). Dies liegt vor allem an der geringen Relevanz des Schmutz- und Fremdwassers in der Mischkanalisation (etwa 2 % der gesamten Abwassermenge), die mehr als die Hälfte des Kanalnetzes ausmacht. Auswirkungen werden daher vor allem bei der getrennten Betrachtung der Schmutzwasserrohre im Trennsystem deutlich, wo vor allem ein Anstieg der zweiten Funktionsstufe (von 22 % im Jahr 2009 auf 33 % im Jahr 2028) erkennbar wird.

Szenario „Trend“

Abb. 6: Anteil der Kanalmeter der jeweiligen Funktionsstufen in den Szenarien

d) Szenarien zur Bevölke­ rungsentwicklung Abbildung 6 zeigt die Auswirkungen im Trennsystem für die unterschiedlichen

Sze­narien. Danach sind die Veränderungen in den Szenarien „Wohnungsmarkt“ und „Rückbau“ gegenüber dem Status Quo am schwächsten. Hintergrund ist im Szenario „Wohnungsmarkt“ die relativ konstante Einwohnerzahl im Einfamilienhausbestand, mit der ein wesentlicher Teil der Unterauslastung im Trennsys­ tem wieder aufgefangen wird. Dennoch wird auch hier eine Zunahme der zweiten Funktionsstufe von 22 % im Jahre 2009 auf 29 % im Jahr 2028 zu erwarten sein. Im Szenario „Rückbau“ werden einige Haltungen mit Unterauslastung vom Netz genommen, weshalb die besser ausgelasteten Kanäle einen höheren Anteil haben. Das Szenario stellt sich sogar noch günstiger dar als das Szenario „Wohnungsmarkt“, da ein geringerer Anteil der Kanäle der Funktionsstufe 2 zuzuordnen ist. Eine Kombination der beiden Szenarien würde nochmals weniger Kanäle mit Unterauslastung bewirken (hier nicht dargestellt). Deutlich negativer ist die Entwicklung im Szenario „Trend“. Während der Anteil der Kanalmeter in der 1. Funktionsstufe konstant bleibt, steigt der Anteil der 2. Stufe von 23 % auf 33 %.

Auswirkungen auf die Kosten Nach der Ermittlung des Anteils der Funktionsstufen wurde eine Kostenbetrachtung nach dem entwickelten Modell vorgenommen. Die Darstellung der Ergebnisse wird im Wesentlichen auf das Szenario „Trend“ beschränkt. Abbildung 7 stellt den Verlauf der einzelnen Kostenkomponenten grafisch dar. Vor allem die Kosten für Instandhaltung und Betrieb entwickeln sich dynamisch. Für diese Kostenarten 10

erhöhen sich die notwendigen Aufwendungen für das gesamte Untersuchungsgebiet um etwa 15% gegenüber dem Basisjahr der Prognose. Während der Anstieg bei den Betriebskosten gleichmäßig erfolgt, werden bei den Instandhaltungskosten durch die zyklische, planmäßige Instandsetzung in Abhängigkeit vom Alter der Rohrleitungen ab 2020 sprunghafte Veränderungen sichtbar.

Dominanz der Herstellungskosten In der summarischen Betrachtung lässt sich insgesamt nur ein Kostenanstieg von wenigen Prozentpunkten (etwa 3 %) feststellen. Dies untermauert die hohe Relevanz der Herstellungskosten als fixe Kos­ ten der Abwasserentsorgung, die insgesamt gut 80 % der anfallenden Kosten im Gebiet verursachen. Die Auswirkungen müssen allerdings differenziert nach Misch- und Trennsystem betrachtet werden. Die Darstellung in Abb. 8 verdeutlicht­ in diesem Zusammenhang die stärkere Demographiesensibilität der Schmutzwasserkanäle im Trennsystem, wo bis 2028 ein Anstieg der Betriebskosten um etwa 25 % zu verzeichnen ist.

Hohe Steigerun­ gen der Pro-KopfKosten In der bisherigen absoluten Betrachtung der Kosten und Kostenverläufe wird der Effekt des Bevölkerungsrückgangs nur im Hinblick auf die Unterauslastung einbezogen. Im Rahmen einer ökonomischen Folgenabschätzung ist aber vor allem der relative Wert der Pro-Kopf-Kosten maßgeblich. Werden die einzelnen Kostenwerte auf die im jeweiligen

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle Prognosejahr zugrunde gelegten Bevölkerungsbestände bezogen, zeigt sich eine wesentlich höhere Reagibilität der Abwasser­infrastruktur, wie Abbildung 9 verdeutlicht. In der Summe erhöhen sich die Kosten um 40 %; „Spitzenreiter“ unter den Kostenarten sind die Instandhaltungskosten, die sich pro Kopf um knapp 60 % erhöhen. Für die Schmutzwasserkanäle des Trennsystems (hier nicht dargestellt) wären bei einer getrennten Betrachtung sogar Steigerungen von insgesamt 53 % (Betriebskosten 80 %, Instandhaltungskosten 70 %, Herstellungskosten 47 %) zu verzeichnen. Die absoluten Werte der einzelnen Kostenarten nach unterschiedlichen Szenarien in den Jahren 2009 und 2028 zeigt Tabelle 3. Ersichtlich wird wiederum die unterschiedliche Relevanz einzelner Kostenarten. Deutlich wird auch, dass das Szenario „Rückbau“ in der Betrachtung der Pro-Kopf-Kosten keine Vorteile gegenüber den anderen Szenarien besitzt. Vielmehr sind durch die verminderte Einwohnerzahl gegenüber den anderen Szenarien Steigerungen zu verzeichnen, obwohl die Herstellungskosten durch die Rücknahme einzelner Netzabschnitte geringer sind. Die Szenarien „Trend“ und „Wohnungsmarkt“ unterscheiden sich nur geringfügig, letzteres weist aber die gerings­ten Kosten auf. Dies ist auf die Stärkung des problematischen Trennsystems durch Verschiebungen der Nachfrage in den Einfamilienhausbestand zurückzuführen.

Kosten des Misch- und Trennsystems in Gerlingsen (Quelle: Eigene Berechnungen)

Kosten des Trennsystems (Schmutzwasser) in Gerlingsen (Quelle: Eigene Berechnungen)

Pro-Kopf-Kosten des Misch- und Trennsystems in Gerlingsen (Quelle: Eigene Berechnungen)

Abb. 7

Abb. 8

Abb. 9

Auswirkungen auf die Gebühren Neben der Betrachtung der anfallenden Kosten sind Aussagen zu den Auswirkungen der Stadtforschung und Statistik 1/2011

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle

Tab. 3: Pro-Kopf-Kosten des Abwassersystems (Trenn- und Mischsystem) unterschiedlicher Szenarien im Vergleich (Quelle: Eigene Berechnungen) Abbildung 10

Mögliche Gebührenentwicklung in Gerlingsen im „Trend“-Szenario (Quelle: Eigene Berechnungen)

Geringeres Gebührenaufkommen

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demographischen Entwicklung auf die Gebührenhaushalte ein wichtiger Teil ökonomischer Folgeabschätzungen. Da eine Neuberechnung der Gebührensätze auf Gesamtstadtebene im Rahmen dieser Vorstudie nicht durchführbar war, wurde eine pragmatische Herangehensweise gewählt (vgl. Abbildung 10). Für das Ausgangsjahr wurde das Gebührenaufkommen für den Stadtteil Gerlingsen ermittelt. Dieser Summe wurden die im Kostenmodul berechneten Beträge gegenübergestellt. Da die Abwassergebühren kos­ tendeckend erhoben werden, lässt sich aus dem Verhältnis der beiden Größen der positive „Deckungsbeitrag“ des Stadtteils Gerlingsen ableiten. Er gibt an, wie viel Prozent des Gebührenaufkommens genutzt

werden kann, um übergeordnete Infrastrukturkosten zu finanzieren (Kläranlage, Personalkosten o. Ä.). Dieser Wert lag im Jahr 2009 bei etwa 40 % des Gebührenaufkommens.

Finanzierung der Abwasserinfrastruktur gefährdet Die gestrichelte Linie verdeutlicht die starke Verringerung des Gebührenaufkommens in Gerlingsen durch die sinkende Einwohnerzahl (bei kons­ tantem Gebührensatz). Ohne eine Erhöhung würde damit der Deckungsbeitrag nahe Null tendieren, d.h. eine Beteiligung des Gebiets an den insgesamt entstehenden Kosten der Abwasserinfrastruktur in Iserlohn wäre nicht mehr gegeben. Die

graue Linie zeigt, wie stark sich die Gebühren erhöhen müssten, wenn der Deckungsbeitrag des Stadtteils Gerlingsen auch in Zukunft auf dem Niveau von 2009 verbleiben sollte. Nach der Modellrechnung würde dies im Betrachtungszeitraum eine Steigerung um 27 % nach sich ziehen – allgemeine Preissteigerungen oder mögliche höhere Bevölkerungsrückgänge (Szenario „Rückbau“) nicht mit betrachtet. Da auch in anderen Teilbereichen der Stadt ähnliche demographische Prozesse stattfinden werden, sind die Möglichkeiten des Auffangens der ungünstigen Gebührenentwicklung in Gerlingsen durch andere Einwohner bzw. Gebiete in Iserlohn begrenzt. Es muss im Gegenteil vielmehr mit einem Anstieg der Gesamtkosten pro Kopf gerechnet werden, was den notwendigen Deckungsbeitrag weiter in die Höhe treiben könnte.

Fazit und weiterer Forschungsbedarf Die Analysen dieser Studie wurden auf kleinräumiger Ebene angesiedelt und ermöglichen – auch dank der guten Zusammenarbeit mit der Stadt Iserlohn und den dortigen Abwasserbetrieben – die Entwicklung eines detaillierten Ansatzes zur Modellierung der Abwasserinfrastruktur (Mengen- und Kostenmodell). Am konkreten Beispiel konnte darüber hinaus bestätigt werden, dass die demographische Entwicklung die Effizienz der Abwasser­infrastruktur gefährdet. Das in der Stadt Iserlohn betrachtete Gebiet aus den 1960er und 1970er Jahren weist bereits deutliche Schrumpfungstendenzen auf und steht damit stellvertretend für eine Entwicklung, die in Nordrhein-Westfalen in den

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Technische Infrastruktur in der Kostenfalle kommenden Jahren in vielen Landesteilen weiter an Dynamik gewinnen wird. Der ermittelte Funktionsverlust der Abwasserinfrastruktur und die damit verbundene Kos­ tenerhöhung in Iserlohn verläuft derzeit noch schleichend und wird auch auf längere Sicht nicht die im Stadtumbau Ost vielfach beschriebene Brisanz erreichen (vgl. u.a. Koziol et al. 2006). Dennoch wird auch unter der Annahme einer einfachen Trendfortsetzung, d.h. ohne mögliche größere Bevölkerungsverluste, in den nächsten 20 Jahren mit einem erheblichen Rückgang der Schmutzwassermenge zu rechnen sein. Sie erreicht mit einer Reduktion von etwa 1/3 eine Größenordnung, bei der mit kostenwirksamen Folgeeffekten gerechnet werden muss. Diese Folgeeffekte betreffen erwartungsgemäß fast ausschließlich das Trennsystem, das generell eine höhere Demographiesensibilität aufweist. Die entstehenden Folgekos­ ten müssen an die Nutzer weitergegeben werden. Die vorgenommene Pro-Kopf-Darstellung verdeutlicht dabei ein Grundproblem der demographischen Entwicklung: Immer weniger Einwohner können zur Kostenanlastung herangezogen werden. Die Steigerung der Gesamtkosten der Abwasserinfrastruktur erreicht in der Pro-Kopf-Betrachtung mit etwa 40 % eine immense Größenordnung. Diese auf das Untersuchungsgebiet bezogene „demographische Kostenfalle“ dürfte sich in einer gesamtstädtischen Sichtweise noch verstärken, da viele weitere Wohngebiete ähnliche Problemlagen aufweisen werden. Die Preissteigerungen belasten die Kommunen in doppelter Weise: Zum einen sind sie für

die Entwässerung öffentlicher Flächen selber Gebührenzahler, zum anderen gefährden steigende Nebenkosten als „zweite Miete“ die Attraktivität von Städten als Wohnstandort. In der Diskussion von Handlungsansätzen muss eine langfristige Betrachtungsperspektive eingenommen werden. Siedlungsstrukturelle Ansätze können hier grundsätzlich als wirksam angesehen werden. So bestimmen die Dichte und Lage die Anschlussfähigkeit und die Länge des Leitungsnetzes, das über einen sehr langen Zeitraum betrieben und instand gehalten werden muss (vgl. Dittrich-Wesbuer et al. 2008). Eine weitere Ausdehnung des Siedlungsgefüges über weitere Neubaugebiete muss vor dem Hintergrund des demografischen Wandels deshalb sehr kritisch hinterfragt werden. Kleinräumig differenzierte Bevölkerungsszenarien und verbesserte Kostenbetrachtungen sollten deshalb ein fester Bestandteil einer strategischen Siedlungsplanung darstellen. Dem schleichenden Prozess des Effizienzverlustes im Zuge des demographischen Wandels fehlt es bislang an Dramatik – und damit auch an adäquater Vermittelbarkeit in Politik und Planung. Dies wurde von allen in das Projekt einbezogenen Expertinnen und Experten als ein weitreichendes und folgenschweres Problem angesehen. Als Maßnahme zur Förderung eines verbesserten Verständnisses der infrastrukturellen Folgen des demographischen Wandels wurde insbesondere eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit unter Zuhilfenahme von Ergebnissen langfristiger Szenarien und Kostenbetrachtungen angesprochen. Vor diesem Hintergrund sollte eine Verbreitung der Ergebnisse des

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vorgestellten Projektes in die Praxis angestrebt sowie weitere vertiefte Untersuchungen angestoßen werden. Zu diesem Zweck wird die Untersuchung aktuell in einem Anschlussprojekt fortgeführt. Ziel ist es, die ersten empirischen Ergebnisse auf der Ebene der Gesamtstadt zu validieren und weitere Wohn- und Gewerbegebiete in die Betrachtung mit einzubeziehen.

Literatur

Bischof, Wolfgang; Hosang, Wilhelm (1998): Abwassertechnik. 11. Auflage. Stuttgart: Teubner Verlag. Dittrich-Wesbuer, Andrea; Krau­ s­e­-Junk, Katharina; Osterhage, Frank; Beilein, Andreas; Frehn, Michael (2008): Kosten und Nutzen der Siedlungsentwicklung – Ergebnisse einer Fallstudien­untersuchung, Dortmund: ILS / Planersocietät. Koziol, Walther; Veit, Antje; Walther, Jörg (2006): Stehen wir vor einem Systemwechsel in der Wasserver- und Abwasserentsorgung? Sektorale Randbedingungen und Optionen im stadttechnischen Transformationsprozess. In: netWorks-Papers, Heft 22. Berlin: Deutsches Institut für Urbanistik. Mayr, Alexander (2009): Technische Infrastruktur unter Schrumpfungsbedingungen. Dargestellt am Beispiel der Abwasserinfrastruktur in Iserlohn-Gerlingsen. Unveröffentlicht. Stadt Iserlohn a (Hrsg.) (ohne Jahr): Stadtumbau Iserlohn. Analyse, Strategien + Konzepte. Onlineveröffentlichung. Stadt Iserlohn b (Hrsg.) (ohne Jahr): Wohnungsmarktanalysen Iserlohn 2007. Onlineveröffentlichung.

Notwendig: Kleinräumige Szenarien

Kostensteigerung: 40%

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Buchbesprechung

FrauRuhrMann – Lebenswelten an der Ruhr Nicole Krüger, Lemgo

4 thematische Handlungsfelder

Systemischer Blickwinkel

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Die Menschen – ihre Lebenswelten – ihre Region: Es sind diese elementaren Begriffe, wenn es mit Blick auf den ökonomischen, sozialen und demografischen Wandel darum geht, die Zukunftsfähigkeit von Regionen wirksam und nachhaltig auszurichten, gemeinsam zu gestalten und zu sichern. FrauRuhrMann ist das Buch des Regionalverbandes Ruhr (RVR), das eine Fortschreibung und Weiterentwicklung des Frauenatlas aus 2000 darstellt. Im Jahr der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 ist ein erweiterter Fokus auf die Menschen und ihre Lebenswelten – als Transformation für eine innovative Regionalentwicklung – gerichtet worden. Neben der Formulierung von Herausforderungen zur regionalen Profilschärfung, dieses insbesondere unter Einbezug von Gender MainstreamingAspekten, stellt die Befragung von mehr als 1000 Personen eine einführende Grundlage dar. Diese „Bekenntnisse zum Ruhrgebiet“ (Lange, S. 17) zeigen die Diskrepanz zwischen negativer Außenwirkung zu einer positiven Innensicht und den zu nutzenden Potentialen der starken Verbundenheit der Bewohner/-innen mit dem Ruhrgebiet, ihrer Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld und der Industriekultur als Alleinstellungsmerkmal.

Während Einleitungen und Ausblicke aus verschiedenen Perspektiven den Rahmen des Buches schaffen, gliedern sich die Beschreibungen und Analysen der 50 Autorinnen und Autoren in vier thematische Handlungsfelder: 1. Politik und Partizipation 2. Bildung, Wissenschaft, Kreativität 3. Arbeit und Soziales 4. Wohnen, Freiraum, Mobilität In diesem Rahmen erfolgt eine Auseinandersetzung mit Fragen u.a. zur Zukunftsfähigkeit des Ruhrgebiets, dem Verlauf des Strukturwandels, Innovation vs. Trägheit und Bildungschancen/-ferne, wie auch durch die Betrachtung der Lebens- und Arbeitswelt Stereotypen des Ruhrgebietes hinterfragt werden. Für Fachmann, Fachfrau, Laien und weitere Interessierte zeigen sich dabei die einzelnen handlungsspezifischen Beiträge in großer Dichte. Durch die Wahl verschiedener Textgattungen bieten sie aber eine ausgesprochen abwechslungsreiche, häufig beschreibende Darstellung und geben Anregungen für eine zukunftsfähige Ausrichtung und somit Fortschreibung der Geschichte des Ruhrgebiets.

Fazit Die Publikation trägt dem Facettenreichtum und der Vielschichtigkeit der Metropole Ruhr Rechnung. Die einzelnen Stränge der Handlungsfelder nehmen Bezug auf die Spezifika von Strukturen, funktionale Verflechtungen und komplexe Entwicklungen. Zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit von Regionen muss das vorhandene Wissen aufgedeckt, bewertet, nutzbar gemacht und durch den Einsatz spezifischer Instrumente transferiert werden. Dazu braucht es eine ressort­ übergreifende Zusammenarbeit formellen Charakters, wie auch Beteiligungsprozesse informeller Wissensträger/-innen, den lokalen Akteuren/-innen. Ein systemischer Blickwinkel, der gleichsam Lebenslagen, Gender-Mainstreaming und Partizipation berücksichtigt, leistet einen aktiven Beitrag zur Entstehung innovativer und tragfähiger Konzepte für wirksame und nachhaltige Planungsprozesse der Regionalentwicklung.

Regionalverband Ruhr (Hrsg.): FrauRuhrMann – Lebens­ welten von Frauen und Männern in der Metropole Ruhr, 1. Auflage, Essen 2010, ISBN 978-3-8375-0083-7, 19,95 Euro

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Zahl des Jahres 2010: 16 Millionen Martin Schlegel, Hagen

Viele Zahlen standen wieder zur Wahl: Auf „16 Millionen“ hat sich die Redaktion von „Stadtforschung und Statistik“ geeinigt. Damit sind die Menschen gemeint, die in Deutschland mit Migrationshintergrund leben. Sie sind entweder seit 1950 zugezogen oder gehören zu ihren Nachkommen. Diese Gruppe ist in den letzten Jahrzehnten stetig gewachsen, stellt heute fast ein Fünftel der Bevölkerung und wird ihren Anteil weiter erhöhen. Die Gesellschaft muss sich ihnen intensiv widmen, denn viele von ihnen verfügen immer noch über Probleme: Überdurchschnittlich vielen fehlt ein Schulabschluss (bei Menschen mit Migrationshintergrund trifft das auf 14% zu, bei den anderen sind es nur 2%); viele haben keinen beruflichen Abschluss (43% bzw. 19%). Sie sind stark von Arbeitslosigkeit betroffen (13% bzw. 6% der Erwerbstätigen) und viele sind nur geringfügig beschäftigt (12% bzw. 7%).

Auf Platz 2 setzte die Redak­ tion eine weit größere Zahl: 4,1 Mrd. Euro; der Betrag, der nach heutiger Kenntnis für den Stuttgarter Hauptbahnhof erforderlich ist. Platz 3 der Zahl des Jahres teilten sich gleich 2 Zahlen: 20 Jahre Internet und die 4, weil Deutschland bei der Fußball-Weltmeisterschaft mehrfach 4 Tore geschossen hat. Etliche andere Zahlen standen zur Wahl. Eine Auswahl davon: 5, weil der Hartz IV-Regelsatz um 5 Euro angehoben werden sollte. 6, weil der Wehrdienst ab Oktober 2010 auf 6 Monate reduziert wurde. Nun ist auch das weg, manchmal entscheidet sich die Politik überraschend schnell. 12, denn die durchschnittliche Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke beträgt 12 Jahre.

21, Stuttgart 21. 39, weil es in 2010 einen Hitzerekord gab: 39° Celsius. 14 Millionen: Die Zahl der „Deutsch­lerner“ ging welt­­ weit von 17 Mill. auf 14 Mill. Menschen zurück. Die 20 wurde nicht nur für „20 Jahre Internet“ vorgeschlagen, sondern auch in ganz anderem Zusammenhang. Dieser Vorschlag steht im Kasten und zeigt einmal mehr, dass Statistiker gar nicht diese trockenen Gesellen sind. Wir können lachen – besonders natürlich die Rheinländer, sogar über für uns Wichtiges: Zahlen.

Menschen mit Migrationshintergrund

Lockere Rheinländer

Übrigens hat sich auch ein Nicht-Statistiker an den Vorschlägen beteiligt. Tim van Beek aus Berlin. Er hatte drei Vorschläge. Welche? Die Summe seiner Zahlen ergibt 49. Danke.

Lieber Martin, für das Jahr 2010 möchte ich die Zahl 20 vorschlagen: 20 Buchstaben hat das Wort Nothaushaltskommunen, dazu gehören aber mehr als 20 und die haben oftmals nicht mal mehr 20 Euro für eine Dienstreise in die 20 km weit entfernte Nachbarstadt. In den ersten 20 Jahrhunderten wurde nicht so viel vom Geld gesprochen wie im Jahrhundert 20+1. Wahrscheinlich war die Gier nicht so groß – die Großzügigkeit der Herzen ist 20 Lichtjahre weit weg. Deswegen stelle ich für diese Meldung mal keine Rechnung über 20 Euro, weil der Spielraum für Kulanz noch nicht 20 – äh – was denn – erreicht hat. Gruß Hans-Walter Hülser

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Kein Zukunftsmodell Hubert Harfst, Hannover

Kommentar zum Beitrag „Zukunftsmodell Untere Statistikbehörde“ im Heft 2 – 2010 von „Stadtforschung und Statistik“

unsinnige zentralistische Regelungen

Diskussionsbedarf?

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Es hört sich immer gut an: „Wenn wir schon etwas gemeinsam machen müssen, dann lasst es uns doch auch gleich gemeinsam strukturieren.“ Dass das, und da soll man sich keinen Illusionen hingeben, natürlich auch immer Zentralisieren heißt, wird tunlichst verschwiegen. Eine solche Diskussion flammt in vielen Bereichen immer wieder auf. Und wenn dann nachgefragt wird, wer was konkret tun soll, dann war es nicht so gemeint. Natürlich kann die Bundeswehr……..! Nein, für Sicherheit und Ordnung sind von der Bundespolizei über die Landespolizeibehörden bis hin zu den kommunalen Ordnungsämtern und, nicht zu vergessen, die Freiwillige Feuerwehr im kleinsten Dorf, viele Institutionen ortsnah und sachverständig und somit auch zu Recht zuständig. Das ist gut so, weil es auf jeder Ebene neben – zugegeben – manchen gemeinsamen sehr viele unterschiedliche Probleme gibt, die auch unterschiedliche Problemsichten und Problemlösungen bedürfen. Unsere Verfassungsgeber haben sicher nicht nur die unselige Vergangenheit, sondern

auch dies bedacht, als sie unseren föderalistischen Staatsaufbau erdachten. Viele Kolleginnen und Kollegen erleben gerade selbst, wie unsinnig zentralistische Regelungen sind. Da wird beim Zensus 2011 den Kommunen eine Erhebungsstellenstruktur aufgezwungen, an der auch der letzte und böswilligste Zensusgegner nichts auszusetzen haben kann. Dass man in 90 Prozent der Städte und Kreise damit einfach nur Köpfschütteln auslöst, wird nicht gesehen. Und wen praktische Argumente nicht zu überzeugen vermögen, dem kann das Bundesverfassungsgericht weiterhelfen. Dessen 2. Senat hat unlängst in fast gleicher Sache zu so genannten „Mischverwaltungen“ entschieden (Urteil vom 20. Dezember 2007 – 2 BvR 2433/04; 2 BvR 2434/04). Das Kernstück der Hartz-IVReform, die Arbeitsgemeinschaften aus kommunalen Trägern und Bundesagentur für Arbeit (ARGEn), sind verfassungswidrig. (...) Die in § 44b SGB II geregelte Pflicht der Kreise zur Aufgabenübertragung der Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende auf die ARGEn und die

einheitliche Aufgabenwahrnehmung von kommunalen Trägern und der Bundesagentur für Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften verletzt die Gemeindeverbände in ihrem Anspruch auf eigenverantwortliche Aufgabenerledigung und verstößt gegen die Kompetenz­ ordnung des Grundgesetzes. Die ARGEn sind als Gemeinschaftseinrichtung von Bundesagentur und kommunalen Trägern nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Besondere Gründe, die ausnahmsweise die gemeinschaftliche Aufgabenwahrnehmung in den ARGEn rechtfertigen könnten, existieren nicht. Zudem widerspricht die Einrichtung der ARGEn dem Grundsatz eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung, der den zuständigen Verwaltungsträger verpflichtet, die Aufgaben grundsätzlich durch eigene Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrzunehmen. Wer hat da noch Diskussionsbedarf?

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Daten sammeln und zu Informationen verdichten

Kleinräumiges Sozialraum­ monitoring in Duisburg Stefan Böckler, Roland Richter, Duisburg

Im Rahmen der Förderung städtebaulicher Maßnahmen hat das Monitoring von Stadt­ teil­ent­wick­lungs­pro­zessen in der jüngeren Vergangenheit zu­neh­mend an Bedeutung gewonnen1. Für die Vorbereitung, Steuerung und Evaluation nachhaltiger integrierter Maßnahmen in be­nach­­teiligten Stadtgebieten wird damit eine systematische und dauerhafte Beobachtung der städtischen Ent­­wicklung auf kleinräumiger Ebene zunehmend unabdingbar.

Das Duisburger Monitoringsystem Monitoring von Stadtteilentwicklungsprozessen hat in Duisburg eine lange Tradition, wurde aber bis in die jüngere Vergangenheit meist nur punktuell in Bezug auf die von konkreten Maßnahmen (vor allem im Rahmen des Programms ‚Soziale-Stadt’) betroffenen Stadtteile durchgeführt. Auch aufgrund veränderter Städtebauförderungsbedingungen, welche die Einbindung kon­kre­ter stadtteilbezogener Initiativen in eine gesamtstäd-

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tische Entwicklungskonzeption er­for­der­lich machen, ist 2006 in Duisburg ein umfas­sendes Monitoringsystem entwickelt worden, das alle Duisburger Stadtteile und Wohnviertel einbezieht.

Monitoring mit langer Tradition

Die wesentlichen Elemente dieses Monitoringsystems gehen aus der Übersicht hervor. Hierbei wird zunächst deutlich, dass unter Monitoring ein komplexer Prozess zu ver­ste­hen ist, der zwei zentrale Bereiche umfasst: zum einen die sta­tistisch gestützte klein­räu­mi­ge Beobachtung, zum anderen die Zu-

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Kleinräumiges Sozialraum­monitoring in Duisburg

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Kleinräumiges Sozialraum­monitoring in Duisburg

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Kleinräumiges Sozialraum­monitoring in Duisburg

Interne und externe Daten

Frühwarnsystem

Stärkung der klein­ räumigen Orientierung

sammenführung die­­ser quan­ ti­ta­ti­ven Informationen mit andersartigen, eher ‚qualitativ’ ausgerichteten Infor­ma­tio­nen und deren hand­lungs­orien­tier­ te Bewertung. Diese Elemente sind im oberen Teil der Grap­hik zusammengefasst. Weiterhin ist zu unterscheiden zwischen Informationen, die durch Fachbereiche der Stadt Duisburg selbst erarbeitet und zur Verfügung gestellt wer­den, und Ergebnissen extern erstellter Studien2 (INNOVA-Studie, Sozialbericht etc.). Diese vielfältigen Informationen werden im Rahmen konkreter Arbeitskontexte wie der von der EG DU Entwicklungsgesellschaft Duisburg mbH koordinierten StadtentwicklungsAr­beits­­­gruppe und dem Projekt Duisburg 2027 für spezifische politisch-praktische Zwecke zu­sam­men­­geführt. Im Vordergrund standen dabei die Entwicklung eines Frühwarnsystems, das es erlaubt, relativ frühzeitig Problemlagen in bestimmten Stadtteilen zu identifizieren, die da­­rauf aufbauende Auswahl dieser Gebiete für zukünftige Stadtteilentwicklungsmaßnahmen und schließlich die Begründung einer solchen Auswahl gegen­über der lokalen Politik und den Förderorganisationen. Darüber hinaus macht es dieses System möglich, für die ausgewählten Stadtteile die für sie spe­zi­fi­schen Handlungsbedarfe zu identifizieren und damit auch schon die Grundlinien für zu­künf­ti­ge Interventionen zu zeichnen.

DU-STATIS: das Statistische Informationssystem Duisburg Die Geschichte Seit 1975 – zeitlich zusammenfallend mit der nordrhein20

westfälischen Gemeinde­ge­ biets­re­form, durch die Duis­ burg seine gegenwärtige Gestalt gewonnen hat – hat das heutige Amt für Statistik, Stadt­forschung und Europaangelegenheit schrittweise ein kleinräumiges Moni­to­ring der demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwick­ lung der Duisburger Stadt­tei­le aufgebaut. Einen Meilenstein für diesen Prozess bildete die Umsetzung von Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Gemeinschaftsinitiative URBAN-I in Duis­burg-Marxloh in den Jahren 1995-1999, in der nicht nur die kleinräumige Orien­tie­ rung der Datenerhebung selbst und ihre Abstimmung mit kleinräumigen Stadt­teil­ent­ wick­lungs­­stra­te­gien, sondern auch die Koope­ration zwischen den städtischen Fach­bereichen in­ten­si­­viert worden ist3. Nach einer Phase der Konsolidierung in den Jahren 20002005 sind diese Entwicklungen ab 2006 im Rahmen des Aufbaus des oben vorgestellten Duisburger Gesamtmonitorings weiter vorangetrieben worden.

Ausbau der kleinräumigen Orientierung Dabei ist insbesondere einer Stärkung der kleinräumigen Orientierung des statistischen Mo­nitoringsystems Aufmerksamkeit geschenkt worden. Da sich viele der Duisburger Orts­tei­le in Bezug auf ihre Sozialstruktur und Bevölkerungszusammensetzung als in sich zu heterogen erwiesen haben, war es notwendig, kleinere und in sich einheitlichere statistische Beo­bach­tungseinheiten zu definieren. Aus diesem Grund wurden 2006 die 46 Duis­burger Orts­teile untergliedert in insgesamt 106 Wohn-

viertel. Die Datenaufbereitung wird seit­dem schrittweise auf diese neuen Einheiten ausgeweitet. Zum heutigen Zeitpunkt liegen für die Duisburger Ortsteile Daten zu 60 Merk­malen vor und werden systematisch dokumentiert; für die Duisburger Wohn­quar­tiere sind dies gegenwärtig 30 Merkmale, die schrittweise um weitere Merkmale ergänzt wer­den. Nicht alle diese Merkmale liefern Hinweise auf die soziale Situation und kön­nen als Indikatoren für sozialräumliche Veränderungen verwendet werden. Für das Duis­bur­ger Sozialraummonitoring sind bislang 31 Indikatoren auf Ortsteilsebene und 14 Indikatoren auf Wohnquartiersebene als besonders aussagekräftig für die klein­räu­mi­ge so­ziale Situation in städtischen Gebieten ausgewählt worden (Tabelle). Diese Indikatoren wurden in sechs Bereiche unter­glie­dert (Bevölkerung, Bauen/Wohnen, So­ziales, Bildung, Wirtschaft/ Arbeitsmarkt und Sonstiges) und werden vom Amt für Statistik, Stadtforschung und Europagelegenheiten und den anderen Fachbereichen der Stadt Duisburg zu unterschiedlichen Zwecken genutzt: von der Erstellung von Ortsteil-/ Wohnquartierprofilen über die Datenunterstützung unterschiedlicher Projekte der Duis­ burger Verwaltung und Poli­tik bis hin zu Beschreibungen und Bewertungen der sozialen Situation im Rahmen von För­ deranträgen für einzelne Ortsteile/Wohnviertel. Die Verwendungen der ausgewählten Indikatoren sind meist an einer möglichst detaillierten Beschreibung der Situation einzelner Stadtgebiete orientiert. Darüber hinaus stellen

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Kleinräumiges Sozialraum­monitoring in Duisburg diese In­dikatoren aber auch die Grundlage für eine synthetische und vergleichende Bewertung der so­zia­len Belastung aller Duisburger Ortsteile/Wohnquartiere anhand weniger zusammen­fas­sen­der Kenn­ziffern dar. Hierfür werden die Werte der einzelnen Indikatoren für die sechs Bereiche aufsummiert und da­durch ein Index der sozialen Belastung für diese Einzelbereiche gebildet, der es erlaubt, die Duis­burger Ortsteile/Wohnviertel in eine Rangordnung in Bezug auf ihre soziale Belastung in diesen einzelnen Bereichen zu brin­gen. Diese Bereichsindizes werden schließlich zu einem Ge­samt­ index zusammengefasst, auf dessen Basis eine Gesamt­rang­ ord­nung der sozialen Be­las­ tung der Ortsteile/Wohnviertel er­stellt werden kann. Dadurch wird es möglich, den ein­zel­nen Ortsteil/das einzelne Wohn­ quartier in seiner relativen sozialen Be­lastung zu den an­ de­ren Duisburger Orts­tei­len/ Wohnquartieren zu verorten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt ein parallel eingesetztes dimensionenanalytisches Ver­fah­ren: Ausgehend von den Kernindikatoren Ausländeranteil, Anteil von Türken an Ausländern, Zuund Wegzüge, Arbeitslosigkeit, Langzeitarbeitslosigkeit und Wohngeldbezug werden den Orts­teilen/Wohnvierteln mithilfe der Faktorenanalyse zusammenfassende soziale Belas­tungs­wer­te zugewiesen, die es erneut erlauben, sie in eine Rangordnung sozialer Belastung zu brin­gen.

Die Zukunft Soweit zum aktuellen Stand des Duisburger statistischen Informationssystems. In Arbeit sind darüber hinaus weitere Schritte seines Ausbaus sowie

seiner Vernetzung und Präsentation. Grund­lage hierfür bildet das vom Amt für Statistik, Stadtforschung und Europa­ an­ge­le­gen­hei­ten eingesetzte Data Warehouse DUVA, das von vielen deutschen Städ­ten verwendet und ak­tuell auch für internati­onale Nutzungen aufbereitet wird4. Dieses Informationsmanagementsystem erlaubt es nicht nur, einen Gesamtbestand komplexer Da­ten strukturiert und einheitlich zu verwalten und zu

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verarbeiten, sondern er­möglicht auch ei­nen direkten Zugang zu diesen Daten bzw. den auf Ihrer Basis erstellten Ta­bellen für ex­ter­ne Nutzer – seien es nun andere städtische Fachbereiche oder auch interes­sierte Bür­ger/ Bür­ge­­­­rinnen. In naher Zukunft wird hierzu ein erster Schritt getan werden, in­dem ein be­ trächt­li­cher Teil der Tabellen aus DU-STATIS im Intranet der Stadt Duisburg an­deren Fachberei­ chen zur Verfügung gestellt wird. 21


Drei Wohnwertanalysen: 1980 – 1993 – 2006

DU-STATIS und DU-GIS

Für die Zukunft ist darüber hinaus im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Duisburger Amt für Baurecht und Bauberatung eine stärkere Integration zwischen den in DU-STATIS vor­lie­gen­den klein­räumigen Daten und dem Duisburger Geoinformationssystem (DUGIS) geplant. Mittelfristig ist so damit zu rechnen, dass in Duisburg ein relativ elaboriertes geo­re­fe­ ren­zier­tes statistisches Monitoringsystem vorliegen wird, das einen wichtigen Beitrag zur Beo­bach­tung und Bewertung der sozialen Situation in

kleinräumigen städtischen Gebieten und damit zur gezielten Entwicklung von Maßnahmen für solche Gebiete leisten wird.

2

Anmerkungen 1

Vgl. hierzu die ‚Verwaltungsvereinbarung Städtebauförderung’ vom 25. Februar 2009 und die vom Bun­des­mi­nis­terium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herausgegebene Broschüre ‚Soziale Stadt – Arbeitshilfe Mo­ni­ to­ring’, Bremen 2009. - Dieser wachsenden Bedeutung kleinräumigen Monitorings soll 2011 auch die Sta­tis­ti­sche Wo­­che des VDSt in Leipzig Rechnung tragen, die sich den Fragen des Beobachtens, Bewertens und Gestaltens klein­ räu­miger urbaner Entwicklungen widmen wird.

3

4

Hierbei handelt es sich z. B. um die 2006 von der Innova AG vorgelegte Studie ‚Stadtumbau in Duisburg’ und der seit 2006 regelmäßig vom Amt für Soziales und Wohnen herausgegebene und von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung e. V. (Bremen) erstellte ‚Sozialbericht der Stadt Duisburg’. Beide Projekte wurden bzw. werden in enger Zusammenarbeit mit dem Duisburger Amt für Statistik, Stadtforschung und Europa­an­ge­ le­genheiten durchgeführt. Vgl. hierzu N.U.R.E.C. Institute Duis­burg ‚Monitoring kleinräumiger Entwicklungsprozesse’, Berichte 1-6, Duisburg 1997-1999. Zum TooLS-Projekt, in dessen Rahmen dies angegangen wird, vgl. http://www.soziologie.unifreiburg.de/fifas/tools/.

Kleinräumiges Monitoring in Hagen

Drei Wohnwertanalysen: 1980 – 1993 – 2006 Martin Schlegel, Hagen

Kleinräumige Analyse des Wohnwerts

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Es war Ende der 70er Jahre, als ein Dezernent in Hagen uns Statistikern sagte, für seine Arbeit möchte er eine kleinräumige Faktorenanalyse haben. Wir schauten uns leicht verblüfft an: Weiß der, was eine Faktorenanalyse ist? Wusste er nicht, aber nach ein paar Fragen wurde sein Wunsch greifbar: Wo kann man in Hagen gut und wo weniger gut leben? Er wollte eine kleinräumige Analyse des Wohnwerts. Natürlich hätte dieser Herr die Ergebnisse unserer Arbeit gerne nächste Woche auf dem Tisch gesehen. Das ging aber nicht und er zeigte Verständnis dafür. Es waren ja schließlich einige Entscheidungen zu treffen.

Das Indikatorenmodell Hagen gliedert sich in 285 Großblöcke. Soll man alle in die Analyse einbeziehen? Auf keinen Fall, denn bei denen mit minimaler Einwohnerzahl sind Strukturgrößen reine Zufallsprodukte. Wir setzten 150 Einwohner als Untergrenze an und hatten es so noch mit 200 Großblöcken zu tun, in denen 98% der Hagener lebten. Mit welchen Variablen beschreiben wir den Wohnwert? Abkupfern war nicht drin, andere Städte hatten das Thema noch nicht bearbeitet. Wir mussten selbst ran. Dabei standen wir vor dem üblichen

Dilemma: Die Variablen, die man für besonders aussagekräftig hält, stehen nicht in der erforderlichen Differenziertheit zur Verfügung. Theorie und Praxis klaffen eben schon mal auseinander. Hinzu kam das Problem der negativen Variablen, also die mit wohnwertsenkendem Einfluss. Keine Frage war es, die Lärmbelastung heranzuziehen. Jeder von uns will ein Auto haben, aber man möchte nicht dort wohnen, wo andere mit ihrem Auto vorbeibrausen. Eine hohe Fluktuation gibt einen ähnlichen Hinweis: Ein Viertel, aus dem die Menschen schnell wieder wegziehen, kann keine Traumgegend sein. Aber der Ausländeranteil?

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Drei Wohnwertanalysen: 1980 – 1993 – 2006

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Drei Wohnwertanalysen: 1980 – 1993 – 2006

37 Merkmale für 200 Großblöcke

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Wir haben ihn aufgenommen, waren uns der Problematik durchaus bewusst. Den Wert eines Gebietes über die Anwesenheit bestimmter Bevölkerungsgruppen zu messen, das ist schon heikel. Damals weit mehr als heute. Nach umfangreichen Recherchen – Wege, die häufig in die Sackgasse führten – hatten wir unsere Variablenliste zusammen: 37 Merkmale waren es, die nun für die 200 Großblöcke erhoben werden mussten. Größen wie „Einwohner-Dichte“ oder „Ärztliche Versorgung“ stellten uns nicht vor Probleme. Die „Lärmbelastung“ auch nicht, denn wir hatten die Variable auch deshalb reingenommen, weil eine frisch erstellte Lärmkarte vorlag. Anders sah es mit dem „Gebäudezustand“ aus, einer schwer fassbaren Größe. Da waren die

Kollegen vom Baudezernat gefragt, die Hagen – zumindest aber ihren Bezirk – wie die eigene Westentasche kannten. Die erhobenen Merkmale wurden in Punkte transformiert – von 0 bis 5. Bei quantitativ und stetig vorliegenden Daten wurden die Extrempunkte beim arithmetischen Mittel +/- der einfachen Standardabweichung erreicht. Bei diskret vorhandenen Daten sowie qualitativ vorliegende Informationen wurden zwei bis sechs Klassen gebildet. Und wie groß ist nun der Einfluss jeder Variablen auf den Gesamtwert? Die Ermittlung des Gewichtungsschemas ist eine große Hürde. Sie bleibt weitgehend subjektiv, ist der Wohnwert selbst doch teilweise eine subjektive Größe, durchaus dem Zeitgeist ausgesetzt. Regressions- oder Korrelationskoeffizienten zu Rate zu ziehen oder eine Faktorenanalyse zu starten, das konnten wir getrost vergessen. Also griffen wir zum Indikatorenmodell, einem Verfahren, dessen einfache Struktur von den Verwaltungsleuten und den meisten Mitgliedern des Stadtrates verstanden werden konnte. Um bei der Gewichtungsreihe richtig zu liegen, ließen wir erst einmal Alternativen zu und erhielten so die stattliche Anzahl von 24 Gewichtungsreihen. Welche war die „richtige“? Die Auswahl verlief mit Hilfe vieler Hagener, wobei wir bislang unterbelichtete Größen einbeziehen konnten – wie z.B. das Image eines Viertels. Die Befragten hatten Gebiete zu benennen, die nach ihrer Meinung eindeutig über einen extrem hohen Wohnwert verfügen, und andere Gebiete, in denen der Wohnwert unzweifelhaft extrem niedrig ist. Nach der Eliminierung selten

genannter Gebiete blieben 16 Großblöcke mit hohem und 15 mit niedrigem Wohnwert übrig. Damit konnte von den 24 Gewichtungsalternativen die eine nun gültige ausgewählt werden: Diejenige, die die größte Übereinstimmung zur Einstellung der Bürger aufwies.

Verwaltung und Rat Das Ergebnis der Wohnwertanalyse wurde in Verwaltung und Rat behandelt: Ungläubig, neugierig, skeptisch. Einigen stieß es schon seltsam auf, dass wir Wohngebiete mit einer Methode klassifizierten, mit denen andere Waschmaschinen beurteilen. Natürlich kam Kritik auf, z.T. heftige und die Viertel, denen nun quasi amtlich ein schlechter Wohnwert bescheinigt wurde, waren nicht gerade glücklich. Doch eines darf nicht übersehen werden: Innerhalb der Stadtverwaltung kam die Untersuchung gut an. Die Fülle an übersichtlichen Daten und über das Stadtgebiet vergleichbare Ergebnisse halfen dem planenden Teil der Verwaltung erheblich. Einige griffen gerne zu, wenn es darum ging, für schlechte Wohngebiete Gelder zu begründen. Wir hatten nichts dagegen. Gut 10 Jahre später wurde die Analyse mit aktuellen Daten wiederholt. Das gleiche geschah dann 2008 (mit Werten von 2006), wobei die Variablenliste leicht ausgebaut wurde: Daten über Einkünfte, Belastung mit Feinstaub und Stickstoffoxid liegen erst jetzt vor.

Die 2006er Ergebnisse Das Ergebnis ist in der Karte festgehalten. Nun ist für eine genaue Interpretation eine gewisse Ortskenntnis von Vor-

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drEi WoHNWErtaNalySEN: 1980 – 1993 – 2006 teil, die bei der Mehrheit der leserinnen und leser nicht gegeben ist. Unabhängig davon springt die starke Segregation ins auge. die beiden rottöne stellen eine nahezu geschlossene Einheit dar. auch die blauen, also guten Gebiete bilden Klumpen und Ketten, die nur hin und wieder von Grün unterbrochen sind. Bei den roten Vierteln handelt es sich zum überwiegenden teil um die Hagener City und drei hiervon ausgehende Stränge: Je einen nach Norden, Südosten und Südwesten. das sind die früh besiedelten tallagen, in der Wohnen und arbeiten immer noch direkte Nachbarn sind. die später hinzugekommenen Gebiete – an den Hängen und in den höheren lagen – haben heute einen Entwicklungsvorsprung. das Modell erlaubt auch problemlos, einzelne Bevölkerungsgruppen unter die lupe zu nehmen. das Säulendiagramm vermittelt einen Überblick, wie sich Hagens ausländer auf die 5 Wohnwertkategorien verteilen. in Gebieten mit

weit überdurchschnittlichem Wohnwert sind sie Mangelware. aber in roten Gebieten – Großblöcken, denen ein unterdurchschnittlicher oder sogar weit unterdurchschnittlicher Entwicklungsstand attestiert wurde – wohnen fast 70 % aller ausländer. Bei der gesamten Hagener Population sind es nur 43 %. die Verteilung der SGB ii-Empfänger ähnelt der bei den ausländern gesehenen Struktur. dieses indikatorenmodell wirft nicht nur ein Gesamtergebnis aus, man erfährt gleichzeitig, wo Stärken und Schwächen liegen. liegt es • an der Bevölkerungsstruktur? • an der Gebäude- und Grundstücksstruktur? • an der Infrastruktur? • an Verkehr und Gewerbe?

Veränderungen 1993–2006 Eine weitere Frage liegt auf der Hand: Was hat sich seit anfang der 90er Jahre geändert? Bei der Hälfte der Großblöcke bleibt das Urteil unverändert.

34 Großblöcke haben sich verbessert, sie haben heute mindestens 20 Punkte mehr als in der 90er-Jahre-analyse. dem stehen allerdings 64 gegenüber, die abgerutscht sind, wo sich also die Punkte um 20 oder auch mehr verringert haben. Gut sieht anders aus.

Literatur:

Stadt Hagen, amt für Statistik und Stadtforschung: Wohnumfeldverbesserung und Wohnungsmodernisierung – analyse des Wohnwerts, Hagen, 1981 M. Schlegel und C. Steinbrecher: Kleinräumige Wohnwertanalyse auf der Basis geeichter raumeinheiten, in: Mitteilungen des informationskreises für raumplanung, dortmund, 1982 Stadt Hagen, amt für Statistik und Stadtforschung: Kleinräumiger Entwicklungsstand – informationen zur Wohnstruktur 93, Hagen, 1993 Stadt Hagen, ressort Statistik und Stadtforschung: Kleinräumiger Entwicklungsstand – informationen zur Wohnstruktur 2006, Hagen, 2008

Ausländer und SGBII-Empfänger

Wohnorte der Ratsmitglieder Neugierige fragen nicht nur beispielsweise nach der Verteilung der ausländer, sondern interessieren sich für die Wohnorte der ratsmitglieder. Wo leben unsere gewählten Bürgervertreter? Einschließlich oberbürgermeister zählt der Hagener rat 59 Mitglieder. Zwei von ihnen wohnen in den Gebieten, die wegen zu geringer Einwohnerzahl vorab ausgeschlossen worden waren – überwiegend dünn besiedelte Großblöcke in ländlich ruhiger lage. die übrigen verteilen sich nicht etwa gleichmäßig über das Stadtgebiet. 34 leben in Blöcken mit überdurchschnittlichem oder sogar weit überdurchschnittlichem Wohnwert. das sind 60%, von der Gesamtbevölkerung leben nur 33% in diesen besseren Wohnvierteln. dafür fehlen die ratsmitglieder an anderer Stelle: 2 leute, also 4%, wohnen in Gebieten, deren Wohnwert weit unterdurchschnittlich ist. in Hagens Bevölkerung beläuft sich der Wert auf 24%. Für die beiden großen Fraktionen gilt: Jeweils 13 Fraktionsmitglieder leben in Vierteln mit überdurchschnittlichem oder weit überdurchschnittlichem Wohnwert. Bei der SPd sind es 13 von 17, bei der CdU 13 von 21.

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Über Statistik

:

Wer einen 10 000 m Lauf gewinnen will , muss begabt sein, viel üben und im richtigen M oment den Sprint anziehen . Für uns gilt; Zahlenve rständnis, Erfahrung un d die Tabelle zum geeignet en Zeitpunkt präsentieren.

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Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg

Personen statt Parteien Alexandra Klein, Tübingen

Besonderheiten in Baden-Württemberg

Seit den 90er Jahren werden die Bürgermeister der Gemeinden und Städte in allen Bundesländern direkt gewählt. Das Wahlrecht ist in den einzelnen Ländern jedoch unterschiedlich ausgestaltet. In Baden-Württemberg wählen die Wahlberechtigten die Bürgermeister der Gemeinden und Städte schon seit den fünfziger Jahren direkt. Das Wahlrecht weist einige Besonderheiten auf, die unter anderem auf dieser langen Tradition beruhen.

Einzelbewerbung anstatt Partei­ nominierung

Keine BürgermeisterKandidaten durch Parteien

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Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern reichen in Baden-Württemberg die Bewerber für die Bürgermeisterwahlen ihre Bewerbung selbst ein. Parteien und Wählervereinigungen ist es untersagt Kandidaten zu nominieren. Damit stehen die Personen im Mittelpunkt der Wahl und des Wahlkampfes. Bewerbungen von Einzelpersonen sind in vielen anderen Bundesländern bei der Wahl des Bürgermeisters ebenfalls vorgesehen. In vielen Ländern sind sie jedoch neben den Kandidaten, die durch Parteien nominiert werden, eine Ausnahme und selten erfolgreich (Fischer 2009). Die formalen persönlichen Voraussetzungen für eine Bewerbung für das Amt des Bürgermeisters sind rasch skizziert. Bewerben können sich Deutsche im Sinne des Art. 116 Grundgesetzes oder

Unionsbürger, die in Deutschland wohnen. Die Bewerber müssen am Wahltag zwischen 25 und 65 Jahre alt sein. Sie dürfen nicht durch einen richterlichen Beschluss vom Wahlrecht ausgeschlossen sein. Für Bewerber, die bereits disziplinarrechtlich oder strafrechtlich verurteilt wurden, gelten Einschränkungen. Der Schwarzwälder Bote schreibt am 22.08.2008 über die 1997 eingeführten Unterstützungsunterschriften: „Seit elf Jahren hat der Gesetzgeber vor eine OBWahl solche Hürden gestellt, um zu verhindern, dass Dauerbewerber aus Jux und Tollerei in jeder Stadt ihre Bewerbung auf Postkarten oder gar Bierdeckeln abgeben, ohne sich jemals eine realistische Chance auf einen Sieg ausrechnen zu können. Seit diese Klausel eingeführt wurde, ist es bei solchen Wahlen ruhiger geworden – fast zu ruhig, wie man in Nagold feststellen muss.“ In Städten mit mehr als 20.000 Einwohnern benötigen die Bewerber seit 1997 mindes­ tens 50 Unterstützungsunterschriften. Bei einer Stadtgröße von 200.000 Einwohnern müssen 250 Wahlberechtigte die Kandidatur unterstützen. Damit gibt es zumindest in den Städten eine geringe Schwelle, die Bewerber für eine Kandidatur überwinden müssen. Bevor diese Regelung eingeführt

wurde, konnte sich auch dort fast jeder Wahlberechtigte für das Amt des Bürgermeisters bewerben und es gab häufig Spaßkandidaten. Sie bewarben sich ohne großen Aufwand und kandidierten, ohne sich bei öffentlichen Kandidatenvorstellungen zu präsentieren oder sich sonst ernsthaft um eine Kandidatur zu bemühen. So wurden 1996 bei der Neuwahl des Oberbürgermeisters in Stuttgart 39 Bewerber zugelassen. Die Bewerber betonen im Wahlkampf meistens ihre Unabhängigkeit von den Parteien. Sie wird als besonders positive Eigenschaft herausgestellt. Auch Parteimitglieder verzichten auf Prospekten, im Internet und auf Plakaten auf Parteiembleme. Im Einzelfall gehen auch mehrere Bewerber mit gleicher Parteizugehörigkeit als unabhängige Bewerber ins Rennen. In kleineren Gemeinden schließen sich oft mehrere – manchmal auch alle – Gemeinderatsfraktionen zusammen, um geeignete Bewerber zu suchen und zu unterstützen. Vor allem dann, wenn ein erfolgreicher Oberbürgermeister wieder antritt, verzichten die Parteien auch in den Städten eher auf eigene Kandidaten. Die Wiederkandidatur des parteilosen Heilbronner OB Himmelsbach im Jahr 2007 wurde beispielsweise von der CDU, SPD, FDP und den freien Wählern befürwortet. Vielfach sind die Bewerber – vor allem in kleineren Gemeinden – gar nicht Mitglied einer Partei.

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Personen statt Parteien

Der Südkurier schreibt am 17.06.2007 über Bewerber für das Amt des Bürgermeisters: „Kaiser ist parteilos, wurde im Wahlkampf allerdings von der CDU unterstützt. Dies hatte für leichte Irritationen gesorgt, da sich auch zwei CDU-Mitglieder um das Amt des Bürgermeisters beworben hatten, von ihrer eigenen Partei aber nicht unterstützt wurden.“ Neben dem Nominierungsverbot durch Parteien schreibt der Gesetzgeber vor, dass eine Parteizugehörigkeit des Bewerbers auf dem Stimmzettel, bei den öffentlichen Bekanntmachungen und den Wahlergebnissen nicht vermerkt ist. Diese niedrigen Hürden öffnen die Tür im Bewerbungsverfahren weit für potenzielle Bewerber. Sie müssen sich nicht durch das „Nadelöhr“ (Wehling 2003) eines Parteinominierungsverfahrens zwängen, das eher parteipolitische Interessen bedient. In Baden-Württemberg bewerben sich oftmals qualifizierte Verwaltungsfachleute, die bereits Berufserfahrung in der öffentlichen Verwaltung erworben haben. Die Wähler scheinen der beruflichen Qualifikation vor parteipolitischen Erfolgen und Karrieren den Vorzug zu geben. Immer wieder gibt es in Gemeinden nach den Bürgermeisterwahlen enttäuschte Gemeinderäte, die als Kandidaten für sich geworben haben, um ihr kommunalpolitisches Engagement als Bürgermeister fortzusetzen. Sie äußern oftmals ihr Unverständnis darüber, dass ein Verwaltungswirt aus einer anderen Gemeinde gewählt wurde, der nicht in das politische Geschehen in der Gemeinde

involviert sei und sich erst einfinden müsse.

Die freie Zeile Dem bereits sehr offenen Bewerbungsverfahren wird am Wahltag noch die Krone aufgesetzt. Der Stimmzettel bei der Bürgermeisterwahl hält für die Wähler zusätzlich zu den aufgeführten Bewerbern noch eine freie Zeile bereit, mit der sie weitere Kandidaten ergänzen können. Sie können hier einen Namen eintragen und der Person ihre Stimme geben – ohne Absprache mit der betroffenen Person. In der Praxis nutzen die Wähler diese Zeile meistens, um zum Ausdruck zu bringen, dass sie mit dem Angebot an Bewerbern nicht einverstanden sind. Das ist häufig der Fall, wenn die Wähler keine richtige Wahl haben, sondern lediglich den bisherigen Amtsinhaber bestätigen können, da er als alleiniger Bewerber oder ohne ernsthafte Konkurrenz antritt. Der Stimmzettel bleibt gültig und die Stimme wird gezählt. Der TV Südbaden meldete am 12.11.2007 über die Wahl in Lautenbach: „Der Bürgermeister von Lautenbach, Karl Bühler, ist in seinem Amt bestätigt worden. Bei der gestrigen Wahl erhielt Bühler rund 82 Prozent der Stimmen. Der Oberbürgermeister der Nachbarstadt Oberkirch, Matthias Braun, kam auf 16,5 Prozent der Stimmen. Das Kuriose daran: er hatte bei der Wahl gar nicht kandidiert.“ Die Wähler, die an der Wahl teilnehmen und einen Namen im freien Feld ergänzen, können ihre Unzufriedenheit zum

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Datenprobleme bei Bürgermeisterwahlen Angaben über die Gemeinderatswahlen werden in Baden-Württemberg zentral erfasst, bei den Bürgermeis­ terwahlen ist das aber nicht der Fall. Es besteht keine Meldepflicht an eine zentrale Stelle Die Durchführung der Bürgermeisterwahl liegt im Selbstverwaltungsbereich der Kommunen. Für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit ist bei den Gemeinden das jeweilige Landratsamt zuständig, bei den Städten ist es das Regierungspräsidium. Die Rechtsaufsichtsbehörden verfahren mit den Wahlunterlagen ganz unterschiedlich. Einige Landratsämter schicken die Unterlagen nach der Wahlprüfung wieder an die Gemeinden zurück, andere führen eigene Wahlakten und wieder andere archivieren die Ergebnisse in den Personalakten der Bürgermeister. Für ihre Dissertation über „Wahlbeteiligung bei Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg“ sammelte die Autorin bei den Landratsämtern, Städten und Gemeinden die Angaben für über 2.800 Wahlen, die im Zeitraum von 1990 bis einschließlich 2009 stattgefunden haben. Sowohl in den Kommunalämtern als auch in den Kommunen bereitete das Auffinden der Informationen über ältere Wahlen erheblichen Aufwand. Teilweise waren die Unterlagen, insbesondere in den Kommunal­ ämtern, nicht mehr verfügbar. Ausdruck bringen. Oftmals finden sich bei der Auszählung die Namen von Sportlern, Schauspielern oder Bundespolitikern. Bei einer Wahl im Jahr 2008 erreichten die ergänzten Stimmen, zusätzlich zu zwei offiziellen Bewerbern 30 % der abgegebenen gültigen Stimmen. Die Auszählung dauerte entsprechend lange. Das freie Feld wird auch dann sinnvoll genutzt, wenn sich keine Bewerber für das Amt des Bürgermeisters finden, was jedoch sehr selten und fast ausschließlich in kleinen Gemeinden mit ehrenamtlichem Bürgermeister vorkommt.

Wahl ohne Bewerber

Bürgermeister und Gemeinderat Es scheint, als ob die Wähler die besondere parteipolitische Unabhängigkeit des Bürgermeisters schätzen. Sie geben der fachlichen Kompetenz und der Persönlichkeit eines Bewerbers ein größeres Gewicht als der Parteizugehörigkeit. Die 27


Personen statt Parteien

Unterstützung eines Bewerbers durch Landes- oder Bundespolitiker oder auch durch die Gemeinderatsfraktionen einer Kommune schadet meist mehr als sie nutzt. Deshalb kommt es auch in den Städten regelmäßig vor, dass der Bürgermeister einer anderen Partei zuneigt als die Mehrheit des Gemeinderats und dass sich Amtsinhaber mit unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten ablösen. Bei der Amtsausübung führt das dazu, dass sich die Bürgermeister im Gemeinderat Mehrheiten quer über alle Fraktionen suchen (müssen).

Unterschiedliche Amtszeiten

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Die Direktwahl des Bürgermeis­ ters in Baden-Württemberg korrespondiert mit dem Kommunalwahlrecht für die Gemeinderatswahl. Hier können zwar die Parteien mit Listen antreten. Die Wähler haben so viele Stimmen wie Gemeinderäte zu wählen sind. Sie können aber Stimmen kumulieren d.h. einem Kandidaten bis zu 3 Stimmen geben. Außerdem können sie für Kandidaten mehrerer Listen stimmen (panaschieren). Das Wahlrecht räumt den Wählern also auch hier eine Wahl ein, die sie nicht an eine Partei bindet, sondern es unterstützt,

dass die Wähler Personen unabhängig von den Parteilisten wählen. Dies kommt vor allem in kleineren Gemeinden vor, wo die auf Bundes- und Landesebene vertretenen Parteien häufig nicht mit eigenen Lis­ ten antreten. Gemeinderatskandidaten stehen hier auf gemeinsamen Listen mehrerer Parteien oder auf Listen von Wählervereinigungen zur Auswahl. Vor allem in kleineren Gemeinden mit wenigen Gemeinderatssitzen treten keine Parteien an. Bei der Kommunalwahl 2009 fand in 67 Gemeinden (von insgesamt 1101) Mehrheitswahl statt, da es nur einen oder keinen Wahlvorschlag (Liste) gab. In jeder 5. Gemeinde wurden ausschließlich Gemeinderatsmitglieder von Wählervereinigungen gewählt. Mit zunehmender Größe der Kommunen nimmt die Bedeutung der Wählervereinigungen ab und die Bedeutung der Parteien zu. In allen 100 Städten über 20.000 Einwohnern treten zumindest die CDU und SPD mit eigenen Listen an. Die Wähler reagieren bei den Kommunalwahlen auf das Angebot jenseits von Parteien, die im Bundestag oder Landtag vertreten sind. Insgesamt ging über die Hälfte der Sitze bei der Kommunalwahl 2009 an Wählervereinigungen und gemeinsame Listen.

Gemeindestruktur Bei Aussagen über Bürgermeis­ ter- und Kommunalwahlen, muss immer nach der Gemeindegröße unterschieden werden. In kleineren Gemeinden gelten andere Gesetzmäßigkeiten als in größeren Städten. Deshalb lohnt sich ein Blick auf die Gemeindestruktur in Baden-Württemberg. Baden-Württemberg ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl an kleinen und mittel-

großen Gemeinden. Über drei Viertel der insgesamt 1101 Gemeinden haben unter 10.000 Einwohner. Aus Abbildung 1 wird ersichtlich, dass sich die Größe der Gemeinden zwischen 1990 und 2009 verändert hat. Zu Beginn des Jahres 2009 gibt es in der Größenklasse bis 3.000 Einwohner 84 Gemeinden weniger als 1990.1 Den größten Zuwachs verzeichnen vor allem mittlere Gemeinden zwischen 5.000 und 20.000 Einwohnern. Aber auch die Anzahl der Großen Kreisstädte hat in diesem Zeitraum um 15 zugenommen. Die Veränderung der Gemeindegrößen im betrachteten Zeitraum hängt mit dem starken Bevölkerungswachstum zusammen, das BadenWürttemberg erfahren hat. Seit 1990 ist die Bevölkerung um über eine Million Menschen gewachsen. Trotzdem finden auch 2009 über die Hälfte der Bürgermeis­terwahlen in Gemeinden mit weniger als 5.000 Einwohnern statt. Allerdings lebt die Hälfte der Bevölkerung in Städten über 20.000 Einwohnern.

Unterschiedliche Wahltermine Verstärkt wird die Unabhängigkeit des Bürgermeisters von den Ratsfraktionen durch unterschiedliche Amtszeiten. Der Bürgermeister ist für die Dauer von 8 Jahren gewählt. Die Mitglieder des Gemeinderats werden alle 5 Jahre gewählt. Die Bürgermeisterwahlen finden in den Gemeinden und Städten an unterschiedlichen Sonntagen statt. Mit Ausnahme von Sonntagen, die in Schulferien fallen, und Feiertagen gibt es fast an jedem Sonntag Wahlen. Außer bei Wahlen in den gro­ ßen Städten, bleibt die öffentliche Aufmerksamkeit deshalb

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Personen statt Parteien meist regional beschränkt. Dies fördert ebenfalls die Unabhängigkeit von Parteien und von bundes- oder landespolitischen Themen. Die gemeinsame Durchführung der Bürgermeisterwahl mit anderen Wahlen ist erst seit dem Jahr 2005 möglich. Der Gemeinderat entscheidet darüber, ob die Bürgermeisterwahl mit einer anderen Wahl zusammengelegt wird. Eine gemeinsame Durchführung der Kommunalwahl mit der Bürgermeisterwahl, wie sie in anderen Bundsländern üblich ist, um den Bürgermeister stärker an den Gemeinderat zu binden, ist in Baden-Württemberg gerade nicht erwünscht. Im Vorfeld der Kommunalwahlen im Juni 2009 gab es in einigen Städten und Gemeinden Diskussionen über die gemeinsame Durchführung von Kommunal- und Bürgermeisterwahlen. Insgesamt nutzen nur 5 Gemeinden und Städten diese Möglichkeit. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeiten der Zusammenlegung von Bürgermeisterwahlen mit anderen Wahlen in Baden-Württemberg sehr eng gefasst. Eine Bürgermeisterwahl kann nur dann mit einer anderen Wahl zusammengelegt werden, wenn die Amtszeit des Bürgermeisters bis zu zwei Monate vor oder bis zu einem Monat nach dem festgelegten Zeitpunkt der anderen Wahl abläuft. Dies hat zur Folge, dass nur eine sehr begrenzte Anzahl von Kommunen die Option hat, die Bürgermeisterwahl mit anderen Wahlen zusammenzulegen.

Parteineigung und Parteibindung Trotz des Verbots für die Parteien, einen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl vorzuschlagen, des Verzichts der Partei-

zugehörigkeit auf dem Stimmzettel und dem Insistieren der Kandidaten als unabhängige Bewerber, gibt es gleichwohl Affinitäten der Kandidaten zu Parteien. Sie äußern sich beispielsweise darin, dass sich einzelne Kandidaten zunächst bei den Ortsverbänden der Parteien vorstellen und um Unterstützung bei einer Kandidatur werben. Außerdem suchen die Parteien gezielt nach Kandidaten, beispielsweise durch Anzeigen in Zeitungen, auf Internetseiten und durch persönliche Ansprache. Nicht zuletzt sind einige Bewerber Mitglieder in politischen Parteien und zum Teil auch Funktionsträger für die Partei – zum Beispiel im Kreistag oder Landtag. Dies trifft insbesondere auf Bürgermeister zu, die sich wieder für das Amt bewerben und für die Bewerber um das Amt des Oberbürgermeisters in Städten. Bis Mitte der 70er Jahre gab es selbst in den beiden größten baden-württembergischen Städten – Stuttgart und Mannheim – parteilose Oberbürgermeister. Heute scheint das nur in Ausnahmefällen denkbar. In größeren Städten sind

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die politischen Parteien aktiv, um eigene Kandidaten zu suchen und sie im Wahlkampf zu unterstützen. Je größer eine Kommune ist, desto wichtiger ist inzwischen die Anbindung oder gar Zugehörigkeit zu einer politischen Partei, da der Wahlkampf ohne die Unterstützung einer Parteiorganisation kaum möglich ist. Häufig sind die Bewerber für das Amt des OB vor ihrer Kandidatur bereits Bürgermeister in der eigenen Stadt, Oberbürgermeister einer anderen Stadt, Landtagsabgeordnete oder/und politisch in der eigenen Stadt aktiv und somit den Wahlberechtigten bekannt. Darüber hinaus wächst mit der Größe der Kommune die Wahrnehmung der Kandidaten als Parteikandidaten und ihre entsprechende Darstellung in den Medien z.B. als „die Oberbürgermeisterkandidatin der CDU“ oder „der grüne Oberbürgermeisterkandidat“. Im Wahlkampf treten dementsprechend die politischen Entscheidungsträger der anderen Systemebenen als Unterstützung der Kandidaten an.2 Für die Wähler in den größeren Städten bietet sich die Parteizugehörigkeit als eine

Abb. 1: Anzahl der Gemeinden in Baden-Württemberg 1990 und 2009 nach Größenklassen

Kein Parteiname auf dem Stimmzettel

2 Wahlen an 1 Tag? Eine Ausnahme

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Personen statt Parteien Orientierung für die Wahlentscheidung an.

Häufig ohne Gegenkandidat

Je mehr Einwohner, desto mehr Bewerber

Abb. 2: Durchschnittliche Bewerberzahl nach Gemeindegrößenklassen

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Auswirkungen auf Bewerberzahl Das sehr offene Wahlverfahren und die Fokussierung auf die Persönlichkeit der Bewerber lässt erwarten, dass sich viele Kandidaten um das attraktive Amt bewerben. Für Absolventen der Hochschulen für öffentliche Verwaltung bietet das Amt neben der großen Gestaltungsfreiheit den Anreiz eines finanziellen Aufstiegs. Trotzdem ist die Zahl der Bewerber – zumindest auf den ersten Blick – erstaunlich gering. Die Unabhängigkeit der Bewerber von Parteien führt dazu, dass sie hohe Wahlkampfkosten tragen müssen. Auch der hohe zeitliche und finanzielle Aufwand im Wahlkampf kann Bewerber von einer Kandidatur abschrecken. Bei rund 60 % aller Bürgermeisterwahlen bewerben sich die bisherigen Amtsinhaber wieder. Für potenzielle Bewerber wirkt der – oftmals fettgedruckte – Satz in der Stellenausschreibung „Der derzei-

tige Amtsinhaber bewirbt sich wieder“ abschreckend. Bei jeder 2. Wahl in Gemeinden unter 3000 Einwohnern tritt der Amtsinhaber alleine an. Weitere ernsthafte Bewerber finden sich meistens nur dann, wenn Unstimmigkeiten in der Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Bürgermeister oder zwischen dem Gemeinderat und Bürgermeister über die Gemeindegrenzen hinweg bekannt geworden sind. Auf den ersten Blick scheint es fast aussichtslos, überhaupt gegen einen Stelleninhaber zu gewinnen. Nur in rund 8 % der Wahlen, bei denen der Amtsinhaber antritt, wird er nicht wieder gewählt oder muss in einen 2. Wahlgang. Dies liegt aber an dem hohen Anteil an Wahlen, bei denen die Amtsinhaber alleine oder ohne ernsthafte Konkurrenz antreten. Wird der Amtsinhaber durch einen weiteren Bewerber herausgefordert, dann wird er in 12 % der Wahlen bereits im 1. Wahlgang abgewählt. Weitere 5 % der Wahlen mit einem Herausforderer werden im 1. Wahlgang nicht entschieden, sondern es findet eine 2. Wahl statt. Hat es

ein Konkurrent erst mal in die 2. Wahl geschafft, dann stehen seine Chancen nicht schlecht, das Amt des Bürgermeisters zu erringen. Nur knapp 40 % der Stelleninhaber gelingt es, eine Neuwahl zu gewinnen. Aus Abbildung 2 ist ersichtlich, dass die Zahl der Bewerber mit der Größe der Kommune zunimmt. Die stärkeren Parteiaktivitäten in den Städten führen dazu, dass dort mehr Bewerber bei den Bürgermeis­ terwahlen antreten. Während sich in den kleineren Gemeinden die Amtsinhaber oftmals ohne weiteren (ernsthaften) Konkurrenten um ihre Wiederwahl bewerben, bieten die Parteien in den Städten eher Gegenkandidaten auf, um den Amtsinhaber herauszufordern. Deutlich zu sehen ist auch, dass die Zahl der Bewerber in allen Größenklassen in den letzten Jahren abnimmt. In den Städten über 20.000 Einwohnern lässt sich der Rückgang der durchschnittlichen Bewerberzahl unter anderem darauf zurückführen, dass seit 1997 Unterstützungsunterschriften erforderlich

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Impressum sind. Vor 1997 bewarben sich in den Städten mit über 20.000 Einwohnern im Durchschnitt mehr als 4 Bewerber. Danach ist die durchschnittliche Zahl der Bewerber auf etwas über 3 zurückgegangen.

Fazit Durch eine Vielzahl von Regelungen unterstützt das badenwürttembergische Wahlrecht, dass bei den Bürgermeisterwahlen Personen und nicht Parteien im Mittelpunkt der Wahlen stehen. Zu diesen Regelungen zählen: • ein Nominierungsverbot für Parteien • die geringen formalen Voraussetzungen für Bewerber • ein freies Feld auf den Stimmzetteln für Ergänzungen • die restriktiven Voraussetzungen für die gemeinsame Durchführung von Bürger-

meisterwahlen mit anderen Wahlen • die unterschiedlichen Wahlperioden des Bürgermeis­ ters und der Gemeinderäte • die mit den Bürgermeisterwahlen korrespondierenden Regelungen für die Wahl der Gemeinderäte mit Kumulieren und Panaschieren Vor allem in den vielen kleineren Gemeinden mit ihren zahlreichen parteilosen Bürgermeistern und Bürgermeisterkandidaten nutzen die Wähler die Möglichkeit zur reinen Persönlichkeitswahl. Je größer die Kommune, desto mehr gewinnen die Parteien an Bedeutung. Die Unabhängigkeit von Parteien führt dazu, dass sich bei der Mehrzahl der Wahlen die Amtsinhaber ohne ernsthafte Konkurrenz bewerben und die durchschnittliche Zahl der Bewerber gering ist.

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Literatur:

Fischer, Josef: Bürgermeis­ ter und Ratsmitglieder in Deutschland. In: Stadtforschung und Statistik 1/2009. S. 36-42. Wehling, Hans-Georg (2003): Rat und Bürgermeister in der deutschen Kommunalpolitik. In: Kost, Andreas/ Wehling, Hans-Georg: Kommunalpolitik in den deutschen Ländern. Wiesbaden. S. 301–312.

Anmerkungen

Personen stehen im Zentrum – nicht Parteien

1

Die Zahl der Gemeinden in Baden-Württemberg ist seit dem Abschluss der Gemeindereform in den 70iger Jahren mit 1110 weitgehend stabil. Erst in den letzten Jahren gab es drei weitere Zusammenschlüsse von Gemeinden. So wurden 2006 die Gemeinde Tennenbronn zu Schramberg eingemeindet, 2007 die Gemeinde Betzweiler-Wäldele zu Lossburg und zum Ende des Jahres 2008 haben sich außerdem 8 kleine Gemeinden unter 1.000 Einwohnern zur Gemeinde Kleines Wiesental zusammengeschlossen, so dass es heute 1101 Gemeinden gibt. 2 Es kann allerdings angezweifelt werden, ob dies für die Kandidaten förderlich ist.

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Was hilft gegen die Wahlenthaltung?

Kombi-Wahlen – Ein Weg zu höherer Wahlbeteiligung Björn Geurtz, Duisburg

Nordrhein-Westfalen: Bundestagswahl und Kommunalwahl am 16.10.1994.

Niedersachsen: Bundestagswahl und Kommunalwahl am 3.10.1976

Brandenburg: Bundestagswahl und Kommunalwahl am 27.9.1998

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Niedrige und weiterhin sinkende Wahlbeteiligungen sind ein Trend, der sich bei allen Wahlen und auf allen Ebenen erkennen lässt. Nachdem bei der Bundestagswahl 2009 mit 70,8 % die mit Abstand niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl in der Geschichte der Bun­des­republik Deutschland erzielt wurde (so auch Fass, Th., 2009: Das fast vergessene Phä­no­men. Hintergründe der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2009. Duisburg), ist die Diskussion über Konzepte, wie diese zu erhöhen ist, wieder im vollem Gange. Bundestagswahlen –> Landtagswahlen –> Kommunalwahlen –> Europawahlen, so sieht die (ge­messen an der Wahlbeteiligung) eindeutige „Wichtigkeitsreihenfolge“ der Wahlen bei den Bür­gerinnen und Bürgern in Deutschland aus. Seitens der Politik und auch seitens der Wis­sen­schaft gab und gibt es Überlegungen, wie man die Beteiligung – vor allem bei Kom­mu­nal­wah­len – steigern könnte. Die Faktoren, die die Entscheidung der Bürger beeinflussen, ihr Kreuz zu machen, sind viel­schichtig. Viele Ansätze in den Politik- und Sozialwissenschaften ste­hen zur Auswahl. Die Zu­ sammenlegung mehrerer Wahlen („Kombi-Wahlen“) ist eine Mög­lich­keit, die in diesem Zu­sam­men­hang diskutiert wird.

In Deutschland gab es bereits einige „Kombi-Wahlen“. Dreimal fielen Kommunalwahlen und Bun­destagswahlen zusammen (Nordrhein-Westfalen 1994, Niedersachsen 1976, Bran­den­burg 1998). Zweimal fielen Kommunalwahlen und Landtagswahlen zusammen (Nord­rhein-West­ falen 1975, Saarland 1960). Zeitgleiche Landtagswahlen und Bundestagswahlen gab es bisher neunmal in Deutschland (Rheinland-Pfalz 1983, Berlin 1990, MecklenburgVor­pom­mern 1994, Saarland 1994, Thüringen 1994, Mecklenburg-Vorpommern 1998, Meck­l enburg-Vorpommern 2002, Brandenburg 2009 und Schleswig-Holstein 2009). Dreizehnmal wurde zeit­ gleich der Oberbürgermei­ ster und der Bundestag bzw. der Landtag ge­wählt (Dessau-Roß­lau 1994, Halle 1994, Magdeburg 1994, Trier 1998, Potsdam 1998, Landshut 1998, Em­den 1998, Potsdam 2002, Saarbrücken 2004, Lübeck 2005, Hildesheim 2005, Ko­blenz 2009 und Dortmund 2010). Während die Dortmunder Kommunalwahl vom 30.08.2009 eine Wahl­ be­teiligung von 46,8 % verzeichnen konnte (historisches Tief), führte die Nachwahl des Oberbürgermeisters am 09.05.2010, die zeitgleich mit der NRW-Landtagswahl stattfand, zu einer Wahlbeteiligung von 53,4 %.

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KoMBi-WaHlEN – EiN WEG ZU HÖHErEr WaHlBEtEiliGUNG in nahezu allen aufgeführten Fällen ist eine deutliche Steigerung der Wahlbeteiligung bei der jeweils „kleineren“, insbesondere der Kommunalwahl, festzustellen. Nachfolgende abbildungen sollen dies verdeutlichen. Jede Grafik enthält 3 Wahlen, die mittlere ist eine Kombi-Wahl, die außen liegenden sind „einfache“ Wahlen. die Wahldaten sind der datenbank des duisburger amtes für Statistik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten entnommen. die Kommunalwahl im Saarland kann als ausreißer behandelt werden, da sie eine Nachwahl war, die bei der Bevölkerung auf geringe akzeptanz gestoßen ist. die oben genannten Zahlen können als Beleg dafür gesehen werden, dass durch die Kombination von Wahlen verschiedenen typs die Wahlbeteiligung der „kleineren Wahl“ gesteigert werden kann – darüber hinaus erspart es dem Fiskus Kosten und dem Wähler aufwand. am häufigsten wurden bisher oberbürgermeister-Wahlen zusammen mit Bundestagswahlen abgehalten, dicht gefolgt von landtagswahlen in Verbindung mit Bundestagswahlen. ob dies mit dem Wunsch nach einer erhöhten Wahlbeteiligung festgelegt worden ist oder durch ein zufälliges aufeinandertreffen der Wahlzyklen, lässt sich nur anhand der Wahldaten nicht entscheiden. Kommunalwahlen fanden und finden relativ selten in Verbindung mit anderen Wahlen statt. Eine ausweitung dieser Kombi-Wahlen stößt oft auf politischen Widerstand. landesund Kommunalpolitiker pochen auf die Eigenständigkeit ihrer Wahl und befürchten, dass lan-

destypische oder kommunale themen in der allgemeinen bundespolitischen debatte untergehen (vgl. tagesspiegel v. 12.08.2008: Qualen mit Wahlen). Nur neunmal bisher, davon allein fünfmal in den neuen Bundesländern, konnte den landespolitikern diese Befürchtung genommen werden. So stehen sich zwei Sichtweisen gegenüber: die Steigerung der Wahlbeteiligung und damit eine stärkere demokratische legitimation in Verbindung mit einer aufwands-/Kostenersparnis sowie die politische Eigenständigkeit von Wahlen unterschiedlichen typs. diese Frage wird von Verwaltungen, Politik und Politikwissenschaft sicher auch noch in Zukunft heftig diskutiert werden. letztere sieht über die Bedeutungszuweisung von Wahltypen durch den Wahlbürger hinaus noch andere Ursachen für die sinkende Wahlbeteiligung und bietet andere lösungsansätze an, um die demokratische legitimation von Mandatsträgern zu erhöhen. Hier bestimmen Schlagwörter wie Politikverdrossenheit, Verlust der Parteibindung oder aufbrechung der sozialen Milieus eine zentrale rolle (vgl. hierzu exemplarisch: thomas Kleinhenz, „die Nichtwähler. Ursachen der sinkenden Wahlbeteiligung in deutschland“, „Wahlbeteiligung: Nichtwähler und Protestwähler“ auszug aus: Karl-rudolf Korte: Wahlen in deutschland, Zeitbilder. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2009 oder Franz Walter: im Herbst der Volksparteien? aufstieg und rückgang politischer Massenintegration). Eine generelle Bündelung von Wahlen ist aber aus heutiger Sicht und vor dem beschriebenen Hintergrund auch in naher Zukunft nicht zu erwarten.

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Nordrhein-Westfalen: Landtagswahlen und Kommunalwahlen am 04.05.1975

Saarland: Landtagswahl und Kommunalwahl am 04.12.1960

Über Statistik

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Alkohol belebt , Zahlen auch – wen n die Dosierung stim mt.

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Welche Wähler wechselten wie ihre Wahlentscheidung?

Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung Thomas Kellermann, Plattling

1. Problem einführung

28x30-Inferenzproblem

Veränderung des Wahlkörpers

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Ein wichtiger Teil der Wahlberichterstattung ist die Analyse von Wählerwanderungen zwischen den einzelnen Parteien und der Partei der Nichtwähler. Besonders nach Wahlen, bei denen es große Verschiebungen zum Ergebnis der vorherigen Wahl gab, stellt sich die Frage, von welcher Partei wie viele Wähler wohin wanderten. Wem gaben beispielsweise die SPD-Wähler der Bundestagswahl 2005 bei der Wahl 2009 ihre Stimme? Sind mehr SPD-Wähler zur CDU oder zu den Linken gewandert? Oder hat sich der Großteil etwa der Wahl enthalten? Theoretisch handelt es sich bei dem Problem der Wählerwanderungsanalyse um ein r x c - ökologisches Inferenzproblem. Man möchte anhand vorhandener Aggregatdaten Rückschlüsse auf das Individualverhalten ziehen. Es können jedoch viele Datenkonstellationen im Individualbereich zu den bekannten Aggregatdaten geführt haben. Somit ist es stets möglich, dem sogenannten „ökologischen Fehlschluss“ (vgl. Gschwend (2006)) zu unterliegen. In diesem Artikel soll nun die Durchführung einer solchen Wählerwanderungs­ analyse schrittweise diskutiert werden. Gegeben seien also die amtlichen Wahlergebnisse von zwei aufeinanderfolgenden

Wahlen, bei denen die Einteilung der Wahlbezirke gleich ist.

2. Schrittweise Wählerwande rungsanalyse 2.1 Definition der Modell-Parteien Bei Berücksichtigung aller Parteien entspricht die Wählerwanderungsanalyse von der Bundestagswahl 2005 zur Bundestagswahl 2009 einem 28 x 30 - ökologischen Inferenzproblem. Daher ist es nötig, die Anzahl der Parteien zu reduzieren und sogenannte Modell-Parteien zu definieren. Üblicherweise wird eine Partei der Nichtwähler definiert, welcher auch die ungültigen Stimmen zugeordnet werden. Außerdem werden meist, wie in der üblichen Berichterstattung zu einer Wahl, die Kleinst­parteien zu einer RestPartei zusammengefasst. Die­ se Rest-Partei besteht dann aber aus inhaltlich sehr unterschiedlichen Parteien wie beispielsweise der NPD oder der ödp. Im Gegensatz zu dieser intuitiven Einteilung werden bei der inhaltlichen Einteilung die Kleinstparteien gemäß ihrer inhaltlichen Ausrichtung und Wählerstruktur einer der Hauptparteien zugerechnet. Dies stellt einen sehr interessanten Ansatz dar, welcher bereits von Achen & Shively (1995) empfohlen wurde.

Um die Dimensionen des Problems zu verringern, sollte die Anzahl der Parteien soweit möglich reduziert werden. Dabei ist gegen eine Zurechnung der ungültigen Stimmen zur Partei der Nichtwähler nichts einzuwenden. Für die Einteilung der Kleinstparteien sollte man jedoch bedenken, dass es sehr schwierig ist für diese Parteien verlässliche Übergangsraten zu schätzen, denn sie haben nur einen minimalen Einfluss auf die Gesamtanzahl an Stimmen. Handelt es sich nun auch noch um eine keineswegs homogene Partei, wie beispielsweise die Rest-Partei, so sind die geschätzten Übergangsraten für diese Partei wenig aussagekräftig. 2.2 Berücksichtigung

der Bevölkerungsbewegungen

Ausmaß der Bevölkerungs­ bewegungen Der Wahlkörper verändert sich zwischen zwei Wahlen durch vier Personengruppen: Neuwähler, Gestorbene, Zugezogene und Fortgezogene. Dabei gilt, je kürzer der Abstand zwischen zwei Wahlen ist, desto geringer ist auch das Ausmaß der Bevölkerungsbewegungen. Je niedriger jedoch die Aggregatebene ist, desto größer ist das Ausmaß. Mit den Daten, die von Michael Haussmann vom Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart zur Verfügung

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Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung gestellt wurden, ist es möglich, das Ausmaß der Bevölkerungsbewegungen in Stuttgart zwischen zwei Bundestagswahlen abzuschätzen. Diese Daten enthalten zu jedem Wahlbezirk die Anzahl der wahlberechtigten Personen mit einer gewissen Wohndauer (0–1 Jahr, 1–2 Jahre, …, 14–15 Jahre, über 15 Jahre) in Stuttgart und wurden zu zwei verschiedenen Stichtagen, dem 30.6.2005 und dem 30.6.2009, bereitgestellt. Die Bundestagwahlen fanden am 18.9.2005 und am 27.9.2009 statt. Zwischen dem Stichtag der Daten und den Wahlen liegen also jeweils gut zweieinhalb Monate. Leider bezieht sich die Wohndauer auf das gesamte Gebiet Stuttgart und nicht den einzelnen Wahlbezirk. Außerdem besteht bei den Wohndauerdaten das Problem, dass Neuwähler, welche schon länger in Stuttgart wohnen, nicht notwendigerweise in einer der Kategorien 0–4 Jahre enthalten sind. Zum Beispiel ist ein 20-jähriger, bei der Bundestagswahl 2009 erstmalig Wahlberechtigter, der schon seit seiner Geburt in Stuttgart wohnt, in der Kategorie „über 15 Jahre“ enthalten. Bei der Bundestagwahl 2005 war er hingegen nicht im Datensatz enthalten. Damit wird ein beträchtlicher Teil der „Erstwähler“ im Wohndauerdatensatz nicht erfasst. Es lassen sich aber trotzdem für jeden Wahlbezirk die Wähler bestimmen, die definitiv bei der jeweiligen Wahl zum ersten Mal in diesem Wahlbezirk wahlberechtigt waren. Dies sind diejenigen Wahlberechtigten, welche zwischen null und vier Jahren in Stuttgart und damit in einem bestimmten Wahlbezirk wohnen. Der Anteil dieser „Erstwähler“ an der Anzahl Wahlberechtigter ist für die Bundestagswahlen 2005 und 2009 in Abbildung 1

dargestellt. Es handelt sich bei den berechneten Anteilen um Untergrenzen für das wahre Ausmaß der Bevölkerungsbewegungen. Bei beiden Wahlen kann man einen extremen Ausreißer bei ungefähr 60% erkennen. Hierbei handelt es sich um den Wahlbezirk 020-17 in Vaihingen, ein Studentenviertel der Universität Stuttgart. Im Datensatz 2009 gibt es noch einen weiteren extremen Ausreißer bei fast 50%, den Wahlbezirk 001-08 in Stuttgart-Mitte. Dort ist die Anzahl der Wahlberechtigten stark gestiegen und folglich gibt es auch einen großen Anteil „Erstwähler“. Insgesamt lässt sich jedoch feststellen, dass der Großteil der Anteile unter 20% liegt. Des Weiteren ist es sehr interessant, die Anteile 2005 mit denen 2009, wie in Abbildung 1, zu vergleichen. Der Anteil an „Erstwählern“ scheint in den Wahlbezirken, bis auf Wahlbezirk 001-08, relativ konstant zu sein. Auch ist der Korrelationskoeffizient mit 0.93 relativ hoch. Insgesamt liegt die Unterschranke für den Anteil „Erstwähler“ für die Wahl 2005 bei 14.5% und für die Wahl 2009 bei 16.2%. Da aber ein Großteil der „Erstwähler“ nicht im Datensatz enthalten ist, muss davon ausgegangen werden, dass der Anteil in Wirklichkeit erheblich höher ist. Verschiedene Methoden Im Folgenden wird kurz auf die verschiedenen Methoden, welche in der Fachliteratur zur Berücksichtigung der Bevölkerungsbewegungen vorgeschlagen wurden, eingegangen. Besitzt man keine Daten zur Bevölkerungsbewegung, so ist es notwendig, das Ergebnis der ersten Wahl auf die zweite Wahl umzurechnen. Dazu gibt

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es zwei grundsätzliche Möglichkeiten. Entweder man trifft die Annahme, dass sich das Wahlverhalten eines Wahlbezirks durch Bevölkerungsbewegungen nicht entscheidend verändert (vgl. Hawkes (1969)) oder man nimmt an, dass sich das Wahlverhalten des Gesamtgebiets dadurch nicht entscheidend verändert. Sei also die Anzahl der Wahlberechtigten im Wahl­ bezirk bei der ersten Wahl und die Anzahl der Wahlberechtigten im Wahlbezirk bei der zweiten Wahl. Sei außerdem die Differenz der beiden Wahlberechtigtenzahlen. Dann ergeben sich die umgerechneten Stimmsummen der einzelnen Partei­en bei der ersten Wahl für den Wahlbezirk aus den Stimmsummen nach dem Vorschlag von Hawkes wie folgt:

Abb. 1: Anteil an „Erstwählern“ 2005 und 2009.

„Erstwähler“Unterschranke

für alle Sei nun noch die Gesamtanzahl der Wahlberechtigten bei der ersten Wahl und die Gesamtanzahl an Stimmen für 35


Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung

e1 : Partei 1 e1 : Partei 2 … e1 : Partei r

e2 : Partei 1 p11 p21 … pr 1 s1

e2 : Partei 2 p12 p22 … pr 2 s2

… … … … … …

e2 : Partei c p1c p2c … pr c sc

f1 f2 … fr

Tabelle 1: Notation für Wähler­ übergangsraten des Gesamtgebiets

Partei . Dann ergeben sich die umgerechneten Stimmsummen nach dem zweiten Vorschlag wie folgt: für alle

Restriktionen für kons­ tantes Wahlverhalten

Übergangsraten

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Die zur Verfügung stehenden Informationen werden mit dem Vorschlag von Hawkes jedoch besser genutzt. Die Annahme, dass sich das Wahlverhalten eines Wahlbezirks zwischen zwei Wahlen nicht entscheidend verändert, kann unter anderem dadurch begründet werden, dass Kinder (also Neuwähler) oft das Wahlverhalten ihrer Eltern annehmen oder Zugezogene sich den Bezirk bewusst aufgrund der Zusammensetzung der Gesellschaft dort aussuchen. Außerdem ist der Anteil an „Erstwählern“ relativ konstant. Weitere Vorschläge wurden unter anderem von Ambühl (2003), Neuwirth (1994) und Hoschka & Schunck (1975) gemacht. Bei allen muss zunächst das Ausmaß der einzelnen Bevölkerungsströme mithilfe öffentlicher Statistiken geschätzt werden. Dann werden diese Ströme entweder als eigene Parteien in das Modell integriert (Ambühl und Neuwirth) oder aus den Wahlergebnissen mithilfe repräsentativer Wahlstatistiken herausgerechnet (Hoschka & Schunck). Beide Ansätze sind nur schwer umzusetzen, da man sehr viele zusätzliche Daten braucht, und daher in den allermeisten Fällen schon aus rein praktischen Gründen nicht durchführbar.

Diskussion Bei der Durchführung einer Wählerwanderungsanalyse muss man sich darüber im Klaren zu sein, wie man mit den Bevölkerungsbewegungen zwischen zwei Wahlen umgeht. Meines Erachtens ist der Vorschlag von Hawkes am Bes­ ten geeignet, denn dieser ist nicht nur einfach anzuwenden, sondern er ist auch intuitiv am einleuchtendsten. Bei Hawkes Vorschlag wird der Wahlkörper an sich modelliert. Es wird die Annahme getroffen, dass sich das Wahlverhalten eines Wahlbezirks durch Bevölkerungsbewegungen nicht entscheidend verändert hat. Weiterhin besteht die Möglichkeit, einzelne Wahlbezirke von der Berechnung der Wählerwanderung auszuschließen. Besonders einleuchtend ist dies für Wahlbezirke, die zwischen zwei Wahlen neu entstanden sind. Wahlbezirke sollten auch ausgeschlossen werden, wenn sie zwischen zwei Wahlen besonders stark gewachsen bzw. geschrumpft sind, weil dort die Annahme konstanten Wahlverhaltens nicht gehalten werden kann. Hingegen sollte ein großer Bevölkerungsaustausch nicht als Ausschlusskriterium benutzt werden, da dies nicht unbedingt bedeutet, dass sich auch die Zusammensetzung der Bevölkerung dort verändert hat (vgl. Studentenviertel). Im Fall der Wählerwanderungs­ analyse für die Bundestagswahl 2009 in Stuttgart müsste also zumindest der Wahlbezirk 00108 ausgeschlossen werden, da dieser um 37% gewachsen ist.

2.3 Schätzung der Wählerwanderung Gegeben seien die Ergebnisse von zwei aufeinanderfolgen­ den Wahlen in allen Wahl­ bezirken. Es wird angenommen, dass sich die Einteilung

der Wahlbezirke nicht verändert hat und dass sich beide Wahlen auf einen identischen Wahlkörper beziehen. In der sind die Wahlergebnisse der Parteien der ersten Wahl enthalten und in der die Wahlergebnisse der Parteien der zweiten Wahl. Das Problem der Wählerwanderungsanalyse ist in Tabelle 1 dargestellt. Die Randwerte und sind die bekannten Gesamtwahlergebnisse der ersten Wahl bzw. der zweiten Wahl. Wir würden gerne die und schätzen. Diese werden als Wählerüber­ gangsraten bezeichnet und können in zwei Gruppen eingeteilt werden. Erstens die Loyalitätsraten, also diejenigen für die Partei bei der ersten Wahl und Partei bei der zweiten Wahl die gleiche Partei darstellen. Zweitens die sogenannten Übertrittsraten, also die Wählerübergangsraten zwischen verschiedenen Parteien. Von den zu schätzenden Übergangsraten müssen drei Restriktionen erfüllt werden. Erstens müssen die Übergangsraten, welche sich auf Partei der ersten Wahl beziehen, zusammen 1 ergeben, denn es können nur so viele Wähler von Partei weggewandert sein, als es Wähler von Partei gab.

für alle Zweitens dürfen die Übergangsraten, da es sich um Anteile handelt, nicht negativ bzw. größer 1 sein. für alle und

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Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung Und drittens sollte sich das Gesamtwahlergebnis der zweiten Wahl aus der zu schätzenden Übergangsmatrix , sowie dem Gesamtwahlergebnis der ers­ ten Wahl ergeben. Zur Schätzung dieser Übergangsraten wurden in der Literatur immer wieder neue Modelle oder Verbesserungen von alten Modellen vorgeschlagen. Grundsätzlich lassen sich die Methoden, welche nur auf Aggregatdaten basieren, in drei verschiedene Gruppen einteilen. • Die „Best Pair“ - Methode: Rückführung des Problems auf mehrere 2 x 2 - Probleme • Ökologische Regressionsver­ fahren: Schätzung der Übergangsraten mittels multi­pler Regression • Das Logit-Modell: Modellierung der Übergangsraten mithilfe einer latenten Variablen Diese Aggregatdatenverfahren werden im Folgenden kurz vorgestellt, und es wird auf die wesentlichen Schwachpunkte der einzelnen Methoden eingegangen. Für eine genaue Beschreibung der Methoden sei auf die jeweilige Fachliteratur verwiesen.

Andreadis & Chadjipadelis nehmen die Korrelationsmatrix als Ausgangspunkt ihres Algorithmus. Das Paar von Parteien, für welches der Eintrag in maximal ist, wird als sogenanntes „Best Pair“ ausgewählt. Das r x c - Problem wird nun auf ein 2 x 2 - Problem reduziert, so dass die Anwendung eines Modells zur Lösung von 2 x 2 - ökologischen Inferenzproblemen gerade eine Schätzung für die Übergangsrate liefert. Die mit dieser Übergangsrate erklärten Wanderungen werden nun aus dem r x c - Problem herausgerechnet und es wird mit neuen Matrizen und eine neue Korrelationsmatrix berechnet und die nächste Iteration durchgeführt. Damit erhält man bei jeder Iteration ein neues bestes Paar . Dies wird solange wiederholt bis ein gewisser, im vorhinein spezifizierter Anteil a der Wanderungen des Gesamtelektorats erklärt wurde. Beispielsweise könnte a = 0.99 oder a = 0.999 sein. Je höher dieser Anteil ist, desto mehr Iterationen werden durchgeführt und desto länger dauert die Berechnung der Wählerwanderung.

Vom Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart wurden unter anderem die Wahlergebnisse der ersten und zweiten Runde zur Oberbürgermeis­ terwahl 2004 zur Verfügung gestellt. Diese Daten eignen sich sehr gut zur Durchführung einer Wählerwanderungsanalyse, weil die zwei Wahlgänge innerhalb kurzer Zeit stattgefunden haben. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse der beiden Wahlgänge im Vergleich. Eine Wählerwanderungs­ana­ lyse ist auch deshalb interessant, da der Kandidat der Grünen beim ersten Wahlgang, Boris Palmer, auf eine Kandidatur beim zweiten Wahlgang verzichtete und seine Anhänger zur Unterstützung des CDU-Kandidaten Schuster aufforderte. Eine interessante Fragestellung ist also die nach dem Anteil der Grünen-Wähler, die beim zweiten Wahlgang den CDU-Kandidaten gewählt haben. Die mit der „Best Pair“ - Methode geschätzten Übergangsraten sind in Tabelle 2 dargestellt. Demnach sind fast 20% der früheren GrünenWähler dem Aufruf Palmers gefolgt und haben den CDUKandidaten Schuster gewählt. Jedoch haben mehr als doppelt

OB-Wahl in Stuttgart 2004

Grüner empfiehlt CDU

Abb. 2: Wahlergebnisse der beiden Wahlgänge zur Oberbürgermeisterwahl 2004 in Stuttgart.)

Die „Best Pair“ - Methode Die griechischen Forscher Andreadis & Chadjipadelis (2009) haben eine neue Methode zur Bestimmung von Wählerwanderungen veröffentlicht. Die Idee der Methode besteht darin, das große r x c - Wählerwanderungsproblem rekursiv durch die Schätzung von vielen 2 x 2 - Problemen zu lösen. Aufgrund großer Verbesserungen zur Lösung von 2 x 2 Problemen (vgl. Gschwend (2006) und King et. al. (2004)) stellt dies einen sehr interessanten Ansatz dar. Stadtforschung und Statistik 1/2011

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Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung

Schuster1 Kumpf1 Palmer1 NW1

Schuster2 0.960 0.068 0.198 0.012

Tab. 2: Übergangsraten für die Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 2004 mit der „Best Pair“-Methode

Loyalitäts- und Übertrittsraten

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Kumpf2 0.016 0.896 0.480 0.015

NW2 0.022 0.036 0.318 0.973

so viele, fast 50%, die SPDKandidatin Kumpf gewählt. Bei der „Best Pair“ - Methode handelt es sich um einen sehr interessanten Ansatz, da neben den Schätzungen fürs Gesamtgebiet auch für jeden Wahlbezirk eine Übergangsmatrix geschätzt wird. Diese sollten jedoch mit Vorsicht betrachtet werden, können aber durchaus interessante Aufschlüsse über die geographischen Unterschiede der Übergangsraten liefern. Andreadis & Chadjipadelis haben eine klar definierte Methode entwickelt, um Wählerwanderungen zu schätzen. Sie geben explizit an, dass diese Methode nur für Wählerwanderungsanalysen benutzt werden soll, denn nur bei diesen kann man sich relativ sicher sein, dass auf dem Aggregatniveau beobachtete Korrelationen durch selbige auf der Individualebene erklärt werden können. Für allgemeine r x c - ökologische Inferenzprobleme ist diese Methode definitiv nicht zu empfehlen. Durch die rekursive Anwendung von 2 x 2 - Modellen ist es jedoch nicht möglich, Aussagen über die Güte der Schätzung zu treffen. Ein weiterer Kritikpunkt ist sicherlich, dass die Heuristik zur Auswahl des besten Paares in gewisser Weise willkürlich wirkt. So könnte beispielsweise auch die unveränderte Matrix zur Auswahl des „Best Pair“ verwendet werden. Andreadis & Chadjipadelis wandten die Methode auf die französischen Präsidentschaftswahlen 2007,

sowie die griechischen Parlamentswahlen 2007 an und erzielten damit Schätzungen, die sehr nah an den Exit PollUmfragen lagen. Schließlich hat sich in der tatsächlichen Anwendung der Methode noch ein weiteres Problem ergeben. Andreadis & Chadjipadelis beschreiben als eine Charakteristik der Heuristik zur Auswahl des besten Paares, dass zunächst die Loyalitätsraten der großen Parteien, dann die Loyalitätsraten der kleinen Parteien und schließlich die Übertrittsraten geschätzt werden. Dies ist auch meistens der Fall. Bei obigem Beispiel waren die drei ersten Übergangsraten, die geschätzt wurden, folgende:

m m m

NW1 NW2 0.969 Schuster1 Schuster2 0.960 Kumpf1 Kumpf2 0.850 Bei der Anwendung der Methode auf die Bundestagswahl 2009 in Ostdeutschland ergab sich jedoch das Problem, dass die Übertrittsrate von der RestPartei zur Partei der Nichtwähler mit einem Wert von 98.5% vor der Loyalitätsrate der Rest-Partei geschätzt wurde. Dies ist sehr unrealistisch und führt dazu, dass die Loyalitätsrate der Rest-Partei sehr klein ist und sozusagen vom Algorithmus „vergessen“ wird. Ich schlage aufgrund dieser Beob­ achtung eine Modifikation der „Best Pair“ - Methode vor. Der Algorithmus soll dazu gezwungen werden zunächst die Loyalitätsraten und erst dann die Übertrittsraten zu schätzen. Dies bedeutet, dass die Charakteristik von Andreadis & Chadjipadelis zur Regel gemacht wird. In obigem Beispiel zur Oberbürgermeisterwahl spielt diese Modifikation keine Rolle. Bei der Schätzung für die Bundestagswahl 2009

in Ostdeutschland ergibt sich mit der modifizierten „Best Pair“ - Methode hingegen eine wesentlich realistischere Loyalitätsrate der Rest-Partei von 23%. Dass die Loyalitätsrate im Osten sehr gering ist, ist durchaus nachvollziehbar. Die Korrelation der beiden Wahlen ist hierfür lediglich 0.21. In vielen Wahlbezirken hat die RestPartei nur noch die Hälfte der Stimmen erreicht. Außerdem ist auch die neue Piraten-Partei Bestandteil der Rest-Partei und hat im Osten immerhin 1.9% der gültigen Stimmen erreicht. Ökologische Regressions­ verfahren Zur Lösung des Wählerwanderungsproblems wurden außerdem verschiedene Regressionsverfahren vorgeschlagen, welche alle auf der folgenden Überlegung basieren: Die Anzahl an Stimmen einer Partei bei der zweiten Wahl lässt sich anteilsmäßig aus der Anzahl an Stimmen der Parteien der ersten Wahl zusammensetzen.

für alle Erste Regressionsverfahren wurden von Hawkes (1969) und McCarthy & Ryan (1977) veröffentlicht. Darauf aufbauend schlug Neuwirth (1984) ein verbessertes Regressionsmodell vor, welches er auch theoretisch durch die Modellierung des individuellen Wahlverhaltens als Multinomialverteilung motiviert. Mit diesem Ansatz kann das Vorliegen von Heteroskedastizität und damit die Verletzung einer Standardvoraussetzung der linearen Regression gezeigt werden. Neuwirth berücksichtigt dies in seinem Modell. Da bei einer unrestringierten

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Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung Schätzung jedoch viele Parameter negativ bzw. größer als eins geschätzt werden, beachtet Neuwirth zusätzlich die drei Parameterrestriktionen. Bei der Anwendung auf die Oberbürgermeisterwahl 2004 in Stuttgart ergab sich die Übergangsmatrix in Tabelle 3 mit einer Übertrittsrate von Palmer zu Schuster von 0.223. Man beachte, dass aufgrund der Restriktionen viele Parameter auf 0 oder 1 geschätzt wurden. Kommen wir noch einmal zur Modellierung des Wahlverhaltens als Multinomialverteilung zurück. Wenn man diesen Ansatz weiter verfolgt, so ergibt sich neben dem Problem der Heteroskedastizität auch, dass die Stimmsummen für die verschiedenen Parteien innerhalb eines Wahlbezirks k nicht unkorreliert sind. Diese Modellungenauigkeit bei Neuwirth wird von Ledl (2007) aufgegriffen. Das daraus entstehende Optimierungsproblem ist jedoch sehr schwierig. Die Lösung wird von Ledl iterativ bestimmt, und der von ihm entwickelte Algorithmus zur Berechnung braucht für eine gesamtösterreichische Analyse zwölf Stunden. Trotz der klaren Definition der Modelle gibt es bei der ökologischen Regression große Schwierigkeiten, denn es wird eine extreme Konstantheitsannahme für die Übergangsraten gemacht. Zum Beispiel sollte der Anteil an ehemaligen Palmer-Wählern, die beim zweiten Wahlgang den Kandidaten Schuster gewählt haben, in allen Wahlbezirken annähernd gleich sein. Dies ist schwer vorstellbar und die Konstantheitsannahme ist in den allermeisten Fällen nicht haltbar. Achen & Shively (1995) bringen das Problem der ökologischen Regression auf den Punkt, indem

sie sagen, dass eine Verzerrung der Schätzungen unvermeidbar ist. Selbst wenn die unrestringierten Schätzungen innerhalb der Schranken liegen, sind sie verzerrt. Die Restriktion der Parameter, behandelt dann nur die Symptome der Krankheit, sprich die negativen Koeffizienten. Die Ursache des Problems, hauptsächlich variable Übergangsraten, wird nicht modelliert. Das negative Fazit von Achen & Shively lautet daher, dass die Schätzwerte immer verzerrt sind, auch wenn sie im Intervall [0,1] liegen. 2.3.3. Das Logit-Modell von Thomsen Ein weiteres interessantes Modell wurde von Søren Risbjerg Thomsen (1987) entwickelt und veröffentlicht. Thomsen kritisiert Verfahren der ökologischen Regression unter anderem mit dem Argument, dass dabei so getan wird, als ob das Wahlergebnis der ersten Wahl der Grund für das Wahlergebnis der zweiten Wahl sei. Im Gegensatz dazu ist sein Ansatz symmetrischer Natur. Beide Wahlergebnisse sollen als Funktionen einer latenten Variable betrachtet werden, welche für die Wahl­ entscheidung eines jeden Wahlberechtigten verantwortlich ist. Thomsen interpretiert die latente Variable als Vektor mehrerer latenter Variablen, da es nicht realistisch ist anzunehmen, dass die Wahlentscheidung nur von einer latenten Variable beeinflusst wird. Die einzelnen latenten Variablen kann man dabei als persönliche Position zu einem gesellschaftlichen politischen Konflikt (Cleavage) auffassen. Dies könnte beispielsweise die Cleavage-Dimension StadtLand sein. Die Theorie der Latent-Structure Analyse ist jedoch nur

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Schuster1 Kumpf1 Palmer1 NW1

Schuster2 1.000 0.046 0.223 0.000

für den 2 x 2 - Fall entwickelt worden. Da es sich bei dem Problem der Wählerwanderungsanalyse jedoch um ein r x c - ökologisches Inferenzproblem handelt, wobei stets r > 2 und c > 2 gilt, verallgemeinert Thomsen das 2 x 2 - Modell zu einem multinomialen Logit-Modell. Er konnte jedoch keine direkte Methode für das multinomiale Logit-Modell entwickeln und benutzt stattdessen das Modell für den 2 x 2 - Fall simultan zur Lösung des r x c - Falls. Dabei muss man eine Referenzpartei für beide Wahlen festlegen. Ausgehend von diesen Referenzparteien ist es dann mit einem iterativen Verfahren möglich, die Parameter simultan für alle und zu schätzen. Die Schätzwerte hängen aber wesentlich von der Wahl der Referenzparteien bei der ersten Wahl und bei der zweiten Wahl ab. Thomsen empfiehlt aufgrund empirischer Untersuchen die Festlegung der Nichtwähler-Partei als Referenzpartei. Dieses sehr abstrakte Modell ist nur schwer nachzuvollziehen. Ein großes Problem ist, dass selbst bei vorhandenen Aggregatdaten die Vielzahl an Annahmen nicht überprüft werden können (vgl. King (1997)). Des Weiteren ist keine Aussage über die Güte der Schätzungen möglich. Aus Anwendersicht stellt jedoch das größte Problem die Wahl einer Referenzpartei dar. Bei jeder Wäh­l erwanderungsanalyse muss zwingenderweise eine

Kumpf2 0.000 0.954 0.397 0.020

NW2 0.000 0.000 0.380 0.980

Tab. 3: Übergangsraten für die Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 2004 mit Neuwirths Modell.

Kritik an der ökologischen Regression

Latente Variable

Unklare Schätzungsgüte

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Vom Wahlergebnis zur Wählerwanderung

Schuster1 Kumpf1 Palmer1 NW1

Schuster2 0.935 (0.821) 0.111 (0.140) 0.125 (0.398) 0.023 (0.008)

Tab. 4: Übergangsraten für die Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl 2004 mit dem Logit Modell mit Referenzpartei Nichtwähler bzw. in Klammern mit Referenzpartei CDU des Kandidaten Schuster.

Stets drei Schritte

Modellparteien definieren Bevölkerungsänderungen berücksichtigen

Wählerwanderungs­matrix schätzen

Kumpf2 0.035 (0.099) 0.783 (0.812) 0.540 (0.504) 0.028 (0.004)

NW2 0.031 (0.080) 0.106 (0.049) 0.335 (0.099) 0.948 (0.988)

Referenzpartei gewählt werden und je nach Wahl unterscheiden sich die Schätzungen dramatisch. Das Logit-Modell wurde mit der von Thomsen veröffentlichten Software ECOL auf die Oberbürgermeisterwahl 2004 in Stuttgart angewandt. Tabelle 4 zeigt die geschätzten Übergangsraten, wenn als Referenzpartei die Nichtwähler-Partei bzw. die CDU gewählt wird. Thomsen empfiehlt die Wahl der Nichtwähler-Partei als Referenzpartei, da seiner Erfahrung nach damit die besten Schätzungen erzielt werden. Die Wahl ist also nicht theoretisch, sondern empirisch motiviert. Es ist durchaus möglich, dass für verschiedene Wahltypen oder Wahlen in anderen Ländern eine andere Referenzpartei bessere Schätzungen liefert. Die Unterschiede bei der Wahl verschiedener Referenzparteien sind gravierend. Während bei der Referenzpartei Nichtwähler geschätzt wird, dass nur 12.5% von den Grünen zur CDU gewandert sind, ist diese Übergangsrate bei Wahl der CDU als Referenzpartei fast 40%. Diskussion der Methoden Das Problem der Wählerwanderungsanalyse ist, wie bereits erwähnt, dass viele verschiedene Datenkonstellationen auf der Individualebene zu den bekannten Wahlergebnissen geführt haben können. Keine der Methoden konnte theoretisch überzeugen, jedoch scheint die modifizierte „Best Pair“ Methode die beste Alternative darzustellen, da diese speziell

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zur Wählerwanderungsanaly­ se­ entwickelt wurde und in der Praxis vielversprechende Ergebnisse liefert. Außerdem ist es damit möglich, die Übergangsraten auf geographische Variabilität zu untersuchen. Da man aber keine Aussage über die Güte der Schätzung treffen kann, sollten Ergebnisse von Wählerwanderungsmethoden stets mit Vorsicht betrachtet werden. Dies gilt insbesondere für die Übergangsraten kleiner Parteien.

3. Zusammen fassung Die Durchführung einer Wählerwanderungsanalyse basierend auf Aggregatdaten erfolgt stets in drei Schritten. Nach der Definition sogenannter Modell-Parteien (vgl. Abschnitt 2.1) müssen die Bevölkerungsbewegungen zwischen zwei Wahlen berücksichtigt werden (vgl. Abschnitt 2.2). Dazu wurde der Ansatz von Hawkes empfohlen, welcher den Wahlkörper an sich modelliert. Es wird dabei so getan, als ob die erste Wahl unmittelbar vor der zweiten Wahl stattfand. Nach diesem Schritt beziehen sich beide Wahlen auf einen identischen Wahlkörper und die Wählerwanderungsmatrix kann geschätzt werden (vgl. Abschnitt 2.3). Eine aussagekräftige Beurteilung der verschiedenen Methoden kann jedoch nur dann erfolgen, wenn bei einer Reihe von verschiedenen Wahltypen die Schätzungen der Methoden mit bekannten Übergangsraten verglichen werden. Dies ist nicht ohne weiteres möglich und wurde bisher nicht versucht. Aufgrund einer Analyse der theoretischen sowie praktischen Eigenschaften der Methoden konnte jedoch die modifizierte „Best Pair“ - Methode empfohlen werden.

Literatur

Achen, C. H. & Shively, W. P. (1995), Cross-Level Inference, Chicago: University of Chicago Press Andreadis, I. & Chadjipadelis, T. (2009), A Method for the Estimation of Voter Transition Rates. In: Journal of Elections, Public Opinion & Parties 19, 2, S. 203–218 Ambühl, M. (2003), Methoden zur Rekonstruktion von Wählerströmen aus Aggregatdaten., Neuchâtel, BFS Gschwend, T. (2006), Ökologische Inferenz. In: Behnke, J. Methoden der Politikwissenschaft, S. 227–237 Hawkes, A. G. (1969), An Approach to the Analysis of Electoral Swing. In: Journal of the Royal Statistical Society. Series A (General) , 132 (1), S. 68–79 Hoschka, P. & Schunck, H. (1975), Schätzung von Wählerwanderungen. Puzzlespiel oder gesicherte Ergebnisse? In: Politische Vierteljahresschrift, 16, S. 491– 539 King, G (1997), A Solution to the Ecological Inference Problem. Princeton: Princeton University Press King, G., Rosen, O., Tanner, M. A. (2004), Ecological Inference: New Methodological Strategies. Cambridge: Cambridge University Press Ledl, T. (2007), Modellierung von Wechselwählerverhalten als Multinomialexperiment. Eigenschaften und Güte eines stochastischen Modelles zur Schätzung von Wählerübergangswahrscheinlichkeiten bei politischen Wahlen. Dissertation, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Informatik, Universität Wien McCarthy, C. & Ryan, T. M. (1977), Estimation of Voter Transition Probabilities from the British General Elections of 1974. In: Journal of the Royal Statistical Society. Series A (General) , 140 (1), S. 78–85 Neuwirth, E. (1984), Schätzung von Wählerübergangswahrscheinlichkeiten. In: Holler, M. (Hg) Wahlanalyse - Hypothesen, Methoden und Ergebnisse, tudovBuch, München, S. 197–211 Neuwirth, E. (1994), Prognoserechnung am Beispiel der Wahlhochrechnung. In: Mertens, P. (Hg) Prognoserechnung , physica Verlag, S. 213–226 Thomsen, S. R. (1987), Danish Elections 1920–79: A Logit Approach to Ecological Analysis and Inference. Århus: Politica

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Zweite Runde der Koordinierten Bürgerbefragung

Lebensqualität in deutschen Städten 2009 Ulrike Schönfeld-Nastoll, Oberhausen

Das Projekt Parallel zur EU-weiten Bürgerbefragung zur Lebensqualität in europäischen Städten mit insgesamt 75 Städten gründete sich 2006 die Arbeitsgemeinschaft „Koordinierte Bürgerumfrage zur Lebensqualität“, an der sich 15 deutsche Städte beteiligten. Dieses Kooperationsprojekt des VDSt und der Städtegemeinschaft Urban Audit bemüht sich seither um die Teilnahme deutscher Städte an einer regelmäßigen koordinierten Befragung zur Lebensqualität. Im Frühjahr 2009 veröffentlichte der Verband Deutscher Städtestatistiker (VDSt) unter dem Titel „Lebensqualität aus Bürgersicht – deutsche Städte im Vergleich“ einen umfassenden Ergebnisbericht zur ersten koordinierten Städteumfrage aus 2006. In der neuen Befragungsrunde Ende 2009, zeitgleich zur EU-Erhebung, konnten sogar 20 deutsche Städte für eine Teilnahme an der Umfrage gewonnen werden. Da sowohl die Befragungsmethode als auch der -inhalt in weiten Teilen mit der letzten Erhebung übereinstimmen, können bei der Auswertung der Ergebnisse aus 2009 neben dem Städtevergleich auch zeitliche Veränderungen gegenüber 2006 in den entsprechenden Dimensionen zur Lebensqualität vorgenommen werden. Wie auch schon 2006 werden

durch den gegenseitigen Austausch der Daten mit der Generaldirektion Regionalpolitik der Europäischen Kommission sowohl die europäischen als auch die von der EU befragten deutschen Städte in die Analyse einbezogen. Damit umfasst der Datensatz insgesamt 95 europäische Städte, darunter allein 26 deutsche Städte. Dies bedeutet, dass beim Grundmodul allein die Meinungen von 17.635 Bürgerinnen und Bürgern in den deutschen Städten erfragt wurden. Auch wenn die Auswahl der deutschen Städte keine Verallgemeinerung auf die Gesamtheit der deutschen Städte zulässt, so ermöglichen doch die große Bandbreite unterschiedlicher Größenklassen, geografische Lage und auch die Wirtschaftsstruktur der teilnehmenden Städte differenzierte regionale Vergleiche. Der EU-Fragenkatalog 2009 wurde zum einen durch einige Fragestellungen zur Lebensqualität gegenüber 2006 verändert bzw. ergänzt und zum anderen um ein Zusatzthema, den Öffentlichen Personennahverkehr, erweitert. Bis auf wenige Ausnahmen ist die koordinierte Umfrage dem europäischen Grundmodul zur Lebensqualität gefolgt. Daneben hat die Arbeitsgemeinschaft ihr Zusatzmodul „Familienfreundlichkeit von Städten“ aus 2006 zum größten Teil auch wieder in 2009 übernommen. Sowohl das

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Zusatzmodul ÖPNV als auch die Familienfreundlichkeit wurden nicht von allen 20 deutschen Städten übernommen.

Ausgewählte Ergebnisse Für die Beurteilung des Arbeitsmarktes kann als ein Indikator die Frage herangezogen werden, ob es leicht ist, in der jeweiligen Stadt eine Arbeitsstelle zu finden. Dieser Lebensbereich gehört zu den als sehr kritisch eingeschätzten Bereichen, denn nur ein knappes Drittel der Befragten stimmt dieser positiven Aussage insgesamt zu. Betrachtet man allerdings die Ergebnisse in den einzelnen Städten, so liegt die Spreizung der Antworten zwischen 12 % (Zwickau) und 56 % (München). Die Größenklasse der Städte scheint bei dieser Frage weniger von Bedeutung zu sein: Es gibt bei den Großstädten Frankfurt am Main, Stuttgart, Düsseldorf und Hamburg einerseits ähnlich positive Einschätzungen des Arbeitsmarktes, während andererseits auch in Städten wie Berlin und Dortmund in dieser Größenklasse deutlich stärkere Probleme gesehen werden, einen Arbeitsplatz zu finden. Während in der ersten Gruppe gut die Hälfte der Befragten dieser Aussage zustimmt, sind es bei den anderen zwei Städten nur noch 17 %. Ähnliche Ergebnisse lassen sich auch

95 Städte

Extreme: München und Zwickau

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Lebensqualität in deutschen Städten 2009 bei den Städten in den beiden anderen Größenklassen erkennen. Dies zeigt, dass die Probleme am Arbeitsmarkt weniger ein Problem der Größe einer Stadt sind, als vielmehr der jeweiligen Wirtschaftsstruktur. Als Beispiel dafür lassen sich sehr gut die drei Ruhrgebietsstädte (Dortmund, Essen, Oberhausen) heranziehen. Diese Städte sind gleichermaßen stark vom Strukturwandel betroffen. Mit dem Niedergang der Montanindustrie haben die

drei Städte sehr viele Arbeitsplätze verloren, die bisher nur teilweise durch den Strukturwandel kompensiert werden konnten. Mehr als jeder Zweite bzw. jede Zweite geht davon aus, in seiner Stadt nicht problemlos eine Arbeitsstelle finden zu können. Aber auch das Ost-West-Gefälle ist deutlich zu erkennen. In den Städten Rostock und Zwickau gehen sogar 8 von 10 Befragten davon aus, nicht so ohne weiteres einen Arbeitsplatz zu finden.

Seit 2004 wird die Bürgerbefragung ergänzend zu der seit 1998 von Eurostat und der Generaldirektion Regionalpolitik eingeführten europaweiten Datensammlung zur Lebensqualität (Urban Audit) durchgeführt, um die disparitären Lebensverhältnisse in den europäischen Städten auf der Basis vergleichbarer Daten beobachten zu können. Diese Datensammlung ermöglicht in den beteiligten Städten, die quantitativen Daten den subjektiven Angaben der Bürgerinnen und Bürger gegenüberzustellen. Für die Gegenüberstellung bei der Beurteilung des Arbeitsmarktes lässt sich als ein objektiver Indikator die Arbeitslosenquote der abhängigen zivilen Erwerbspersonen heranziehen. Dabei wurde diese Arbeitslosenquote in Kombination mit der Aussage „Stimme (überhaupt) nicht zu, dass es leicht ist in der Stadt eine Arbeitsstelle zu finden“ gegenüber gestellt. Wie man sehr gut in der Grafik 2 erkennen kann, entsprechen die subjektiven Einschätzungen der Befragten im Wesentlichen den objektiven Daten zur Arbeitsmarktlage. Neben dem Städtevergleich ist es für diejenigen Städte, die bereits 2006 an der Koordinierten Bürgerbefragung teilgenommen haben, möglich, auch zeitliche Veränderungen in den entsprechenden Dimensionen zur Lebensqualität zu beobachten. Der Vergleich und die Veränderungen gegenüber 2006, hinsichtlich der Einschätzung der Arbeitsplatzsituation, werden in Grafik 3 aufgezeigt. In allen beteiligten Städten wird die Einschätzung, einen Arbeitsplatz einfach finden zu können, in 2009 positiver be-

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Lebensqualität in deutschen Städten 2009

urteilt als in 2006. Am deutlichsten hat sich die positive Einschätzung mit +16,1 % gegenüber 2006 in Köln verändert, während sich die Situation in Oberhausen aus Sicht der Befragten mit +2,3 % nur leicht verbessert hat.

Ausblick Zurzeit werden in der Arbeitsgemeinschaft unterschiedliche Themenbereiche aus der koordinierten Bürgerbefragung aufbereitet. Darüber hinaus wird das Modul zur Lebensqualität in Städten weiter bearbeitet, um dieses auch für andere Städte in ihren Bürgerbefragungen einsetzbar zu machen, und damit interkommunale Vergleiche über die koordinierte Bürgerbefragung hinaus zu ermöglichen. Hier gilt es auch methodische Aspekte zu berücksichtigen und gegebenenfalls Empfehlungen zu erarbeiten. In 2012 wird voraussichtlich die nächste EUweite Bürgerbefragung zur Lebensqualität in europäischen Städten vorbereitet. Stadtforschung und Statistik 1/2011

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Welchen Einfluss hat die Rücklaufquote auf die Repräsentativität?

Rücklaufquoten und Repräsentativität Karl-Heinz Reuband, Düsseldorf

Sind 70% notwendig?

Oder 50%

Reichen noch weniger?

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Die Ausschöpfungsquoten in allgemeinen Bevölkerungsumfragen sinken. Während es vor wenigen Jahrzehnten noch möglich schien, mehr als 70 % der per Randomverfahren ausgewählten Personen zum Interview zu bewegen, ist der Anteil inzwischen auf weit unter 50 % geschrumpft. So erreichte der ALLBUS, der sich auf face-to-face-Befragungen stützt und auf einer Randomstichprobe aus dem Einwohnermelderegis­ter basiert, selbst nach langer Feldzeit und erheblichem Erhebungsaufwand jetzt nur noch eine Quote von 40 % (Wasmer et al. 2010). Ähnlich niedrig liegen die Ausschöpfungsquoten der neu erfassten Befragten im Sozioökonomischen Panel, das ebenfalls auf face-to-face Befragungen und Randomstichproben beruht (Schupp 2008). In Telefonbefragungen, bei denen die Kontaktaufnahme ohne vorherige Ankündigung per Zufallsverfahren erfolgt, liegt die Quote oft sogar noch niedriger und unterschreitet die 30%-Marke. Von postalischen Befragungen wird Ähnliches berichtet.1 Damit stellt sich die Frage, wie sehr man von Umfragen mit niedrigen Ausschöpfungsquoten überhaupt noch auf die Bevölkerung hin generalisieren kann und wie sehr man auch Vergleiche anstellen kann zwischen Umfragen, die durch unterschiedlich hohe Ausschöp-

fungsquoten gekennzeichnet sind. Noch in den 70er Jahren herrschte unter Sozialwissenschaftlern und in der Rechts­ praxis2 die Erwartungshaltung vor, es müsse mindestens eine Quote von 70 % erreicht werden, um überhaupt von repräsentativen Ergebnissen sprechen zu können (vgl. Hansen 1988). Diese Aussage findet sich auch heute noch zum Teil in der Literatur. Doch es gibt auch andere Stimmen. So werden in neueren Publikationen inzwischen auch schon niedrigere Werte als akzeptabel angegeben. Elisabeth NoelleNeumann schreibt z.B., man müsse mindestens eine Quote von 50 % erreichen, um Repräsentativität zu gewährleisten (Noelle-Neumann und Petersen 2009: 304). 3 Auf den ersten Blick erscheint der Wert von 50 % als Grenzwert plausibel: denn wenn man weniger als die Hälfte der Zielpersonen zum Interview motivieren kann, können sich die Aussagen nicht mehr auf Mehrheitspositionen stützen und die Generalisierbarkeit auf die Allgemeinheit scheint kaum mehr möglich zu sein. Aber dieser Eindruck trügt. Neuere Untersuchungen – primär aus den USA - haben gezeigt, dass die Frage der sozialen Repräsentation nur begrenzt eine Funktion der Ausschöpfungsquote ist. Selbst wenn die Ausschöpfungsquote unter 50 % liegt, müssen

sich die Ergebnisse nicht von denen der Befragungen mit höheren Ausschöpfungsquoten unterscheiden (vgl. u.a. Keeter et al. 2006). Eine nennenswerte Verzerrung, so legt die Forschung nahe, ergibt sich nur dann, wenn die jeweils relevanten Variablen mit dem Ausfallgrund eng korrelieren. Man kann die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ausfallquote und Verzerrung daher nicht generell beantworten, sondern muss sie im Kontext des konkreten Projekts behandeln. Dies soll im Folgenden am Beispiel einer allgemeinen Bevölkerungsumfrage geschehen, die von uns im Jahr 2008 in Hamburg durchgeführt wurde. Durchgeführt wurde sie postalisch. Postalische Befragungen sind bislang in der Literatur im Zusammenhang mit der Frage von Ausschöpfungsquote und Repräsentativität kaum thematisiert und an konkreten Beispielen diskutiert worden. Zwar gibt es Hinweise dafür, dass durch die Steigerung der Ausschöpfungsquote mittels Mahnaktionen unterrepräsentierte Personengruppen – insbesondere schlechter Gebildete und politische Desinteressierte – verstärkt in die Untersuchung einbezogen werden. Aber es zeigte sich auch, dass sich alles in allem gesehen das Ausmaß an Veränderung in Grenzen hält: Die Zusammensetzung der Personen, die sich spontan

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Rücklaufquoten und Repräsentativität an der Umfrage beteiligen, ähnelte weitgehend der Zusammensetzung der Personen, die am Schluss – nach mehreren Mahnaktionen – den Kreis der Befragten bilden (Blasius und Reuband 1996, Reuband 1999, 2001). Ob man von den Ergebnissen einer Studie, die nach mehreren Mahnaktionen hohe Ausschöpfungsquoten erreicht, auf Studien hin generalisieren kann, bei denen bei gleichem Aufwand geringere Ausschöpfungsquoten erzielt wurden, ist freilich ungewiss.

Methodisches Vorgehen Die Umfrage stützt sich auf eine Randomstichprobe aus dem Einwohnermelderegister der Stadt Hamburg und bezieht sich auf Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit 18 Jahre und älter. Durchgeführt wurde sie vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Düsseldorf, in Anlehnung an die Empfehlungen von Don Dillman (2000) und eigene Erfahrungen (Blasius und Reuband 1996, Reuband 1999, 2001). Verwandt wurde ein 11-seitiger DIN A-4 Fragebogen mit zusammen 78 nummerierten Fragen. Versehen war jeder Fragebogen auf der Titelseite mit einer Nummer, um ökonomisch gesehen Nachfassaktionen nur an jene zu richten, die noch nicht geantwortet hatten. Im Anschreiben wurden Zielsetzungen des Projekts kurz angesprochen, die Auswahlgrundlage und die Bedeutung der Nummer erläutert sowie die Freiwilligkeit der Teilnahme erwähnt. Um eine thematisch selektive Teilnahme zu vermeiden, war die Erhebung als Mehrthemenerhebung angelegt und wurde gegenüber den Zielpersonen global als eine Studie zu ak-

tuellen Lebensbedingungen in Hamburg und aktuellen Fragen deklariert. Bis zu viermal wurden die Zielpersonen angeschrieben. Die erste Kontaktaufnahme umfasste das Anschreiben mit Fragebogen mit Rücksendeumschlag („Gebühr bezahlt Empfänger“), die erste Nachfassaktion beinhaltete ein bloßes Erinnerungsschreiben und die zweite und dritte – jeweils im Abstand mehrerer Wochen – ein Erinnerungsschreiben mit beigelegtem Fragebogen und Rücksendeumschlag. 1.400 Personen gingen in die Bruttostichprobe ein. Nach Abzug der neutralen Ausfälle („verzogen“, „verstorben“, „unbekannt“) wurde mit N=554 Befragten schließlich eine Ausschöpfungsquote von 40 % erreicht. Sie liegt niedriger als jene, die wir in früheren Jahren am gleichen Ort mit gleichartigen Erhebungsinstrumentarium und ähnlichen thematischer Ausrichtung erhielten: 2001 lag sie noch bei 55 % und 2002 bei 49 %. Doch nicht nur gegenüber den früheren Hamburger Befragungen stellt die neueste Erhebung eine Herausforderung dar. Auch im Vergleich zu Umfragen, die wir vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Düsseldorf in der Stadt Düsseldorf durchgeführt haben, ist die Erhebung als suboptimal anzusehen. Dort erreichten wir selbst in neuester Zeit – 2004 und 2009 – Werte um 58–59 %. In dem Rückgang der Ausschöpfungsquote der Hamburger Umfragen schlägt sich, so vermuten wir, primär der bundesweit beobachtbare allgemeine Trend abnehmender Teilnahmebereitschaft an Umfragen (vgl. dazu auch Aust und Schröder 2009) nieder. Die Stabilität der Düsseldorfer Quoten auf hohem

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Niveau dürfte demgegenüber einen Bonuseffekt widerspiegeln, der aus einer Identifikation der Bürger mit ihrer Heimatuniversität erwächst. Mit anderen Worten: die Hamburger Befunde dürften eher als die Düsseldorfer Befunde das derzeit in der Bundesrepublik übliche Muster der Teilnahmebereitschaft in Großstädten abbilden.

Ausfallgründe und selektive Teilnahme Was sind nun die Gründe für die Ausfälle in der Hamburger Erhebung? Wie man Tabelle 1 entnehmen kann, gab es von 52 % der Zielpersonen im gesamten Verlauf der Feldphase keine Rückmeldung. 4 % verweigerten explizit – telefonisch oder schriftlich – die Teilnahme. 2 % wurden als „verstorben“, „verzogen“ oder „unbekannt“ deklariert, und 3 % waren krank oder verreist. Die Mitteilung, ob jemand krank oder verreist war, kam meistens von den Angehörigen der Zielpersonen, die Information über „verstorben“, „verzogen“ oder „unbekannt“ von der Post. Im Vergleich zu anderen Erhebungen, die durch höhere Ausfälle aufgrund ungültiger Adressen gekennzeichnet sind, erweist sich unsere Studie als eine Erhebung mit guten Startbedingungen. Die Tatsache, dass die Adressen erst kurz vor Beginn der Befragung gezogen wurden, dürfte dazu mit beigetragen haben. Gleichwohl: Zwar war auf jedem Anschreiben aufgedruckt, dass bei nicht mehr gültiger Anschrift das Schreiben an den Absender zurückzuschicken wäre. Aber man kann nicht sicher sein, ob diese Vorgabe auch immer eingelöst wurde, der Anteil „neutraler“

Grundlage: Haushaltsumfrage

Mehrthemenerhebung

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Rücklaufquoten und Repräsentativität

Tab. 1: Rücklauf und Ausschöpfungsquote (in %)

log zur Nichterreichbarkeit bei face-to-face oder telefonischen Befragungen – oder um sons­ tige Gründe. Auffällig ist, dass ähnlich wie schon in früheren Untersuchungen (Reuband 1999, 2001), Ältere etwas häufiger geneigt sind, ihre Verweigerung mitzuteilen. Sie sind unter den expliziten Verweigerern (besonders in der schriftlichen Form) öfter vertreten als unter denen, die nicht antworten. Sie fühlen sich offenbar häufiger/eher? als die Jüngeren dazu verpflichtet, auf das Anschreiben zu reagieren – und sei es auch nur durch explizite Ablehnung der Teilnahme.

Auswirkungen auf die Sozialstruktur

Tab. 2: Soziale Zusammensetzung von Mikrozensus, Bruttostichprobe und realisierten Begfragungen, 2008 (ungewichtet) (in %)

Ausfälle mithin etwas höher liegt. Durch die mehrfachen Mahnaktionen dürfte das Problem unzureichender Rückmeldungen allerdings reduziert sein. Wie wir aus anderen Untersuchungen wissen, wird das Problem durch wiederholtes Anschreiben minimiert (Reuband 1999). Welche Gründe für das Nichtzurücksenden des Fragebogens verantwortlich sind, muss an dieser Stelle offen bleiben: es könnte sich um prinzipielle Verweigerungshaltungen handeln, um Zeitknappheit – ana46

Was sind nun die Folgen der nie­ drigen Ausschöpfungsquote: für die soziale Zusammensetzung der Befragten und deren Antwortmuster? Die Abweichungen von den jeweiligen Ausgangsdaten kann man einerseits durch einen Vergleich der realisierten Befragungen mit dem Mikrozensus und andererseits durch einen Vergleich mit der Bruttostichprobe ermitteln. Für beide liegen Daten zur Geschlechts- und Alterszusammensetzung vor. Der Vergleich der Befragten mit der Bruttostichprobe erlaubt Aussagen zur Frage, wie sehr Verzerrungen in der sozialen Zusammensetzung durch die Befragungsaktion selbst erwachsen sind. Der Vergleich der Bruttostichprobe mit dem Mikrozensus erlaubt demgegenüber zu ermessen, ob und wie sehr etwaige Verzerrungen bei der Ziehung der Stichprobe entstanden sind. Eigene frühere – unveröffentlichte – Vergleiche am Beispiel anderer Städte haben wiederholt erbracht, dass die Abweichung

der realisierten Stichprobe vom Mikrozensus oft mehr eine Folge der Stichprobenziehung per se ist als Folge differentieller Teilnahme an der Befragung. Daher ist es bei der Analyse von Ausfallquoten und Zusammensetzung der Befragten stets angeraten, die Bruttostichprobe in die Betrachtung mit einzubeziehen. Wie man Tabelle 2 entnehmen kann, weicht die Bruttostichprobe in ihrer Zusammensetzung vom Mikrozensus in der Tat leicht ab. Betroffen sind davon überproportional die älteren Personen über 70 Jahre. Welche Gründe für diese Verzerrung verantwortlich sind, ist ungewiss und muss an dieser Stelle ungeklärt bleiben. Entscheidend ist jedoch, dass die Unterschiede alles in allem gering sind. Von zentraler Bedeutung für unsere Fragestellung ist vor allem, dass die realisierte Stichprobe von der Bruttostichprobe nur minimal abweicht: Frauen sind etwas stärker in der Umfrage vertreten als in der Bruttostichprobe. Aber es handelt sich nur um wenige Prozentpunkte. Desgleichen lässt sich zeigen, dass Personen in mittlerem und höherem Alter etwas stärker vertreten sind als jüngere, sich dieser Tatbestand jedoch in Grenzen hält. Bezüglich der Bildung lassen sich Informationen nur dem Mikrozensus und der realisierten Stichprobe der Befragten entnehmen. Angaben dazu gibt es in der Bruttostichprobe nicht, da derartige Daten nicht in das Datenregister von Meldeämtern eingehen. Die Kategorisierung der Bildungsvariablen im Mikrozensus und in unserer Umfrage ist vergleichbar – mit einer Ausnahme: im Mikrozensus wird das fachgebundene Abitur mit dem Abitur

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Rücklaufquoten und Repräsentativität zusammengefasst („Allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife [Abitur])“, in unserer Umfrage hingegen das fachgebundene Abitur zusammen mit der Fachhochschulreife der Kategorie „Fachhochschulreife/Fachabitur“ zugeordnet. Will man einen Vergleich der höheren Bildungskategorien anstellen, muss man daher im vorliegenden Fall die Kategorien Fachhochschulreife und Abitur zusammenfassen. Wie man Tabelle 2 entnehmen kann, sind – im Einklang mit dem Erkenntnisstand der Methodenliteratur (vgl. u.a. Hartmann und Schimpl-Neimanns 1992) – Personen mit niedriger Bildung in der Umfrage unter- und Personen mit höherer Bildung überrepräsentiert. Während im Mikrozensus 41 % der Bevölkerung über die Fachhochschulreife/Fachabitur oder das Abitur als höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss verfügen, sind es in der Umfrage 48 %. Personen mit Volks- oder Hauptschulbildung sind in der Umfrage entsprechend seltener vertreten als es ihrem Anteil in der Bevölkerung entspricht. Der Anteil mit mittlerer Reife ist hingegen annähernd der Realität gemäß repräsentiert. Wie sehr die Überrepräsentation der höher Gebildeten durch die niedrige Ausschöpfungsquote mit verursacht wurde, kann nicht direkt ermessen werden, da wir für den gleichen Zeitraum der Erhebung des Jahres 2008 über keine thematisch vergleichbaren Umfragen mit höherer Ausschöpfungsquote verfügen. Man kann jedoch einen Vergleich mit den früheren postalischen Hamburger Umfragen anstellen: sie waren methodisch ähnlich durchgeführt worden wie 2008, hatten ähnliche Fragestellungen als Thema und

wiesen höhere Ausschöpfungsquoten auf. In der Bevölkerung blieb gleichzeitig die Zusammensetzung nach Bildungsabschluss in dieser Zeit im Wesentlichen gleich4, weswegen Änderungen in der Zusammensetzung der Befragten primär eine Funktion veränderter selektiver Teilnahme an den Befragungen darstellen müssen. Für unsere Zwecke sind besonders die Umfragen von 2001 und 2002 von Interesse: mit Ausschöpfungsquoten von 55 % (2001) bzw. 49 % (2002). Die Folgeerhebungen von 2003 und 2004 nehmen in der Ausschöpfungsquote eine Mittelstellung zwischen den frühen Erhebungen und der späteren Erhebung von 2008 ein. Wie man Tabelle 3 entnehmen kann, erweist sich der Unterschied zwischen den verschiedenen Erhebungen insgesamt gesehen als minimal. Im Jahr 2001 wurden 45 % der Befragten der Kategorie Fachhochschulreife/Fachabitur bzw. Abitur zugerechnet, im Jahr 2002 waren es 41 %, 2003 und 2004 jeweils 46 % und 2008 48 %. Die Zahlen für die höher Gebildeten liegen 2008 zwar etwas höher als zu Beginn der Zeitreihe (und die für Personen mit Volks- bzw. Hauptschulbildung niedriger). Aber der entsprechende Wert für Befragte mit höherer Bildung liegt andererseits 2002 niedriger als 2001, obwohl sich die Ausschöpfungsquote in dieser Zeit reduziert hatte. Angesichts der vorliegenden Zahlen kann eher von Schwankungen in der Stichprobenzusammensetzung gesprochen werden als von einem systematischen Trend, der parallel zum Absinken der Ausschöpfungsquote verläuft. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Unterschiede in der Höhe der Ausschöpfungs-

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quote nicht notwendigerweise in Unterschieden der sozialen Zusammensetzung niederschlagen müssen. In dieser Hinsicht stimmen unsere Befunde mit den Ergebnissen anderer Vergleiche überein, die auf bundesweite face-to-face Umfragen unterschiedlicher Provenienz in der Bundesrepublik basieren (Koch 1998).5 Des Weiteren stimmen sie mit den Befunden von ALLBUS Erhebungen überein, die sich – wie in unserem Fall – auf RandomStichproben aus den Einwohnermelderegistern stützen: obwohl die Ausschöpfungsquote der ALLBUS Erhebungen seit den 90er Jahren sank, nahm bei der Bildungsvariablen das Ausmaß an Abweichung gegenüber dem Mikrozensus nicht zu.6

Tab. 3: Bildungsabschluss der Befragten nach Jahr der Erhebung (in %)

Mehr Gebildete antworten

Folgen für die Antworten Welche Folgen aus den Verzerrungen in der sozialen Zusammensetzung für die Antworten auf der Ebene von Einstellungen, Erfahrungen, psychischen Befindlichkeiten oder Verhaltensweisen erwachsen, ist eine Funktion des Zusammenhangs zwischen Ausfallgrund und jeweils relevanten, abhängigen Variablen. Da soziale Merkmale in der Regel nur schwach mit Einstel47


Rücklaufquoten und Repräsentativität

Tab. 4: Ausgewählte Antworten nach Art der Gewichtung (in %)

Frageformulierungen und Antwortvorgaben: 1. „Wie gern leben Sie in Hamburg?“ – „Sehr gern – Gern – Nicht so gern – Ungern“ 2. „Wie oft gehen Sie in Hamburg in [Lokalität]?“ – „Mehrmals pro Woche – Einmal pro Woche – Mehrmals im Monat – Einmal im Monat – Mehrmals im Jahr – Einmal im Jahr – Seltener – Nie“ 3. „Wie beurteilen Sie Ihre eigene gegenwärtige wirtschaftliche Lage?“ – „Sehr gut – Gut – Teils-teils – Schlecht – Sehr schlecht“ 4. „Rechnen Sie damit, dass sich Ihre eigene wirtschaftliche Lage in den kommenden Jahren verbessern oder verschlechtern wird? – „Verbessern – So bleiben wie bisher – Verschlechtern“ 5. „Wie stark interessieren Sie sich für Politik?“ – „Sehr stark – Stark – Mittel – Wenig – Überhaupt nicht“ 6. „Wie stark interessieren Sie sich für die kommende Bürgerschaftswahl?“ – „Sehr stark – Stark – Mittel – Wenig – Überhaupt nicht“ 7. „Nun einige Fragen zum Thema Kriminalität: Sind Sie selbst in den letzten 12 Monaten Opfer von Kriminalität geworden? Bitte geben Sie an, um was für ein Delikt es sich handelt, auch wenn kein nennenswerter Schaden entstand oder es sich nur um einen Versuch handelte.“ – „[Beschreibung der Deliktkategorie]“ 8. „Wie sicher fühlen Sie sich in Ihrer Wohngegend, wenn Sie abends bei Dunkelheit allein auf die Straße gehen?“ – „Sehr sicher – Ziemlich sicher – Ziemlich unsicher – Sehr unsicher“ 9. „Nun eine ganz andere Frage. Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit sich und dem Leben, das Sie führen?“ – „Sehr zufrieden – zufrieden – Teils zufrieden, teils unzufrieden – Unzufrieden – Sehr unzufrieden“ 10. „Nun einige Fragen zum Thema Gesundheit: Alles in allem gesehen, wie würden Sie im Großen und Ganzen Ihren Gesundheitszustand beschreiben?“ – „Sehr gut – Ziemlich gut – Es geht – Ziemlich schlecht – Sehr schlecht“ 11. „Rauchen Sie selbst? Wenn ja, wie viele Zigaretten pro Tag?“ – „Rauche ca. [Anzahl] Zigaretten pro Tag – Rauche nur gelegentlich Zigaretten, nicht täglich – Rauche keine Zigaretten, sondern Pfeife oder Zigarre – Rauche keine Zigaretten, sondern Wasserpfeife – Habe aufgehört zu rauchen – Bin Nichtraucher“ 12. „Nun einige Fragen zum Thema Rauchen. Man kann ja unterschiedlicher Ansicht darüber sein, an welchen Orten man das Rauchen verbieten sollte. Hier auf der Liste sind einige Orte aufgeschrieben. Was meinen Sie: Wo sollte das Rauchen vollständig verboten sein, teilweise verboten sein (durch Schaffung eigener Raucher-/ Nichtraucherbereiche), oder nicht verboten sein?“ [Lokalität] – „Vollständig – Teilweise – Nicht verboten“ 13 und 14. „Nun eine ganz andere Frage. Es gibt viele Dinge, die fast jeder mal in seinem Leben tut. Vieles mag 10 Jahre, 20 Jahre oder länger zurückliegen. Wie ist das bei Ihnen – was von dem folgenden haben Sie schon jemals in Ihrem Leben getan? Auch die Kindheit und Jugend zählen mit.“ [„Jemals Bahn oder Bus gefahren, absichtlich ohne eine Fahrkarte zu bezahlen“] [„Jemals etwas aus dem Kaufhaus mitgehen lassen ohne zu bezahlen“] – „Ca. [Anzahl] mal – Noch nie“.

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lungen und Verhalten korrelieren (vgl. Schnell 1993), muss man Unterschiede in der sozialen Zusammensetzung nicht von vornherein als Hinweis für nennenswerte Verzerrungen in den inhaltlichen Aussagen ansehen. Ob dies der Fall ist oder nicht, hängt von der Studie und der Art des Ausfalls selbst ab. Um die Effekte des differentiellen Ausfalls auf der Ebene der sozialen Zusammensetzung zu prüfen, haben wir – unter Rückgriff auf Daten des Mikrozensus – zwei Gewichtungsvariablen gebildet: zum einen auf der Basis einer Kombination von Geschlecht und Altersgruppen, zum anderen auf der Basis von Altersgruppen und Bildung. Idealerweise wäre auch noch eine Kombination von Geschlecht, Alter und Bildung sinnvoll gewesen – aber die verfügbaren offiziellen Unterlagen auf der Basis des Mikrozensus für Hamburg weisen, da zellenmäßige Grenzen unterschritten werden, in mehreren Subgruppen keine entsprechenden Werte aus. Daher muss auf die Konstruktion einer derartigen Gewichtungsvariablen hier verzichtet werden. Um die Auswirkungen der Verzerrungen in der Stichprobe auf das Antwortverhalten abzuschätzen, nehmen wir im Folgenden jeweils zwei Berechnungen vor: wir vergleichen die ungewichteten Befragungsergebnisse zum einen mit denen, bei denen mittels Gewichtung eine Angleichung an die demographische Struktur der Bevölkerung (Alter und Geschlecht) vorgenommen wird. Und zum anderen nehmen wir einen Vergleich auf der Basis der Gewichtung nach Alter und Bildung vor.7 Als abhängige Variablen, an denen wir die Effekte messen wollen, wählen wir für die in

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Rücklaufquoten und Repräsentativität der Umfrage abgedeckten Themenbereiche als Schlüsselvariablen die Nutzung kultureller Einrichtungen, subjektive Wirtschaftslage politisches Interesse, Kriminalitätsfurcht, Viktimisierung, Tabakkonsum, Einstellung zu Rauchverboten und Delinquenz. Die Ergebnisse sind in Tabel­ le 4 dargestellt. Es zeigt sich, dass sich durch die Gewichtung der sozialen Merkmale die Relationen nur minimal verschieben – maximal um drei Prozentpunkte in einzelnen Antwortkategorien.8 Weitere Analysen, die zusätzliche Variablen einbeziehen (und hier im Einzelnen nicht dargestellt sind), ändern an diesem grundsätzlichen Befund nichts. Was bedeutet: selbst wenn eine Ausschöpfungsquote bei 40 % liegt, muss dies nicht zwangsläufig zu größeren Verzerrungen in der sozialen Zusammensetzung und in den Antwortmustern der Befragten führen.

Schluss­ bemerkungen Niedrige Ausschöpfungsquoten gefährden die Repräsentativität einer Umfrage. Aber aus niedrigen Ausschöpfungsquoten muss nicht notwendigerweise eine nennenswerte Verzerrung in den Befunden erwachsen. Dies bedeutet nicht, dass man getrost auf entsprechende Bemühungen, hohe Ausschöpfungsquoten zu erreichen, verzichten sollte. Denn man kann nicht von einem Automatismus ausgehen, der die Verzerrungen gering hält. Aber es bedeutet zumindest, dass man Umfragen, deren Ausschöpfungsquoten unter die 50 % Marke fallen, nicht von vornherein als unbrauchbar bezeichnen kann. Auch muss

man nicht auf die Nutzung derartiger Erhebungen verzichten, wenn Vergleiche mit anderen Erhebungen, die sich auf höhere Ausschöpfungsquoten stützen, angestellt werden sollen. 9 Welche Verzerrungen sich aus der Kombination von Thema und Ausschöpfungsquote ergeben, ist gleichwohl jeweils neu im konkreten Fall zu bestimmen. Inwieweit jenseits der hier berichteten sozialen Merkmale Verzerrungen erwachsen und diese das Antwortverhalten mitbestimmen, konnte hier freilich nicht geklärt werden – um dies zu klären, müsste man Umfragen mit gleichem Fragebogen und unterschiedlich hohen Ausschöpfungsquoten miteinander vergleichen. Sicher ist, dass der Thematik der Umfrage, so wie sie sich im Fragebogen darstellt und den Zielpersonen gegenüber präsentiert wird, ein bedeutsamer Einfluss zukommt: EinThemenuntersuchungen gefährden die Repräsentativität der Zusammensetzung. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Themen handelt, die nur einen kleinen Kreis von Personen interessieren.10 MehrThemenuntersuchungen hingegen sprechen gewöhnlich in der Allgemeinbevölkerung einen breiteren Kreis von Personen an (sofern es sich nicht um eine Ansammlung uninteressanter Fragestellungen handelt). Mehr-Themenuntersuchungen dürften mithin eher als Ein-Themenuntersuchungen ein relativ unverzerrtes Bild der Bevölkerung erbringen. Offen musste an dieser Stelle ebenfalls die Frage bleiben, inwieweit es ratsam ist, Abweichungen in den sozialen Merkmalen von den Daten des Mikrozensus stets durch Gewichtung auszugleichen. Kommerzielle Markt- und

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Meinungsforschungsinstitute nehmen derartige Gewichtungen routinemäßig vor, in der methodischen Literatur ist man geteilter Meinung und insgesamt eher skeptisch. Es besteht die Gefahr, dass bestehende Verzerrungen noch weiter verstärkt werden (vgl. u.a. Schnell 1993, Diekmann 2007, Arzheimer 2009). Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass sich die Meinungsverhältnisse durch Gewichtung nach sozialen Merkmalen Alter und Geschlecht bzw. Alter und Bildung nur wenig ändern.

Geringe Gewichtungs­ effekte

Literatur

Arzheimer, K. (2009): Gewichtungsvariation. In: H. Schoen, H. Rattinger und O. Gabriel (Hg.), Vom Interview zur Analyse. Baden-Baden, S. 361388. Aust, F. und Schröder, H. (2009): Sinkende Stichprobenausschöpfung in der Umfrageforschung – ein Bericht aus der Praxis. In: M. Weichbold, J. Bacher und C. Wolf (Hg.), Umfrageforschung. Herausforderungen und Grenzen. Wiesbaden, S. 195-212. Blasius J. und Reuband K.-H. (1996): Postalische Befragungen in der empirischen Sozialforschung: Ausschöpfungsquoten und Antwortmuster. In: Planung und Analyse 1, S. 35-41.

Die Repräsentativität ist gefährdet

Blohm, M., Harkness, J., Klien, J., Klein, S. und Scholz, E. (2003): Konzeption und Durchführung der „Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (ALLBUS) 2002. In: ZUMA-Methodenbericht 2003/12. Diekmann, A. (2007): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek bei Hamburg. Dillman, D. (2000): Mail and Internet Surveys. The Tailored Design Method. New York. Hansen, J. (1988): 70 Prozent? Ein Beitrag zur Ausschöpfung von Random-Stichproben. Planung und Analyse 15 (10), S. 398-401. Hartmann, P und Schimpl-Neimanns, (1992): Sind Sozialstrukturanalysen mit Umfragedaten möglich? Analysen zur Repräsentativität einer Sozialforschungsumfrage. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 44 (2), S. 315–340.

Kein Automatismus

Keeter, S., Kennedy, C., Dimock, M., Best, J., Craighill, P. (2006): Gauging the impact of growing Nonresponse on estimates from a national RDD

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rÜCKlaUFQUotEN UNd rEPrÄSENtatiVitÄt telephone survey. in: Public opinion Quarterly 70, 5: 759–779. Koch, a. (1998): Wenn „mehr“ nicht gleichbedeutend mit „besser“ ist: ausschöpfungsquoten und Stichprobenverzerrungen in allgemeinen Bevölkerungsumfragen. in: ZUMaNachrichten 42, S. 66–99.

Anmerkungen 1

Noelle-Neumann, E und Petersen, t. (2009): Methoden der Publizistikund Kommunikationswissenschaft. in: E. Noelle-Neumann, , W. Schulz und J. Wilke (Hg.), Fischer lexikon Publizistik/Massenkommunikation. 5. aktualisierte, vollständig überarbeitete und ergänzte auflage. Frankfurt/M, S. 291–328. reuband K.-H. (1999): Postalische Befragungen in den neuen Bundesländern. durchführungsbedingungen, ausschöpfungsquoten und Zusammensetzung der Befragten in einer Großstadtstudie, Za-information 45, S. 71–99. reuband K.-H. (2001): Möglichkeiten und Probleme des Einsatzes postalischer Befragungen. in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53, S. 338–364. Schäfer-Newiger, U. (o.J.): die strikte trennung von direktmarketing und Marktforschung. abgerufen am 23.08.2010 von [http://www.kanzlei-prof-schweizer.de/bibliothek/ content/strikte_trennung.html]

2

Schnell, r. (1993): die Homogenität sozialer Kategorien als Voraussetzung für „repräsentativität“ und Gewichtungsverfahren. in: Zeitschrift für Soziologie 22 (1), S. 16–32. Schupp, J. (2008): 25 Jahre Umfragemethodik in der längsschnittstudie Sozio-oekonomisches Panel (SoEP) zwischen Kontinuität, anpassung und innovativer Weiterentwicklung. Präsentation bei der Jahrestagung der Sektion Methoden der empirischen Sozialforschung 7. und 8. 3. 2008, Bonn. Wasmer, M., Scholz, E., Blohm, M. (2007): Konzeption und durchführung der „allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (allBUS) 2006. Working Paper. Mannheim. Wasmer, M., Scholz, E., Blohm, M. (2010): Konzeption und durchführung der „allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften“ (allBUS) 2008. in: GESiS-technical reports 2010/04.

3

4

ZEUS (2006): lärmbelästigung in Hessen. Ergebnisse einer landesweiten telefonbefragung. Bochum. 5

tistik: Über Staen Angst

ab „Viele h tatistik.“ r vor de S ig?“ o mächt s ie d t Is „

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Mitunter wird die tatsache, dass eine telefon-Umfrage eine niedrige ausschöpfungsquote aufweist, in der Veröffentlichung dadurch verdeckt, dass nicht erreichte Personen als „neutrale“ ausfälle klassifiziert werden und in die Berechnung der ausschöpfungsquote nicht eingehen. Manche Studie, die sich „guter“ ausschöpfungsquoten rühmt, weist deshalb realiter niedrigere Quoten auf, so z.B. eine Umfrage zur lärmbelästigung von ZEUS (2008): statt 43 %, wie im Bericht angegeben, sind es realiter 26 % (wenn man anrufbeantworter, Freizeichen, besetzt oder Verständnisschwierigkeiten nicht als neutralen ausfall zählt). in postalischen Umfragen wird aufgrund des Verzichts auf die erforderlichen Mahnungen oftmals eine geringe ausschöpfungsquote erreicht. Es gibt freilich inzwischen auch mehrere Studien, in denen trotz Mahnaktionen Quoten unter 40 % erzielt wurden. So urteilte das landgericht München 1986, dass bei einer ausschöpfungsquote von unter 70% nicht mehr von einem repräsentativen Ergebnis gesprochen werden könne (zit. nach Schäfer-Newiger o.J., anm. 25). Und in den Umfragen, basierend auf randomroute-Verfahren, wurden lange Zeit (real oder vermeintlich) auch solche Quoten erreicht. Wie sehr das Urteil den druck erhöhte und zu fehlerhaft berechneten ausschöpfungsquoten führte um den „Standards“ zu genügen, ist eine ungeklärte Frage. Es gibt in der literatur verschiedentlich Skepsis und Einwände gegenüber der Verwendung des Begriffs „repräsentativität“ (vgl. diekmann 2007: 430. Wir behalten hier gleichwohl den Begriff angesichts des üblichen Sprachgebrauchs bei, um das ausmaß an Übereinstimmung zwischen Grundgesamtheit und Befragtenstichprobe zu thematisieren. Für das Jahr 2004 lässt sich dem Mikrozensus für Hamburg die folgende Verteilung entnehmen: Volks-/Hauptschulabschluss 35 %, Mittlere reife 27 %, allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife (abitur) 38 %. der anteil der besser Gebildeten ist danach in den früheren Jahren nur minimal geringer als 2008. allerdings war die Vergleichbarkeit aufgrund des unterschiedlichen Erhebungsdesigns eingeschränkt: Verglichen wurden Um-

fragen unterschiedlicher institute auf der Basis von random route Stichproben mit Umfragen auf der Basis von random Stichproben aus Einwohnermelderegistern. Ungewiss musste bleiben, inwieweit die früheren Erhebungen, die sich auf random route Verfahren stützten, interviewer- und institutsbedingt in der Erfassung der ausfälle fehleranfällig waren und womöglich zu hohe ausschöpfungsquoten auswiesen. 6 So wich z.B. in der Erhebung von 1996 (mit einer ausschöpfungsquote von 54 %) der anteil der Personen mit Volks- oder Hauptschulbildung von Mikrozensus stärker ab als in der Erhebung von 2008 (mit einer ausschöpfungsquote von 40 %, vgl. die entsprechenden tabellen in Blohm 2004: 82, Wasmer et al. 2010: 64). 7 die Gewichtungsvariable für alter und Geschlecht orientiert sich am Mikrozensus, nicht an der Bruttostichprobe. das bedeutet, dass durch die Gewichtung auch den abweichungen in der Bruttostichprobe rechnung getragen wird. die alterskategorien bei der Gewichtung entsprechen denen in tabelle 3, bei der Bildungsvariablen wurden Fachhochschulreife und abitur zusammengefasst. die Bildungsverteilung in der Befragung erweist sich bei Gewichtung nach alter und Geschlecht nicht als Folge der Unterrepräsentation der über 70-Jährigen in der Stichprobe. Zwar zählen diese überproportional zu den schlechter Gebildeten. doch ihr anteil ist nicht groß genug, um das Gesamtbild nennenswert zu beeinflussen. 8 im Fall des Musemsbesuchs sind es auf den ersten Blick vier Prozentpunkte. legt man jedoch nicht die gerundeten, sondern die ungerundeten Zahlen zugrunde, kommt man auch hier auf eine differenz von nicht mehr als drei Prozentpunkten. 9 dies betrifft nicht nur die analyse der Prozentverteilungen, sondern auch die Zusammenhänge zwischen Variablen. Zusammenhänge zwischen Variablen (Korrelationen, multivariate Statistiken etc.) werden durch Non-response weniger verzerrt als randverteilungen (diekmann 2007: 425). 10 Umfragen, die z.B. die Nutzung der Hochkultur zum thema haben, laufen nicht nur Gefahr, eine massive Überrepräsentation der besser Gebildeten zu bedingen – da Bildung mit Nutzung der Hochkultur korreliert –, sie laufen auch Gefahr, unter den schlechter Gebildeten überproportional die Kulturinteressierten zu erfassen.

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Eurostat-Daten zeigen:

Mit der Sozialen Marktwirtschaft schwungvoll aus der Krise Michael J. Seitz, Hannover

Nach der weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise hat sich die Wirtschaft in Deutschland in einem rasanten Tempo erholt. Ein Blick auf die vergleichenden Statistiken des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) und ein Vergleich der Daten für die großen europäischen Länder zeigen, dass Deutschland darüber hinaus in Europa die Vorreiterrolle bei der Krisenbewältigung übernommen hat. Die jüngste ökonomische Entwicklung in Deutschland ist in vielerlei Hinsicht überraschend: Trotz der größten Weltwirtschaftskrise seit 1929 und einem Einbruch in der deutschen Wirtschaft um 4,7 Prozent im Jahre 2009 gab und gibt es keinen nennenswerten Anstieg bei der Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Nach den jüngsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit lag die Arbeitslosenquote im November 2010 bei erstaunlichen 7,0 Prozent (Saisonbereinigt 7,5 Prozent) und damit auf dem niedrigsten Wert seit der Wiedervereinigung (siehe Abbildung 1). Noch deutlicher zeigt sich die sehr gute Entwicklung Deutschlands im internationalen Vergleich. Während Länder wie Frankreich oder Großbritannien mit gestiegenen Ar-

beitslosenquoten aus der Krise herauskamen, setzt sich in Deutschland der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt aus der Zeit vor der Wirtschaftskrise fort. Und auch die Überwindung der Wirtschaftskrise insgesamt gelang in Deutschland schneller und reibungsloser als in anderen Ländern, wie die ökonomischen Daten belegen (siehe Abbildung 2 und 3). Kontrovers wird der Beitrag diskutiert, den die Große Koalition an dieser Entwicklung hat. Viele zieren sich, einen Zusammenhang zwischen der positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und deren Politik herzustellen. Während sich Medien und Verfechter unterschiedlichster Ökonomieschulen noch mit der Ursachenforschung für die schnelle wirtschaftliche Erholung Deutschlands beschäftigen, sehen sich Anhängerinnen und Anhänger des Konzepts der „Sozialen Marktwirtschaft“ in ihren wirtschaftspolitischen Überzeugungen bestätigt. Sie verweisen darauf, dass vor allem eine stabile und unaufgeregte Wirtschaftspolitik die Wirtschaft eines Landes fördert. Die Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise gilt hierfür als ein gutes Beispiel. Aus den Erfahrungen der Kriegswirren heraus hatten

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die Väter der Sozialen Marktwirtschaft ein praxisnahes Handlungsgerüst für die Wirtschaftspolitik entwickelt, das vor allem aus zwei zentralen Handlungssträngen besteht: Erstens, einem klaren Bekenntnis zu den Vorteilen einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung, die es mit staatlichen Mitteln wie einer Geldwert-stabilisierenden Zentralbankpolitik, der Absicherung von Privateigentum und Vertragsfreiheit, klaren Haftungsregeln und einer durchsetzungsstarken Monopol- und Kartellkontrolle herzustellen bzw. zu erhalten gilt. Dabei bildet die Soziale Marktwirtschaft kein festes ideologisches Korsett: Stattdessen sind zweitens bewusst pragmatische Korrekturen vorgesehen, wenn außergewöhnliche Situationen dies erfordern oder die Kräfte der Marktwirtschaft zu Ergebnissen führen, die mit den ökologischen und sozialstaatlichen Vorstellungen einer modernen Gesellschaft nicht in Einklang zu bringen sind. Einer der wichtigsten Grundsätze bei der Sozialen Marktwirtschaft ist die Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik. So schreibt Walter Eucken, der den theoretischen Unterbau für das Konzept entwickelte und neben Ludwig Erhard als einer der Väter der Sozialen

Marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung

... mit pragmatischen Korrekturen

Unaufgeregte Wirtschaftspolitik

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Mit der Sozialen Marktwirtschaft schwungvoll aus der Krise Marktwirtschaft gilt: „Eine gewisse Konstanz der Wirtschaftspolitik ist nötig, damit eine ausreichende Investitionstätigkeit in Gang kommt… Solange sie fehlt, ist mit einer ausreichenden Neigung zu investieren, nicht zu rechnen.“ (Aus: Walter Eucken (1952/90) Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. durchgesehene Auflage, Tübingen, S. 254–291)

Viele Gesetzgebungsverfahren in der rot-grünen Regierungszeit mit einer Vielzahl von erforderlichen Nachbesserungen bestätigen die Aussagen Euckens eindrucksvoll. So galt in den Jahren 2002 und 2003 der erste morgendliche Blick vieler Unternehmerinnen und Unternehmer nicht mehr ihren Geschäftsbüchern und Auftragslisten, sondern vor

allem Zeitungsartikeln und Zwischenberichten von Steuerberatern und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die über die voraussichtlichen Kosteneffekte geplanter bzw. wieder verworfener Besteuerungsbzw. Abschreibungsregeln informierten. Aufgrund dieser Unsicherheiten rutschten die Wachstumsraten der deutschen Bruttoinvestitionen Anfang des Jahrzehnts weit stärker ab als in anderen Ländern (siehe Abbildung 4). Einen anderen Weg wählte die Große Koalition in der Krise. Sie vermied Maßnahmen, die die Unternehmen und Konsumenten zusätzlich verunsicherten. Stattdessen verkündete und verabschiedete sie Regelungen, die vor allem positive und optimistische Signale an die Öffentlichkeit aussandten. Hierzu gehörte gleich zu Beginn der Bankenkrise die überraschende Ankündigung einer Einlagengarantie für Privatsparer. Sie sollte insbesondere bei Kleinanlegern Ängste um den Verlust ihrer Spareinlagen im Keim ersticken und ein panikhaftes Abheben der Ersparnisse bei den Banken verhindern. Auch in Richtung der Unternehmen kamen beruhigende Signale: Gesetzesvorhaben mit Einfluss auf grundlegende Inves­titionsentscheidungen unterblieben. Entsprechend konnten sich die Unternehmerinnen und Unternehmer ihrem originären Kerngeschäft widmen und sich vor allem auf jene Maßnahmen konzentrieren, die in ihren Häusern zur Überwindung der Krise erforderlich waren. Mit der befristeten Ausdehnung der Kurzarbeiterregelung weitete die große Koalition die Planungssicherheit für die Unternehmen sogar noch aus. So wurde den Unternehmen mit

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Mit der Sozialen Marktwirtschaft schwungvoll aus der Krise der verlängerten Gewährung des Kurzarbeitergeldes (von sechs auf 18 Monate) die Sorge genommen, während der Krise gut ausgebildete und bewährte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen. Mit der Ausweitung der Kurzarbeiterregelung dokumentierte die Regierung zudem ihre optimistische Einschätzung, dass die globale Krise mit den richtigen Maßnahmen vergleichsweise schnell überwunden werden könne. Die Kurzarbeiterregelung hatte auch für die Beschäftigten ein wichtiges positives Signal: Zwar konnte all jenen, die in Kurzarbeit waren, die Ängste um einen Verlust des Arbeitsplatzes nicht gänzlich genommen werden. Doch zeigte die ausgiebige Nutzung der Kurzarbeiterregelung den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr deutlich, dass ihre Unternehmen ernsthaft an einer Weiterbeschäftigung auch nach der Krise interessiert waren. Eine für viele Ökonomen erstaunlich positive psychologische Wirkung entfaltete die Abwrackprämie. Erfahrungsgemäß herrscht in einer Krise nicht nur in jener Bevölkerungsgruppe eine schlechte Stimmung, die durch die Arbeitslosigkeit direkt betroffenen ist, sondern wächst mit der Angst vor einer drohenden Arbeitslosigkeit auch bei den Noch-Beschäftigten eine pessimistische Grundeinstellung und in ihrer Folge eine Krisen-verschärfende Kaufzurückhaltung. Die Abwrackprämie wirkte dem entgegen. So waren über längere Zeit nicht mehr nur die Wirtschaftskrise und ihre Folgen die beherrschenden Themen in der Öffentlichkeit. Stattdessen bestimmte mit der Frage und der Entscheidung über den Kauf eines neuen Autos ein positiv Stadtforschung und Statistik 1/2011

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FEhler-Ausgabe besetztes Thema die öffentliche Diskussion. Entsprechend gering war der Rückgang des Konsumklimaindex der Gesellschaft für Konsumforschung (siehe Abbildung 5).

„Vertrauensindizes“

Eine ähnliche Entwicklung zeigen auch die „Vertrauens­ indizes“ des Europäischen Statistischen Amtes, die vor allem für Deutschland eine vergleichsweise gute Stimmung bestätigen (siehe Abbildungen 6 und 7). Lässt man die Ereignisse und Politikmaßnahmen im Zuge der jüngsten Weltwirtschaftskrise Revue passieren, so liegt der größte Verdienst der großen Koalition in der Entscheidung, den wesentlichen Grundsätzen des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft gefolgt zu

sein. Dies galt vor allem für den Verzicht auf kurzfristige steuerliche Manipulationen mit starker Wirkung auf die Kalkulations- und Investitionsbasis in den Unternehmen. Sofern umsetzbar, wäre es vor diesen Erfahrungen interessant, bei Unternehmensumfragen künftig nicht nur Geschäftsklimaindizes zu ermitteln, sondern darüber hinaus auch eine Art „Politikstörungsindex“, in dem politisch bedingte Einflüsse auf Unternehmensentscheidungen erfasst würden. Die Stärke des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft zeigt sich allerdings auch in seiner Flexibilität, in besonders angespannten Situationen selbst solche Maßnahmen zu akzeptieren, die unter normalen Umständen abgelehnt werden. Die staatliche Einlagengarantie ge-

hört hier ebenso dazu wie eine übermäßige zeitliche Ausweitung der Kurzarbeiterregelung oder die Subventionierung des Autokaufs über die Abwrackprämie. So wurden diese Maßnahmen aufgrund der instabilen globalen Sondersituation und der wichtigen psychologischen Wirkungen akzeptiert, wenn auch mit einer klaren zeitlichen Begrenzung. Die Lehren aus der jüngsten Wirtschaftskrise zeigen, dass Ludwig Erhards Einschätzung, nach der 50 Prozent der Wirtschaft Psychologie sei, heute genauso gilt wie früher, und eine optimistische Grundeinstellung in einer Krise schneller zu einem unteren Wendepunkt führt als ein unterhaltsamer und personenbezogener, aber störender wirtschaftspolitischer Aktionismus.

Fehler-Ausgabe Martin Schlegel, Hagen

Die letzte Ausgabe dieser Zeitschrift war alles andere als fehlerfrei. Es begann damit, dass ich bei einigen Aufsätzen meine Notizen nicht gelöscht habe, die ich für die Redaktionssitzung benötige und deshalb an den Anfang der einzelnen Beiträge tippe. So gingen sie mit zum Verlag. Damit habe ich Frau van Beek schon ein paar Steine in den Weg gelegt, also der Dame, die im Schibri-Verlag so gekonnt dafür sorgt, dass die Artikel dieser Zeitschrift zu einem guten Heft zusammenwachsen, die für das gesamte Layout verantwortlich ist. Im Versand lag das nächste Problem: Normalerweise erscheint „Stadtforschung und Statistik“ kurz vor den wichtigen Treffen:

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Der Frühjahrstagung und der Statistischen Woche. Diesmal nicht; vor der Statistischen Woche ging gar nichts und danach auch nur schleppend. Der Fehler lag bei uns, nun ist er behoben. Wer die Zeitschrift dann in den Händen hielt, stellte einige Fehler fest: Arbeitet Dr. Stefan Böckler in Düsseldorf oder in Duisburg?, konnte er sich fragen. Im Heft wurde beides angeboten. Richtig ist natürlich: Duisburg. Auf dem Foto der Seite 75 war Martin Luther King nur mit Mühe zu erkennen. Schade. Aber die von ihm gemachte Aussage war gut zu lesen – und darauf kommt es an. Bei dem Artikel „Von Finnland bis Liechtenstein“, der sich mit

der Geschichte des Frauenwahlrechts in Europa befasste, suchte ich die Quellenangabe der Fotos – ohne Erfolg. Ich hatte einfach vergessen, darauf hinzuweisen, wer die beiden Bilder zur Verfügung gestellt hatte. Wir verdanken sie dem Bildarchiv im AdsD der Friedrich-Ebert-Stiftung. Nochmals herzlichen Dank. In dem Beitrag „Dynamische Analyse von Wahlkampfprozessen – Rolling Cross-Section Survey“ lautet die korrekte Autorenreihung: Rüdiger SchmittBeck, Thorsten Faas, Ansgar Wolsing, Mannheim. Die Ausgabe, die Sie jetzt in der Hand halte, birgt weniger Fehler. Da bin ich mir sicher.

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Kooperative Entwicklung der kommunalen Informationsinfrastruktur

Das EU-Projekt TooLS Klaus Trutzel, Nürnberg1

Als die EU-Kommission im Sommer 2009 ein Projekt zur „Entwicklung von Werkzeugen für vergleichbare Erhebungen auf der örtlichen Ebene“ ausschrieb, erkannten Vertreter der KOSIS-Gemeinschaften DUVA und Urban Audit die Chance, mit Förderung der EU die Entwicklung ihrer KOSIS-Gemeinschaftsprojekte ein gutes Stück voranzubringen. Nach dem Motto „wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ setzten sie sich über Sorgen vor einer zu großen Verantwortung in den Führungen von VDSt und KOSIS-Verbund hinweg, holten die Universität Freiburg mit ins Boot und unterbreiteten der Kommission ihren gemeinsamen Entwicklungsvorschlag. Inhaltlich geht es der federführenden Generaldirektion „Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit“ um die Versorgung mit vergleichbaren Informationen, die auf den verschiedenen administrativen Ebenen, vor allem in den Kommunen, zur Bewältigung des demographischen Wandels benötigt werden. Schließlich sind die Städte und Gemeinden am unmittelbarsten von den zu erwartenden Problemen betroffen und können wohl auch am ehesten die erforderlichen gezielten Maßnahmen ergreifen. Solche Informationen, die über die allgemeinen Erkenntnisse zum demographischen Wandel hinausgehen, lassen sich nur zum Teil aus amtlichen natio-

nalen und internationalen Erhebungen gewinnen. Ziel des Vorhabens ist es daher, auf der örtlichen Ebene die spezifischen Informationen in der Weise zu gewinnen, dass sie mit den Erkenntnissen anderer Kommunen verglichen und kombiniert werden können. Sie sollen zu einer besseren Einschätzung der besonderen örtlichen Verhältnisse im Städtevergleich beitragen und einen Prozess kooperativen Lernens unterstützen. Offenbar brachten die beiden KOSIS-Gemeinschaften zusammen mit dem Institut für Soziologie der Universität Freiburg gute Voraussetzungen mit, die Projektziele zu erreichen. Im Dezember 2009 erhielten sie den Zuschlag. Die KOSIS-Gemeinschaft DUVA bringt ihr Informationsmanagementsystem in das Vorhaben ein, mit dem Daten über das Internet erhoben, dokumentiert und nutzergesteuert ausgewertet werden können. DUVA hat so bereits bei mehr als 50 meist kommunalen Anwendern wesentlich zur Leistungssteigerung ihrer Statistikämter beigetragen. Die technischen Instrumente unterstützen die Vereinbarung inhaltlicher Standards und tragen so bereits jetzt zum Austausch vergleichbarer Informationen bei. Das Sammeln städtevergleichender Informationen im europäischen Kontext ist Leistungsschwerpunkt der

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KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit. Sie verhilft dem Projekt nicht nur zu einer Fülle qualifizierter Basisdaten aus mehr als 300 europäischen Städten, sondern bringt – wie die DUVA-Gemeinschaft – auch ihr Städtenetzwerk und damit wichtige Ansprechpartner für die Projektentwicklung ein. Das Institut für Soziologie der Universität Freiburg schließlich verfügt, zusammen mit den angegliederten Freiburger Institut für angewandte Sozialwissenschaft FIFAS, über Erfahrungen in der empirischen Erforschung des demographischen Wandels. Es organisiert im Projekt u. a. die vereinbarten städtevergleichenden Bürgerbefragungen und wertet sie für das Vorhaben und für die beteilig­ ten Städte aus. Mit im Boot sind als europäische Partner die Städte Amsterdam und Helsinki mit ihren Ämtern für Stadtforschung und Statistik.

„Wer nicht wagt, ...“

Amsterdam und Helsinki

Städtenetzwerk, das organisatorische Rückgrat Bereits beim Projektantrag machten sich die europäischen Kontakte der Urban Audit-Gemeinschaft bezahlt, durch die kurzfristig die Partnerinstitutionen in Amsterdam und Helsinki zur Mitwirkung gewonnen werden konnten. In diesem Antrag war auch in Aussicht gestellt worden, in den drei beteiligten euro-

Städtevergleichende Informationen

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Das EU-Projekt TooLS

Im Zentrum: Universität Freiburg

Amsterdam 2010

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päischen Ländern je drei Pilotstädte einzubinden. Deren Aufgabe sollte es sein, die Projektentwicklung auf die praktischen Bedürfnisse der Städte auszurichten, die beispielhaft zu sammelnden Informationen beizusteuern, die praktischen Ergebnisse zu erproben und zu ihrer Verbreitung unter den Städten beizutragen. Eine wesentliche Rolle ist dabei Zusammenkünften zugedacht, bei denen die Projektziele und später auch die Projektergebnisse zur Diskussion gestellt und abgestimmt werden. Insgesamt sind zwei internationale Konferenzen zu Projektbeginn und Projektende und je drei nationale Konferenzen vorgesehen. Die erste internationale Konferenz fand bereits Anfang Juni 2010 in Amsterdam unter Beteiligung der niederländischen, finnischen und deutschen Partner statt, die erste nationale deutsche Konferenz wurde mit der Gemeinschaftstagung des KOSIS-Verbundes Ende Juni 2010 in VillingenSchwenningen kombiniert, und im Herbst 2010 hielten auch die

niederländischen und die finnischen Partner ihre nationalen Treffen ab. Organisatorisch und rechtlich wird das Projekt von der Universität Freiburg betreut, mit FIFAS als zentralem Ansprechpartner. Dort wird nicht nur das Projektbudget verwaltet, FIFAS sorgt auch für die notwendigen Übersetzungen von Unterlagen ins Englische, unterstützt die Tagungsorganisation, pflegt die TooLS-Website2 und hat das Management der Bürgerbefragung übernommen. Mit diesem Netzwerk erfüllen die Projektpartner bereits ein Hauptziel des Vorhabens, eine Infrastruktur für vergleichende Erhebungen auf der örtlichen Ebene aufzubauen, deren inhaltlicher Gegenstand später durchaus über den demographischen Wandel hinausgreifen soll.

DUVA, das technische Rückgrat3 Das Ziel vergleichbarer Informationen wird ganz entscheidend durch eine standardisier-

te Erhebung, Dokumentation und Verarbeitung der Daten unterstützt. Für TooLS ist das wichtig, weil hier Informationen aus verschiedenen Quellen und von einer Vielzahl von Institutionen zusammenzutragen und kombiniert ausgewertet werden sollen. Das Informa­ tionsmanagementsystem der Städtestatistik DUVA erfüllt diese Voraussetzungen in besonderer Weise, als es nicht nur einheitliche Definitionen sowie gebietliche und inhaltliche Gruppierungsmöglichkeiten verlangt, sondern auch ein technisches Instrumentarium bietet, das eine kooperative Datenorganisation und Datennutzung über das Internet ermöglicht. DUVA unterstützt alle Phasen der Datenverarbeitung von der Datengewinnung bis zur Ergebnispräsentation und wird im TooLS-Projekt für den allgemeinen europaweiten Einsatz weiterentwickelt. Inhaltlich erfordert das eine einheitliche Datenbeschreibung, die im Projekt entwickelt und übergreifend über die verschiedenen Datenbestände verwendet wird. Dadurch lassen sich, ohne zusätzliche Eingriffe, Daten verschiedenen Ursprungs in Auswertungen kombinieren und in ihren Ergebnissen präsentieren. Die im „Nachweissystem“ dokumentierte Datenbeschreibung wird in DUVA auch genutzt, um automatisch Templates für die Dateneingabe zu erzeugen. Das Datenerfassungs-Tool unterstützt auch die Erhebungen über das Internet. Es wird z. B. im deutschen Urban Audit eingesetzt, um von den beteiligten Städten Gesamtstadtund Stadtteildaten zu erheben und in einem geschützten Bereich korrigieren zu lassen. Auf der Ausgabeseite beschreibt man mit Hilfe des Nachweissystems die gewünschte Selek-

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Das EU-Projekt TooLS tion, Merkmalskombination, Verdichtung und Präsentationsform – Tabelle, Graphik, Karte – und erhält dabei eine eindeutige, nachträglich noch gestaltbare Beschriftung der Ergebnisdarstellung. Die Internet-Fähigkeit des DUVA wird im Projekt weiter ausgebaut. Für das zu entwickelnde Monitoring ist es besonders hilfreich, Ergebnisberichte automatisch mit den jeweils aktuellsten Daten versorgen zu können und so – periodisch oder ad-hoc – ohne Zusatzaufwand den Entscheidungsträgern den aktuellen Überblick über die neueste Entwicklung und Strukturveränderung ihrer Stadt zu bieten und diese Information mit Vergleichsdaten aus anderen Städten unterstützen zu können. Die DUVA-Module sind bereits weitgehend so ausgelegt, dass Beschriftungen, die Ausgabe von Fehlermeldungen etc. auf beliebige Fremdsprachen umgestellt werden können. Geplant ist die vollständige Mehrsprachenfähigkeit aller beteiligten Module. DUVA nutzt das internationale Standardformat XML bereits als internes Format für den Austausch von Informationen. Diese XML-Schnittstelle lässt sich so weit verändern, dass ein Austausch mit anderen Metadatensystemen möglich ist. Der Webkatalog steht bereits als Weg zur Datenpräsentation und Datenweitergabe im Internet zur Verfügung. Als Teil des TooLS-Projektes wird der Webkatalog in einer moderneren Entwicklungsumgebung neu programmiert. Der Webkatalog kann im Layout über Anpassungen der HTML- bzw. CSS-Dateien komplett an die Erfordernisse des Projektes angepasst werden. Der Metadatennavigator als neuer zentraler Web-Zugang

zu den DUVA-Metadaten ist bereits beauftragt und wird Anfang 2011 zur Verfügung stehen. Er wird Schnittstellen zu den vorhandenen DUVAModulen zur Erzeugung von Tabellen, Grafiken und Karten beinhalten. Schnittstellen zu GIS-Tools und kostenfreien Open-Source-Tools zur webbasierten Datenanalyse und Erzeugung von Berichten mit Tabellen und Grafiken sollen sukzessive realisiert werden. DUVA wird nach den in Deutschland geltenden Datenschutzregeln entwickelt und eingesetzt. Über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bonn (BSI) wird im TooLS-Projekt eine international anerkannte Sicherheitszertifizierung auf Basis des Common-Criteria-Standards angestrebt. Damit werden Anforderungen erfüllt, die von öffentlichen Einrichtungen verstärkt an Software gestellt werden. Beantragt wird dabei eine Evaluierung gemäß Common Criteria Stufe EAL 1.

Ebene. Er ermöglicht und erfordert aber auch von den Individuen Anpassungsleistungen, die sich in veränderten Lebensentwürfen niederschlagen. Im Grunde ist der demografische Wandel wegen seiner weitreichenden Konsequenzen als ein umfassender soziokultureller Wandel zu verstehen. Der TooLS-Survey konzentriert sich auf die Altersgruppe 50 Jahre und älter. Die Menschen haben eine längere Lebenserwartung und sind länger fit, gesund und leistungsfähig. Andererseits nimmt der Anteil und die Anzahl jener Menschen zu, die in eine „vierte“ Lebensphase kommen, in der sie das Gesundheitssystem und Versorgungsleistungen in Anspruch nehmen müssen und auf die Solidarität des Gemeinwesens angewiesen sind. Damit wächst der Bedarf an von Angehörigen praktizierter „Nahraumsolidarität“ wie auch die Anforderungen an zivilgesellschaftlich zu leistende „Fernraumsolidarität“.

Bürger-Survey, der Einstieg in vergleichbare Erhebungen4

Im Hinblick auf den möglichen Trend zu einer „aktiven Ge­ sellschaft“ und Kommune sind besonders folgende Fragen von Interesse: • Wie entwickelt sich das Erwerbspersonenpotential in der Altersgruppe 50+, welche regionalen Unterschiede gibt es? • Wie steht es um die Teilnahme der über 50-Jährigen an beruflicher Fortbildung/ Qualifizierung? • Welches Interesse besteht an zivilgesellschaftlichem Engagement? • Wie stuft die Altersgruppe 50+ ihr subjektives Wohlbefinden ein? Hat die Position auf dem „aktiv-passiv-Kontinuum“ Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Menschen?

Inhaltlich richtet sich das Projekt auf den demographischen Wandel und hier auf die Lebensbedingungen der älter werdenden Bevölkerung. In wenigen Jahrzehnten wird der Altenquotient in Europa und in Deutschland mehr als 50 % betragen. Dieser demographische Wandel betrifft in vielfältiger und komplexer Weise Ökonomie, Kultur und soziale Lebensbedingungen. Er verändert die Verfügbarkeit über Ressourcen, hat Einfluss auf die Lebensqualität und erfordert neue Strategien der Problembewältigung auf nationaler wie auf kommunaler

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DUVA-Schnittstellen

GIS- und Open-SourceTools

Zielgruppe: 50+

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Das EU-Projekt TooLS

Fragen zur Pflege

Zur Information über die Herausforderungen stei­ gender Versorgungsbedürf­ nisse/ Pfle­gebedürftigkeit sollen Antworten auf folgende Fragen beitragen: • Mit welchen Unterstützungsnetzwerken rechnen Menschen in den Altersgruppen 50+? • Welche Erfahrungen haben diese Altersgruppen mit Pflegebedürftigkeit? • Inwieweit sind sie selbst bereit und in der Lage, Pflegeverpflichtungen zu übernehmen? • Wie stellen sie sich ihre eigene Versorgung für den Fall von Pflegebedürftigkeit vor? Zur soziologischen Interpre­ tation der Befunde werden die folgenden Indikatoren erhoben: • Verteilung der Altersgruppen 50+ in den Kommunen auf soziale Milieus: Informationen über die strukturellen Ressourcen der zu befragenden Personen (Schulbildung, Berufsausbildung, Einkommen) und über ihren Lebensentwurf • Informationen im Sinne einer „Standarddemografie“ Alter, Geschlecht, Haushalts- /Familientyp, Wohnsituation

Freiburger Fragebogen

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Mit einem von der Universität Freiburg entwickelten Fragebogen werden im TooLS-Projekt je beteiligte Stadt auf schriftlichem Weg mindesten 300 Personen im Alter von 50+ befragt. Der Fragebogen wurde in der VDSt-Arbeitsgruppe Koordinierte Umfragen erörtert und mit den interessierten Städten in Deutschland, in den Niederlanden und in Finnland abgestimmt. Den Städten ist es freigestellt, den Fragebogen durch eigene Module zu

ergänzen, so weit dadurch die Belastung für die Befragten nicht zu hoch wird. Diese Erhebungen werden im November und Dezember 2010 durchgeführt und sollen vor Weihnachten abgeschlossen sein. FIFAS übernimmt die Datenerfassung mit dem DUVA-Erfassungstool, das Ins­ titut für Soziologie die Analyse. Jede beteiligte Stadt erhält eine Standardauswertung zusammen mit den erfassten Stadtdaten zur eigenen Verwendung. Die Chance, mit minimalem eigenen Einsatz eine städtevergleichende Analyse der gegenwärtigen und der erwartenden Lebenssituation der älteren Menschen in ihrer Stadt zu erhalten, haben sich knapp 10 deutsche Städte nicht entgehen lassen. Es wird sich zeigen, ob dieses Beispiel nicht weitere Städte zur Beteiligung an Wiederholungsbefragungen motiviert, die bereits für die Zeit nach Projektende anvisiert sind.

Urban Audit auch für TooLS nutzbar Urban Audit ist als europäischer Vergleich der Lebensqualität in den Städten fast die einzige Quelle, die städtebezogene Angaben aus fast allen Lebensbereichen in europaweit vergleichbarer Form bereitstellt. Hieraus werden Informationen gewonnen, die als Basisdaten bestehende Unterschiede in den demographischen, ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen verdeutlichen und so auch helfen, die jeweiligen Ausgangsbedingungen im demographischen Wandel zu erkennen und zu bewerten.

Aus den mehr als 300 Merkmalen von mehr als 300 europäischen Städten werden die für das Projekt relevanten Merkmale der Pilotstädte ausgewählt und in eine projektbezogene Datenbasis eingestellt. Sind Pilotstädte nicht am Urban Audit beteiligt, werden die Vergleichsdaten bei ihnen erfragt. Neben der differenziert vorhandenen Altersstruktur, Haushaltszusammensetzung und den Gesundheits- und Umweltdaten sind auch Angaben über die Sicherheit in der Stadt, die öffentlichen Verkehrsverhältnisse sowie die Kulturangebote von Interesse. Sobald im Urban Audit die Erhebungsrunde für die Referenzjahre 2005 bis 2009 abgeschlossen ist, können die­se Daten von der EurostatDatenbank kostenlos heruntergeladen werden. Die im Abstand von drei Jahren von der Generaldirektion Regionalpolitik der EU veranlassten Befragungen zur subjektiven Einschätzung der Lebensqualität bilden eine wichtige Ergänzung. Leider stehen sie nur für eine Unterauswahl von Städten zur Verfügung, in Deutschland immerhin für 26 große Städte, die entweder in die Perception-Surveys der EU oder in die koordinierten Umfragen der deutschen Städtegemeinschaft einbezogen waren. Da die Mikrodaten mit der EU ausgetauscht wurden, sind hier auch gezielte Aussagen nach demographischen Gruppen, vor allem für die Altersgruppe der über 50-Jährigen möglich. Damit liefern diese Daten nützliche Hintergrundinformationen für die Analyse des TooLS-Bürger-Survey und die geplante Befragung von Verwaltungsstellen und Dienstleis­ tern.

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Das EU-Projekt TooLS

Befragung von Verwaltungen und Dienstleistern im Städtevergleich Zur Ergänzung der Erkenntnisse, die aus vorhandenen Quellen und durch die Befragung der über 50-Jährigen gewonnen werden, sollen Verwaltungsstellen und Dienstleister befragt werden. Ansätze hierzu sind im Projekt zu entwickeln. Ausgangspunkt sind die komplementären Ziele, für eine alternde Bevölkerung Bedingungen zu schaffen, die es ihr ermöglichen, (1) so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben in ihrer gewohnten Umgebung zu führen, was durch das Ziel, (2) ein aktives Altern zu fördern, besonders unterstützt wird, und auf der anderen Seite (3) dafür zu sorgen, dass die Senioren im Bedarfsfall die notwendige Hilfe, Betreuung und Pflege zuhause oder in Heimen erfahren. Folgende Themenkomplexe sind in Betracht zu ziehen, ohne dass die Informationen hierzu im Projekt annähernd voll abzudecken wären: • die Bedarfssituation und ihre Entwicklung auf Seiten der alternden Bevölkerung • die Angebotsverhältnisse und ihre Entwicklung auf Seiten der privaten und öffentlichen Dienstleister • die gegenwärtige (rahmensetzende, koordinierende und beratende) Funktion der Stadtverwaltung und deren geplante Entwicklung. Dabei sind vor allem folgende Bereiche relevant: • Gesundheit • Einkommen und finanzielle Sicherung • Erwerbstätigkeit • Wohnen • Mobilität

• Sicherheit • Ehrenamtliche Tätigkeit • Soziale, kulturelle und politische Teilhabe • Versorgung • Bildung • Erholung und Sport Bei der Vielfalt der seniorenbezogenen Angebote und Leistungen kommt es hier vor allem auf solche an, auf die städtische Verwaltungen Einfluss nehmen können, indem sie diese initiieren, koordinieren, (leichter) zugänglich machen, rahmensetzend ausrichten oder selbst gestalten. Während die Bevölkerungsentwicklung kaum zu beeinflussen ist, hat die Stadt auf die Lebensverhältnisse erheblichen Einfluss. Die hierauf gerichteten Leistungen sind besonders zu untersuchen. Hierzu gehören • eine altengerecht gestaltete Infrastruktur, • seniorenorientierte Beratung und Vermittlung zu fast allen Lebensbereichen • öffentliche Leistungsangebote, die private Angebote ergänzen oder ersetzen. Sobald die Themenbereiche abgesteckt sind, soll ein noch abzustimmendes Befragungskonzept möglichst vergleichbar in den Pilotstädten erprobt werden. Nur ein Teil der zu erhebenden Informationen wird quantitativ-statistischer Natur sein. Im Projekt sind deshalb Formen einer möglichst wirksamen, den Vergleich unterstützenden Dokumentation zu entwickeln.

Handlungsfähigkeit der Städte stärken Im TooLS-Projekt werden vorhandene Ansätze einer kommunalen Informationsinfrastruktur so weiterentwickelt, dass sich eine wachsende Zahl

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von Städten daran beteiligen und sich ihre Instrumente und Inhalte nutzbar machen kann. Diese Zielsetzung reicht weit über das TooLS-Projekt hinaus, das inhaltlich auf den demographischen Wandel ausgerichtet ist und hier die Möglichkeiten städtevergleichender Information verbessern soll. Zur Bewältigung der gewaltigen Probleme des demographischen Wandels wird das Vorhaben einen umso größeren Beitrag leisten können, je stärker es genutzt und über die Laufzeit von drei Jahren hinaus weiterentwickelt wird. Die bessere Information und eine leis­ tungsfähigere Informationsinfrastruktur, die mit dem TooLSProjekt initiiert wird, sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass sich die Städte vor Ort frühzeitig auf die Herausforderungen einstellen und entsprechend planen und handeln können. Indem sie die kooperative Weiterentwicklung der Informationsinfrastruktur fördert, unterstützt die EUKommission ein Selbsthilfeprojekt, das kaum eine Stadt für sich alleine konzeptionell und finanziell bewältigen könnte. Die Städte tun gut daran, sich aktiv in diese Entwicklung einzubringen.

Ziele

Selbstbestimmtes Leben

Aktives Altern

Notwendige Hilfe

Machen Sie mit

Anmerkungen 1

2 3

4

Klaus Trutzel, KOSIS-Gemeinschaft Urban Audit, (unter Nutzung der Projektbeiträge von Prof. Dr. Baldo Blinkert, Universität Freiburg, sowie von Thomas Willmann und Arno Schif-fert, KOSIS-Gemeinschaft DUVA) www.tools-project.eu Zusammenfassung aus Projektbeiträgen von Thomas Willmann und Arno Schiffert, KOSIS-Gemeinschaft DUVA Zusammenfassung aus Projektbeiträgen von Prof. Dr. Baldo Blinkert, Institut für Soziologie der Universität Freiburg

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Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ – Erfahrungen aus 8 Jahren

Ein Programm für Alle Irene Iwanow, Daniel Eichhorn, Holger Oertel, Dresden

Einführung

Hilfe für Klein- und Mittelstädte

Abb. 1: Besucher der Internet­ seite und Anzahl der Prognoserechnungen mit dem Internet-Rechenprogramm des IÖR (Quelle: eigene Auswertungen, Datenbasis: Nutzerdatenbank des IÖR)

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In Vorbereitung des Bundeswettbewerbs „Stadtumbau Ost“ im Jahr 2001 erhielt das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. (IÖR) vom Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen den Forschungsauftrag, eine Prognosemethode zu entwickeln, mit welcher die Stadtverwaltungen in den ostdeutschen Klein- und Mittelstädten bei der Erstellung ihrer integrierten Stadtentwicklungskonzepte unterstützt werden können. Gerade in den Kleinund Mittelstädten reichen die Personalkapazitäten oft nicht aus, um eigene Prognosen erstellen zu können. Jede Kommune kennt ihre eigenen Entwicklungen am besten und profitiert von realistischen Einschätzungen und der Entwicklung guter Leitbilder. Aus dem erarbeiteten und dokumentierten Prognosekonzept (Iwanow, Reichart, Eichhorn 2001, 29ff.) wurde im IÖR ein Rechenprogramm für Selbstnutzer erarbeitet. Dieses steht seit 2002 allen Interessenten

kostenlos auf der Homepage des IÖR unter www.ioer.de/ Wohnungsprognose zur Verfügung.

Nutzung des Programms Seit Einführung des Rechenprogramms im Jahr 2002 wurde durch Planungsbüros und Kommunalverwaltungen von der Möglichkeit der Erstellung eigener Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungsnachfrageprognosen rege Gebrauch gemacht. Bis heute gibt es mehr als 50 000 Besucher. Die hohe Zahl der Besucher des Rechenprogramms zeigt deutlich, welch großes Interesse in den Kommunalverwaltungen und Planungsbüros nach Unterstützung bei der Erstellung eigener Prognosen besteht. Die Jahre 2004 und 2005 waren mit rund 8 000 Besuchern pro Jahr die Spitzenjahre. Bei Einführung des Programms im Jahr 2002 und in den letzten Jahren lag die Zahl der Besucher bei rund 4 000 bis 5 000 Interessenten. Da es sich bei

dem IÖR-Rechenprogramm um ein sehr spezielles Thema handelt, mit welchem sich eine Kommune nur in größeren zeitlichen Abständen auseinandersetzt, ist die Zahl der Besucher relativ hoch. Neben der Zahl der Besuche der Internetseite ist vor allem interessant, wie häufig konkrete Berechnungen durchgeführt wurden. Die Anzahl der jährlichen Rechnungen schwankt zwischen 420 Rechnungen im Jahr 2002, einem Tief im Jahr 2008 mit nur 102 Prognoserechnungen, danach stieg die Zahl wieder auf 344 konkrete Rechnungen im Jahr 2009. Insgesamt sind 1 739 Prognoserechnungen bekannt (Abb. 1). Das Rechenprogramm ist so konzipiert, dass die Anwender nacheinander mehrere Szenarien rechnen können. Dies ist sogar ausdrücklich erwünscht, da die meisten Szenarienannahmen (z. B. zukünftige Wanderungen und Umzugswahrscheinlichkeiten) sich nur sehr schwer für die Zukunft einschätzen lassen. Meist wurden von den Anwendern auch mehrere Szenarien erstellt. Die Zahl der durchgeführten Berechnungen schwankt pro Kommune zwischen einer und bis zu 30 Rechnungen. Regional gesehen kommen die meisten Nutzer des Rechenprogramms aus MecklenburgVorpommern, Sachsen und Thüringen (Abb. 2). Sehr häufig bildeten die Berechnungen

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Ein Programm für Alle

Abb. 2: Regionale Verteilung der Nutzer des IÖR-Rechenprogramms (Quelle: eigene Darstellung, Datenbasis: Nutzerdatenbank des IÖR)

mit dem IÖR-Rechenprogramm eine der quantitativen Grundlagen für die zu erarbeitenden „Integrierten Stadtentwicklungskonzepte“ im Rahmen des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“. Später machten sich auch Planungsbüros, die im Auftrag der ausgewählten Pilotstädte des Forschungsfeldes „Stadtumbau West“ arbeiteten, das IÖR-Rechenprogramm zu Nutze.

Möglichkeiten des IÖR-Programms

Haushalts- und Wohnungsnachfrage

Mit dem IÖR-Rechenprogramm können Prognosen in Form von Szenarien zur Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungsnachfrageentwicklung erstellt werden (Iwanow, Eichhorn, 2002, 25ff.). Die Nutzer bringen hierfür ihre eigenen kommunalen Grunddaten zum Bevölkerungsbestand im Ba-

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sisjahr der Prognose mit. Da die Datenvoraussetzungen in den einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich sind, werden im Rechenprogramm mehrere Wege vorgesehen. Diese beziehen sich vor allem auf die bereits vorliegenden kommunalen Informationen. So besteht die Möglichkeit, eine vereinfachte Bevölkerungsprognose zu erarbeiten. Ein einfacher Ansatz für Bevölkerungsprognosen wird deshalb gewählt, damit auch kleine Kommunen eigene Prognosen rechnen können und ihre zukünftig zu erwartende Bevölkerungsentwicklung nicht über den Bevölkerungsanteil aus Kreisprognosen ableiten müssen. Als Ergebnis liegen Bevölkerungsentwicklungen für 16 Altersklassen in tabellarischer Form vor. Graphisch angezeigt werden die Prognoseergebnisse dann nur für 3 Altersgruppen, weil diese für die Nachfrageschätzung von besonderer Bedeutung sind. Im Verhältnis zu Bevölkerungsprognosen werden Berechnungen zur Haushaltsentwicklung in der Regel seltener extern erarbeitet. Es besteht jedoch die Möglichkeit, eine kommunale Haushaltsprognose über ein Rechenprogramm des KOSIS-Verbundes zu erstellen. Prinzipiell können diese und andere Ergebnisse extern erarbeiteter Haushaltsprognosen zur weiteren Ermittlung einer Wohnungsnachfrageprognose mitgebracht werden. Im Allgemeinen werden jedoch häufiger die Haushaltsprognosen erstellt. Deren Ergebnisse gliedern sich in drei Haushaltstypen, die vor allem als Nachfragergruppen nach Wohnraum von besonderer Bedeutung sind. Auch wenn jeder Haushalt seine eigenen Wohnwünsche verfolgt, gibt es doch in verschiedenen Lebensphasen charakteristische

Muster der Wohnpräferenzen. Diese unterschiedlichen Haushaltslebensphasen werden durch die drei Haushaltstypen „Jüngere Ein- und Zwei-Personen-Haushalte“, „Haushalte mit drei oder mehr Personen“ und „Ältere Ein- und ZweiPersonen-Haushalte“ stilisiert nachgebildet. Zusätzlich zur Prognose der Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklung ist eine Differenzierung nach verschiedenen nachgefragten Wohnungstypen möglich. Diese sind zu Beginn des Rechenprogramms frei wählbar. Die Basis hierfür bildet zunächst eine Analyse des Wohnungs- und Gebäudebestandes nach verschiedenen charakteristischen kommunalen Bebauungsstrukturtypen. Da sich diese von Kommune zu Kommune deutlich unterscheiden können, sind sie im Rechenprogramm nicht vorgegeben. Mit den gewählten Bebauungsstrukturtypen sollten allerdings wichtige Entwicklungen in den einzelnen kommunalen Wohnungsteilmärkten abgebildet werden können. Lediglich die Anzahl der möglichen Differenzierungen ist auf sieben Strukturtypen begrenzt, damit im Rechenprogramm intern die Differenzierungen nicht zu mangelnden Fallzahlen führen und die Annahmensetzungen noch überschaubar bleiben. Abbildung 3 stellt eine Differenzierung der prognostizierten Haushaltsentwicklung dar. Einerseits lässt sich gut erkennen, wie die quantitative Entwicklung jedes Haushaltstyps sein wird und welche Wohnungs- bzw. Bebauungsstrukturtypen sie jeweils bewohnen wollen. Natürlich sind derartige prognostizierte strukturelle Entwicklungen sehr weitreichend, lassen jedoch erahnen, welche Haushaltstypen zukünf61


Ein Programm für Alle

Abb. 3: Prognostizierte Nachfrageentwicklung der drei Haushaltstypen (Quelle: IÖR-Internet-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“)

Abb. 4: Prognostizierte Nachfrager in den einzelnen Bebauungsstrukturtypen (Quelle: IÖR-Internet-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“)

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tig welche Wohnungstypen nachfragen werden, falls die Wohnpräferenzen der drei Haushaltstypen sich entsprechend der Annahmensetzungen entwickeln. Deshalb können im Rechenprogramm in den verschiedenen Szenarien auch Veränderungen der Nachfragepräferenzen vorgenommen werden. Die Nutzer führten diese komplexeren Berechnungen mit veränderten Wohnpräferenzen allerdings noch selten durch. Zusätzlich zum Fokus auf die Zahl der nachfragenden Haushalte kann das Augenmerk auch auf die Veränderung der Nachfrageentwicklung in den einzelnen Wohnungsbzw. Be­bauungsstrukturtypen, also die Bestandsnutzung, gelegt werden. In Abbildung 4 steht im Vergleich zur Abbildung 3 die Wohnung – differenziert nach Bebauungsstrukturtypen – im Vordergrund der Betrachtungen, und es wird dargestellt, wie sich die Nachfrage in den einzelnen Bebauungsstrukturtypen entwickeln wird. In manchen Strukturtypen kann mit einer steigenden Nachfrage gerechnet werden und in manchen Strukturtypen werden auch ggf. Nachfrageverluste entstehen. Interessant ist aber vor allem, wer die zukünftigen Nachfrager sein werden. Auch dies ist aus den Prognoseergebnissen ablesbar. Aus Abbildung 4 ist fernerhin erkennbar, welche Nachfragergruppen die zukünftigen Nutzer der entsprechenden Wohnungen des Bebauungsstrukturtyps sein könnten. Erkennt man z. B., dass in bestimmten Wohnungsbeständen zukünftig deutlich mehr ältere Ein- oder Zwei-PersonenHaushalte wohnen wollen, so lassen sich auch frühzeitig

zukünftige Veränderungen der Wohnungsbestände, wie z. B. Modernisierungen und Umbaumaßnahmen, auf die neuen Nutzergruppen abstimmen. Ratsam ist es allerdings, derartige Ergebnisse noch durch Befragungen zu untersetzen.

Was wurde gerechnet? Mit dem IÖR-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ sind mehrere Ergebnisstufen möglich. Neben verschiedenen Möglichkeiten des Dateninputs sind auch unterschiedliche Datenoutputs vorgesehen. Die wichtigsten Unterschiede beziehen sich aber auf die Frage, ob das Ergebnis eine Haushaltsprognose mit der Differenzierung nach drei Haushaltstypen sein soll, oder ob auch differenziertere Analysen und Prognosen zur Nachfrageentwicklung geplant sind. Es können entweder alle drei Prognoseschritte (Bevölkerungs-, Haushalts-, Wohnungsnachfrageprogno­ se)­ mit dem Rechenprogramm selbst durchgeführt werden oder es können Ergebnisse aus externen Prognosen integriert und im IÖR-Rechenprogramm weiter verarbeitet werden. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, zwei unterschiedliche Qualitätsstufen der Prognosen zu erarbeiten. Wenn nur die Zahl der Haushalte und ihre Differenzierung nach den drei Haushaltstypen ermittelt wird, können Aussagen zur Entwicklung der zukünftigen Zahl benötigter Wohnungen errechnet werden, wenn davon ausgegangen wird, dass in dieser Kommune jeder Haushalt mit einer Wohnung versorgt werden soll.

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Ein Programm für Alle Um daraus den zukünftigen Wohnungsbedarf ableiten zu können, braucht die prognostizierte Zahl der Haushalte nur noch dem Wohnungsbestand und einer Einschätzung der Zahl der durch Wohnungsabgänge zu ersetzenden Wohnungsbestände gegenüber gestellt bzw. ggf. eine Mobilitätsreserve eingeplant zu werden. Damit bieten die Ergebnisse der Haushaltsprognosen eine gute Grundlage für die Ableitung von Wohnungsbedarfsprognosen. In 1 739 bekannten Prognoserechnungen bis 2009 wurden mit dem IÖR-Rechenprogramm Haushaltsprognosen erstellt und für mehr als zwei Drittel der Anwender (77,9 %) waren die Informationen zur prognostizierten Haushaltsentwicklung für ihre Fragestellungen auch ausreichend und bildeten die Grundlage für Wohnungsbedarfsprognosen (Tab. 1). Die Streubreite der prognostizierten Entwicklung für die kommenden 15 Jahre lag dabei ziemlich hoch, allerdings sind auch die kommunalen Voraussetzungen für Bevölkerungszuwächse oder ‑verluste sehr unterschiedlich. Neben einigen wenigen unrealistischen Ergebnissen lag die prognostizierte Bevölkerungsdynamik in den Kommunen zwischen 55,4 % Schrumpfung und 23,4 % Wachstum. Die Spannweite der prognostizierten Haushaltsentwicklungen reichte von ‑51,9 % bis +28,0 %. In knapp einem Viertel der durchgeführten Prognoserechnungen (22,1 %) wurden nicht nur Bevölkerungs- und Haushaltsentwicklungen prognostiziert, sondern zusätzlich auch Szenarien zur kommunalen Wohnungsnachfrageentwicklung ermittelt. Diese

stellen an die Nutzer bedeutend höhere Anforderungen bzgl. der Datenanalyse und der Einschätzung der zukünftigen Szenarioannahmen, da auch Analysen zur Entwicklung der Wohnpräferenzen der Haushalte erforderlich sind. In der Tat ist die Analysearbeit relativ zeitaufwendig, doch die Wohnpräferenzen der Haushalte und Haushaltstypen können entweder über Umzugsanalysen

aus dem Einwohnermelderegister oder über Haushaltsbefragungen ermittelt werden. Vielleicht wird in den nächsten Jahren das Interesse an detaillierten Aussagen noch steigen, wenn Bevölkerungsschrumpfung auch Haushaltsrückgänge und ein Ansteigen der Wohnungsleerstände nach sich ziehen können. Durchgeführte Nachfrageberechnungen der Nutzer zeigen bereits, dass

Tab. 1: Strukturierung der durchgeführten Szenarienrechnungen (Quelle: eigene Auswertungen, Datenbasis: Nutzerdatenbank des IÖR)

Tab. 2: Differenzierung der gerechneten Szenarien zur Woh­nungsbedarfs- und Woh­nungsnachfrage­ ent­wicklung (Quelle: eigene Auswertungen, Datenbasis: Nutzerdatenbank des IÖR)

Tab. 3: Überblick über die Prognoserechnungen nach Einwohnerzahl (Quelle: eigene Auswertungen, Datenbasis: Nutzerdatenbank des IÖR)

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Ein Programm für Alle sich der Aufwand in jedem Fall auszahlt (vgl. Pirmasens, OerErkenschwick), da ähnliche kommunale Spezialergebnisse mit anderen Methoden bislang nicht möglich sind.

Vor allem Kleinstädte

450 SachsenRechnungen

Wer hat gerechnet? In einer regionalen Auswertung der bekannten Szenarienrechnungen zeigt sich, dass die knappe Hälfte der Wohnungsbedarfs- und Wohnungsnachfrageprognosen (46,8 %) auf das ostdeutsche Bundesgebiet und 35,7 % der Rechnungen auf das westdeutsche Bundesgebiet entfallen. 17,5 % der erstellten Szenarien sind regional nicht zuordenbar, da die Nutzer keine auswertbaren Angaben zum Prognosegebiet machten (Tab. 2). 37,5 % der ermittelten Szenarien zur Abschätzung des Wohnungsbedarfs beziehen sich auf das westdeutsche Bundesgebiet und 42,8 % auf ostdeutsche Kommunen. Anders sieht es hingegen bei den gerechneten Szenarien zur Wohnungsnachfrageentwicklung aus. Hier entfallen auf die ostdeutschen Kommunen 233 bzw. 60,5 % der durchgeführten Nachfrageprognosen und damit fast 30 % aller Szenarienrechnungen für ostdeutsche Kommunen. Im westdeutschen Bundesgebiet sind es mit 113 Szenarien derzeit 18 % der gerechneten Szenarien für westdeutsche Kommunen. Die Konzeption des InternetRechenprogramms ist von seiner Methodik her so angelegt, dass das Programm vor allem für Klein- und Mittelstädte nutzbar ist. Interessant ist deshalb die Analyse, von wem und wofür das Rechenprogramm tatsächlich genutzt wurde. Die Nutzer teilen sich im We-

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sentlichen in drei Gruppen auf. Eine Gruppe rechnet Prognosen für die gesamte Kommune, eine andere Gruppe für einzelne Stadt- oder Ortsteile. Einer dritten Gruppe ist es wichtig, dass sie Prognosen rechnen können, aber als Programmnutzer und auch das Prognosegebiet anonym bleiben. Die ersten beiden Nutzergruppen sind etwa gleich stark und liegen zusammen bei über 200 Kommunen, Stadt- und Ortsteilen. Deutliche Unterschiede hinsichtlich des regionalen Bezugs sind dabei zwischen den Kommunal- und den Stadtteil- bzw. Ortsteilprognosen zu erkennen. Während die Mehrzahl der Kommunalprognosen (64,7 %) für das ostdeutsche Bundesgebiet gerechnet wurde, sind es bei den Stadtteilund Ortsteilprognosen 81,6 % für das westdeutsche und nur 18,4 % für das ostdeutsche Bundesgebiet. Daraus kann man schließen, dass sich die Interessenlage von Haushaltsund Wohnungsnachfrageprognosen zwischen West- und Ostdeutschland deutlich unterscheidet. Ein wichtiger Ansatzpunkt dürfte hierbei die unterschiedliche Intensität der Schrumpfung sein. In Ostdeutschland sind seit vielen Jahren fast flächendeckend kommunale Schrumpfungsprozesse zu bewältigen. Im westdeutschen Bundesgebiet liegt Bevölkerungsschrumpfung oft­ mals in einzelnen Kommunen oder in bestimmten Stadtteilen vor. Die Dynamik dürfte zukünftig jedoch zunehmen. Der Anteil der gerechneten Wohnungsnachfrageprognosen mit einer Differenzierung nach Bebauungsstrukturtypen liegt bei den anonymen Nutzern mit nur 5,2 % wesentlich unter dem Durchschnitt aller Rechnungen mit 30,8 %. Es ist deshalb zu vermuten, dass die

unbekannten Nutzer vor allem diejenigen sind, die mit einem geringen Aufwand eine einfache Abschätzung benötigen. Differenziert man die durch die Nutzer angegebenen räumlichen Einheiten nach der Einwohnerzahl, so lässt sich erkennen, dass tatsächlich vorwiegend kleine Kommunen das Programm nutzen. 55,4 % der Kommunen, für die mit dem IÖR-Internet-Rechenprogramm Kommunalprognosen erstellt wurden, sind Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern. In Ostdeutschland liegt der Anteil sogar bei 61,2 %, in Westdeutschland mit 45,0 % deutlich darunter. Der Anteil der Rechnungen der unbekannten Nutzer für Kommunen unter 10 000 Einwohnern liegt bei 54,2 %. In der Nutzergruppe, die Prognoserechnungen für einzelne Stadtteile oder Ortsteile durchgeführt haben, liegt der Anteil der Rechnungen für Gebietseinheiten mit weniger als 10 000 Einwohnern bei 92,8 % (Tab. 3). Gemessen an der Häufigkeit der Gemeindegrößen in Deutschland, wurde das Rechenprogramm überproportional häufig für Kleinund Mittelstädte mit 5 000 bis 100 000 Einwohnern genutzt. Das Rechenprogramm wird in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich oft angewendet. Die meisten Prognoserechnungen (rund 450) wurden in Sachsen durchgeführt. Es verwundert nicht, dass die räumliche Nähe auch den Bekanntheitsgrad des Programms und damit die Nutzerquote positiv beeinflusst. An zweiter Stelle liegen die Bundesländer Niedersachsen, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern mit je rund 250 Szenariorechnungen. Während in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern mehr als ein Viertel der

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EiN ProGraMM FÜr allE rechnungen Wohnungsnachfrageprognosen sind, wurde bislang in Hessen keine einzige Nachfrageprognose gerechnet. dafür liegt dort die Zahl der Kommunen bzw. Stadt- und ortsteile, für die Wohnungsbedarfsprognosen gerechnet wurden, besonders hoch. insgesamt lässt sich erkennen, dass Wohnungsnachfrageprognosen tatsächlich wesentlich komplizierter sind und deshalb mehr rechnungen für eine Kommune durchgeführt werden, um zu befriedigenden Ergebnissen zu kommen. Manche Kommunen helfen sich deshalb scheinbar mit separaten ortsoder Stadtteilprognosen. abschließend noch einige anmerkungen zur siedlungsstrukturellen lage der Kommunen, die das iÖr-rechenprogramm nutzen. auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen ost- und Westdeutschland. 58 % der Kommunen des westdeutschen Bundesgebietes sind dem verstädterten raum zuzuordnen, 29 % dem agglomerationsraum und 13 % dem ländlichen raum. Hinzu kommen noch die rechnungen für die Stadt- und ortsteile, deren regionaler Schwerpunkt vor allem in ausgewählten landkreisen von Hessen (landkreis Kassel, Schwalm-Eder-Kreis, Werra-Meißner-Kreis) liegt. Bei den ostdeutschen Kommunen sind die drei regionstypen des BBSr etwa gleich stark besetzt: 35 % der Szenarien beziehen sich auf den agglomerationsraum, 37 % auf den verstädterten raum und 28 % auf den ländlichen raum.

Schlussfolgerungen demographischer Wandel, Bevölkerungsschrumpfung, Wohnungsleerstände, Wohnungsum- und Wohnungsneubau;

dies alles sind themen, mit denen sich die Stadt- und regionalentwicklung zukünftig intensiver auseinandersetzen muss. immer häufiger kann es Wohnungneubau und parallel dazu Wohnungsleerstandsentwicklungen in ein und derselben Kommune geben. diese Entwicklungen vollziehen sich meist in bestimmten Wohnungsbeständen. Während einzelne Wohnungs- und Gebäude- bzw. Bebauungsstrukturtypen nicht mehr nachgefragt werden, kann gleichzeitig die Nachfrage nach neuen Eigenheimen steigen. in anderen Kommunen können hingegen auch einzelne Stadtteile von Einwohnerrückgängen betroffen sein. in diesen und anderen Fällen ist die Stadtplanung und Wohnungswirtschaft bezüglich nutzerorientierter Umbauideen gefragt. insgesamt kann eingeschätzt werden, dass das rechenprogramm des iÖr auf eine gute Erfolgsbilanz verweisen kann. Vielen Nutzern konnte mit dem recheninstrument des iÖr die arbeit bei der Erstellung ihrer städtebaulichen Entwicklungskonzepte erleichtert werden und sie kamen so zu abschätzungen zukünftiger kommunaler Wohnungsnachfrageentwicklungen nach Wohnungsteilmärkten, die ihnen sonst in dieser tiefe und Spezifizierung nicht möglich gewesen wären. insbesondere klein- und mittelstädtische Kommunen profitieren vom iÖr-rechenprogramm, denen sonst analogieschlüsse aus kreisspezifischen Bevölkerungsprognosen nicht erspart geblieben wären. Spezifische kommunale Wohnungsnachfrageanalysen und -prognosen können deshalb zu einer nachfragegerechteren und nachhaltigen Entwicklung der Wohnungsbestände beitragen. Gerade hier liegt für die

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Einsetzbarkeit des Prognoseprogramms ein weites Betätigungsfeld. Mit der Entwicklung verschiedener Nachfrageszenarien können die besten kommunalen lösungen spielerisch ausprobiert werden.

Neubau bei Leerstand

Literatur

iwanow, i.; Eichhorn, d. (2008): teilmarktbezogene Kommunale Wohnungsnachfrageprognosen. in: iwanow, i. (Hrsg.): Struktureller Wandel der Wohnungsnachfrage in schrumpfenden Städten und regionen, S. 137–171. iwanow, i.; Eichhorn, d. (2002): Kommunale Wohnungsnachfrage – rechenprogramm für die Prognose der Nachfrage. in: Stadtforschung und Statistik (2002) 2, S. 25–32. iwanow, i.; reichart, t.; Eichhorn, d. (2001): Vereinfachte Methodik zur Erstellung kommunaler Nachfrageprognosen. in: Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen (Hrsg.): Stadtumbau in den neuen ländern – integrierte wohnungswirtschaftliche und städtebauliche Konzepte zur Gestaltung des Strukturwandels auf dem Wohnungsmarkt der neuen länder, S. 29–42.

Positive Bilanz

Über Statistik

:

„Seit Monaten warte ich auf Ihre Za hlen zur Begründu ng des neuen Hallenb ades.“ „Bauen Sie es auch, wenn die Zahl en dagegen sprech en?“

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SIKURS – das Prognose-Instrument des KOSIS-Verbundes1 Christa Ruten, Münster

Prognosen helfen der Politik, …

… wenn sie kleinräumig sind.

Prognosebaukasten SIKURS

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Für die Stadtentwicklungspolitik ist es wichtig zu wissen, wie sich die Bevölkerung unter bestimmten Annahmen entwickelt, bzw. welche Änderungen erforderlich wären, damit bestimmte angestrebte Entwicklungen eintreten. Die Bevölkerungsprognose ist ein Instrument, solche Entwicklungen und Entwicklungsbedingungen zu quantifizieren. Sie verschafft der Politik die Chance, sich frühzeitig auf Veränderungen einzustellen, Engpässe vorauszusehen und Fehlinvestitionen zu vermeiden. Prognosen für die Stadt als Ganzes reichen dabei aber meist nicht aus. Für eine bedarfsgerechte und kostensparende Infrastrukturplanung sind vielmehr kleinräumige Bevölkerungsprognosen erforderlich, die zeigen, mit welcher Entwicklung in den Einzugsbereichen der einzelnen Einrichtungen, wie z. B. Schulen, Kindergärten, Sozial- und Versorgungseinrichtungen zu rechnen ist. Mit dem Bevölkerungsprognosemodell SIKURS verfügt der KOSIS-Verbund über ein ausgereiftes Instrument, das diesen Informationsbedarf befriedigen kann. SIKURS ist als Prognosebaukas­ ten konzipiert, mit dem einzelne Prognosebausteine zu unterschiedlichen Prognosevarianten zusammengestellt werden können. Dieses Konzept gewährleistet dem Benutzer große Transparenz sowie sinn-

volle Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten. Der Anwender kann dabei wählen, ob nur die natürliche Bevölkerungsbewegung oder ob auch Wanderungen berücksichtigt werden sollen. Bei den Wanderungen wird unterschieden zwischen Zu und Fortzügen über die Grenzen des Untersuchungsgebietes (Außenwanderung) und den Umzügen zwischen den Teilräumen des Untersuchungsgebietes (Binnenwanderung). Diese Grundvarianten können durch weitere Prognosebausteine ergänzt werden, so z.B. durch die Vorgabe von Eckwerten oder durch die gesonderte Behandlung von Neubaugebieten, die Ausgliederung von Sondergruppen (z.B. Heimbevölkerung), die Berücksichtigung von Staatsangehörigkeitswechsel oder veränderter Attraktivitäten für den Zuzug. Bei der Definition einer Prognosevariante wird der Anwender von einem Methodenassistenten unterstützt. Die Menüführung ist dabei so gestaltet, dass nur sinnvolle Bausteinkombinationen ausgewählt werden können. Die Prognoseberechnung kann für das kleinste verfügbare Element der kleinräumigen Gliederung erfolgen, d.h. Baublock, Stadtbezirk oder Gemeindeteil. Lediglich die Steuerung der Prognoseannahmen erfolgt auf Basis gebietstypischer Verhaltensparameter (u.a. Geburtenraten, Sterberaten, Wegzugsra-

ten, Zuzugsstruktur). Dies hat den Vorteil, dass die Ergebnisse je nach Erforderlichkeit für die Fachplanungen beliebig zusammengestellt werden können (z.B. Verkehrszellen, Schulsprengel usw.). Auch die Bildung von Altersgruppen ist flexibel und kann den Anforderungen entsprechend erfolgen. Zur Aufbereitung der Eingabedateien stehen Programme zu Verfügung. Diverse Tools bieten die Möglichkeit der Ergebnisauswertung und Visualisierung. Mit dem in SIKURS integrierten Modul HHPROG kann im Anschluss an eine Bevölkerungsprognose eine Prognose der Haushalte durchgeführt werden. Für die Nutzung des SIKURSProgramms ist von den Anwendern ein jährlicher Wartungsbeitrag zu entrichten. Jeder Anwender von SIKURS wird Mitglied in der Wartungsgemeinschaft „Kleinräumige Bevölkerungsprognose“, die den Erfahrungsaustausch pflegt, über die Weiterentwicklung des Programmsystems entscheidet und diese finanziert. Die Stadt Nürnberg ist Betreuende Stelle. Weitere Informationen zu SIKURS (Kosten, Beitritt, Programmbeschreibung etc.) sind unter www.sikurs.de zu erhalten.

Anmerkung

1 Text entnommen den InternetSeiten unter www.sikurs.de.

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Keine Arbeitsstättenzählung – und nun? Beispiel Leverkusen

Das statistische Unternehmensregister Gert Nicolini, Leverkusen

Das statistische Unternehmensregister ist eine in Deutschland bei den Statistischen Landes­ ämtern geführte „regelmäßig aktualisierte Datenbank der wirtschaftlich aktiven sowie inaktiv gewordenen Unternehmen und Betriebe aus nahezu allen Wirtschaftsbereichen mit steuerbarem Umsatz aus Leistungen und Lieferungen und/ oder sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.“1 Mit einer 2005 in Kraft getretenen gesetzlichen Regelung steht das Unternehmensregister – allerdings mit einem eingeschränkten Merkmalskatalog – für die örtlichen Einheiten, d.h. für Betriebe bzw. Arbeitsstätten, auch abgeschotteten kommunalen Statistikstellen zur Verfügung. In Ermangelung sonstiger, allgemein umfassender Wirtschaftsstatistiken dient das Unternehmensregister einerseits der Planung, Vorbereitung und Durchführung wirtschaftsstatistischer Primärerhebungen; andererseits führen die Nutzungsmöglichkeiten zu einem Informationsgewinn für wirtschaftsstatistische Strukturanalysen, z.B. bezüglich der Betriebsgrößendifferenzierung im Vergleich einzelner Wirtschaftszweige. Insofern wird das Unternehmensregister auch als Kompensation für die nicht mehr stattfindenden allgemeinen Arbeitstättenzählungen gesehen.2

Hinsichtlich der Nutzung des Unternehmensregisters sind allerdings einige, insbesondere methodische Besonderheiten – meist Einschränkungen – zu beachten.3 Die – vor allem aus kommunaler Sicht – wichtigsten werden im Folgenden genannt und erläutert.4 1. Das Unternehmensregister bildet das wirtschaftliche Geschehen nicht vollständig ab: Nicht erfasst werden insbesondere die Wirtschaftszweige „Landund Forstwirtschaft“ und „Öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung“. 2. Das Unternehmensregister beruht nicht auf primärstatistischen Erhebungen. Die wichtigsten administrativen Quellen des Registers sind die Betriebsdatei der Bundesagentur für Arbeit und die Umsatzsteuerdatei der Finanzbehörden. Durch unterschiedliche Aktualität, Qualitätsprofile und Bezugszeitpunkte kommt es zu Verzerrungen und somit zu methodisch bedingten Grenzen der Kohärenz zwischen den Dateien und dem Register.5 3. Sofern mehrere Betriebe eines Unternehmens mit derselben wirtschaftlichen Tätigkeit in einer Gemeinde ansässig sind, können sie in der Betriebsdatei der Bundesagentur für Arbeit gebündelt bei einem „Mas­

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terbetrieb“ ausgewiesen werden; dadurch kommt es zu einer Untererfassung der Zahl der Betriebe. Dies wirkt sich auf die Zuordnung zu Betriebsgrößenklassen aus und schränkt insbesondere kleinräumige Auswertungsmöglichkeiten ein. 4. Sofern für einen Betrieb keine Sitzanschrift hinterlegt ist, wird auf die Versandanschrift zurückgegriffen, die vom Sitz des Betriebes abweichen kann. Die Versandanschrift – z. B. diejenige des Steuerberaters – kann auch in einer anderen Gemeinde liegen. In jedem Falle führt dies ebenfalls zu Einschränkungen hinsichtlich der Aussagekraft kleinräumig aufbereiteter Ergebnisse. 5. Soweit in einem Unternehmen keine sozialversicherungspflichtig Beschäftigten tätig sind, werden sie über die Umsatzsteuerdatei nur dann im Unternehmensregis­ter berücksichtigt, wenn ihr Jahresumsatz mindestens 17.500 Euro ausmacht. Das Register enthält sowohl aktive als auch inaktive Betriebe.

Methodische Einschränkungen

Kommunale Nutzungsmöglichkeiten Voraussetzungen für die kommunalstatistische Nutzung des

Nutzungsvoraussetzungen 67


Das statistische Unternehmensregister

Registerdatei

Dateiaufbau

Unternehmensregisters6 sind zum einen die Abschottung der kommunalen Statistikstelle und zum anderen eine Kostenbeteiligung. Von den Statistischen Landesämtern werden eine CD mit der UnternehmensregisterDatei (im Textformat), ein Erläuterungsblatt und die Datensatzbeschreibung geliefert. Die Lieferung erfolgt einmal jährlich, zuletzt zum Stand 30. Juni 2010. Das Register umfasste Betriebe, in denen zum Stichtag 31.12. des Referenzjahres (2008) sozialversicherungspflichtig Beschäftigte tätig waren (ohne geringfügig Beschäftigte) oder/und die steuerbare Umsätze im Referenzjahr (2008) aufwiesen. Der Dateiaufbau gliedert sich in acht Merkmalsfelder: 1. Sitz der Einheit (Amtlicher Gemeindeschlüssel - AGS) 2. Straße und Hausnummer 3. Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit gemäß Wirtschaftszweigsystematik (WZ 2008). 4. „Tätige Personen“ mit Bezugszeitpunkt (10 %-Auswahl) 5. SV-Beschäftigte mit Bezugszeitpunkt 6. „Tätige Personen“ mit Bezugszeitpunkt (geschätzt) 7. bis zu 26 sonstige Tätigkeiten nach WZ 2008 8. Status (Änderungsart) Insbesondere der Name eines Betriebes, also die Firma, ist nicht enthalten. Für kommunale Statistikstellen ist eine eindeutige Identifikation daher nicht möglich. Der Nachweis der „tätigen Personen“ beruht im ersten Fall auf einer 10%igen Auswahl und ist deshalb auf kommunaler Ebene nicht nutzbar. Im zweiten Nachweis wird die Zahl der tätigen Personen geschätzt; da bislang dafür allerdings noch kein Schätzverfahren entwickelt wurde,

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bleibt das Feld zurzeit noch unbesetzt. Bis auf Weiteres sind daher Daten über Beschäftigte im Unternehmensregister nur dem Nachweis der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu entnehmen. Der Status gibt an, ob es sich um ein aktives oder ein inaktives (Einheit ruht oder ist erloschen) Unternehmen handelt; durch die Setzung eines Filters mit den entsprechenden Änderungsarten kann eine Auswertung auf die aktiven Unternehmen beschränkt werden. Die Nutzung des Registers für kommunalstatistische Zwecke erfordert einige Vorarbeiten; dazu zählen zumindest 1. das Überführen der Textdatei in eine Datenbank (z. B. Access), 2. das Reduzieren (AGS, evtl. weitere WZ-Nummern) und Erweitern (Straßenschlüssel, Statistischer Bezirk, Quartier und Prüffelder) der Datenfelder und 3. das Säubern der Datenfelder (z. B. Hausnummern vom Straßennamen trennen und in ein separates Feld übernehmen). Der Registerauszug für Leverkusen (Stand 30.06.2010) wurde einer detaillierten Plausibilitätsprüfung unterzogen, über die im Folgenden berichtet wird. Im Rahmen einer „PositivPlausi“ ging es um die Identifikation der Unternehmen im Unternehmensregister mit mindestens 10 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Im Ergebnis konnten 57 von insgesamt 535 (= 10,7 %) Unternehmen dieser Größenordnung nicht identifiziert werden (Übererfassung?). In einer „Negativ-Plausi“ wurden in Leverkusen tatsächlich existierende, bekannte Unter-

nehmen ausgewählter Wirtschaftszweige im Register gesucht (Untererfassung?). Dabei zeigten sich sehr unterschiedliche Erfassungsgrade: • Von 28 Hotels sind 23 im Unternehmensregister (UR) • Von 38 städt. Kindergärten ist einer im UR (als Masterbetrieb) • Von 43 priv./kirch. Kindergärten sind 29 im UR (tlw. Master?) • Von 22 Tankstellen sind 17 im UR • Alle 8 Kinderärzte sind im UR • Von 17 Bestattungsinstituten sind 14 im UR • Von 75 Malern u. Lackierern sind 56 im UR • Von 22 Druckereien sind 21 im UR • Von 2 Kinos ist eines im UR • Von 133 Frisören sind 102 im UR • Von 18 Fahrschulen sind 10 im UR • Von 20 Augenoptiker sind 14 im UR. Ein Grund für Untererfassungen kann in der „Abschneidegrenze“ gesehen werden: So sind z. B. Frisöre dann nicht im Unternehmensregister erfasst, wenn sie keine sozialversicherungspflichtig Tätigen beschäftigten und unterhalb der Umsatzgrenze von 17.500 Euro liegen; dies dürfte öfter der Fall sein.

Ergebnisse für Leverkusen Die Auswertung des Unternehmensregisters zum Stand 30. Juni 2010 brachte für Leverkusen folgende Ergebnisse: Im Register waren insgesamt 5.956 Unternehmen mit 59.604 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erfasst. Die Zahl der Unternehmen mit auswärtigen Anschriften lag

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Das statistische Unternehmensregister Bezirken, in denen jeweils das Gesundheits- und Sozialwesen den beschäftigungsintensivs­ ten Wirtschaftszweig darstellt, sind vor allem Krankenhäuser und Seniorenheime nachweisbar. Die Tabelle 3 zeigt, dass selbst bei einer groben räumlichen Gliederung – hier in nur

Tabelle 1 zeigt die Betriebe nach Wirtschaftsabschnitten und Größenklassen. Erwartungsgemäß waren die relativ meisten Betriebe (1.167 bzw. 20,6 %) im Handel zu finden; der Wirtschaftszweig der freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen war ebenfalls relativ stark besetzt. Auch die Betriebsgrößenstruktur der einzelnen Wirtschaftszweige war durchaus nachvollziehbar. Die Tabellen 2 und 3 zeigen Betriebe und Beschäftigte nach Statistischen Bezirken und Wirtschaftssektoren. Die dadurch abgebildete Struktur des Stadtgebietes lässt sich aus dem Blickwinkel der Ortskenntnis plausibel nachweisen, insbesondere auch bezüglich der jeweiligen Anteile des Produzierenden bzw. des Dienstleistungssektors und des jeweils beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweiges. Die relativ hohe Beschäftigtenzahl in Wiesdorf-West ist durch den dortigen Chempark (Bayer AG) und die zentralen Einrichtungen im Stadtzentrum bedingt. In den Statistischen

Tab. 1: Betriebe in Leverkusen nach Wirtschaftszweigen und Größenklassen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am 31. Dezember 2008

Tab. 2: Betriebe und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in Leverkusen nach Statistischen Bezirken und Wirtschafssektoren am 31. Dezember 2008

Tabelle 3: Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in den beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweigen in Leverkusen nach Statistischen Bezirken am 31. Dezember 2008

bei 191 (3,2 %). Sechs Adressen (0,1 %) waren mit „anonym“ vermerkt. In 101 Fällen (1,7 %) fehlte die Hausnummer. 304 Unternehmen (5,1 %) waren zum Stichtag des Regis­ ters „inaktiv“. Die bereinigte Zahl der Unternehmen betrug somit 5.652 mit 59.027 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Besonders auffällig war, dass mit 2.663 Unternehmen ein sehr hoher Anteil – 47,1 %, also fast die Hälfte – auf Unternehmen ohne sozialversicherungspflichtig Beschäftigte entfiel. Allerdings handelt es sich dabei nicht um einen Leverkusener „Sonderfall“; auch in anderen Städten wurden ähnlich hohe Anteile festgestellt; in Frankfurt a. M. machte er 2006 z. B. sogar 49 % aus. Erste Auswertungen für Leverkusen wurden für Betriebe und Beschäftigte im Nachweis nach Wirtschaftssektoren bzw. -abschnitten und in kleinräumiger Gliederung nach Statistischen Bezirken vorgenommen. Die Ergebnisse sind in den Tabellen dargestellt.

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daS StatiStiSCHE UNtErNEHMENSrEGiStEr

Keine Arbeitsstättendatei

16 Einheiten – die Statistische Geheimhaltung schon zum tragen kommen kann: So ist für den Bereich Energie- und Wasserversorgung, abfallentsorgung u. Ä. als dem beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweig im Bezirk Bürrig ein Nachweis der Zahl der Betriebe und Beschäftigten nicht zulässig. die auswahl der hier gezeigten auswertungsmöglichkeiten erscheint trotz der eingangs formulierten methodischen Einschränkungen vertretbar; allerdings ist eine diesbezügliche Entscheidung stets vom jeweiligen Zweck der auswertung abhängig: Vor allem für relativ grobmaschige Strukturuntersuchungen darf das Unternehmensregister mangels anderer informationen genutzt werden. Kleinräumig planungsspezifische Fragestellungen, z. B. im rahmen der städtischen Verkehrsplanung, können damit aber (noch) nicht beantwortet werden.

Ausblick

Kein Ersatz der Arbeitsstättenzählung

das Statistische landesamt Nordrhein-Westfalen hat weitere Verbesserungen bei der Führung des Unternehmensregisters in aussicht gestellt: So werden die daten im Unternehmensregister mittelfristig einen weiteren aktualitätsgewinn erfahren; die lieferung 2011 (mit dem Bezugsjahr 2009) wird voraussichtlich schon im april vorliegen. Ein neues datenbanksystem wird kontinuierlich die aktualität der Beschäftigten- und Um-

satzangaben steigern und durch die Nutzung des elektronischen Handelsregisters wird ein flächendeckender Zugriff auf die Sitzanschriften möglich werden. die aus kommunalstatistischer Sicht interessante Frage, ob durch eine eigenverantwortliche Korrektur, Ergänzung und Fortschreibung des Unternehmensregisters der aufbau einer arbeitsstättendatei durch die kommunalen Statistikstellen möglich bzw. gestattet sein wird, muss allerdings negativ beurteilt werden: Eine jährliche Prüfung im Sinne einer Fortschreibung, ein kontinuierlicher abgleich zur aktualisierung des registers, erfordert einen erheblichen aufwand, der ohne die Firmenangabe schwierig bzw. kaum möglich sein wird. durch die gesetzliche Vorgabe, dass die Hilfsmerkmale Straße und Hausnummer nur zur Zuordnung zur kleinräumigen Gliederung genutzt werden dürfen und zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu löschen sind, ist ein darauf basierender aufbau einer arbeitsstättendatei aber ohnehin leider nicht erlaubt.

Anmerkungen 1

2 3

4

5

6

Mödinger, P. u. Philipp, K.: Erweiterte auswertungen mit dem Unternehmensregister, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik, Heft 4/2007, S. 342. die letzte arbeitsstättenzählung fand im rahmen der Volkszählung 1987 statt. Vgl. hierzu auch Blechinger, d.: Nordrhein-Westfälisches Unternehmensregister im Einsatz – Eine Methodenbeschreibung mit ersten auswertungsergebnissen, in: landesamt für datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Statistische analysen und Studien NrW, Band 20, düsseldorf 2005, S. 3ff. Vgl. hierzu auch Gutberlet, G.: Zur Nutzung des Unternehmensregisters aus kommunaler Sicht – Frankfurter Erfahrungen –, in: Stadt Frankfurt a. M. - Bürgeramt, Statistik und Wahlen (Hrsg.): Frankfurter Statistische Berichte, 1/2007, S. 8ff. Vgl. hierzu z. B. Nahm, M. u. Stock, G.: Erstmalige Veröffentlichung von Strukturdaten aus dem Unternehmensregister, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Wirtschaft und Statistik, Heft 7/2004, S. 731. den folgenden ausführungen liegen die lieferbedingungen und die datenbankkonstellation des it.NrW (Statistisches landesamt Nordrhein-Westfalen) zugrunde.

Fazit das aktuelle Fazit zur Bewertung des Unternehmensregisters aus kommunalstatistischer Sicht lautet: Es ist deutlich besser geworden, aber für auswertungen auf kommunaler Ebene, insbesondere in kleinräumiger Hinsicht noch nicht gut genug! Eine arbeitsstättenzählung kann es nicht ersetzen!

tistik: Über StnaentscheiMit Zahle er t: Wenig den, heiß zahlen.

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Der Einfluss demographischer Entwicklung

Nutzerstruktur und -veränderung der Stadtbücherei Ingo Heidbrink, Düsseldorf

Der demographische Wandel gehört unbestritten zu den wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Gegenwart. Alle Experten sind sich einig, dass die Städte ihre Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und Einfluss auf die absehbaren Folgen nehmen müssen. Eine „demographieorientierte Kommunalpolitik“1 beginnt mit einer Analyse der demographischen Ist-Situation sowie der künftigen Entwicklung. Der vorliegende Aufsatz geht am Beispiel der Kundenentwicklung der Düsseldorfer Stadtbüchereien der Frage nach, welchen Einfluss die demographische Komponente haben kann und inwieweit diese Erkenntnisse für künftige planerische Maßnahmen genutzt werden können. Als vorteilhaft für diese Untersuchung erweist sich, dass Stadtbüchereien über das Instrument der Mitgliedschaft (Leseausweisinhaber) eine stärkere Kundenbindung aufweisen als andere Kulturbetriebe. Hinzu kommt, dass die Kundenbindung über die ausgestellten Leseausweise für viele Jahre rückblickend gut dokumentiert ist.2 Hier werden die nach Alter und Geschlecht differenzierten Daten der Nutzer der Stadtbücherei Düsseldorf für die Jahre 1997 bis 2009 untersucht. Diese werden mit den amtlichen Bevölkerungszahlen in

Beziehung gesetzt und Nutzerquoten ermittelt. Dabei wird versucht, die Einflüsse darzulegen, die zu den Veränderungen der Nutzerquoten geführt haben. Informationen über veränderte Angebotsstrukturen und ein sich änderndes Nachfrageverhalten werden mit statistischen Daten zur demographischen Entwicklung in Beziehung gesetzt.3 Aussagen über eine tendenzielle künftige Entwicklung lassen sich aus der kombinierten Betrachtung von qualitativen Annahmen und quantitativen Prognosedaten gewinnen. Hierzu werden Angaben der amtseigenen Bevölkerungsprognose für Düsseldorf für das Jahr 2020 verwendet.

Mitgliedsausweis ausstellen ließen, ca. 3.400 weniger als 1997 (-16,8%), nahm diese Zahl bei den Frauen im selben Zeitraum um über 3.500 zu (+10,1%). Das Verhältnis von weiblichen zu männlichen Leseausweisbesitzern liegt im Jahr 2009 somit bei etwa 2/3 zu 1/3. Deutliche Unterschiede werden zudem in der altersdifferenzierten Betrachtung deutlich.

Entwicklung 1997 bis 2009 2009 zählten die Stadtbüchereien Düsseldorf 56.185 ausgestellte Mitgliedsausweise, das waren nur 515 Ausweise mehr als 1997. Die Gesamtentwicklung in diesen zwölf Jahren ist jedoch zunächst gekennzeichnet von einem Rückgang der Zahl der Leseausweise bis 2000 und einem in den folgenden Jahren schrittweisen Wiederanstieg, insbesondere ab dem Jahr 2006. Stark unterschiedlich verlief in diesem Zeitraum die Entwicklung zwischen Frauen und Männern. Während sich immer weniger Männer einen

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Abb. 1: Anzahl der Leseausweisinhaber der Stadtbüchereien Düsseldorf nach Altersklassen und Geschlecht 1997 und 2009 Quelle: Leserstatistik der Stadtbüchereien Düsseldorf 1997 und 2009

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Nutzerstruktur und -veränderung der Stadtbücherei In den Altersjahren zwischen 15 und unter 40 Jahren sank die Zahl der ausgestellten Leseausweise zwischen 1997 und 2009 um mehr als 10.700. Dabei fällt auf, dass dieser Rückgang bei den Männern dieses Alters wesentlich größer ist als bei den Frauen (vgl. Abb.1). Bedeutende Zuwächse konnte die Stadtbücherei in den unteren Altersklassen verzeichnen. Im Jahr 2009 besaßen 12.400 unter 15-Jährige einen Leseausweis, das sind etwa

5.100 mehr als 1997. Auch in den Altersjahren 40 bis unter 60 Jahre hat die Zahl der Stadtbüchereinutzer zugenommen (+4.100). Diese Zunahme geht zum überwiegenden Teil auf Frauen in diesem Alter zurück. Das Gleiche gilt für die Entwicklung der Zahl der ausgestellten Leseausweise in der Altersgruppe der 60-Jährigen und älteren. Diese stieg kontinuierlich von 4.100 im Jahr 1997 auf über 5.800 im Jahr 2009.

Abb. 2: Entwicklung der Leseausweise der Stadtbüchereien Düsseldorf nach Altersklassen 1997 bis 2009 (Quelle: Leserstatistik der Stadtbüchereien Düsseldorf 1997 bis 2009)

Abb. 3: Entwicklung der Nutzerquoten nach Altersklassen 1997 bis 2009 (1997=Index 100) Quelle: Leserstatistik der Stadtbüchereien Düsseldorf 1997 bis 2009

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Auf der Grundlage einer bevölkerungsgewichteten Betrachtung wurden altersspezifische Nutzerquoten berechnet. Die Nutzerquoten ergeben sich aus dem Verhältnis der Personen einer jeden Altersklasse die über einen Ausweis verfügen an der Gesamtzahl aller Düsseldorfer Einwohnerinnen und Einwohner in dieser Altersklasse. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, sind im Jahr 2009 die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen die weitaus intensivsten Nutzergruppen der Angebote der Düsseldorfer Stadtbüchereien: Annähernd jeder dritte Jugendliche im Alter von 10 bis unter 15 Jahren besitzt einen Leseausweis (30,8%). Unter den 15 bis unter 20-Jährigen gehören 21,2% ihres Jahrgangs zu den aktiven Kunden der Stadtbücherei und unter den Kindern im Alter zwischen 5 und unter 10 Jahren sind es 19,4%. Generell lässt sich feststellen, dass die Kundenbindung zur Stadtbücherei mit zunehmendem Alter abnimmt. Unter den 25- bis unter 50-Jährigen besitzt nur noch etwa jeder zehnte einen Leseausweis. Ab dem fünfzigsten Lebensjahr ist noch mal ein weiterer, deutlicher Rückgang der Nutzerquote feststellbar. Betrachtet man die Entwicklung der altersspezifischen Nutzerquoten über die letzten zwölf Jahre, wie in Abb.3 dargestellt, dann lassen sich unterschiedliche Trends ablesen. In der Altersklasse bis unter 15 Jahre ist eine über den Untersuchungszeitraum annähernd kontinuierliche Zunahme der Nutzung der Stadtbüchereien feststellbar. Dies gilt in geringerem Maße auch für die Bevölkerung im Alter von 60 Jahren und älter, sowie für die 40

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Nutzerstruktur und -veränderung der Stadtbücherei bis unter 60-Jährigen. Ebenso kontinuierlich lässt sich ein abnehmendes Interesse an der Nutzung der Stadtbücherei in den Altersklassen 15 bis unter 40 Jahre beobachten. Es sind unterschiedliche Ursachen, die zu diesen uneinheitlichen Entwicklungen führen. Als hauptverantwortlich für die positive Entwicklung in der Altersgruppe bis unter 15 Jahre werden die an dieser Zielgruppe ausgerichteten, städtischen Marketing- und Projektaktivitäten sowie intensive Kooperationen mit Kitas und Schulen erachtet. Auch jüngere Modernisierungsmaßnahmen in den Einrichtungen sowie eine regelmäßige Aktualisierung des Medienbestandes werden als Einflussfaktoren genannt.4 Die bisherige demographische Entwicklung war für die Entwicklung der Zahl der Inhaber von Leseausweisen in der Altersgruppe bis unter 15 Jahre nicht ausschlaggebend. Im Gegenteil konnte gezeigt werden, dass beide Entwicklungen zwischen 1997 und 2009 konträr zueinander verliefen (vgl. Abb. 4). Im Unterschied zur jungen Bevölkerung, z.B. den 10- bis unter 15-Jährigen, die zu fast einem Drittel über einen Leseausweis verfügen, bestehen bei den Seniorinnen und Senioren noch Steigerungsmöglichkeiten. So liegt z.B. unter den 65- bis unter 80-Jährigen der Anteil an Leseausweisbesitzern derzeit bei 4,0%. Zwar ist in den vergangenen zwölf Jahren auch in dieser Altersgruppe eine Zunahme von Leseausweisen festzustellen, allerdings weniger stark und zudem auf einem geringeren absoluten Niveau. Und auch hier deutet der kontinuierliche Anstieg der Nutzerquote möglicherweise auf eine nach-

haltige Verhaltensänderung hin. Vor dem Hintergrund der künftigen demographischen Alterung steht hier sowohl in relativer wie auch in absoluter Hinsicht eine deutlichere Zunahme des Leserpotentials in Aussicht. Für eine Modellrechnung hinsichtlich der Nutzerzahlen bis 2020 wurde die Bevölkerungsprognose des Amtes für Statistik und Wahlen herangezogen. Demnach würde sich, rein rechnerisch und allein aufgrund der demographischen Veränderungen sowie bei gleichbleibender Nutzerquote bis 2020,

in der Altersklasse von 50 bis unter 70 Jahren eine Zunahme an Leseausweisen um ca. 730 ergeben (+8,4%). Eine zusätzliche Steigerung der Nutzerquote in dieser Altersklasse von 6,2% auf beispielsweise 10% hätte eine Zunahme um mehr als 6.700 Leseausweise (+77,4%) zur Folge.

Fazit Die dargestellten Befunde zeigen beispielhaft, welchen Einfluss der demographische Wandel auf das Nutzerpotential spezieller Bereiche der städtischen Infrastruktur, hier

Tab. 1 Bevölkerung und Anzahl der Leseausweise nach Altersklassen 2009 Quelle: Einwohnermeldedatei 2009, Leserstatistik der Stadtbüchereien Düsseldorf 2009

Abb. 4: Entwicklung der Einwohnerzahl und der Zahl der Leseausweise der Stadtbüchereien Düsseldorf jeweils in der Altersklasse von 0 bis unter 15 Jahre, 1997 bis 2009 Quelle: Bevölkerungsfortschreibung des Amtes für Statistik und Wahlen, Leserstatistik der Stadtbüchereien Düsseldorf 1997 bis 2009

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Anonymisierung von Einzeldaten der Stadtbüchereien, haben kann. Es wurde abgebildet, in welchem Maße die demographische Entwicklung den beschriebenen Wandel der Stadtbüchereien beeinflusste, und welche anderen Einflüsse hier eine Rolle spielten. Anhand der nach Alter und Geschlecht differenzierten Nutzerstatistik und qualitativen Annahmen über künftige Änderungen im Nutzerverhalten lassen sich grobe Aussagen über mögliche Entwicklungstrends treffen. Für die perspektivische Planung von Stadtbüchereien und anderen kulturellen Infrastruktureinrichtungen können die beschriebenen Veränderungen in der Mitgliederstruktur erhebliche Auswirkungen haben. Welche Zielgruppen man erreichen will, weil diese ein nachlassendes Interesse auf-

weisen, und welche Zielgruppen aufgrund einer künftigen quantitativen Zunahme bei gleichzeitig zunehmendem Nutzungsinteresse eine größere Beachtung erfahren müssen, hierauf lassen sich anhand der dargestellten Untersuchung Antworten geben. Die Fortschreibung und regelmäßige Analyse der Nutzerstatistik kann zudem, in Kombination mit einem definierten Zielkatalog, der Erfolgskontrolle sowie der Optimierung von Maßnahmen dienen. Die Langfristigkeit demographischer und gesellschaftlicher Veränderungen erfordert langfristig angelegte Maßnahmen auf der Grundlage strategischer Steuerungskonzepte. Insofern sollte eine „demographieorientierte Kommunalpolitik“ alle demographierelevanten Be-

reiche und Handlungsfelder im städtischen Verantwortungsbereich bündeln, deren spezifische Situation untersuchen und auf dieser Grundlage über Ziele und Handlungsstrategien entscheiden.

Anmerkungen 1 2

3

4

Vgl. Stadt Bielefeld, Demographischer Wandel als Chance? Das Bielefelder Konzept, 2006 Es wird darauf hingewiesen, dass die Leseausweise aufgrund von Mehrfachnutzungen nicht die gesamte Kundenstruktur der Stadtbüchereien abbilden. Zudem gibt es zunehmend Kunden, die keinen Leseausweis haben und die Bibliothek lediglich vor Ort nutzen. Hiermit möchte ich den Stadtbüchereien Düsseldorf für die freundliche Unterstützung und Bereitstellung der Leserstatistiken danken. Vgl. Artikel in: Rheinische Post 25.06.10, „Büchereien melden neuen Rekord“

Buchvorstellung

Anonymisierung von Einzeldaten Martin Schlegel, Hagen Die Verarbeitung von Einzeldaten, seit der 1987er VZ sogar in den Blickpunkt einer größeren Öffentlichkeit gerückt, und der Begriff „Anonymisierung“ ist vielen geläufig. Um die statistische Geheimhaltung zu wahren, ist eben diese Anonymisierung notwendig. Hierzu gibt es in der Statistik zahlreiche Verfahren. 74

Diese Verfahren werden nun in einer vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Publikation vorgestellt. Es ist das besondere Verdienst des Autors, die Anonymisierungsverfahren untersucht und Verfahrenserweiterungen entwickelt zu haben. Sie eröffnen neue Möglichkeiten, die Vertraulichkeit bei der Ver-

wendung statis­tischer Daten zu sichern. Jörg Höhne: Verfahren zur Ano­nymi­sie­ rung von Einzeldaten. Herausgeber: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden, 2010, 24,80 Euro

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Von Hukou bis zur Einkindehe

Volkszählung in China Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Viel könne mir mein Informant über den Zensus in China nach eigener Einschätzung nicht berichten, aber er hätte verschiedentlich gelesen, dass viele Leute den Volkszählern einfach die Tür vor der Nase zuknallen, weil sie das als Eindringen in ihre Privatsphäre ansehen. Schließlich hätte heute in China jeder irgendetwas zu verbergen. Zum Schutz seiner Familie möchte er nicht genannt werden. Er lebt mit seiner chinesischen Frau in Deutschland und möchte seine Besuchsmöglichkeiten nicht riskieren. Und dann wird es interessant, denn es gibt eine Meldepflicht, die mit dem System des Hukou beschrieben werden kann, eine Art Melderegister, ohne das in China ein Mensch gar nicht existiert. Und: Chinesischen Bürgern ist es grundsätzlich nicht erlaubt, innerhalb Chinas umzuziehen. Bei der Geburt werden Kinder in das „hukou“ des Wohnortes der Eltern eingetragen. Damit ist ihr Aufenthalt ein für alle mal festgelegt. Obwohl der größte Teil der Bevölkerung weiterhin offiziell an den ihr zugewiesenen Ort gebunden ist, gibt es heute vermutlich 150 bis 200 Millionen Chinesen, die in anderen Orten leben. Diese Zugezogenen können sich aufgrund ihrer offiziellen Bindung an einen anderen Ort nicht in ihrem neuen Wohnort melden, sie halten sich illegal dort auf. Deswegen haben sie weniger oder gar keinen Zugang zu Bildung und sozialen Leistungen. Geneh-

migte Ausnahmen gibt es bei Heirat, beim Militärdienst und ähnlichem. Geht also ein Landbewohner in die Stadt, bekommt er dort offiziell weder eine Wohnung, noch Arbeit, weil er dort nicht gemeldet ist und das auch nicht möglich ist. Er lebt also illegal in der Stadt, muss sich illegal eine miese Wohnung nehmen, sie vielleicht mit anderen Illegalen teilen, und eine illegale Beschäftigung aufnehmen. Wenn er heiratet und Nachwuchs bekommt, wird das Kind auch nur in ein Hukou des Heimatdorfes des Vaters eingetragen, kann also in der Stadt weder in den Kindergarten noch in die Schule gehen. Ein paar Hundert Millionen Chinesen leben auf diese Weise illegal in den Städten, die sogenannten „Wanderarbeiter“. Sie zu erfassen dürfte das größte Problem sein, in ihrem Dorf sind sie nicht, in der Stadt findet man sie nicht oder nur schwer. Sie wollen da ja auch nicht gefunden werden. In der Mao-Ära war die strenge Wohnsitzkontrolle und erzwungene Immobilität der Bevölkerung ein zentraler Bestandteil der Kontrolle der Bevölkerung. Der Aufenthalt in dem zugeordneten Wohnort war Voraussetzung für jede Art von Beschäftigung und die Vergabe von Essen und anderen wichtigen Konsumgütern. Stichwort Einkindehe: Zweifel sind angebracht, ob die Bevölkerung um ein Viertel schrumpfen wird. Die Einkindehe gibt es seit dem 1.1.1978 und die

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Bevölkerung ist bis heute nicht weniger geworden. Es hat sich nur eine Verschiebung bei den Geschlechtern ergeben. Traditionell muss ein Sohn her – nur dieser und die Schwiegertochter sind für das Wohlergehen der Eltern im Alter zuständig. Töchter heiraten in andere Familien und müssen dort die Schwiegereltern betreuen. Mädchen werden nach Ultraschalluntersuchung häufig abgetrieben. Inzwischen fehlen junge Frauen und es werden inzwischen schon heiratswillige aus Thailand und Myanmar „importiert“. Wenn man diesen Trend nicht stoppt, wird China in absehbarer Zeit einen unglaublichen Männerüberschuss haben, klar, dass sich daraus Riesenprobleme ergeben. Dass die Bevölkerung nicht zurückgeht, liegt daran, dass es viele Ausnahmen von der Einkindehe gibt. So sind im dörflichen China grundsätzlich 2 Kinder erlaubt und es dürfen Angehörige der ethnischen Minderheiten – immerhin ein paar hundert Millionen Chinesen – ebenfalls 2 Kinder haben, sofern sie nicht in den Großstädten leben. Das führt dazu dass viele chinesische Ehepaare plötzlich eine Bai- oder Mongolen­ urgroßmutter in ihrem Stammbaum „entdecken“ und mit diesem Nachweis gibt es dann auch für das 2. Kind ein Hukou. Schließlich bekommt man ein solches Zweitkind-Hukou auch für viel Geld. Wer vielleicht 20.000 Dollar übrig hat, für

Illegal in der Stadt

Stichwort Einkindehe

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Volkszählung in China den ist auch das zweite Kind kein Problem. Jedes fünfte Kind hat bereits Bruder oder Schwester, so durchlässig ist die Regelung. Dann gibt es natürlich die wirklich illegalen Zweit- und Drittkinder, die versteckt werden müssen, weil es sie ja eigentlich nicht gibt. Es gibt kein Hukou für sie, damit können sie nicht in den Kindergarten, nicht in die Schule, nicht ins Krankenhaus, nicht zum Arzt. Werden sie entdeckt, verlieren die Eltern als Sanktion Arbeitsstelle und Wohnung. Das zweite ganz große Problem bei der Volkszählung. Illegale Familie in China (Foto: H. Iyunan)

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Und dann sind dort noch offiziell sehr viele Menschen, die aber in Wirklichkeit nicht mehr da oder ganz woanders sind: Die Frau des Informanten ist immer noch in China gemeldet, im Hukou ihrer Eltern eingetragen, sonst könnte sie mit ihrem Mann dort nicht so leicht eine Wohnung haben. Dafür ist mein Informant dort auch gemeldet, lebt aber ebenfalls nicht dort. Und schließlich könnte beider Sohn vielleicht auch im Hukou der Großeltern eintragen werden. Auch die Schwester der Frau ist noch im Hukou vermerkt, lebt aber schon seit vielen Jahren in

Hongkong. Da beide Töchter noch die chinesische Staatsangehörigkeit besitzen, wird man sie wohl mitzählen, obwohl sie nur besuchsweise da sind. Die Familie auf dem Foto ist vom Land nach Kunming gezogen – ohne Erlaubnis. Sie bekommt keine Arbeit, keine Wohnung und für die Kinder kein Hukou. Somit können die­ se weder in den Kindergarten noch in eine Schule gehen. Ihnen steht keine medizinische Versorgung zu – sie existieren schlichtweg nicht. Die Familie, Eltern und 2 Kinder, lebt auf der Straße, halb in einem Mauerdurchbruch, der nachts durch einen Vorhang von der Strasse getrennt werden kann. Sie sammeln Plastikabfälle und verkaufen diese an eine Recycling-Sammelstelle. So wie sie leben etwa 150 bis 200 Millionen „Illegale“ in China. Obwohl das Hukou-System auch in der Volksrepublik China als unfair angesehen wird, sind Reformen nach wie vor umstritten. Es wird befürchtet, dass es bei einer Reform zu einem großen Druck auf die Städte durch Massen von Umsiedlern kommen wird. Das würde dazu führen, dass die bereits überlasteten sozialen Systeme in den Städten zusammenbrechen könnten und die wirtschaftliche Entwicklung in ländlichen Regionen durch den Wegzug weiter verlangsamt werden könnte. Volkszählung in China. Ein fröhliches Bild in unserer Presse suggeriert, dass es reicht, wenn zwei nette Zähler mit Aktendeckeln unter dem Arm hoffnungsvoll durch die Gegend stiefeln. Ob das Zensusergebnis dazu herangezogen werden kann oder wird, die Verhältnisse zu verbessern? Volkszählung in China zu Kosten, die etwa so hoch sind wie die des Zensus 2011 hier bei uns.

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Volkszählung in Argentinien – und mehr Ernst-Otto Sommerer, Dortmund Eigentlich war es meine jüngere Tochter (23), die diesen kleinen Beitrag schreiben wollte. Sie studiert Produktdesign und absolviert derzeit in Buenos Aires ein Praktikum. Ihre Erlebnisse berichtet sie in einem eigenen Blog, so dass der breite Freundes- und Bekanntenkreis gleichmäßig und aktuell unterrichtet ist. Eltern können nicht erwarten, in dieser tosenden Welt eine Sonderrolle zu erfahren, aber manchmal spricht man über skype miteinander. Den Leserinnen und Lesern von S+S wäre beinahe eine Sonderrolle zugefallen: ein exklusiver Augenzeuginnenbericht zur Volkszählung in Argentinien. Aber dann kam die knappe Zeit hinzu, die Redaktion drängte, weil das Zeitlimit überschritten war und Vatern sprang (bitte, bitte) ein. Wir kennen es und nehmen die ursprüngliche Absicht als die gute Tat. Ich möchte den Beitrag authentisch halten. Sie trug unter dem 28. Oktober 2010 den nachfolgenden Text in ihren Blog ein.

Was Argentinien bewegt Heute Morgen habe ich überlegt, dass ich heute Abend, also jetzt, davon schreiben möchte. Eigentlich wollte ich da nur von der censo (Volkszählung) erzählen. Die ist nämlich heute gewesen. Von 8–20 Uhr sollten alle Menschen in ganz Argentinien zuhause bleiben, um sich zählen zu lassen. Es wurde nicht nur gezählt, sondern ca. 50 Fragen gestellt. Von „Fließendwasser?“ bis „Alter der Kinder?“ war wohl für alle was dabei. Gemerkt habe ich das Ganze vor allem daran, dass es (endlich) mal unglaublich ruhig

war. Alle Läden geschlossen, kaum Autos auf den Straßen, Busse einer Linie kamen alle 15 Minuten und nicht wie sonst alle 2 Minuten, kaum Menschen auf der Straße etc. Das habe ich doch sehr genossen. Ansonsten habe ich eigentlich ignoriert, dass es Feiertag war, war trotzdem bei meinem Praktikum und auch bei meinen Spanischlehrer. Einkaufen konnte ich halt nicht, aber ab 20 Uhr hat ja eh wieder alles aufgemacht, so dass man (wie auch sonst immer) noch bis ca. 22 Uhr ohne Probleme etwas im Supermarkt direkt um die Ecke kaufen konnte.

Heute ist aber noch etwas ganz anderes passiert. Heute ist Néstor Kirchner, der Expräsident, Ehemann der aktuellen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner und zukünftiger Präsidentschaftskandidat (2011 sind die Wahlen) an einem Herzinfarkt gestorben. Ich möchte und kann dazu – glaube ich – gar nichts groß sagen, aber fand es wichtig, es zu schreiben. Hier wird sich das wohl in den nächsten Tagen doch sehr bemerkbar machen, denke ich. Ich lese mich gerade erst in die Politik Argentiniens ein bisschen ein, aber man merkt schon, dass sich die Meinung des Landes bei den Kirchners sehr teilt.

Geschlossene Läden

Ausgangssperre

50 Fragen

Vor 100 Jahren

Sinkende Geburtenrate Martin Schlegel, Hagen Die Zahl der Neugeborenen im Deutschen Reich sinkt unter 3%, stellten die Statistiker vor 100 Jahren fest. 1910/11 kommen auf 10 000 Einwohner nur noch 263 Geburten. Von 1906 bis 1910 waren es im Durchschnitt 316. Die deutsche Ge-

burtenrate liegt aber immer noch über der in anderen Ländern: In Frankreich liegt sie bei 1,7%, in der Schweiz bei 2,2% und in England bei 2,4% Gleichzeitig sinkt die Sterblichkeit. Je 10 000 Einwohner

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waren im Deutschen Reich 177 Todesfälle zu verzeichnen, 1906 waren es noch 213. Quelle: Chronik des 20. Jahrhunderts, Chronik-Verlag, Dortmund, 1988

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Statistische Woche in München

Nach- und Nachtgedanken Hubert Harfst, Hannover

Einbecker Bier

… von Martin Luther gelobt

Foto: Hubert Harfst, Hannover

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Kurz nach 22 Uhr. Der ICE von München Richtung Norden hatte Göttingen passiert und raste durch das Leinetal dem Harzvorland entgegen. Die letzten fachlichen Unterlagen der Statistischen Woche waren in den Papierabfall entsorgt oder, in der Mehrzahl, sortiert und mit Bemerkungen und Bearbeitungsanweisungen versehen. In knapp einer halben Stunde wird Hannover erreicht sein. Entspannt fielen meine Augen zu. Doch was war das? Da war doch ein Knarren von Wagenrädern und ein Peitschenknall! War das die Müdigkeit oder das zugegeben viele Münchener Bier vom Vorabend im Hofbräuhaus? Erinnerung – Göttingen 1967, Vorlesung (mit Lichtbildern!!!) über Niedersächsische Wirtschafts- und Agrargeschichte: Und da war der Zusammenhang: Einbecker Bier!

Einbeck, eine Landstadt im Leinetal mit heute rund 27 000 Einwohnern zwischen Hannover und Göttingen gelegen, war schon im Mittelalter seit 1378 urkundlich berühmt wegen seines Bieres. Das Einbecker Bier, ein obergärige Bier, galt als Luxusware und wurde über weite Strecken exportiert – selbst nach Italien. Um die nötige Haltbarkeit zu erreichen, braute man es mit einer ungewöhnlich hohen Stammwürze. Das Resultat war ein schweres, alkoholreiches Bier. Auch der herzogliche Hof der Wittelsbacher in München ließ sich seit 1555 aus Einbeck beliefern, bis man 1573 das ers­ te bayerische Hofbräuhaus zunächst auf der Landshuter Burg Trausnitz gründete und 1589 nach München verlegte, um selbst Bier zu brauen. 1612 (oder 1614) wurde der Einbecker Braumeister Elias Pichler von Einbeck an das Hofbräuhaus abgeworben, der fortan sein Ainpöckisch Bier in München braute. In der Münchner Mundart wurde daraus im Lauf der Zeit „Einpöckisch“ und „Oanpock“ und schließlich „Bockbier“. Also doch: Vor 450 Jahren rollten genau hier auf der Trasse der Autobahn 7 und der Bundesstraße 3 direkt neben den ICE-Gleisen die Karren mit den Tonnen voll Einbecker Bieres in wochenlanger Fahrt nach München, das ich gerade vor knapp vier Stunden verlassen habe. Hier muss auch eine der meines Erachtens historisch genialsten Marketingaktionen erwähnt

werden, die das „Einbecker“ schon vorher in die Geschichte eingehen ließ. Herzog Erich I. „der Ältere“ zu Braunschweig-Lüneburg und regierender Fürst von Calenberg-Göttingen, Einbeck gehörte dazu, schickte Martin Luther – im April 1521 zur Verteidigung seiner Lehren auf den Reichstag zu Worms geladen – eine silberne Kanne mit Einbecker Bier in den Johanniterhof, wo Luther logierte. Martin Luther lobte das Bier und machte es berühmt durch seinen Spruch: „Der beste Trank, den einer kennt, der wird Einbecker Bier genennt“. Nach so viel 750-jähriger His­ torie floriert Einbecker Brauhaus heute immer noch.

Ein persönlicher Tipp als PS: Der historische Stadtkern von Einbeck ist einen Besuch wert. Er bietet ein nahezu vollständig erhaltenes Bild einer spätmittelalterlichen Fachwerkstadt. Und Einbeck ist ganz leicht zu finden. Einfach die Autobahn verlassen, wenn das Autobahnschild auf der A 7 zwischen Göttingen und Hildesheim ankündigt „Echte 1000 Meter“ (ungelogen, das Urmeter befindet sich zwar immer noch in Paris, aber „Echte 1000 Meter“ gibt es auch hier mitten in Niedersachsen). Dann sind es noch wenige Kilometer bis zu einem der schönsten Ensemble Deutschlands mit über 700 Fachwerkhäusern.

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Max Frisch 1911 – 1991

Reflexionen einer Leserin Erika Schlegel, Hagen

In dieser Zeitschrift geht es um Zahlen, deshalb ein paar davon: Am 15. Mai vor 100 Jahren wurde Max Frisch geboren; am 4. April ist sein 20. Todestag. Vor einem Jahr erschien sein letztes Werk – posthum „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“. Mich haben seine Werke seit ca. 50 Jahren begleitet. Zuerst waren es in der eigenen Schulzeit die Frühen Stücke, besonders das aufrüttelnde Antikriegsdrama „Nun singen sie wieder“ von 1945. Der mahnende Zeitgenosse ist Max Frisch geblieben, so setzt er sich im dritten Tagebuch, das in den Jahren 1982/83 geschrieben wurde, auch kritisch mit dem kalten Krieg und der Reagan-Administration ausein­ ander: Amerika (USA) ist im Grun­ de nicht kriegerisch, son­ dern lediglich kommerziell; Krieg als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mit­ teln. 1 Oder Was unsere amerikanischen Freunde erwarten: ein Wun­ der! – sie wollen gefürch­ tet werden und geliebt zu­ gleich. Wenn uns das nicht gelingt, so empfinden sie es als Anti-Amerikanismus. 2 Mir scheint – nachdenkenswerte Worte über den unmittelbaren Anlass hinaus. Neben den gesellschaftlichpolitischen Aussagen stehen aber von Anfang an individual­ psychologische Problemstellungen, die Frage gesellschaftlicher Determinierung und

persönlicher Freiheit. Frischs große Romane wie „Stiller“ (1954), „Homo Faber“ (1957) und „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) und nicht zuletzt die beiden Tagebücher (1946– 1949) und (1966–1971) waren es, die mich während meines Studiums begleiteten. Die Tagebuchform ist Max Frischs eigentümliche Form, auch die genannten Romane bedienen sich ihrer z.T.. Und bezeichnender Weise ist auch das letzte, posthum erschienene Werk, wieder ein Tagebuch. Diese Texte ermöglichen kurze, skizzenhafte sehr persönliche Aussagen. Besonders das Tagebuch 1946–49 hat mich als Studentin beeindruckt, so die Reflexionen zum Selbstbild und zu dem Bild, das andere von uns haben. Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Men­ schen begegnen, die nicht meinen, dass sie uns ken­ nen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei.3 Die prägende und bedrückende Kraft eines Bildnisses oder salopper ausgedrückt eines Vorurteils ist ein großes Thema in Frischs Werk. Das Drama „Andorra“ (1961), das ich in meinem Lebensabschnitt als Lehrerin immer wieder einmal mit Schülern behandeln musste oder durfte, zeigt exemplarisch die Entstehung von Massenwahn und die vernichtende Kraft des Vorurteils, selbst dann, wenn es positiv gemeint ist. So sagt der Pater im Stück,

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der es gut meint mit dem Helden Andri, aber ungewollt auch zu seinem Tod beiträgt: Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott, deinem Herrn, und nicht von den Menschen, die seine Ge­ schöpfe sind. Auch ich bin schuldig geworden damals. Ich wollte ihm mit Liebe be­ gegnen, als ich gesprochen habe mit ihm. Auch ich habe mir ein Bildnis gemacht von ihm, auch ich habe ihn gefesselt.4 Der Gedanke, den anderen Menschen zu kennen, zu wissen, wer er letztendlich ist, fesselt den anderen, beraubt ihn seiner Entwicklungsmöglichkeiten. Im zwischenmenschlichen Bereich betrachtet Max Frisch das Bildnis, das wir uns voneinander machen, als Tod einer Beziehung. „Du bist nicht“, sagt der Enttäuschte oder die Ent­ täuschte“: wofür ich dich gehalten habe.“ Und wofür hat man sich ge­ halten? Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde ge­ worden sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat.5 Seine Romanhelden und auch der Dichter selber scheitern an diesem Postulat, sich kein Bildnis zu machen. Das letzte Tagebuch, seiner damaligen Lebensgefährtin gewidmet – der Lynn aus „Montauk“ (1975) -, endet mit dem Ende dieser Beziehung.

15. Mai 1911

Mahnender Zeitgenosse

Kraft des Vorurteils

79


Damals

Das zentrale Thema: Der Tod

Neben politischen und partnerschaftlichen Augenblicksnotizen spielt das Thema Tod in diesem dritten Tagebuch eine wichtige Rolle. Es ist die Anteilnahme an einem todkranken und schließlich sterbenden Freund, die dieses Tagebuch in weiten Teilen bestimmt und zu Reflexionen über Tod und Transzendenz führt. Leben als Oase – Der Tod als die Wüste ringsum – Woher will ich das wissen?6

Ob ich nicht an Astrologie glaube? Bitte. Warum nicht an Seelenwan­ derung? Bitte. Irgendetwas muss man glauben – Haufenweise Spiritisten ohne Gott.7 So hat Max Frisch seine Leser mitgenommen durch sein Leben und über sein Leben hinaus zu Gedanken über Liebe, Leben und Tod.

Anmerkungen

fünf Briten gut gebrauchen. Viel verdient hatten sie nicht; sie waren auch noch jung, George war gerade 18 geworden. John war auch nur 3 Jahre älter, besaß aber schon 6 Jahre Banderfahrung. Sie waren die Begleitband für den – damals – bekannten Sänger Tony Sheridan. Zuerst wurden „When The Saints Go Marching In“ und „My Bonnie“ eingespielt. Dann hatten sie Gelegenheit, einen eigenen Song aufzunehmen: „Cry For A Shadow“ und außerdem durfte John für „Ain’t She Sweet“ den Sologesang übernehmen. Hamburg war ein guter Start,

später eroberten sie von Liverpool aus die Welt. Von Tony Sheridan spricht man heute weniger, die Beatles sind immer noch berühmt. Weitgehend unbekannt ist, dass drei von ihnen schon 1958 eine Platte bespielt haben: John, Paul und George haben damals „That’ll Be The Day“ von Buddy Holly und die Eigenkomposition „In Spite Of All Danger“ aufgenommen.

1 2 3 4 5 6 7

Max Frisch, Entwürfe zu einem dritten Tagebuch, Berlin 2010, S. 79 Ebd. S. 33 Max Frisch, Tagebuch 1946–1949, Frankfurt a. Main, 1973, S.32 Max Frisch, Andorra, Frankfurt a. Main, 1961, S. 65 Max Frisch, Tagebuch 1946–49, a.a.O. S. 32 Max Frisch, Entwürfe...., a.a.O., S. 20 Ebd., S. 7

Damals Martin Schlegel, Hagen

Tony Sheridan

Buddy Holly

Die große Mehrheit der Leserinnen und Leser von „Stadtforschung und Statistik“ war damals noch auf ihre Eltern verteilt. Damals, das heißt vor exakt 50 Jahren, noch genauer: im Mai 1961. Stuart, Pete, George, Paul und John hatten Premiere, aber nicht in ihrer Heimat an der Mersey, sondern bei uns an der Elbe. Sie nahmen in Hamburg eine Schallplatte auf. Das Quintett war gut, wieder mal zu Auftritten in Hamburg und die Schallplattenfirma Polydor suchte für eine Aufnahme mit einem bekannten Sänger noch eine Begleitgruppe. Geld konnten die

Quelle: Hans Rombeck, Wolfgang Neumann: Die Beatles – ihre Karrieren, ihre Musik, ihre Erfolge. Bastei-Lübbe-Verlag, 1995

Wenn ich zurückblicke, muss ich schon sagen: 1961 hat’s in sich gehabt. Ein paar weitere – wichtigere – Ereignisse aus dem Jahr: • John F. Kennedy wird Präsident. • Patrice Lumumba wird ermordet. • VW wird privatisiert, die Aktien sind heiß begehrt. • Der Eichmann-Prozess beginnt.

80

• Juri Gagarin ist der erste Mensch im Weltraum. • Die Invasion in der Schwei­ nebucht endet als Fiasko. • Der UEFA-Pokal startet. • Hemingway bringt sich um.

• Die Trennung Deutschlands wird zementiert, die Mauer entsteht. • UN-Generalsekretär Dag Hammerskjöld kommt um. • Borgward geht in Konkurs. • Rudolf Mößbauer erhält den Physik-Nobelpreis.

Stadtforschung und Statistik 1/ 2011


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