EDITORIAL
Viele Wege
Eigentlich war ich schon auf dem Weg zu einem Kaffee, als Herr Eicken auf der Freiburger Frühjahrstagung seinen Religionsbericht begann. Ein statistisches Randthema, dachte ich, bin dann doch geblieben und habe den Kaffee völlig vergessen. Es existieren mehrere Wege, ungültig zu wählen. Geert Baasen geht ihnen nach und kommt zu überraschenden Ergebnissen. Der Gang ins Wahllokal sollte der Normalfall sein und die Briefwahl die Ausnahme bleiben. Da dem nicht so ist, muss die teure Briefwahl optimal organisiert werden. EOS beschreibt den Dortmunder Weg. Die Faktorenanalyse ist schon eine feine Methode, doch manch ein Kommunalpolitiker steht ihr äußerst kritisch gegenüber. S. Metzmacher vom BBR hat sicher weniger Probleme, diesen Weg zu beschreiten. 2003 drang Georg W. Bush in den Irak ein, um die Welt von Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen zu erlösen und den Irakern die Demokratie zu bringen. Der Nachbar Saudi Arabien geht einen völlig anderen Weg in Richtung Demokratie: Hamburgs früherer Chef-Statistiker E. Hruschka half mit – und berichtet darüber. Er war mit dem Zug unterwegs, als ihm eine bahnbrechende Idee kam: Holleriths maschinenlesbarer Datenträger, beschrieben von U. Naumann. Diese Ausgabe birgt viel mehr als die soeben erwähnten Beiträge. Vielleicht sind geade die darunter, die Sie besonders interessieren. Martin Schlegel, Hagen Stadtforschung und Statistik 2/ 05
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Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 2 • 2005
Inhalt Seite Editorial Joachim Eicken, Utz Lindemann Olaf Pestl Hermann Klein
Rainer Gallus
Volker Hannemann Geert Baasen
Eberhard Schubert
Klaus Kosack
Ernst-Otto Sommerer
Werner Münzenmaier
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Viele Wege
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Alea et labora
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Kirchen im demografischen Wandel Stuttgarts Weg zur Religions„un“zugehörigkeit Bevölkerungsbericht – Umzugsmotive Statistik in der Planer-Praxis Diffizile Entwicklung zwischen Kernstadt und Umland Einwohner im Raum Braunschweig
Die Kirchen auf dem Weg nach unten 5 12
Daten legen Grundlagen für die Zukunft Die Kernstädte können gewinnen
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Probleme aktueller Städterankings Kriterien bei der Interpretation von Ranglisten
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Fitte Oldies
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Aufgetaucht
Stellen Rankings die Wirklichkeit auf den Kopf? Rankomanie in Deutschland?
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Zur Kritik eines populären Verfahrens
Wahlergebnis und Wahlverfahren Wandel im Wahlinteresse
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Afghanistan, GUS, Indien, Irak, USA
Ungültige Stimmzettel bei der Europawahl 2004 Unbekannter Ungültigwähler: Protest oder Unvermögen?
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Öffnungszeiten der Briefwahlbüros Unterschiedlicher Bürgerservice NRW-Kommunalwahl 2004 Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung
Eine feine Methode – bei verstehbaren Ergebnissen
Warum eigentlich?
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Von 23 bis 50 Stunden Wer wählte wen?
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Briefwahlorganisation Preiswert und bürgerfreundlich
Die Briefwahl, ein teures Pflaster 38
Zahl des Jahres 2006 Die Nächste, bitte!
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Stuttgart führt beim Einkommen Entgelte der Arbeitnehmer 2002
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Ihr Vorschlag Viel Geld
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
INHALT
Martina Schwytz
Sebastian Metzmacher Tobias Terpoorten
Erhard Hruschka Jörg Hohmeier, Hermann Klein Klaus Trutzel Ulrich Naumann
Erhard Hruschka
Sigurd Trommer
Hermann Klein
Regina Theis-Schwenninger
Ein hervorragende Quelle Daten der Einkommensteuerstatistik
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Hätten wir die Daten doch schon früher gehabt!
Dimensionen der Stadtstruktur Die Dimension „Urbanismus“
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Faktorenanalyse im Praxistest
Auswertung von Schuldaten Ein Weg zum kleinräumigen Bildungsmonitoring
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Hohes C
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Statistik für die Schule
Saudi Arabien Projekt – Teil II Saudisches Lob und arabische Entscheidungen
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Statistische Woche 2005 Willkommen in Braunschweig
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Wegbereiter der Städte-Kooperation Manfred von Schaewen: 75
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In memoriam Herman Hollerith Inspiration in der Eisenbahn
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Jeder wird mal 50
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Fehler
70
Saudi Arabien Projekt – Teil III Feier, Wahl und Attentat
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Weihnachten
75
Zeit! Zeit!
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Managerprobleme
Zeit ist wichtiger als Geld
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Pendlerprobleme
Zahlen und Videos Freiburg im Frühling
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Das Ausland schätzt uns
Eine bahnbrechende Idee
Da ist die Gefahr ziemlich nah
100 Jahre Statistik in Braunschweig Unverzichtbar für die Planung
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Impressum
80
Statistik, na so was!
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und in Freiburg
IBM-Liedgut
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Lob-Lieder
Tagungskalender
82
Rechnen hilft Ein SLR gefällig?
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Satanarchäolügenialkohöllisch Ende gut – alles gut
83
Autorenverzeichnis
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Stadtforschung und Statistik 2/ 05
100 Jahre Statistik in Braunschweig
Die waren’s
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BEVOR DER ERNST BEGINNT
Alea et labora
Zwei Kollegen treffen sich und reden – wie könnte es anders sein – über ihre Arbeit. „Der Berg unerledigter Arbeit wächst und wächst“, klagt der eine. „Das Problem kenne ich von früher,“ entgegnet der andere. „Doch gleich nach der Mittagspause würfele ich einmal und wenn eine gerade Zahl fällt, fange ich an zu arbeiten. Das klappt prima.“ „Ich setze auch einen Würfel ein und sogar gleich morgens bei Betreten des Büros, noch in Hut und Mantel. Aber die unerledigte Arbeit wird immer mehr.“ „Bei welchem Ergebnis beginnen Sie mit der Arbeit?“ „Wenn der Würfel auf einer Kante stehen bleibt.“ Dem Lateinkundigen werden sich bei der Überschrift die Fußnägel einzeln kräuseln. Schließlich ist alea ein Substantiv, hierhin gehört aber ein Verb. Doch trotz des Fehlers lautet die Überschrift „Würfel und arbeite“. Martin Schlegel, Hagen 4
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT
Kirchen im demografischen Wandel/ Künftige Konsequenzen
Stuttgarts Weg zur Religions„un“zugehörigkeit Seit langen Jahren geht die Zahl der Mitglieder in den beiden großen christlichen Volkskirchen zurück. Damit reduzieren sich nicht nur die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher und das Potential an ehrenamtlich tätigen Personen, sondern auch Kirchensteuer und Spendenaufkommen. Die von den Kirchen getragene Infrastruktur ist mehr und mehr gefährdet, womit entweder Arbeiten wegfallen oder der Kommune übertragen werden. Insofern sind – gerade aus prognostischer Sicht – genauere Einblicke in die Entwicklungen von hoher Bedeutung.
Mitglieder und Finanzen Aus vielen Gründen leiden die Kirchen unter enormen Einnahmeverlusten. Besonders schwierig ist die Lage in den Großstädten: So gehören beispielsweise in Stuttgart nur noch 58 % der Einwohner zur evangelischen oder katholischen Kirche, in München sind es 56 % und in Frankfurt 49 %. In Stuttgart führte diese Entwicklung dazu, dass die Kirchensteuer von 1993 bis 2004 um über 30 % schrumpfte.
Planungsgrundlagen Die beiden großen Volkskirchen üben höchst wichtige gesellschaftliche Funktionen aus, besitzen jedoch vergleichsweise wenige Informationen über ihre Mitglieder. Dies liegt u. a. daran, dass die Kirchensteuer von den Finanzämtern einge-
zogen wird und die Meldungen über Umzüge, Personenstandsänderungen wie auch Kirchenaustritte im kommunalen Meldewesen verbucht werden. Die Kirchen erhalten davon Mitteilungen und Dateiabzüge, allerdings werden diese Informationsquellen nur bedingt für statistische Zwecke aufbereitet und genutzt. Gerade hierin liegt in Zeiten schrumpfender finanzieller Ressourcen ein erheblicher Mangel.
wohnungs marktbezogenen Wanderungsströme, aber auch der drastische Geburtenrückgang zu nennen. (Abb. 1) Im Jahr 1974 gehörten knapp 50 Prozent der evangelischen und 33 Prozent der römisch-
Kommunale Einwohnerstatistik Als eine wichtige, bislang jedoch kaum genutzte Datenund Informationsgrundlage für alle Aufgaben der kommunalen Daseinsvorsorge können die Statistikabzüge der kommunalen Einwohnermelderegister genutzt werden: Im folgenden Beitrag wird damit am Beispiel von Stuttgart aufgezeigt, welcher Wandel sich in Zahl und Struktur der Mitglieder der beiden christlichen Volkskirchen seit 1974 vollzogen hat und weiter vollziehen wird.
Entwicklungen in den Volkskirchen Die Zahl der in Stuttgart gemeldeten Einwohner ist in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Lebten 1974 hier noch circa 640 000 wohnberechtigte Einwohner, so sind es mittlerweile nur noch rund 590 000 Einwohner. Als Ursachen dieser Entwicklung sind u.a. die konjunkturabhängigen, die politisch bedingten und die
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katholischen Kirche an. „Nur“ 18 Prozent gehörten einer sonstigen Religionsgesellschaft an oder waren konfessionslos. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen bei den beiden großen christlichen Religionsgesellschaften verlief in diesem Zeitraum deutlich dramatischer als dies die allgemeine Einwohnerentwicklung erwarten ließe: Einen überproportionalen Mitgliederschwund hat die evangelische Kirche zu verzeichnen. Deren Mitgliederzahl ist innerhalb von 30 Jahren um 41 Prozent zurückgegangen. Nicht ganz so dramatisch verlief der Verlust bei der römischkatholischen Kirche, deren Mitgliederzahl sich „nur“ um ein
Abb. 1: Einwohnerentwicklung in Stuttgart 1950 bis 2004
Dramatische Entwicklung
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STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT Viertel reduziert hat. (Abb. 2) Mehr als verdoppelt hat sich in den vergangenen 30 Jahren demgegenüber die Zahl der Personen, die zu keiner christlichen
Abb. 2: Religionszugehörigkeit in Stuttgart 1974 und 2004
Abb. 3: Veränderung der Religionszugehörigkeit in Stuttgart nach Staatsangehörigkeit 1974 / 2004 in v.H.
Abb. 4: Entwicklung der Einwohner nach der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft in Stuttgart 1974 bis 2004
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Religionsgesellschaft gehören. So stellen diese Nicht-Christen mit 42 % inzwischen deutlich mehr Stuttgarter als die evangelischen (32 %) und die katholischen Christen (26 %) (Abb. 3). Der Rückgang konzentriert sich nicht auf eine bestimmte zeitliche Phase. Abbildung 4 zeigt vielmehr, dass es sich hierbei um einen langjährigen kontinuierlichen Prozess handelt. Auch ist eine Tendenz zur Abschwächung oder gar Stagnation des Schrumpfungsprozesses bislang nicht zu erkennen. Selbst in den Jahren 1988 bis 1992, als eine Einwohnerzunahme zu verzeichnen war, hat sich der Rückgang bei beiden Kirchen kontinuierlich fortgesetzt. Das damalige Wachstum an Einwohnern verlief zu Gunsten der Nicht-Christen. Diese Zunahme kann zum einen durch die Zunahme ausländischer Einwohner, zum anderen durch eine geringere Bindung der Bevölkerung die christlichen Volkskirchen erklärt werden: Waren vor 30 Jahren 101 000 ausländische Einwohner hier gemeldet, so hat sich deren Anzahl auf 131 000 Einwohner erhöht. Dies war mit einer nachhaltigen Veränderung der Religionsstruktur verbunden. So dominierten unter den ausländischen Einwohnern vor 30 Jahren noch die Katholiken. Ihr Anteil betrug 1974 noch 50 %, während 46 % einer anderen oder keiner Religionsgesellschaft angehörten. Durch Wanderungsgewinne und durch einen Geburtenüberschuss hat sich die Zahl der ausländischen Einwohner ohne Bindung an eine christliche Volkskirche nahezu verdoppelt. Gleichzeitig ist aber die Zahl der katholischen Ausländer. durch
Rückwanderung in ihre Heimatländer (insb. Spanien, Italien, Kroatien) um ein Viertel gesunken. Inzwischen gehören mehr als zwei Drittel aller ausländischen Einwohner einer sonstigen (christlichen) oder keiner (christlichen) Religionsgesellschaft an. Die geringere Bindung der Bevölkerung an die Kirchen ist vielschichtig und kann nicht allein in der von Jahr zu Jahr schwankenden Zahl an Austritten gesehen werden. So sind seit Beginn der 90er Jahre durchschnittlich 1800 Personen pro Jahr aus der evangelischen Kirche in Stuttgart ausgetreten. Dies sind „nur“ 44 % des Gesamtverlusts. Bei der katholischen Kirche ist aufgrund der geringeren Anzahl an Kirchenmitgliedern die absolute Anzahl an Kirchenaustritten deutlich geringer. So kehrten im Zeitraum 1998 bis 2002 in Stuttgart pro Jahr durchschnittlich 1200 Katholiken der Kirche den Rücken. Da für die evangelische und die katholische Kirche unterschiedliche Zeitreihen vorliegen, kann aus den verfügbaren Daten nicht beurteilt werden, ob sich in Stuttgart die Austrittsbereitschaft zwischen den Kirchen signifikant unterscheidet. Ein weiterer Grund für den Rückgang der Mitgliederzahlen der evangelischen Kirche ist in der negative Tauf- / Beerdigungs-(Sterbefall-)bilanz zu sehen. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass die Zahl der Taufen und Beerdigungen bzw. Sterbefälle von den Kirchen nicht nach dem Wohnortprinzip erhoben bzw. aufbereitet werden (kirchliche Bestattungen und Taufen sind nicht an den Wohnort gebunden). Gleichwohl lässt sich aus den vorliegenden Zahlen ermitteln,
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STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT dass die evangelische Kirche pro Jahr cirka 1100 Mitglieder allein dadurch verliert, dass die Zahl der Beerdigungen von Kirchenmitgliedern höher liegt als die Zahl der Taufen. Der durch Sterbefälle ausgelöste Mitgliederschwund wird infolge des Geburtenrückganges bei gleichzeitig verändertem Taufverhalten nicht durch eine ähnlich hohe Zahl an Taufen kompensiert. Durch diese negative Tauf-/Beerdigungsbilanz wird in den letzten zehn Jahren cirka 25 Prozent des gesamten Mitgliederverlustes in der evangelischen Kirche verursacht. Bei der katholischen Kirche ist zumindest in Stuttgart die Bedeutung der Tauf-/Beerdigungsbilanz für den Mitgliederschwund bislang nur gering ausgeprägt. Seit Kriegsende hat durch hohe Zuzüge jüngerer Katholiken in das traditionell protestantisch geprägte Stuttgart die Zahl der Katholiken stark zugenommen. Erst mit der zunehmenden Alterung dieser Jahrgänge werden nun auch die Sterbefälle und damit die kirchlichen Bestattungen von Katholiken zunehmen. Von 1974 bis 2003 sind per Saldo 45 000 Einwohner aus Stuttgart abgewandert. Wird dieser Wanderungsverlust differenziert nach der Religionszugehörigkeit, so zeigt sich bei der evangelischen Bevölkerung ein Wanderungsverlust von 37 000 Einwohnern und bei den Katholiken einer von 14 000 Einwohnern. Hingegen nahmen die Nicht-Christen um 6 000 Personen zu. Von dem negativen Wanderungssaldo ist die evangelische Kirche damit stärker betroffen als die katholische Kirche. Die gegenläufigen Entwicklungen – Zuwanderung von Nicht-Christen, Abwanderung von Christen – verstärken den durch Austrit-
te und negativer Tauf-/Beerdigungsbilanz ohnehin vorhandenen Erosionsprozess. (Abb. 5)
Religionszugehörigkeit der deutschen Bevölkerung Im Folgenden sollen Altersabhängigkeit und Veränderung der Religions(un)zugehörigkeit von 1974 bis 2004 analysiert werden. Aufgrund der besonderen Zugehörigkeit ausländischer Einwohner wurden die Untersuchungen nur für den deutschen Bevölkerungsteil durchgeführt. Von 1974 bis 2004 hat sich die Zahl der in Stuttgart gemeldeten deutschen Einwohner um 80 000 Personen verringert: Aus 539 000 Deutschen in Stuttgart wurden 458 000 Personen. 1974 gehörten „nur“ 69 000 deutsche Einwohner keiner oder einer sonstigen Religionsgesellschaft an, heute sind es 158 000 Personen. Die Zahl der deutschen evangelischen Einwohner ist gleichzeitig überproportional gesunken, nämlich um 41 %. Da damit nur noch 40 % aller deutschen Einwohner in Stuttgart Mitglieder der evangelischen Kirche sind, verfügt die evangelische Kirche in Stuttgart allenfalls noch über eine relative Dominanz. Auch die katholische Kirche hat in den vergangenen drei Jahrzehnten einen erheblichen Mitgliederschwund unter den deutschen Einwohnern hinnehmen müssen, so dass deren Zahl auf mittlerweile 117 000 und damit um ein Viertel gesunken ist. Altersaufbau Abbildung 6 stellt die Besetzung der einzelnen Altersjahre in Stuttgart im Jahr 1974 bzw. 2004 dar. Im Jahr 2004 weist
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
Abb. 5: Wanderungsbilanz nach Religionszugehörigkeit 1972 bis 2004 in Stuttgart
Abb. 6: Altersaufbau der deutschen Bevölkerung 1974 / 2004 nach Religionszugehörigkeit
der Altersaufbau der deutschen Einwohner eine schmale Basis auf, die bereits mehr als 20 Altersjahre umfasst. Dass die schmale Basis nicht 30 oder mehr Altersjahre umfasst (der Geburtenrückgang setzte in den 60er-Jahren ein), ist auf die Bedeutung Stuttgarts als Ausbildungs- und Arbeitsplatz zurückzuführen. Die Bevölkerungspyramide zeigt deutlich, dass die Zahl der Nicht-Christen in den letzten 30 Jahren in allen Altersjahren deutlich zugelegt hat. Während 1974 der Altersaufbau dieses Personenkreises einem schmalen Band gleicht, zeichnet er inzwischen bereits
Der Wanderungsverlust trifft besonders die evangelische Kirche
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STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT
Abb. 7: Veränderung der Einwohner nach Altersgruppen und Religionszugehörigkeit 1974/2004 in Stuttgart
den Altersaufbau der deutschen Einwohner mit all seinen Einschnitten und Ausbuchtungen sehr deutlich nach. An der Basis ist zu erkennen, dass der Anteil der getauften Säuglinge abgenommen hat, bei Kindern und Jugendlichen findet eine Verschiebung der Taufe kontinuierlich bis zum 10. (Kommunion) bzw. 14. Lebensjahr (Konfirmation) statt. Die Bedeutung der Taufe für Kinder und Jugendliche hat insgesamt
gegenüber 1974 deutlich abgenommen. Dies bedeutet, dass die Kirche nicht nur durch Kirchenaustritte, sondern auch durch „Nicht-Eintritte“ – und damit indirekt – Mitglieder verliert. Veränderung der Altersstruktur Die Veränderungen spiegeln sich deutlich in der Altersstruktur der Kirchenmitglieder wider: Die Anzahl der unter 18-
Jährigen in der evangelischen Kirche ist von 64 000 (20 % aller evangelischen Christen) im Jahr 1974 auf 23 000 (13 %) gesunken, in der katholischen Kirche lauten die Werte: 34 000 (21 %) und 15 000 (13,0 %). Die Anzahl der „jungen Alten“ (65 bis unter 75 Jahre) ist ebenfalls gesunken (in der evangelischen Kirche um -34 %, in der katholischen Kirche nur um -6,5 %). Die Anzahl der Hochbetagten (75 Jahre und älter) ist jedoch in der evangelischen Kirche um knapp ein Drittel und in der katholischen Kirche sogar um über 100 Prozent gestiegen. Diese Verdoppelung der hochbetagten Mitglieder ist im Wesentlichen darauf zurück zuführen, dass in Stuttgart die Zahl der „alteingesessenen“ katholischen Einwohner deutlich unterrepräsentiert war und die nach dem Krieg nach Stuttgart zugezogene katholische Bevölkerung nun verstärkt in das Alter der Senioren, und inzwischen in das Alter der Hochbetagten hineingewachsen ist (Abb. 7). Dies bedeutet, dass die beiden Kirchen einem starken Alterungsprozess ihrer Mitglieder ausgesetzt sind, der durch einen überproportionalen Verlust bei Kindern und Jugendlichen (-63,6 % bei evangelischen Mitgliedern unter 18 Jahren, -55,3 % bei katholischen Mitgliedern unter 18 Jahren) bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Hochbetagten hervorgerufen ist. Demgegenüber ist bei deutschen Nicht-Christen in allen Altersgruppen eine zum Teil extrem hohe Zunahme zu verzeichnen. So hat sich die Anzahl der Kinder und Jugendlichen ohne Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft mehr als verdreifacht. Mit 31 000 ist ihre Zahl inzwischen
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Stadtforschung und Statistik 2/ 05
STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT doppelt so hoch wie die Katholiken im gleichen Alter (Abb. 8). 1974 lag das Durchschnittsalter der evangelischen Mitglieder noch bei 40,4 Jahren, und damit nur leicht über dem Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung insgesamt. Heute beträgt es bei der evangelischen Bevölkerung 46,6 Jahre. In ähnlicher Weise sind auch die Katholiken gealtert: Ein durchschnittlicher Stuttgarter Katholik ist mehr 37,3, sondern 44,2 Jahre alt. Bei den nicht-christlichen Einwohnern hat sich demgegenüber das Durchschnittsalter von 44,2 Jahren auf 38,4 Jahre verjüngt. Der unter anderem durch Seniorisierung gekennzeichnete demografische Wandel der Bevölkerung ist damit zumindest in Stuttgart unter den Kirchenmitgliedern doppelt so stark ausgeprägt wie in der Gesamtbevölkerung.
Abb. 8: Durchschnittsalter nach Religionszugehörigkeit
Altersspezifische Kirchenbindung Um feststellen zu können, in welchen Altersjahren in den vergangenen 30 Jahren sich die Kirchenbindung verändert hat, werden im Folgenden altersspezifische Religionszugehörigkeitsquoten berechnet. Damit können vorhandene Gesetzmäßigkeiten in der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft verdeutlicht werden. Diese geben damit nicht nur bessere Erklärungsansätze für die Entwicklung in den vergangenen 30 Jahren, sondern auch wichtige Hinweise für die künftige Entwicklung. Evangelische Kirche Die altersspezifischen Zugehörigkeitsquoten der evangelischen Kirche weisen im Jahr 1974 bei den Säuglingen bis hin zu den Senioren ver-
Abb. 9: Altersspezifische Zugehörigkeit der deutschen Einwohner 1974 / 2004 zur evangelischen Religionsgesellschaft
gleichsweise geringfügige Schwankungen auf. Der Anteil der evangelischen deutschen Einwohner in jedem Altersjahr liegt in der Regel zwischen 55 und 60 Prozent. Lediglich ab dem Seniorenalter steigt dieser Zugehörigkeitsanteil bis auf ca. 85 Prozent. Der „Anstieg“ kann aber keinesfalls mit einer zunehmenden Beitritts- bzw. Konvertierungsbereitschaft erklärt werden. Die hohen Quoten bei Hochbetag-
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ten sind vielmehr Hinweis auf die „alt eingesessene“, traditionell evangelische Stuttgarter Bevölkerung, die sich im Jahr 1974 im Seniorenalter befand (Abb. 9). Ganz anders 2004: Die Quote bei den Säuglingen beginnt auf sehr geringem Niveau, steigt jedoch dann zunächst stark bis zum Konfirmationsalter. In diesem Alter sind 45 Prozent aller deutschen Jugendlichen 9
STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT 1974 ist zwischenzeitlich verstorben. Auch im Jahr 2004 darf aus der Darstellung nicht geschlossen werden, dass bei 55-Jährigen und älteren Einwohnern ein mit dem Alter steigender „Wiedereintritt“ in die evangelische Kirche stattfindet. Vielmehr spiegeln sich die im Jahr 1974 – aus heutiger Sicht – vergleichsweise hohen Werte der damals 30 Jahre jüngeren deutschen Bevölkerung wider. Abb. 10: Altersspezifische Zugehörigkeit der deutschen Einwohner 1974 / 2004 zur römisch-katholischen Religionsgesellschaft
Abb. 11: Altersspezifische Zugehörigkeit der deutschen Einwohner, die keiner oder einer sonstigen Religionsgesellschaft angehören
Unterschiedliche Bindung
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in Stuttgart evangelisch. Kurz nach dem Erreichen der Volljährigkeit sinkt dieser Wert allerdings wieder kontinuierlich bis zu den 50- bis unter 55-Jährigen. In diesen Altersjahren ist aktuell die geringste Bindung zur evangelischen Kirche zu finden. Dieser Anteil steigt weitgehend kontinuierlich bis in die höchsten Altersjahre hinein auf einen maximalen Wert von 65 Prozent an. Eine so hohe Bindung an die Evangelische Kirche wie 1974 kann jedoch nicht mehr nachgewiesen werden: Die überwiegend evangelisch geprägte Seniorengeneration des Jahres
Generell liegt im Jahr 2000 in jedem Altersjahr der Anteil der Deutschen, die der evangelischen Kirche angehören, um 10 – 20 Prozentpunkte niedriger als 1974. Katholische Kirche Die altersspezifische Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche zeigt zwar, dass im Jahr 2004 auch hier die Säuglingstaufe nicht mehr in dem Ausmaß wie noch vor 30 Jahren praktiziert wird. Der altersspezifische Niveauunterschied zwischen der Zugehörigkeitsquote 1974 und 2004 ist aber deutlich geringer ausgeprägt als in der evangelischen Kirche. Auffallend ist besonders, dass bei den über 65-Jährigen heute die Anteile höher sind, als noch vor 30 Jahren (Abb. 10). Die hohen Werte bei den heute 69- bis 72-Jährigen spiegeln die bereits im Jahre 1974 erkennbaren höheren Quoten bei den damals 39- bis 42-Jährigen wider. Der „Anstieg“ der Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche in dieser Altersgruppe ist also durch Alterung dieser Jahrgänge begründet. Mitglieder einer sonstigen oder keiner Religionsgesellschaft
1974 schwankte der Anteil der deutschen Nicht-Christen noch zwischen 10 Prozent bei den 14-Jährigen und knapp 20 Prozent bei den 70-Jährigen; nun hat sich das Kurvenbild insbesondere bei den unter 70-Jährigen völlig verändert. Der Anteil der Personen, die keiner der beiden großen Religionsgesellschaften angehören, sinkt von 90 Prozent bei Kleinstkindern auf 30 Prozent bei den 18-Jährigen. Der Anteil steigt auf einen Wert von circa 40 Prozent bei den 35- bis- 60-Jährigen. Er sinkt stark bei den Hochbetagten auf einen Wert von 10 bis 15 Prozent. (Abb. 11) Die Gegenüberstellung der Religionszugehörigkeitsquoten zeigt deutlich, dass die „Entfremdung“ von einer der beiden christlichen Kirchen grundsätzlich in allen Altersjahren vorhanden ist und dabei in der evangelischen Kirche deutlich stärker ausgeprägt ist als in der katholischen Kirche. Der alterspezifische Rückgang kann nicht zu einem alterspezifischen Entfremdungskoeffizienten umgerechnet werden, der als Basis für eine nach Alter und Religionszugehörigkeit differenzierten Prognose der Stuttgarter Bevölkerung heranzuziehen wäre. Wie die alterspezifischen Religionszugehörigkeitsquoten insbesondere der katholischen Bevölkerung zeigen, sind jahrgangspezifische Sondereffekte zu berücksichtigen, wenn z. B. durch besonderes Wanderungsverhalten der Bevölkerung (verstärkter Zuzug von jüngerer katholischer Bevölkerung in das bis dato evangelisch geprägte Stuttgart nach dem Zweiten Weltkrieg und Alterung dieser nach Stuttgart zugezogenen Bevölkerungsgruppe) die Zusammensetzung der Bevölke-
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STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT rung nachhaltig beeinflusst ist. Dies bedeutet, dass aus einer Erhöhung der Religionszugehörigkeitsquote und einer u.U. verbundenen Erhöhung der Mitgliederzahlen in einem bestimmten Altersjahr oder Altersgruppe nicht auf eine generelle Zunahme der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kirche geschlossen werden darf, sondern (lediglich) eine jahrgangspezifische, in der Regel historisch bedingte und damit der Alterung unterworfenen Sonderentwicklung widerspiegelt.
Ausblick Die Veränderung der Stuttgarter Bevölkerung hin zu einer immer stärker werdenden Religions„un“zugehörigkeit basiert nicht nur auf einer Zunahme ausländischer Einwohner, die aus moslemisch geprägten Ländern stammen bzw. dem Islam angehören, sondern liegt auch in einer zunehmenden „Entfremdung“ der deutschen Einwohner von den beiden christlichen Volkskirchen begründet. Diese Entfremdung
der Stuttgarter Bevölkerung von den beiden christlichen Kirchen resultiert zum einen aus dem Austritt aus der Kirche, als einer bewussten Entscheidung bisheriger Kirchenmitglieder, sondern auch aus einer für die beiden christlichen Volkskirchen negativen Wanderungsbilanz, wie auch auf einer negativen Tauf-/Beerdigungsbilanz. Dabei wird das ohnehin durch den Geburtenrückgang verursachte Kinderdefizit verstärkt durch ein verändertes Taufverhalten, da die traditionelle Säuglingstaufe immer seltener praktiziert wird. Gleichzeitig aber stirbt die Generation der Senioren aus, die sich stark an eine der beiden Kirchen – in Stuttgart überwiegend der evangelischen Kirche – gebunden fühlen bzw. gebunden fühlten und für die ein Austritt aus der Kirche niemals denkbar gewesen wäre.
kann. Selbst bei reduziertem Austrittsverhalten können die weiteren überwiegend demografisch bedingten Ursachen zu einem u. U. sich sogar noch verstärkendem Rückgang der evangelischen oder römischkatholischen Bevölkerung führen. Um die Dimensionen der künftigen Entwicklung abschätzen zu können, ist vorgesehen, die Entwicklung der Kirchenmitglieder in Zahl und Struktur für den Zeitraum bis 2015 zu prognostizieren.
die geburtenzahl ging herunter, traf den pfarrer im tal nachts noch munter heidel da diedel dum, wie war das schön im tal! aufwärts steigt wiederum bald die geburtenzahl und dann lächelt alles froh im statistischen büro!
Ringelnatz
Joachim Eicken, Utz Lindemann, Stuttgart
Aus der bisherigen Entwicklung ist ein Ende des Schrumpfungsprozesses bislang nicht erkennbar, zumal der Schrumpfungsprozess nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden
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STATISTIK IN DER PLANER-PRAXIS
Bevölkerungsbericht – Wanderungsmotive
Statistik in der Planer-Praxis
Strategiedefizit
Statistik ist kein Selbstzweck – zumindest sollte sie keiner sein. Vielmehr macht den Wert einer Statistik erst ihre Anwendung und Auswertung in Politik, Planung und täglichem Leben aus. Nicht zuletzt auch die veröffentlichten Zahlen über Verkehrstote haben die Automobilbauer dazu bewegt, sich dem Thema Sicherheit im Automobil verstärkt zu widmen – mit dem Erfolg, dass die Todesfallzahlen mittlerweile deutlich rückläufig sind. Durch die in Iserlohn existierende verwaltungsorganisatorische Einheit von Kommunalstatistik und Stadtentwicklungsplanung wird die Statistik in einem stark planerischen Kontext gesehen. D. h. zwar nicht, dass wir uns nicht auch mit anderen Dingen beschäftigen, aber der Schwerpunkt der statistischen Arbeit hat einen stadtentwicklungsplanerischen Bezug und dient sehr häufig dem Zweck, entwicklungsplanerische Analysen durchführen zu können. Insofern sehen wir die Statistik und Stadtforschung in unserem Hause als eine deutliche Qualifizierung
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der Stadtentwicklungsplanung an.
Ausgangslage Die Stadtentwicklungsplanung der Stadt Iserlohn ist in der vergangenen Zeit durch ein stetiges Ziel- und Strategiedefizit geprägt gewesen. Als im Jahr 1997 die Politik den Beschluss fasste, den Flächennutzungsplan neu aufzustellen, stellte sich dieses Defizit jedoch erstmalig als echtes Problem heraus oder wurde zumindest als solches erkannt. Die mit den Arbeiten zur FNPNeuaufstellung beauftragte verwaltungsinterne Projektgruppe kam sehr schnell zu der Erkenntnis, dass dieses Defizit behoben werden muss, wenn mit dem FNP eine stärkere strategische Zielorientierung der Stadtentwicklung verbunden sein soll. Deshalb musste ein Stadtentwicklungskonzept das vorhandene Planungs- und Strategievakuum füllen. Hieraus entstand ein umfangreiches Planwerk, das mit einer Förderung des Landes NRW in einem sehr offenen Planungsprozess seit dem Jahr 2002 erarbeitet wird und Mitte des Jahres 2005 abgeschlossen werden soll (Für Interessierte: der gesamte Planungsprozess mit den Dokumentationen aller Ve r a n s t a l t u n g e n und Pläne ist auf der homepage der Stadt Iserlohn. Integrale Bestandteile des Stadtentwicklungskonzeptes sind hierbei Orts-
teilentwicklungskonzepte für 7 abgegrenzte Teilräume des Stadtgebiets. Da sich somit das Stadtentwicklungskonzept nicht nur auf gesamtstädtische Zielaussagen beschränkt sondern auch orsteilbezogene Maßnahmen und Handlungsempfehlungen enthält, die in einem umfangreichen Bürgerbeteiligungsprozess mit den Betroffenen diskutiert wurden, wurden auch kleinräumige Informationen zu den einzelnen Ortsteilen benötigt.
Bevölkerungsbericht und Stadt-
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
STATISTIK IN DER PLANER-PRAXIS
Bevรถlkerungsbericht
Thema: Wohnungsmarkt
ร ber Statistik: Statistik ist eine Hilfswissenschaft: Sie hilft, Wissen zu schaffen.
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EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG
Diffizile Entwicklung zwischen Kernstadt und Umland
Einwohner im Raum Braunschweig Einführung
Hohe Verluste an das Umland
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Braunschweig hat im Vorfeld und unmittelbar nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze einen Zuwachs von rund 5.000 Einwohnern erfahren. In den 90er Jahren hat die Stadt aufgrund nicht hinreichenden Wohnbaulandangebotes in nahezu vierfachem Umfang wieder Einwohner in Form von Stadtumlandwan de rungen verloren (-18.600). Der starke Einwohnerverlust konnte erst zur Jahrtausendwende auf ein erträgliches Maß reduziert werden. Ende 2004 konnte erstmals seit mehr als 10 Jahren wieder ein Bevölkerungsanstieg verzeichnet werden. Trotz dieser starken Wanderungsbewegungen hat sich die Altersstrukturverteilung der Bevölkerung seit 1990 nicht wesentlich verändert und dies wird voraussichtlich auch bis zum Jahr 2020 nicht eintreten, erst danach. Da Braunschweig auch in den vergangenen Jahr-
zehnten unter einer vergleichsweise starken Stadt-UmlandWanderung gelitten hat, wird es bei den – pflegerelevanten – Jahrgängen der über 70-Jährigen in Braunschweig keinen so ausgeprägten Anstieg der Anzahl und der entsprechenden Anteile geben, wie im Umland. Etwa im Jahr 2007 wird es in Braunschweig so viele über 70-Jährige geben, wie 2020, wobei gegen 2013 ein kleines „Zwischenhoch“ eintreten wird. Im Umland Braunschweigs stellt sich dagegen die voraussichtliche Altersentwicklung der Landkreisbevölkerung völlig anders dar. Der Landkreis Gifhorn z. B., der die StadtUmland-Wanderer nicht nur aus Braunschweig, sondern auch aus Wolfsburg aufgesogen hat wie ein Schwamm, wird derjenige sein, bei dem der Anteil der über 70-Jährigen von 1999 – 2015 um nahezu
50 Prozent zunehmen wird. In diesem Landkreis werden dann mehr als 20 Prozent der über 70-Jährigen der insgesamt ca. 1,2 Mio. Einwohner umfassenden Region Braunschweig leben. In einigen Gemeinden und Samtgemeinden nehmen diese Altersjahrgänge sogar um nahezu 75 Prozent zu. Zieht man die bis 2030 relativ detailliert prognostizierte Bevölkerung in Betracht, wo auch in den ländlich geprägten Umlandgemeinden Braunschweigs gegenüber dem Jahr 2000 zum Teil 20 bis 30 Prozent Bevölkerungsverlust zu erwarten ist, führt einem die Ambivalenz und teilweise auch die Dramatik der bevorstehenden Entwicklungsprozesse deutlich vor Augen. Was ist zu erwarten? Worauf müssen wir uns aufgrund der momentanen politischen und wirtschaftlichen Großwetterlage einstellen?
Grundannahmen Die nachstehenden Ausführungen über die unterschiedliche Altenentwicklung in der Kernstadt Braunschweig und im Umland und die damit einhergehenden Implikationen im Bereich der kommunalen Infrastruktur und des Wohnungsmarktes liegen folgende Annahmen zugrunde: - Steigende Belastung der Erwerbseinkommen mit Kranken-, Pflege-, Arbeitslosenversicherungsund Rentenbeiträgen. - Keine spürbare Verbesserung der öffentlichen Haushaltslage (Aufgabenwachstum bei stagnierender, vermutlich sinkender Einnahmesituation). - Die Eigenheimzulage wird
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EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG gestrichen. - Die Entfernungspauschale für die Fahrt mit dem Pkw zur Arbeitsstätte wird gestrichen. - Die Mehrwertsteuer wird erhöht. - Die Benzin-/Energiepreise steigen. - Die Freizügigkeit innerhalb der EU führt ab 2011 zu verstärkter Zuwanderung von EU-Bürgern aus den 10 neuen osteuropäischen Beitrittsländern. - Der Anteil und die absolute Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund und mit geringer schulischer und beruflicher Qualifikation wird stetig steigen, wenn der Staat nicht kurzfristig beginnt, Präventionsmaßnahmen einzuleiten, um hohe Sozialkosten für die folgenden Generationen zu vermeiden. - Die konjunkturell schwierige Lage verändert sich nicht wesentlich zum Positiven. - Die Region Braunschweig erwartet – ohne die Zuzüge aus Osteuropa – von 2000 bis 2015 einen Einwohnerverlust von ca. 17.000 (-1,5 %). Nach der „Trendvariante“ – mit Zuzügen aus Osteuropa – wird bis 2020 ein Einwohnerrückgang von ca. 9.500 (-0,8 %) eintreten. Bis 2030 wird ein Einwohnerschwund in der Größenordnung einer Kleinstadt erwartet (insgesamt -32.000 bzw. -2,8 %).
Folgen für die kommunale Infrastruktur – Fakten und Thesen Dem Bericht „Leitbilder für eine Stadtregion im demografischen Wandel“ des interdisziplinären Forschungsvorhabens „STADT+UM+LAND 2030“
der Region Braunschweig ist folgendes zu entnehmen (Auszug): • „Die Versorgung mit sozialer Infrastruktur erfolgt in breiter Kooperation von Kommunen, Wirtschaftsbetrieben sowie Bürgerinnen und Bürgern“. • Ziel: „Soziale Infrastruktur wird in direkter Nähe der Wohnstandorte oder der Arbeitsstätten platziert“. Das Leitbild geht von funktionsfähigen Siedlungseinheiten ab 7.500 Einwohner mindestens aus und regt die Wiederbelebung funktionsgemischter Strukturen in den zentralen Orten an („Stadt der kurzen Wege“). • „Das staatlich finanzierte soziale Netz (Altenhilfe, Kinderbetreuung etc.) wird abgelöst durch Nachbarschaftshilfe bis zu regional organisierten ehrenamtlichen Angeboten.“
Damit wird der Kreis derjenigen, die sich Pflegedienste leisten können, relativ gesehen noch kleiner, wenn die soziale Daseinsvorsorge nicht durch Nachbarschaftshilfe aufgefangen werden kann. Parallel zu den sinkenden Schülerzahlen wird das ÖPNVAngebot weiter ausgedünnt, nicht nur in der Frequenz, sondern auch in der Bedienung der Fläche. Die Alten, die über kein Fahrzeug verfügen, werden das Nachsehen haben.
Künftig geringere ÖPNVLeistung
So wird es in 25 Jahren in Braunschweig und den sechs unmittelbaren Umlandgemeinden aussehen: • Rund 20 % weniger 0bis 20-Jährige in der Stadt und bereits 5 % weniger im Umland. D. h. 20 % weniger Kindergärten und Schulen. Welche Prognose der Einwohner im Rentenalter 2003 bis 2020
Allem Anschein nach wird es wohl am ehesten auf den letztgenannten Punkt hinauszulaufen. Was erwarten wir? Die Kosten für die Kinder-, Schul- und Jugendinfrastruktur nehmen nicht in dem Maße ab wie die quantitative Nachfrage. Parallel erhöht sich aufgrund steigender Bevölkerungsanteile mit Migrationshintergrund der Bedarf für Qualitätssicherungsmaß nahmen im Ausbildungsbereich. Die Überlastung der kommunalen Haushalte zwingt zu (radikalen) Schließungen und Serviceeinbußen. Die soziale Infrastruktur und die sozialen Dienstleistungen für die Altengeneration können vermutlich nicht in dem Maße angeboten werden, wie sie benötigt werden. Knappheit bedeutet in der Marktwirtschaft höhere Preise.
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EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG Schulen aber im Einzelnen: Haupt-, Real-, Ganztagsschulen, Gymnasien oder Berufsbildende Schulen? Fazit: Durchschnittlich wäre alle ein bis zwei Jahre ein Kindergarten und mit etwas zeitlichem Verzug alle drei bis vier Jahre eine Schule zu schließen. Der Rückgang dieser Altersgruppe setzt erst ab ca. 2020 ein, dann Entwicklungsperspektiven im Umland von Braunschweig
Entwicklungsperspektiven im Umland von Braunschweig
aber heftig. • 10 bis 12 % weniger 20- bis 35-Jährige in der Stadt und im Umland. An den Hochschulen der Region werden weniger Studienplätze besetzt sein, insbesondere wenn die Hochschulen sich nicht rechtzeitig positioniert,
spezialisiert und für den deutschen und den europäischen Wettbewerb durch gezielte Maßnahmen qualifiziert haben. Heute herrscht noch Ausbildungsplatzmangel. 2020 beginnt der Nachwuchskräftemangel. In anspruchsvollen Fachgebieten (Ingenieure) schon früher. Weniger Erwerbstätige werden die Folge sein! • Ca. 15 bis 20 % weniger 35- bis 50-Jährige in der Stadt. Der starke Rückgang der Erwerbstätigen führt folglich auch zu einem Rückgang der Steuereinnahmen. Wie wir wissen, steigt parallel die Belastung der Erwerbseinkommen mit Krankenversicherungs-, Pflegeversicherungs-, Arbeits lo sen versicherungsund Rentenbeiträgen bei gleichzeitig ausgedünntem sozialem Sicherungsnetz. Die hohe Belastung der Erwerbseinkommen mit Sozialabgaben erschwert das Alleinerzie hen dendasein. Folge: Entweder werden noch weniger Kinder in die Welt gesetzt (Teufelskreis), oder man kann Familie nur noch als DoppelverdienerHaushalt realisieren. Die Notwendigkeit zur Bildung von Doppelverdiener-Haushalten erhöht jedoch den Bedarf nach Ganztagsbetreuungsangeboten für Kinder und Jugendliche. • Die Zahl der über 65-Jährigen steigt in der Stadt um 25 %, im Umland um 100 %. Ab 2020 wird der altengerechte Versorgungsbedarf rapide zunehmen. Dies führt unter der Annahme knapper staatlicher Kassen zu quantitativer und qualitativer Reduzierung des
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EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG Angebotsniveaus. Aufgrund des starken Rückgangs der unter 20-Jährigen entsteht 2030 ein Mangel an rekrutierbaren Zivildienstleistenden. Die Kranken- und Pflegekassen können aufgrund rückläufiger finanzieller Ressourcen kaum noch ausreichende Pflegedienste bereitstellen, sondern immer öfter nur noch die Vermittlung von Nachbarschaftshilfen und ehrenamtlichen Pflegediensten leisten. Die staatlichen Stellen sind gefordert, sich um die steigende Zahl absoluter Versorgungsnotfälle zu kümmern, die weder über Verwandte noch über das Geld für Pflegedienste verfügen.
Folgen für den Wohnungsmarkt – Fakten und Thesen Die Folgen des demografischen Wandels treten heute – Ende 2004/Anfang 2005 – bereits mehr oder weniger offen zutage, wie Zeitungsauszüge belegen: • „Städte brauchen dringend Bauland“ 2003 und 2004 wurde Bauland für nur 36.000 WE in Niedersachsen ausgewiesen. Dies ist ein Drittel weniger als 2000 und 2001. Es gibt dabei große regionale Unterschiede: Oftmals reichen die Baulandvorräte nur ein bis zwei Jahre, in Osterode/Harz 100 Jahre. (Hannoversche Allgemeine Zeitung, 06.12.2004)
gnose ein Wachstumskreis, während in den Städten ringsum (H und BS) die Bevölkerungszahlen zurückgehen sollen“. (Braunschweiger Zeitung, 07.01.2005) • „Hoppla, immer weniger Wolfsburger. Rückgang um 500 Einwohner“ „Hintergrund der unerwarteten Entwicklung: Es gab mehr Sterbefälle als Geburten, und die Zuwanderung reichte nicht mehr aus, das Minus auszugleichen.“ (Wolfsburger Nachrichten, 13.01.2005) • „Baugrundstücke der Stadt Braunschweig fanden reißenden Absatz. Kinderrabatt (5,– EURO/m2) ist Kaufanreiz für junge Familien“ 300 Baugrundstücke mit hohen Preisen und Bauträgerbindung sind schwer am Markt absetzbar. Die 250 städtischen Bauplätze sind dagegen bis auf wenige restlos verkauft. OB: „Wir machen weiter mit der nachfragegerechten Baulandbereitstellung in großer Zahl und interessanter Lage“. (Stadt Braunschweig, Pressestelle, 30. Dez. 2004)
• Die Zahl der Bauanzeigen für genehmigungsfreie 1und 2-Familienhäuser ist in Braunschweig von 430 in 2002 um nahezu die Hälfte auf 230 in 2004 zurückgegangen. (Interne Auswertung der Bauantragsliste, Feb. 2005)
Nachfragegerechte Baulandbereitstellung
• „Wohnbaulandprogramm vor dem Ende? CDU in Salzgitter beantragt den Stopp im Rat“ Das Wohnbaulandprogramm hat sein Ziel verfehlt: Von den 500 geplanten Bauplätzen/Jahr sind in 2004 nur 90 verkauft worden. Auch den Bevölkerungsrückgang – 1.000/Jahr – habe das Programm nicht stoppen können. (Salzgitter Zeitung, 02. Febr. 2005) • „Häuser so günstig wie seit Jahren nicht. RDM: Tiefster Stand seit 8 Jahren“. Eigentumswohnungen gehen überhaupt nicht mehr und werden immer preiswerter. Reihenhäuser sind in Braunschweig inzwischen preiswerter als in den umliegenden Landkreisen. Höhere Preise wurden nur in Entwicklungsperspektiven im Umland von Braunschweig
• „Baulandmarkt bricht ein in Peine. Stadt verkauft nur noch Hälfte der Grundstücke“ Die Zahl der Bauanträge ging um ein Drittel zurück. Die argumentative Überbrückungsdroge: “Der Landkreis Peine ist laut ProStadtforschung und Statistik 2/ 05
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EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG besonders guten Wohnlagen erzielt. In Braunschweig gibt es wieder eine stärkere Nachfrage nach Mietwohnungen in der Innenstadt. (Braunschweiger Zeitung, 18. Febr. 2005)
Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, welche Entwicklung bahnt sich an bzw. ist bereits in vollem Gange?
Weniger Baulandnachfrage
Städte haben Vorteile vor den Landgemeinden
• Die Nachfrage nach Bauland geht insgesamt schon jetzt zurück. Die Ursache liegt zurzeit noch größtenteils an der anhaltenden Konjunkturschwäche. In ca. 5 Jahren wird sich bemerkbar machen, dass die „Bauwilligen-Jahrgänge“ 15 bis 20 % schwächer besetzt sein werden als heute. Die Nachfrage nach Bauland und nach Wohnraum im Bestand wird weiter zurückgehen, wenn keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden und die Gesamtattraktivität der Region Braunschweig sich nicht verbessert. • Bei sinkender Nachfrage hat nur die Gemeinde oder Stadt eine Chance Neubürger und die eigenen BauwilligenJahrgänge an sich zu binden, wenn die Grundstückspreise (aufgrund diverser Anreize) günstig sind und nachfragegerechte Angebote geschaffen werden. • Der zentrale Ort mit infrastruktureller Vollausstattung und kurzen Wegen wird – je nach Familienlebensaltersabschnitt – gegenüber den peripheren ländlich-idyllischen und vermeintlich preiswerten Mangellagen bevorzugt. Später:
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Der Ort mit den „geringeren Ausstattungsdefiziten“ in der Infrastruktur. Zwischenfazit: „The city offers more value for money“! • Mit fortschreitender Zeit – ca. ab 2025/2030 – werden die Häuslebauer draußen auf dem Lande flächendeckend vereinsamen insbesondere in den einst „preisgünstigen“ Streulagen. Sie kommen aber nicht weg von ihrer Scholle, weil keine Nachfrage mehr danach besteht – und wenn, dann nicht in den weit abseits von den zentralen Orten liegenden Wohnlagen. • Die Versprechungen der Hausbank vom „Haus als Alterssicherung“ erweisen sich als Trugschluss: Zu dem Zeitpunkt, zu dem man den geschaffenen Wert für das Altenteil kapitalisieren möchte, fallen die ersten größeren Instandsetzungsarbeiten an, schließt der letzte Laden im benachbarten Landkreisstadtranddorf, ziehen die Kinder von Düsseldorf nach München oder nach Villach und vom Familienverband ist keiner mehr da, der erste auftretende Pflegedienste übernehmen könnte. Mit Ach und Krach – natürlich nur nach Preisabstrichen – wird man sein Haus noch los. Davon kann man sich so gerade eben noch eine kleine Wohnung in einer altengerechten Wohnanlage der Drei- oder Zwei-Sterne-Kategorie leisten – wenn man Glück hat und das Haus sich noch in einem Zustand und in einer Lage befindet, die nachgefragt werden. All das klingt ziemlich erfunden.
Die beschriebenen Phänomene sind jedoch heute bereits feststellbar – selbst in Großstädten, selbst in der Wirtschaftsregion Hannover-Braunschweig und selbst in den westlichen Bundesländern.
These: Je länger die Konjunkturschwäche anhält, je länger die Restrukturierung der sozialen Sicherungssysteme hinausgezögert wird, desto heftiger, d. h. für den Einzelnen nachteiliger und schwerwiegender, werden sich die meisten Teilsegmente des Wohnungsmarktes entwickeln. Dies gilt insbesondere für Teile der Bevölkerung, die nicht zur Erbengeneration gehören. Wenn nicht genügend Geld „übrig“ ist, um die altersabschnittsbedingten Wohnbedürfnisse zu befriedigen, wird es nur in relativ geringem Umfang zu einer bedarfsgerechten Umstrukturierung und Modernisierung des Wohnungsbestandes – mithin zu weniger Investitionen, zu weniger Beschäftigung etc. – kommen. In den Städten wird es aber vermutlich am ehesten möglich sein, die immer kleinteiliger ausdifferenzierte Wohnungsnachfrage junger und alter (1- und 2-Personen-) Haushalte zu decken als in den relativ einfach strukturierten Schlafsiedlungen draußen auf dem Lande. Dort tun die Zugezogenen gut daran, sich rasch in die – zum Teil schon erodierenden – Dorfstrukturen zu integrieren und in den sozialen Zusammenhalt zu investieren. Sie werden in ihrem Lebensabend darauf angewiesen sein, wenn sie keine Möglichkeit haben, weg von der Scholle zu den Kindern oder in mit sozialer Infrastruktur besser versorgte Quartiere zu ziehen.
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
EINWOHNER IM RAUM BRAUNSCHWEIG
Bevölkerungsentwicklung in den Städten und Gemeinden des Großraums Braunschweig
Daten und Veröffentlichungen über die Entwicklung in der Stadt Braunschweig stehen unter www.braunschweig.de/ stadtforschung, über die Registadtforschung on Braunschweig unter www. zgb.de zur Verfügung. Hermann Klein, Braunschweig
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Über Statistik: „Mein Chef ist stolz darauf, ohne Zahlen auszukommen.“ „Sie Armer.“
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KRITERIEN BEI DER INTERPRETATION VON RANGLISTEN
Probleme aktueller Städterankings:
Kriterien bei der Interpretation von Ranglisten Rankingflut
Neuere Ansätze
In regelmäßigen Abständen sehen sich kommunale Akteure mit den Ergebnissen von Städterankings in der Tages- und Fachpresse konfrontiert. In der Regel wird der Leser dabei hinsichtlich der Interpretation von Einzelergebnissen allein gelassen. Dabei erfordert nicht nur eine ausführliche Analyse von identifizierten Stärken und Schwächen eine umfassende Beleuchtung der methodischen Basis des Städtevergleichs. Auch eine erste Interpretation von Rangstellungen einer Stadt muss einige Aspekte bei der Erstellung von Rankings berücksichtigen. m Folgenden sollen dem Leser daher im Überblick die wichtigsten Kriterien beim direkten Blick auf das Abschneiden einer Stadt in Städterangfolgen in Erinnerung gerufen werden. Dabei wird zuerst die Interpretation eines einzelnen Rankingplatzes, anschließend die Vergleichbarkeit von Plätzen in verschiedenen Rankings sowie innerhalb eines Rankings behandelt. Daran anschließend werden kurz neuere Ansätze aufgegriffen, die auf eine Interpretation einzelner Rangpositionen verzichten und die Rankingobjekte verschiedenen Gruppen zuweisen oder dem Nutzer eine individuelle Gestaltung versprechen. Abschließend erfolgt ein Einschätzung von Stärken und Schwächen der Städterankings.
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Interpretation der Rangposition Für die Interpretation der Rangposition einer Stadt im Städteranking muss der Leser sich noch einmal die Entstehung der Rangposition vergegenwärtigen. Die in der Studie verwendeten Schritte und Indikatoren müssen quasi „rückinterpretiert“ werden. Hier ist besonders das Aggregationsverfahren zu beleuchten, in dem die Einzelleistungen bewertet und gewichtet werden. Ganz allgemein aber ist zu beachten, dass ein Rangplatz in der Regel nichts über die absolute Qualität einer Stadt aussagt, sondern lediglich darüber, wie sie im Vergleich zu anderen Städten steht. Die kommunalen Leistungsqualitäten können sowohl bei schlechter Platzierung außerordentlich gut sein, als auch bei einem vorderen Rang nur mäßig – je nach Durchschnittsniveau der betrachteten Städte. So könnte die „beste“ Stadt Hessens die erste, aber auch die fünftschlechteste in Deutschland sein. Die „schlechteste“ Stadt Deutschlands mag immer noch zum guten oder sogar höchsten Standard im europäischen Raum zählen.
Ränge in verschiedenen Rankings Selbst wenn das Ziel des Rankings zunächst das gleiche zu sein scheint, befinden sich Städte nur selten auf ähnlicher Rangposition.1 Die Ursache liegt meist in der Verwendung
unterschiedlicher Indikatoren bzw. deren unterschiedliche Verarbeitung auf dem Weg zur Rangfolge. Ein Vergleich von Rangplätzen kann daher nur bei identischer methodischer Struktur verschiedener Ranglisten vorgenommen werden. Die Vergleichbarkeit von Rankings verschiedener Institutionen ist daher sehr begrenzt. Jedes Ranking steht derzeit mehr oder weniger als Unikat neben dem anderen. Jedoch auch dann, wenn Rankings auf gleicher methodischer Basis beruhen, beispielsweise, wenn Forschungsinstitut regelmäßig Studien durchführen, kann aus einer Positionsverbesserung nicht sicher auf eine entsprechende (absolute) Leistungssteigerung geschlossen werden. Haben sich Konkurrenzstädte stärker verschlechtert als die eigene Stadt, verbirgt sich hinter einer Rangverbesserung absolut eine Leistungsverschlechterung. Ähnlich führen Fortschritte dann nicht zu einem Aufstieg in der Rangfolge, wenn nur unterdurchschnittliche Zuwächse erzielt wurden. Ein höherer Rangplatz ist daher lediglich als relative Verbesserung zu interpretieren. Entsprechend kommen Leistungssteigerungen in einzelnen Bereichen nicht durch eine Verbesserung des Ranges zum Ausdruck, wenn sich die Stadt in anderen Bereichen überdurchschnittlich verschlechtert oder nur weniger stark weiter entwickelt hat als die Konkurrenten.
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KRITERIEN BEI DER INTERPRETATION VON RANGLISTEN
Ränge innerhalb eines Rankings Innerhalb eines Rankings weist ein höherer Rang einer Stadt auf einen Leistungsvorsprung hin. Die Quantifizierung der Leistungsunterschiede gerät dabei in den Hintergrund. Damit kann eine letztplatzierte Stadt tatsächlich weit von der Leistung der Führenden entfernt sein, genauso können die Differenzen aber sehr gering ausfallen. Eine Beurteilung des Leistungsabstands kann damit nur unter Rückgriff auf das Aggregationsverfahren erfolgen. In erhöhtem Maße problematisch sind Aussagen bzgl. Städten, die in ihrer Position sehr nahe beieinander liegen, was insbesondere im Mittelfeld häufig der Fall ist. Mittlere Gesamtwerte können sich aus einer Mehrzahl im Mittelfeld liegender Einzelwerte ergeben haben, oder sich aber aus sich ausgleichenden Höchst- und Tiefstwerten zusammensetzen. Ist die Stadt nun in allen Bereichen mittelmäßig oder führen schwache Bereiche dazu, dass sich die Stärken der Stadt nicht durchsetzen konnten? Sind die Bereiche tatsächlich gleichwertig oder ihr unterschiedliches Gewicht berücksichtigt worden?2 Das Problem verschärft sich entsprechend, wenn alle Werte einer Rangliste relativ dicht beieinander liegen, wie dies beim „Städtetest Unternehmerfreundlichkeit“ (Institut für Demoskopie Allensbach 2004) der Fall ist: Zwischen Leipzig auf dem ersten Platz (Note 2,73) und Berlin auf dem letzen Platz (Note 3,19) der 25 untersuchten Städte liegt eine Notendifferenz von gerade einmal 0,46. Zwischen Wiesbaden an sechster Stelle und Duisburg auf Platz 20 reduziert sich diese sogar auf 0,15. Un-
ter Berücksichtigung inhärenter Messfehler und Streuungen sind diese Unterscheidungen kaum aussagekräftig.
Ergebnisgruppen statt -listen Aufgrund der zuletzt genannten Kritikpunkte sind die Ersteller von Ranglisten im Hochschulbereich z. T. dazu übergegangen, nicht mehr (nur) einzelne Rangpositionen auszuweisen, sondern die Objekte in Gruppen zu teilen. Dafür werden um die Mittelwerte der Hochschulen Konfidenzintervalle gelegt, die die statistische Signifikanz der Unterscheidbarkeit erkennen lassen. Als signifikant gilt ein Unterschied erst dann, wenn sich die Intervalle zweier Städte nicht überschneiden, die Mittelwerte also verschiedenen Bereichen zugeordnet werden. In eine „Spitzengruppe“ fallen dann die Objekte, deren Konfidenzintervalle vollständig unterhalb des Notendurchschnitts aller Objekte liegen, die also als signifikant überdurchschnittlich beurteilt wurden. In die „Schlussgruppe“ werden Objekte eingeordnet, deren Intervall vollständig über den Durchschnitt fällt, die also signifikant unterdurchschnittliche Bewertungen erhielten. Die dazwischen liegenden Objekte, in deren Intervall der Durchschnittswert fällt, gehören der Mittelgruppe an. Sie wurden entweder unauffällig („durchschnittlich“) oder sehr uneinheitlich beurteilt und unterscheiden sich weder vom Durchschnitt noch von der Spitzen- oder Schlussgruppe statistisch signifikant. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt damit darin, eine signifikant besser und eine signifikant schlechter als der Durchschnitt beurteilte Gruppe ausweisen zu
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können. Der Anspruch, jedem Objekt einen Rang zuzuordnen, muss dabei jedoch aufgegeben werden, so dass die Vergleichbarkeit von einzelnen Hochschulen oder Städten stark eingeschränkt wird.
Interaktive Ranglisten Eine echte Entscheidungshilfe können Rankings nur sein, wenn sie möglichst weitgehend der Entscheidungsstruktur der Zielgruppe entsprechen. Eine Möglichkeit, diesem Anspruch einen deutlichen Schritt näher zu kommen, könnten Ranglisten darstellen, die durch den Nutzer individuell erstellt werden. Stellt man einem Entscheidungsträger aussagekräftige Kriterien zur Verfügung und verzichtet auf die Bildung eines Gesamturteils, bleibt ein hohes Maß an Objektivität erhalten. In diesem Fall werden das Problem der Auswahl der für den Nutzer wichtigen Kriterien vor allem aber das Problem der Gewichtung explizit auf den Entscheidungsträger übertragen. Eine ideale Plattform für eine solche zielgruppenspezifische Abfrage bilden elektronische Datenträger und gegebenenfalls eine Abfragemöglichkeit via Internet.
Ranking als Entscheidungshilfe
Das Gewichtungsproblem auf den Entscheidungsträger übertragen
Den Versuch einer solchen Anwendung erstellte das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Auf seiner Homepage3 stellt das CHE die Daten der im SPIEGEL veröffentlichten Hochschulrankings für eine nutzerspezifische Abfrage zur Verfügung. Leider sind die Abfragemöglichkeiten noch sehr reduziert und die methodischen Ansätze stark vereinfacht. Dennoch ist damit der erste Schritt zu interaktiven Rankings getan. Für weitere interaktive Dienste ist dabei zu 21
KRITERIEN BEI DER INTERPRETATION VON RANGLISTEN
Interaktive Rankings
Öffentliche Wahrnehmung
beachten, dass eine reine Bereitstellung von Kriterien durch einen Indikatorenpool im Sinne eines entscheidungsunterstützenden Informationsinstruments nicht genügt. Vielmehr müssen Anbieter dem Nutzer zahlreiche Erläuterungen und Hilfestellungen zur Verfügung stellen, die den Anwender durch die verschiedenen Erstellungsschritte und Entscheidungskriterien führen.
Wirkung und Leistungsfähigkeit Ranglisten kommen dem Wunsch entgegen, Vergleiche relativ einfach und überschaubar darzustellen. Entsprechend wird damit ein breites Publikum erreicht und eine große öffentliche Wirkung erzielt. Die Einrichtung des Binnenmarkts innerhalb der Europäischen Union und die damit gesteigerte Wahlmöglichkeit für Unternehmen und Bevölkerung könnte zu einem zunehmenden Informationsbedarf und in der Folge zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit von Städtevergleichen führen.
Rankings, ein nützliches aber erklärungsbedürftiges Instrument
Auf alle Fälle erzeugen Städteranglisten einen gewissen Rechtfertigungsdruck oder erfordern aufgrund ihrer Präsenz zumindest einen souveränen Umgang mit den Ergebnissen einer Untersuchung. Eine strikte Missachtung unter Verweis auf die bestehenden fachlichen Mängel erscheint bei gegebener Öffentlichkeitswirkung daher als bedenkliche Strategie. Die breite Diskussion des Rankings als Evaluationsinstrument für Hochschulen hat darüber hinaus gezeigt, dass Rankings in hohem Maße die öffentliche Diskussion und politische Handlungen mitbestimmen können. Städterankings
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könnten einen entsprechend forcierten Diskussionsprozess um kommunale Leistung in Gang setzen, innerhalb dessen insbesondere auch Veränderungsprozesse nach außen kommuniziert werden können. In der öffentlichen Wahrnehmung liegt die Stärke, aber auch die Gefahr von Städterangfolgen. Für Entscheidungen über Unternehmens-, Arbeitsund Wohnstandort sind Nachfrager städtischer Leistung auf Informationen angewiesen, welche Städte in Hinblick auf ihre Standortqualität bewerten. Andererseits benötigen die Städte als Leistungsanbieter Beurteilungen, um das Leistungsangebot besser auf die Anforderungen der Nachfrageseite abstimmen zu können. Städterankings stellen hierfür ein geeignetes Informationsinstrument dar. Wo absolute Maßstäbe fehlen, schaffen Rankings einen relativen Leistungsvergleich, bei dem die Städte selbst Maßstab ihrer Leistung sind. Städterangfolgen identifizieren also Leistungsdifferenzen mehr als diese zu quantifizieren. Damit kann ein Ranking wichtige Anhaltspunkte für eine Schwachstellenanalyse liefern. Im Falle von Befragungsdaten kann ein schlechtes Abschneiden einer Stadt auf einen mangelnden Imagetransfer in die eigene Wirtschaft hinweisen. Ein in einem Ranking erarbeiteter Gesamtindex ist jedoch nicht in der Lage, Städte hinsichtlich der zum Ziel gesetzten Thematik vollständig zu erfassen. Das methodische Konzept eines Gesamtindex ist besonders dann bedenklich, wenn Ergebnisse aus unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen gemischt werden. Insbesondere die sehr breit gefassten Ran-
kings der Publikumsmagazine eignen sich insofern kaum als Entscheidungsbasis für Unternehmer, Wirtschaftsförderung oder städtische Verwaltung. Städterankings sollten sich daher auf einzelne Bereiche spezifizieren, um dort die als besonders signifikant geltenden und den Sachverhalt am besten repräsentierenden Indikatoren zu verwenden und zu verarbeiten. Durch eine Bereitstellung von praktikabel gestalteten interaktiven Rankingverfahren lassen sich zudem hinreichend differenzierte Ranglisten realisieren. Zuletzt zeigen erst regelmäßig durchgeführte Städterankings Qualitätsänderungen auf und motivieren zu Leistungsverbesserung und deren Kommunikation.
Fazit Unter Berücksichtigung der methodischen Grenzen können sich Städterankings durchaus als nützliches Informationsinstrument erweisen, das jedoch immer stark erklärungsbedürftig sein wird, um eine fehlerhafte Interpretation zu vermeiden. Wichtig ist dabei auch ein verstärktes Engagement der Städte in ihrer Informationsund Kommunikationspolitik. Die Städte sollten selbst alle Anstrengung unternehmen, privaten Haushalten und Unternehmern durch ein aussagekräftiges Informationsangebot einen fundierten Vergleich zu ermöglichen. Solange es den Städten nicht gelingt, dem wachsenden Informationsbedarf von Investoren und privaten Haushalten eine befriedigende vergleichende Berichterstattung entgegenzustellen und diese „Kunden“ nicht adäquat mit entscheidungsunterstützender Information versorgen, werden sie sich durch
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FITTE OLDIES medienwirksame und unter Umständen nur bedingt aussagekräftige Städterankings zu rechtfertigen haben. Rainer Gallus, Köln
Anmerkungen 1)
Vgl. z. B. M. Schönert, der das Abschneiden der 20 größten deutschen Städte in zehn Städterankings (unterschiedlicher Zielrichtung) verschiedener Nachrichten- und Wirtschaftsmagazine zwischen 1994 und 2003 untersuchte. So befinden sich Düsseldorf, Bielefeld und Bremen je nach Ranking an vorderster Stelle auf
2)
Platz 1 als auch auf dem letzten Platz 20. Selbst bei Nürnberg, das die geringste Differenz mit Plätzen zwischen 4 und 12 aufweist, kann nicht von einer homogenen Einordnung gesprochen werden. (M. Schönert (2003): Städteranking und Imagebildung. BAW Monatsbericht, Heft 2.) Z. B. weisen in einem Vergleich von empirica Delasasse im Mittelfeld der Subdimension „Wachstumsdynamik“ die Städte Wiesbaden (Rang 42), Saarbrücken (Rang 44) und Bielefeld (Rang 46) in den determinierenden Indikatoren die unterschiedlichsten Plätze auf: Für das Wachstum des Bruttosozialprodukts und dessen Wachs-
3)
tumsprognose erzielt Wiesbaden die Ränge 80 bzw. 12, Saarbrücken 17 bzw. 76 und Bielefeld 43 bzw. 52 (empirica Delasasse (1999): Städtetest Unternehmensgründer. Eigenvertrieb.). http://www.che.de
Freitag, 13. Juni, Oberhausen
Fitte Oldies Mick Jagger schreit „No Satisfaction“, brüllt „Start Me Up“, lebt uns seinen „19th Nervous Breakdown“ vor und stampft bei „Jumping Jack Flash“ über die gesamte Bühne. Der hat die 60 lange überschritten, mehr erlebt als viele Hundertjährige, denkt aber nicht daran, ruhig zu werden. Die Zuschauer stehen dem Faltenwunder in nichts nach: Über 60 und putzmunter. „The Last Time“ bringt die Senioren-Riege nicht ins Endzeit-Grübeln und auch „It‘s All Over Now“ birgt keine Schrecken. Unermüdlich rocken sie wie die jungen Wilden und sicher müssen einige ihren Herzschrittmacher auf volle Leistung stellen. Ein Blick in ihre Gesichter bei
„Honky Tonk Woman“ informiert, dass SE vielleicht ihre Autos ziert, hier aber „Senioren-Ekstase“ bedeutet. „Under My Thumb“ sorgt für weiteren, frenetischen Wirbel, „Don‘t Stop“ nehmen sie wörtlich und „Ruby Tuesday“ lässt goldene Feuerzeuge leuchten. Journalisten haben nachher geschrieben, diese Veranstaltung sei ein schlagender Beweis für die Fitness der Senioren. Doch Statistiker wissen: Man kann mit einer Stichprobe – und mehr ist ein Rolling Stones Konzert nicht – sehr wohl Informationen erhalten, doch es muss eine repräsentative Stichprobe sein. Eine Sache für Zahlen-Fachleute – nichts für Journalisten. Und das müssen
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die Journalisten wissen, müssen wir ihnen klar machen, immer und immer wieder. P.S. Sie fragen, warum diese Zeilen jetzt erscheinen, denn das Stones-Konzert war bekanntlich 2003? Der Text ist einfach in den Weiten meines PC verloren gegangen und erst kürzlich wieder aufgetaucht. Doch mit folgendem Strukturvergleich kann ich ihm leicht Aktualität einhauchen: Für Mick Jaggers Publikum gilt schlagwortartig: Alte Raucher. Für die Besucher des diesjährigen Kirchentags in Hannover dagegen: Junge Nichtraucher. Martin Schlegel, Hagen
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RANKOMANIE IN DEUTSCHLAND?
Stellen Rankings die Wirklichkeit auf den Kopf?
Rankomanie in Deutschland? Der Erstabdruck dieses Beitrags erfolgte in RegioVision Newsletter 3/2004 der NORD/LB Regionalwirtschaft
Hilfreich für die Regionalpolitik
Verzerrung durch Ausreißer
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Sie heißen „Zukunftsatlas“, „Deutschland 2020 – Kreise und Städte im Test“, Landkreisranking oder Regionalmonitor und befassen sich mit dem Vergleich des Status Quo oder der Zukunftsperspektiven von Bundesländern und Regionen. Gemeint sind Rankings, in denen anhand von ausgewählten Indikatoren Rangfolgen gebildet werden, die erfolgreiche bis weniger erfolgreiche Regionen ordnen. Verlierer und Gewinner der wirtschaftlichen Entwicklung, des demografischen Wandels oder der zukünftigen Wirtschaftsentwicklung werden scheinbar sichtbar und vergleichbar gemacht. Rankings basieren auf ausgewählten Indikatoren, anhand derer in der Regel unterschiedliche Themenfelder bewertet werden. Die Ergebnisse der einzelnen Felder, wie bspw. Innovation, Arbeitsmarkt oder Wirtschaftskraft, bilden dann einen Gesamtindikator, der die Rangfolge bestimmt. Im kürzlich erschienen Zukunftsatlas von Prognos und Handelsblatt werden die deutschen kreisfreien Städte und Landkreise nach ihren Zukunftschancen auf der Basis eines Indikatorensystems sortiert, das aus 29 Einzelindikatoren zu den Themen Demografie, Arbeitsmarkt, Wettbewerb & Innovation sowie Wohlstand und soziale Lage besteht. Das GEO-Ranking Deutschland 2020 basiert auf 22 Einzelindikatoren, die u.a. zu den Themen Demografie, Ausländerintegration, Bildung und Familienfreundlichkeit zusammengefasst werden. Bei jedem Ranking hängt das Ergebnis maßgeblich von der Auswahl und der Gewichtung
der Indikatoren sowie von der Lage und Dauer der Beobachtungszeiträume ab. Dies belegen beispielhaft die unterschiedlichen Ergebnisse des Zukunftsatlasses von Prognos, des GEO-Rankings Deutschland 2020 und eines Regionenrankings von Fokus Money: Während innerhalb Mecklenburg-Vorpommerns die Stadt Wismar bei Prognos am Besten abschneidet, liegt sie im GEO-Ranking auf dem letzten Rang. Die Stadt Dessau belegt im Ranking von Fokus Money Platz 418 unter allen kreisfreien Städten und Landkreisen, während sie im Prognos-Ranking auf Rang 317 steht. Der niedersächsische Landkreis Harburg, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Metropole Hamburg, muss sich unter den niedersächsischen Regionen bei Prognos mit Rang 15 zufrieden geben, während er im GEO-Ranking Platz 3 belegt. Zudem birgt die reine Orientierung auf Indikatoren die Gefahr, dass statistische Ausreißer – die gerade auf kleinräumlicher Ebene aufgrund von Sonderentwicklung häufiger vorkommen – das Ranking verzerren. Das gute Abschneidern des niedersächsischen Landkreises Helmstedt im Zukunftsatlas dürfte auf einen deutlichen Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1999 gegenüber dem Vorjahr zurückzuführen sein. Das hohe Wirtschaftswachstum resultiert aus der Fusion von örtlichen Energiebetrieben, die in der Avacon AG mit Hauptsitz Helmstedt aufgegangen sind. Entsprechend geht in die Berechnung der Wirtschaftsleis-
tung für den Landkreis das neue Unternehmen ein, ohne dass es faktisch zu höheren Wertschöpfungsbeiträgen im Landkreis gekommen ist. Von diesem Hintergrund können Rankings zum Vergleich mit anderen Standorten zwar hilfreich für die Regionalpolitik sein. Sie geben aber nur Hinweise auf bestehende Strukturen und zukünftige Entwicklungstendenzen und müssen im Einzelfall hinterfragt und mit Vorsicht betrachtet werden. Rankings stellen die Wirklichkeit besonders dann auf den Kopf, wenn sie allzu leichtfertig ohne eine Überprüfung der Ergebnisse mit Hilfe weitergehender regionalökonomischer Kenntnisse angefertigt und verbreitet werden. Sie erregen dann kurzfristig die Gemüter, werden aber nicht ernst genommen und nur bei positivem Ergebnis für die Imagewerbung eingesetzt. Ein solider Vergleich der Standortbedingungen, Stärken und Schwächen von Regionen dagegen kann Ansatzpunkte für eine weitergehende Überprüfung der eigenen Situation bieten und die Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten unterstützen.
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WANDEL IM WAHLINTERESSE
Wahlergebnis und Wahlverfahren
Wandel im Wahlinteresse Sehr zum Leidwesen zahlreicher Kollegen hat sich in der Vergangenheit die Öffentlichkeit nur selten um Fragen und Probleme des Wahlrechtsverfahrens und -systems gekümmert. Allgemeine Darstellungen in den Medien über den Stand der Vorbereitungen, über die Zahl vermutlicher Briefwähler und über Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Wahlhelfern standen im Vordergrund. Zum Beispiel waren die Unterschiede und Auswirkungen von d´Hondt und Hare-Niemeyer oder Wahlbezirksänderungen nicht medienwirksam und somit nicht von breitem Interesse. Immer standen nur die Ergebnisse von Wahlen, Erkenntnisse der Wahlforschung und Reaktionen der Politiker und politischen Parteien darauf im Zentrum der Berichterstattung. Aber seit einigen Monaten finden sich in den Zeitungen wie im Rundfunk und Fernsehen vermehrt Berichte über die Organisation von Wahlen. So ist die deutsche Öffentlichkeit im Vorfeld der amerikanischen Präsidentschaftswahlen umfassend informiert worden über die in den einzelnen Bundesstaaten unterschiedlichen Wahlmethoden. Wissenschaftler des MIT bezeichneten richtigerweise das amerikanische Wahlsystem als „a crazy quilt of voting systems“. Und wir haben vom Friedensnobelpreisträger Jimmy Carter gelernt, dessen „Carter-Center“ überall in der Welt Wahlen überwacht, „dass in Florida einige internationale Grundanforderungen für faire Wahlen fehlen.“ Es fehle sowohl an unparteiischen Wahlbeamten
wie auch an einem einheitlichen Wahlverfahren. Und allgemein wurde von Fachleuten kritisiert, dass Verantwortliche in Florida vier Jahre nach dem Debakel vom Jahr 2000 behaupteten, nicht genügende Zeit gehabt zu haben, um das System grundlegend zu reformieren. So war in der FT zu lesen: „In 2002, Congress passed the Help America Vote Act (Hava) to repair the election system, but the federal government weas slow to release funds to the states to pay for new voting technology and many of the law´s reform mandates will not take effect until 2006. As a result, the US still lacks a standard method for casting and recording ballots. Nor are there standardised rules for determinig who can vote, or even where they may vote.” Das ist die erschreckende Situation in dem Land, das weltweit für Demokratie und Freiheit „kämpft“. Unser Interesse an diesen Wahlumständen war zeitweise stärker als das spätere Wahlergebnis. Über die ersten demokratischen Wahlen in Afghanistan wurde ausführlich berichtet. Millionen von Flüchtlingen in Pakistan und Iran durften wählen und sehr viele haben von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. In Pakistan mussten sich die Wähler innerhalb von vier Tagen registrieren lassen – 750 000, darunter überraschend und sehr erfreulich 28 % Frauen, haben dies trotz heftiger Propaganda und einiger Attacken von Seiten der Taliban getan. Die International Organisation for Migration (IOM) hat diese Registrie-
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rung erfolgreich durchgeführt. Mehr als 400 000 afghanische Flüchtlinge haben im Iran gewählt. Und innerhalb Afghanistan haben sich trotz der Sabotageversuche der Taliban 10.6 Mill. Wähler, darunter 41% Frauen, registrieren lassen. Was für eine Leistung der Wahlorganisation unter solchen Umständen! Weltweite Anerkennung dieser unter der Führung des United Nations High Commissioner for Refugees geschulten Wahlhelfer. Zusätzlich waren viele unabhängige Wahlbeobachter eingesetzt, überwiegend von afghanischen NGOs, deren Zahl deutlich höher war als die der westlichen Wahlbeobachter, vor allem von EU und OSZE. Beide hatten übrigens mit Verweis auf die fehlende Sicherheit auf eine offizielle Beobachterdelegation verzichtet … Der Verlauf der Wahlen hat dieses Argument widerlegt! Das Interesse der weltweiten Öffentlichkeit an der reibungslosen Durchführung und an der Wahlbeteiligung war erheblich größer als das eigentliche Wahlergebnis. Ähnlich hoch war auch die öffentliche Aufmerksamkeit bei der Vorbereitung der Wahlen im Irak. Wie sicher und frei konnte die Durchführung organisiert werden? Zusammen mit UN-Chefberater Carlos Valenzuela haben 220 Menschen in Dreierreihen, jeder vor einem PC, im Kontrollzentrum für irakische Wahlen gearbeitet. Dort hatte eine südafrikanische Sicherheitsfirma alle nur erdenklichen Hürden aufgebaut: doppelte und dreifache Sicherheitschecks, Leibesvisitationen,
Geringes Interesse am Wahlverfahren
Wahlen im Irak,
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... in Indien
... und in den GUS-Staaten
Röntgengeräte, Infrarot-Detektoren … Alle Ergebnisse wurden dreifach überprüft. 199 offizielle internationale Wahlbeobachter haben die Wahl kontrolliert, im Kontrollzentrum durften sie jeweils nur eine halbe Stunde anwesend sein – Störungen sollten vermieden werden. Alle aber waren sich darin einig, dass die Wahlkommission um höchste Transparenz bemüht war. Diese und ähnliche Meldungen über die Wahlvorbereitung und die Wahlbeteiligung gingen um die Welt – wer kennt noch das Wahlergebnis? Über Wahlen in der Ukraine und anderen GUS-Staaten wird bei uns vermehrt unter dem Aspekt einer fairen, gerechten, reibungslosen, freiheitlichen Wahldurchführung berichtet – das Wahlergebnis ist manchmal schon zweitrangig geworden. Plötzlich gewinnt der SSW als Minderheitenpartei in Schleswig-Holstein ohne 5%Klausel die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Deutschland genauso wie damals, als in der Freien Hansestadt Bremen die DVU in den Landtag kam, obwohl sie die 5%-Hürde im Land nicht aber allein in der Stadt Bremerhaven überwunden hatte. Besonderheiten unseres Wahlsystems und -rechts werden aktuell öffentlich dis-
kutiert – vor Jahren noch unvorstellbar! Eine außergewöhnliche Berichterstattung über die Wahlvorbereitung in der größten Demokratie der Welt, in Indien hat die Zeitung Gulf Today am 26.09.2004 mit Bezug auf Indo-Asian News Service über die am 7. Oktober stattgefundenen Wahlen im Bundesstaat Arunchal Pradesh geliefert: A resident of Dharampur village, 14 kilometres from this small township of Miao in Changlang disitrict, 640 kilometres east of Arunchal Pradesh capital Itanagar, Chakma is today a much sought after voter. “Despite the polling station having just a single voter, we are working overtime. We are sending a team of 14 polling personal, including security guards, one day ahead of the elections,” RK Sharma, additional district magistrate of Changlang, said. “Even if she casts her vote when polling opens at 7 am, our election team will stay put until 4 pm when voting officially ends. This is for technical reasons.” The poll officials have ti undertake an ardous six-hour foot march through dense jungles to reach Dharampur from Miao. “This is democracy and we need to ensure that our officials are present for even
one voter,” Sharma said. In a village of about 150 families Chakma is the only one to be enrolled in the voters´ list. “A number of people applied for voting rights from Dharampur, but after scrutiny only Manjulikha was found eligible,” said Changlang district magistrate Talim Tapok. Manjulikha was born in Dharampur, but her parents were from Bangladesh. Her father Nagendralal, along with thousands of tribal Buddhist Chakma refugees, have been staying in Arunchal Pradesh since 1964 as stateless citizens after they left their native Chittagong Hill Tracts in Bangladesh. Jedem Wahlberechtigten die Ausübung seines Wahlrechtes ermöglichen, das ist eigentlich selbstverständlich. Das wachsende öffentliche Interesse an der praktischen Durchführung von Wahlen wird ihre Transparenz erhöhen, erfordert aber auch eine fehlerfreie Arbeit der beteiligten Organisatoren. Die eigentliche Wahldurchführung durch die Kollegen wird genauso wichtig für die Öffentlichkeit wie das Wahlergebnis und die Wahlanalysen. Volker Hannemann, Weyhe
Über Statistik: Statistiker gewinnen nie im Lotto. Die spielen dort nicht.
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DER UNBEKANNTE UNGÜLTIGWÄHLER: PROTEST ODER UNVERMÖGEN?
Untersuchung ungültiger Stimmzettel bei der Europawahl 2004
Der unbekannte Ungültigwähler: Protest oder Unvermögen? Die Wahlbeteiligung hat bei der letzten Europawahl im Juni 2004 mit 43,0 % in Deutschland einen historischen Tiefpunkt erreicht. Bei keiner bundesweiten Wahl vorher haben so wenige Wahlberechtigte von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Gleichzeitig war der Anteil ungültiger Stimmen mit 2,8 %, auf dem höchsten Stand bei einer bundesweiten Wahl nach der Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990. Über 700 000 Wähler haben eine ungültige Stimme abgegeben, das sind mehr Stimmen als die größte Partei, die an der 5-%-Hürde gescheitert ist, Stimmen auf sich vereinigen konnte (die Partei DIE REPUBLIKANER errangen 1,9 %). Bezogen auf die Wahlberechtigten ist der Anteil ungültiger Stimmen in Deutschland mit 1,2 % allerdings nach wie vor relativ niedrig. In Luxemburg, wo Wahlpflicht gilt, gaben 7,4 % der Wahlberechtigten bei der Europawahl 2004 eine ungültige Stimme ab. Über die Sozialstruktur und die Motive der Nichtwähler gibt es zahlreiche Untersuchungen, wobei die Daten in der Regel auf Befragungen basieren. Bisher kaum untersucht wurde dagegen das Ungültigwählen. Dabei lässt sich dies direkter untersuchen, da diese Wähler ihren Stimmzettel hinterlassen und damit ein Dokument, das weitere nachträgliche Auswertungen ermöglicht. Zudem gibt es in den rund 5% der Wahlbezirke, die in die repräsentative Wahlstatistik einbezogen
sind, Informationen über Alter und Geschlecht auch dieser Ungültigwähler [2]. In einer der wenigen Untersuchungen zu diesem Thema hat Ralf-Rainer Lavies [1] für die Bundestagswahl 1965 und die hessische Landtagswahl 1966 festgestellt, dass vermutlich zwischen 75% und 84% der Wähler ihr Stimmzettel absichtlich ungültig gemacht haben. In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen wie hoch dieser Anteil der nicht absichtlich ungültig Wählenden knapp 30 Jahre später, bei der Europawahl 2004, in Berlin war. Dazu wird zunächst dargestellt, wie sich der Anteil ungültiger Stimmen bundesweit verteilt und welche Zusammenhänge mit soziodemografischen Merkmalen erkennbar sind. Daran schließt eine Auswertung der ungültigen Stimmen an, die in ausgewählten Berliner Wahlbezirken abgegeben wurden.
Kriterien für die Ungültigkeit Der Wahlvorstand entscheidet im Wahllokal nach Ende der Wahlzeit über die Gültigkeit der Stimmzettel anhand gesetzlich festgelegter Kriterien (§ 4 Europawahlgesetz in Verbindung mit § 39 Bundeswahlgesetz). Stimmzettel sind danach ungültig, wenn sie mindestens eines der folgenden sechs Kriterien erfüllen: a) sie nicht als amtlich hergestellt erkennbar oder nicht für das Land bestimmt sind, b) sie zerrissen oder stark be-
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schädigt sind, c) sie keine Kennzeichnung enthalten (leere Stimmzettel), d) aus ihrem Inhalt die Wahlabsicht nicht zweifelsfrei hervorgeht, e) mehr als ein Wahlvorschlag gekennzeichnet ist f) sie einen Zusatz oder Vorbehalt enthalten.
Rekord bei den ungültigen Stimmen
Außer dem Wahlvorstand, der im Wahllokal anwesenden Öffentlichkeit und den Gemeindebehörden die nach der Wahl zur Feststellung des endgültigen Ergebnisse einzelne Wahlbezirke kontrollieren, bekommt niemand die Stimmzettel zu sehen. Nach Abschluss der Wahlprüfung werden die Stimmzettel vernichtet. Die Art der Ungültigkeit wird nur im Rahmen der repräsentativen Wahlstatistik, die auf 5 % der Wahlbezirke beschränkt ist, erfasst und veröffentlicht. Drei Arten werden dabei unterschieden: Stimmzettel ist leer oder durchgestrichen, Stimmzettel enthält mehrere Kreuze und sonstige Ursachen.
Gründe für ungültige Stimmen Es lassen sich generell drei Gründe für die Ungültigkeit unterscheiden: Desinteresse, Protest und Unvermögen. Desinteresse kommt vermutlich vor allem dann als Grund zum Tragen, wenn Wahlpflicht besteht oder wenn zeitgleich eine andere Wahl stattfindet, an der sich die Wähler beteiligen wollen. Jemand der kein
Desinteresse, Protest, Unvermögen
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DER UNBEKANNTE UNGÜLTIGWÄHLER: PROTEST ODER UNVERMÖGEN? Interesse an der Wahl hat, wird sich ansonsten wohl nicht die Mühe machen, am Wahltag ins Wahllokal zu gehen oder per Brief zu wählen. Es ist zu vermuten, dass bei Desinteresse einfach ein leerer Stimmzettel abgegeben wird. Protest ist zumindest dann zweifelsfrei festzustellen, Tab. 1: Wahlbeteiligung und ungültige Stimmen
wenn dies explizit durch Bemerkungen auf dem Stimmzettel geäußert wird. Schwieriger ist es herauszufinden, ob ein Stimmzettel unabsichtlich, also aus Unvermögen, ungültig gemacht wurde. Das Wahlverfahren bei der Europawahl ist sehr einfach, so dass diese Fälle kaum vorkommen dürften. Eine Studie über das sehr viel kompliziertere Wahlverfahren in Australien [4] kommt zu dem Ergebnis, dass vor allem Ältere und Einwanderer, die weder das Wahlverfahren kennen, noch die Landessprache ausreichend beherrschen, eine ungültige Stimme abgeben. Für die Mandatsverteilung macht es aber keinen Unterschied, ob eine Stimme gar nicht oder ungültig abgegeben wurde. Entsprechend dem Kommentar zum Bundeswahlgesetz sind ungültige Stimmen rechtlich „nicht existent; sie entfalten keine Wirkung“ (Schreiber: 2002: 542) [3].
Mit und ohne ropawahl
Tab. 2: Ungültige Stimmen und Art der Ungültigkeit
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Eu-
Am 13. Juni 2004 fanden in sieben Bundesländern zeitgleich mit der Europawahl Kommunal- oder Landtagswahlen statt. Es ist zu erwarten, dass hier auch Desinteresse als Grund für die Abgabe eines ungültige Stimmzettels eine Rolle spielt. Die Wahlbeteiligung und auch der Anteil ungültiger Stimmen bei der Europawahl war in allen diesen sieben Ländern höher als in den Ländern, in denen keine weitere Wahl stattfand. Dies deutet daraufhin, dass Wahlberechtigte gezielt zu der zeitgleich stattfindenden Landtags- oder Kommunalwahl gegangen sind und bewusst keine gültige Stimme bei der Europawahl abgege-
ben haben. Diese Vermutung wird zusätzlich gestützt durch das Verhalten der Wähler in Baden-Württemberg: Hier lag der Anteil der ungültigen Stimmen bei der Europawahl 1999 als zeitgleich keine Wahl durchgeführt wurde mit 0,9 % bundesweit unter dem Durchschnitt. Dieser Anteil hat sich dann 2004, als zusätzlich Kommunalwahlen abgehalten wurden, vervierfacht auf 3,7 %. Gleichzeitig ist die Wahlbeteiligung um 12,5 Prozentpunkte gestiegen auf 53,1 %. In den Ländern mit weiterer Wahl am 13. Juni 2004 lag die Wahlbeteiligung bei 51,2 % und damit über 12 Prozentpunkte über den restlichen Bundesländern. Würden zeitgleich keine weiteren Wahlen abgehalten, läge die Wahlbeteiligung wahrscheinlich unter 40% (siehe Tab. 1). In den Bundesländern mit weiterer Wahl lagen die ungültigen Stimme mit 4,5 % mehr als doppelt so hoch wie in den restlichen Ländern. Es lässt sich vermuten dass ein Großteil dieser Differenz von 2,8 Prozentpunkten auf Desinteresse an der Europawahl zurückzuführen ist. Ein Teil dieser ungültigen Stimmen ist möglicherweise auch auf fehlerhaftes Verhalten zurückzuführen. Dies ist dann wahrscheinlich, wenn das Wahlverfahren bei den beiden Wahlen unterschiedlich war. Einige kommunale Wahlverfahren sind sehr viel komplexer (es sind zum Teil mehrere Stimmen zu vergeben und sie können kumuliert und panaschiert werden) als das Wahlverfahren bei EU-Wahlen. Auch die australische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil ungültiger Stimmen steigt, wenn zeitgleich zwei Wahlen mit
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DER UNBEKANNTE UNGÜLTIGWÄHLER: PROTEST ODER UNVERMÖGEN? unterschiedlichen Verfahren stattfinden [4]. Wären bundesweit allein die EU-Parlamentarier zu wählen gewesen, hätte der Anteil ungültiger Stimmen vermutlich unter 2 % gelegen. Um absichtlich ungültig zu wählen, würde die Abgabe eines leeren Stimmzettels völlig ausreichen, zumal außer dem Wahlvorstand in der Regel niemand die Stimmzettel zu Gesicht bekommt. Wie aus der Tabelle 2 zu entnehmen ist, haben aber nur 68,7 % einen leeren oder durchgestrichenen Stimmzettel abgegeben (die Zahl der völlig leeren Stimmzettel lässt sich leider nicht aufschlüsseln). Jemand, der aus Desinteresse keine gültige Stimme abgibt, wird sich sicherlich nicht die Mühe machen, mehrere Parteien anzukreuzen oder Texte auf den Stimmzettel zu schreiben. Er wird den Stimmzettel leer lassen oder den Stimmzettel einfach durchstreichen. In allen Ländern, in denen zeitgleich weitere Wahlen am 13. Juni 2004 stattfanden, lag der Anteil der leeren oder durchgestrichenen Stimmzettel höher, als in den übrigen Ländern. Am höchsten war dieser Anteil mit 79,5 % in Baden Württemberg. Dieser höhere Anteil leerer oder durchgestrichener Stimmzettel stützt die These, dass in diesen „Doppelwahl“-Ländern zahlreiche Wähler aus Desinteresse eine ungültige Stimme abgaben.
Ungültige Stimmen und Alter Wie die Auswertung der ungültigen Stimmen nach dem Alter und dem Geschlecht der Wähler zeigt, steigt bundesweit der Anteil der ungültigen Stimmen fast stetig mit dem Alter der Wähler und ist in der Alters-
gruppe der ältesten Wähler mit 3,4 % am höchsten. Lediglich in der zweitjüngsten Altergruppe ist der Anteil der Ungültigwähler etwas niedriger (1,8 %) als in der Altersgruppe der jüngsten Wähler (1,9 %) . Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind kaum erkennbar: Der Anteil der ungültigen Stimmen ist in den beiden „ältesten“ Gruppen bei den Frauen geringfügig höher als bei den Männern. In Bundesländern, in denen zeitgleich eine weitere Wahl stattfand, ist der Unterschied bei den ungültigen Stimmen zwischen den ältesten und den jüngsten Wählern wesentlich größer als in den restlichen Bundesländern.
Ungültige Stimmen und Geschlecht Im folgenden wird die statistische Auswertung der ungültigen Stimmen in Berlin vorgestellt. Die Grundlage bilden ungültige Stimmzettel in den Wahlbezirken Berlins, die Teil der repräsentativen Wahlstatistik waren und mit dem Geschlecht und der Altersgruppe des Wählers gekennzeichnet sind. In Berlin lag die Wahlbeteiligung bei 38,6 % und der Anteil ungültiger Stimmen an den abgegebenen Stimmen bei 2,2 %. Nach der Wahl hat das Statistische Landesamt Berlin die ungültigen Stimmzettel aus allen Wahlbezirken, die Teil der repräsentativen Wahlstatistik waren, ausgewertet – insgesamt 1 128 ungültige Stimmzettel. In Berlin sind es, ganz anders als bundesweit, die jüngsten Wähler, die den höchsten Anteil ungültiger Stimmen aufweisen. Allerdings zeigt die Unterteilung nach Geschlechtern, dass dies allein von den jungen Frauen verur-
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Tab. 3: Ungültige Stimmen 2004 nach Alter und Geschlecht der Wähler
Tab. 4: Ungültige Stimmen 2004 und 1999 nach Alter und Geschlecht der Wähler
sacht ist (3,7 %). Die Wähler im Alter von 60 und mehr Jahren weisen demgegenüber den niedrigsten Anteil ungültiger Stimmen auf. Ein Vergleich mit der Vorwahl zeigt, dass dieses Phänomen in Berlin nicht neu ist. Auch 1999 waren es in Berlin die jungen Frauen, die den höchsten Anteil an ungültigen Stimmen aufwiesen. Auch damals wählten die jungen Männer am wenigsten ungültig. Ursächlich könnte sein, dass die jungen Männer ihren Protest durch die Wahl rechter Parteien ausdrücken und junge Frauen statt dessen ungültig wählen. Die Parteien NPD und REP errangen bei den Männern im Alter von 18 bis unter 25 Jahren in Berlin 5,4 % und bei den Frauen rund 2,4 % [2].
Wenige Senioren stimmen ungültig
Protestieren junge Wähler anders?
99 % zweifelsfrei ungültig Von 1 128 untersuchten Stimmzetteln gab es nur sieben, die aufgrund einer unklaren Kennzeichnung für ungültig erklärt worden waren. Drei Stimm29
DER UNBEKANNTE UNGÜLTIGWÄHLER: PROTEST ODER UNVERMÖGEN? zettel davon enthielten statt Kreuze unklare Markierungen – vier Stimmzettel waren zwar klar angekreuzt, aber mit einer widersprüchlichen Bemerkung oder Kennzeichnung versehen. Alle anderen waren zweifelsfrei ungültig, entweder weil keine oder mehrere Wahlvorschläge angekreuzt waren Tab. 5: Europawahl 2004 in Berlin: In repräsentativen Wahlbezirken abgegebene ungültige Stimmen nach Art der Ungültigkeit
oder die Absicht ungültig zu wählen, durch Bemerkungen, Zeichnungen oder Durchstreichungen eindeutig zu erkennen war. Von den sechs im Gesetz genannten Kriterien kamen die ersten beiden (a nicht als amtlich hergestellt erkennbar oder nicht für das Land bestimmt und b zerrissen oder stark beschädigt) gar nicht vor. Für die weitere Auswertung werden für ungültig erklärte Stimmzettel aufgeschlüsselt nach weiteren Merkmalen des Wählers und danach ob die Stimme im Wahllokal oder brieflich abgegeben wurde. Ungültigkeitsarten, die ähnlich sind, wurden zusammengefasst, da die Fallzahl sonst zu klein geworden wäre.
Fehlende Kennzeichnung Tab. 6: Europawahl 2004 in Berlin: In repräsentativen Wahlbezirken abgegebene ungültige Stimmen: 6a: nach Art der Ungültigkeit und weiteren Merkmalen
6b: nach Art der Ungültigkeit und Alter des Wählers
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Unter 10 % der ungültigen Stimmzettel waren vollständig leer. Unterschiede zwischen Frauen und Männern und danach ob im Wahllokal oder brieflich gewählt wurde, sind nicht erkennbar. Ebenfalls scheint es kaum eine Rolle zu spielen, ob die ungültige Stimme im Ostteil oder im Westteil Berlins abgegeben wurde. Eine Aufschlüsselung nach dem Alter zeigt, dass die Wähler im Alter zwischen 25 und 34 am wenigsten dazu neigen, ihren Stimmzettel durch leer lassen, ungültig zu machen. Die Abgabe eines leeren Stimmzettel könnte auf Desinteresse hindeuten. Da sich die Wähler aber die Mühe gemacht haben, ins Wahllokal zu gehen, oder per Brief zu wählen, spricht einiges dafür, dass es sich um Protest handelt. Unvermögen kann wohl fast vollständig ausgeschlossen werden.
Über 80 % absichtlich ungültig Möglicherweise hat ein Teil der 173 Wählerinnen und Wähler, die ihren Stimmzettel bei der Europawahl mit zwei Kreuzen gekennzeichnet hat, dies in der falschen Annahme getan, dass hier zwei Wahlvorschläge angekreuzt werden dürfen. Bei der Bundestagswahl und bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin hat jeder Wähler zwei Stimmen, die allerdings auf verschiedenen Stimmzetteln abzugeben sind. Unvermögen als Grund für die Abgabe einer ungültigen Stimme kann deshalb wahrscheinlich nur bei maximal 180 Stimmzetteln (7 nicht eindeutige und 173 doppelt gekennzeichnete Stimmzettel) angenommen werden – das wären also maximal 16 % aller ungültigen Stimmzettel. Im Umkehrschluss haben 84 % der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme absichtlich ungültig abgegeben. Besonders häufig kommen zwei Kreuze, bzw. unklare Kennzeichnung als Grund für die Ungültigkeit des Stimmzettels vor, bei Frauen (18,0 %) und bei den ältesten Wählern (23,4 %). Selten ist dieser Ungültigkeitsgrund hingegen bei Briefwählern (9,4 %). Dass die Parteikombinationen SPD/ GRÜNE und CDU /FDP besonders häufig angekreuzt wurden, könnte ebenfalls darauf hindeuten, dass Wähler nicht wussten, dass nur eine Stimme abgegeben werden durfte. Rund 17 % der Wähler haben ihren Stimmzettel dadurch ungültig gemacht, dass sie drei und mehr Parteien ankreuzten. Insbesondere junge Wähler bevorzugten diese Art des Ungül-
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DER UNBEKANNTE UNGÜLTIGWÄHLER: PROTEST ODER UNVERMÖGEN? tigwählens (27,6 %). Die häufigste Form des ungültig Wählens bestand darin, den Stimmzettel durchzustreichen oder das Wort „ungültig“ draufzuschreiben. 41 % der Ungültigwähler haben sich dafür entschieden. Vorwiegend Frauen und die Wähler mittleren Alters (45,1 %) präferierten dies. Mit Texten oder Zeichnungen versehene Stimmzettel sind nur dann ungültig, wenn die Wahlabsicht nicht zu erkennen ist oder es sich um einen Zusatz oder Vorbehalt handelt. In Anbetracht der Tatsache, dass außer dem Wahlvorstand (und dieser auch nur flüchtig), wahrscheinlich niemand den Stimmzettel betrachtet, erstaunt es doch, dass 16,6 % der Ungültigwähler sich dafür entschieden haben. Häufig kommt diese Art des Ungültigwählens bei den Briefwählern (24,5 %) und bei den Wählern im Alter von 25 bis 35 (22,0 %) vor. Die Texte sind dabei sehr unterschiedlich. Sie reichen von kurzen Beschimpfungen bis zu längeren wohlformulierten Erklärungen. In fünf Fällen wurde etwas auf den Stimmzettel geklebt: Zwei Mal ein Aufkleber der Bildzeitung mit dem Text: „Pkw-Maut Ökosteuer Benzinpreis Ich hab’ die Schnauze voll!“, zwei Mal ein Artikel aus der Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ mit dem Titel „Europas Scheinwahl“ und einmal ein handgeschriebener Zettel. Insgesamt gab es 190 Stimmzettel mit Zeichnungen oder Bemerkungen (Tab. 5, Nr. 10, 11 und ein Teil (4) von Nr. 12). Zur weiteren Auswertung wurden diese Stimmzettel in vier Gruppen eingeteilt (siehe
Tab. 8, 9a und 9b) Von allen mit Bemerkungen versehenen ungültigen Stimmzetteln bildeten solche, die sich als Begründung für die Wahlentscheidung interpretieren lassen oder sonstige inhaltliche Aussagen enthielten, mit rund 37,4 % die größte Gruppe. Im Ostteil war dieser Anteil 10 Prozentpunkte höher als im Westteil (33,9 %). Außerdem bevorzugten die Frauen die inhaltliche Begründung (46,8 % gegenüber 31 % bei den Männer) und die Wähler der jüngsten (44,4 %) und die der mittleren Altersgruppe (42,1 % und 50,0 %). Beschimpfungen kamen dagegen besonders häufig vor im Westteil (39,5 %), bei den Männern (38,1 %) und bei den Briefwählern (45,7 %). Hier ist auch ein deutlicher Zusammenhang mit dem Alter erkennbar. Nur 5,6% der jüngsten Ungültigwähler, die ihren Stimmzettel mit Bemerkungen versehen hatten, nutzten die Gelegenheit zur Beschimpfung, aber 48 % der ältesten Wähler, wobei der Anteil stetig von Altersgruppe zu Altersgruppe zunahm. Dagegen neigten besonders die jüngsten Wähler zu scherzhaften Bemerkungen (33,3 %), während nur 8,0% der über 60-Jährigen im Zusammenhang mit der Europawahl ein Scherz in den Sinn kam.
Tab. 7: Europawahl 2004 in Berlin: In repräsentativen Wahlbezirken abgegebene ungültige Stimmen – nur Ungültigkeitsart: zwei Kreuze – Parteikombinationen, die mehr als drei mal vorkamen.
Tab. 8: Europawahl 2004 in Berlin: In repräsentativen Wahlbezirken abgegebene ungültige Stimmen, die mit Bemerkungen oder Zeichnungen versehen waren, nach Art der Bemerkung oder Zeichnung
Tab. 9: Europawahl 2004 in Berlin: In repräsentativen Wahlbezirken abgegebene ungültige Stimmen, die mit Bemerkungen oder Zeichnungen versehen waren: 9a: nach Art der Ungültikeit und weiteren Merkmalen
Fazit Aus Desinteresse dürfte in Berlin niemand ungültig gewählt haben: Da keine Wahlpflicht besteht und auch nicht zeitgleich eine andere Wahl stattfand, haben vermutlich nur die Wähler im Wahllokal oder per Briefwahl an der Wahl teilgenommen, die ein – wie auch immer geartetes – Interesse an der Europawahl hatten. Es
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9b: nach Art der Ungültigkeit und dem Alter
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HÖCHST UNTERSCHIEDLICHER BÜRGERSERVICE bleiben also nur die Gründe Protest und Unvermögen.
wahl stattfanden, relativ hoch gewesen sein.
In Berlin wurde die weit überwiegende Mehrzahl der ungültigen Stimmen absichtlich und damit aus Protest abgegeben. Unvermögen als Grund kann wohl nur bei maximal 16 % der Ungültigwähler angenommen werden.
Geert Baasen, Berlin
Der Anteil, der ungültig Stimmen, die aus Desinteresse abgegeben wurden, dürfte allerdings in den Bundesländern, in denen zeitgleich Kommunalwahlen oder eine Landtags-
KG; 2002 [4] Australian Electoral Commission (AEC): Research Report 1 - Informal Vote Survey, House of Representatives - 2001 Election, Research Section Rod Medew, veröffentlicht im Internet: http://www. aec.gov.au/index.html
Quellen
[1] Ralf-Rainer Lavies: Die ungültige Stimmabgabe: Absicht oder Absichtslosigkeit, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg.9, S.212-222, 1968 [2] Der Bundeswahlleiter: Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland am 13. Juni 2004, Heft 4, Wahlbeteiligung und Stimmabgabe der Männer und Frauen nach dem Alter, Wiesbaden 2004 [3] Schreiber, W.: Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag; 7., neu bearbeitete und erweiterte Auflage; Carl Heymanns Verlag
Öffnungszeiten der Briefwahlbüros
Höchst unterschiedlicher Bürgerservice Eberhard Schubert, Erfurt, musste sich auf einen Verwaltungswunsch hin die Mühe machen, einen Überblick über die Öffnungszeiten der einzelnen Briefwahlbüros zu erstellen. Er tat das mit Hilfe unseres DOMEUS und kam zu erstaunlichen Ergebnissen. Die in Erfahrung gebrachten Öffnungszeiten sind vielfältig und schwanken zwischen 23
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und 50 Stunden pro „Normalwoche“. Das hängt auch nicht immer mit der Größe der Kommune zusammen, sondern ist offenbar historisch gewachsen. So ist etwas entstanden, was man wahrlich nicht mehr als auch nur halbwegs einheitlich bezeichnen kann. Der Service, den die Wahlämter liefern (müssen), ist mehr ein Dschungel als ein übersichtliches Feld. Damit die Erfurter Erkenntnisse nicht nur Erfurt bei der Planung
der Öffnungszeiten helfen, stellt Eberhard Schubert die Tabelle gerne auch den anderen Leserinnen und Lesern von „Stadtforschung und Statistik” zur Verfügung. Eine lesenswerte Übersicht mit großer Informationsdichte. Eberhard Schubert, Erfurt
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HÖCHST UNTERSCHIEDLICHER BÜRGERSERVICE
Zusammenstellung der Öffnungszeiten in den Briefwahlbüros
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WAHLBETTEILIGUNG UND WAHLENTSCHEIDUNG
NRW- Kommunalwahl 2004: Daten für 16 Großstädte
Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung Wer wählte wen?
Endlich: Ergebnisse für Städte
Wie wählte alt und jung, wie Männer und Frauen? Dies sind Fragen aus der Politik, die den Kommunalstatistikern immer wieder gestellt werden. Seit Ende der 90er Jahre wurde die Repräsentativstatistik, wie sie im Fachjargon heißt, auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Damit konnten Städte, die eine über eine abgeschottete Statistikstelle verfügen, die Auswertungen selbst vornehmen. Darüber hinaus wurde den Städten ermöglicht, zusätzlich zu der Landesstichprobe eigene Stimmbezirke auszuwählen, damit auch die Stichprobe für die Stadt selbst repräsentativ wird. Wer diese Statistik nicht durchführen wollte (oder konnte), hat die Unterlagen dem Landesamt zur weiteren Auswertung zugeschickt. Worum geht es bei dieser Statistik? Zusätzlich zu den „üblichen“ Ergebnissen nach Stimmbezirken und Parteien wird das Wahlverhalten von fünf Altersgruppen und Geschlecht in ausgewählten Stimmbezirken der Stadt ausgezählt. Hierfür werden am Wahltag gesondert gekennzeichnete Stimmzettel eingesetzt. Die Durchführung der Auswertung erfolgt in zwei getrennten Schritten: • Auszählen der gekennzeichneten Stimmzettel in zehn Gruppen, getrennt für jede Partei bzw. ungültig • Auswerten des Wählerverzeichnis nach 20 Gruppen (10 Altersgruppen und Geschlecht) , für Wähler, Briefwähler und Nichtwähler.
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Damit wird die Arbeit der Wahlvorstände im Wahllokal wiederholt, nur es ergeben sich wesentlich differenziertere Ergebnisse. Warum jetzt diese Untersuchung? Bisher war die Daten- und Veröffentlichungslage diese: Das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW hat die Ergebnisse dieser Repräsentativstatistik für das Land insgesamt veröffentlicht, regional wurden die Ergebnisse bis auf Ebene der Regierungsbezirke herunter gebrochen. Die Städte haben andererseits jeweils ihre eigenen Ergebnisse veröffentlicht; ein Gesamtergebnis für die Städte in NRW gab es jedoch nicht. Diese Lücke soll der vorliegende Beitrag schließen. Für die Untersuchung wurden alle 27 NRW- Großstädte (23 kreisfreie Städte und vier kreisangehörige Großstädte) angeschrieben. 16 Städte (15 kreisfreie Städte und eine kreisangehörige Großstadt) haben sich an der Umfrage beteiligt. Dafür sei an dieser Stelle den beteiligten Städten gedankt. In diesen 16 Städten gab es zusammen 284 ausgewählte Stimmbezirke, wovon 135 von den Städten selbst bestimmt wurden. Das ist das erste überraschende Ergebnis: Die vom Landeswahlleiter vorgegebenen 149 repräsentativen
Stimmbezirke wurden fast um die gleiche Stimmbezirksanzahl aufgestockt, oder anders ausgedrückt: der Anteil der vorgegebenen Stimmbezirke in den 16 Städten beträgt nur 52,5 Prozent. Dabei erfolgte die Aufstockung der Stimmbezirke sehr unterschiedlich: Zwischen keine eigene Auswahl bis zu 48 zusätzlichen (bei 12 vorgegeben) Stimmbezirken. In diesen 284 Stimmbezirken waren in den Wählerverzeichnissen 337.299 Wahlberechtigte eingetragen. Von diesen rd. 337.300 Wahlberechtigten haben 138.200 an der Urne gewählt, 34.000 per Brief gewählt und 165.100 Personen zogen es vor, dieser Wahl fern zu bleiben. Dies zeigt eindrucksvoll, wie groß das Interesse der NRW- Bürgerschaft an der 14. Kommunalwahl seit 1946 war.
Wahlbeteiligung Die erste Untersuchung galt der Wahlbeteiligung. Diese erfolgte bei den meisten Städten in der Weise, dass das Rechenzentrum der Statistikstelle Auszüge aus den Wählerverzeichnissen nach Abschluss am Freitagabend vor der Wahl für die ausgewählten Stimmbezirke zur Verfügung stellt. Dort sind die Wahlberechtigten in der gleichen Reihenfolge wie im Wählerverzeichnis eingetragen, jedoch sind alle „W“- Vermerke (Bürger hat Briefwahl beantragt) ebenfalls notiert. Diese Datei wird durch
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WAHLBETTEILIGUNG UND WAHLENTSCHEIDUNG die Stimmabgabevermerke aus den Wählerverzeichnissen in der abgeschotteten Statistikstelle ergänzt. Die gesetzlichen Vorgaben erlauben jedoch nur den Nachweis von zehn Altersgruppen je Geschlecht. Wie wurde nun die Wahlbeteiligung ermittelt? Die erste Möglichkeit wäre, den Anteil der Urnenwähler auf die Wahlberechtigten zu beziehen; in der Umfrage ergibt dies eine Beteiligung von 45,6 Prozent. Damit wären aber die Briefwähler außer Acht gelassen worden, denn 10,1 Prozent der Bürger hatten Briefwahl beantragt. Der Rücklauf bei der Briefwahl beträgt in der Regel über 95 Prozent. Damit ist es vertretbar, die Briefwähler den Wählern an der Urne zuzuschlagen. Bei den 16 Städten steigt damit die Beteiligung um 5,4 Prozentpunkte auf 51 Prozent.
renalter über 60 Jahren. Dies sollte den Parteien zu denken geben: Warum ist die Beteiligung zum Beispiel zwischen den 21-24-Jährigen um etwa 30 Prozentpunkte niedriger als bei der Gruppe zwischen 60 und 70 Jahren? Gibt es Ursachen hierfür? Andererseits kann auch konstatiert werden, dass das geringere Interesse an Wahlen mit dem Alter „mitgenommen“ wird: Im Jahre 2004 hatte die Altersgruppe Ende 40 eine
Wahlbeteiligung von etwas über 50 Prozent erreicht; vor 20 Jahren lag die Beteiligung der damals gleich alten Gruppe um fast 10 Prozent höher. Diese Altersgruppe ist heute Ende 60. Bei der Betrachtung der Grafik fällt auch auf, dass die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Männern und Frauen gering sind: Bei den 16 Städten wurde exakt die gleiche Beteiligung von Männern und Frauen erreicht. In den einzelnen Altersgruppen gibt es freilich Grafik 1
Bei der Betrachtung der Grafik 1 zeigt sich das bekannte Bild von allen Wahlen der letzten 20 Jahren: Geringes Interesse bei der jüngeren Wählerschaft; hohe Beteiligungen bei der Wählerschaft im Senio-
Grafik 2
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WAHLBETTEILIGUNG UND WAHLENTSCHEIDUNG
Junge Leute – geringes Interesse
Unterschiede: So liegt die Beteiligung aller Frauen unter 30 Jahren bis zu 3,9 Prozentpunkte niedriger. Die Altersgruppe der 21- bis 24-Jährigen zeigte einmal mehr das geringste Interesse an der Wahl: So ging nur gut ein Drittel der wahlberechtigten Frauen zur Urne. Bei den Jahrgängen zwischen 30 und 60 Jahren waren die Frauen die fleißigeren Wählerinnen: Bis zu 3 Prozentpunkte liegen sie vor den Männern. Erst mit dem Erreichen des Seniorenalters haben die Männer wieder die Nase vorne. Die größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern aller Altersgruppen überhaupt weisen die ältesten Wähler auf: Bei den über 70-Jährigen haben wir eine Differenz von 7,9 Prozentpunkten.
Altersstruktur der Wähler Zunächst sei auf die Altersstruktur der Wählerschaft eingegangen: Insgesamt gehören um die zehn Prozent der Wähler den beiden jüngsten Altersgruppen an. Ein Fünftel macht die Wählerschaft um die 40 aus, während der AnGrafik 3
teil der 45- bis 59-Jährigen ein gutes Viertel ausmacht. Die dominierende Gruppe sind die Senioren: Deren Anteil bei den Wählern macht fast 36 Prozent in allen 16 Städte aus. Wie sind nun die Parteien in den einzelnen Altersgruppen beteiligt? Gibt es hier Unterschiede? Es gibt sie, wie Grafik 2 zeigt. Am Beispiel der Senioren, d.h. Wähler 60 Jahre und älter, soll einmal aufgezeigt werden, welches Gewicht die einzelnen Altersgruppen bei welchen Parteien haben. In die nachstehende Betrachtung fließen die vier im Landtag NRW vertretenen Parteien CDU, SPD, GRÜNE und FDP ein, während die übrigen Parteien, die ja von Stadt zu Stadt verschieden sein können, als „Sonstige“ zusammengefasst worden sind. Es fällt das unterschiedliche Gewicht der Parteien auf. So sind fast die Hälfte der CDUWählerinnen und Wähler in dieser Altersgruppe, während nur jeder zehnte GRÜNENWähler Senior ist. Die SPDWählerschaft nähert sich noch am ehesten dem Durchschnitt.
4 von 10 Wählern der Sozialdemokraten sind über 60 Jahre alt. Ein Blick auf die Grafik 3 zeigt, dass die größten Unterschiede bei der Stimmabgabe einerseits bei der Wählerschaft um die 40 aufgetreten ist und zum andern die Wählerinnen und Wähler jenseits der 60 sehr unterschiedlich den Parteien verhaftet sind. So liegt der Anteil der GRÜN- Wähler über 60 um 25 Prozent niedriger als im Durchschnitt.
Stimmabgabe nach dem Alter In diesem Abschnitt werden die Parteienanteile innerhalb der einzelnen Altersgruppen näher untersucht (Grafik 4). Hier zeigen sich deutlich die unterschiedlichen Anteile der Parteien in den einzelnen Altersgruppen. Die SPD erlangte insgesamt bei den 16 Städten 36,4 Prozent Stimmenanteil. Bei den Wählern unter 45 Jahren blieb sie leicht unter ihrem Durchschnitt; erst bei der Wählerschaft jenseits der 45 hatten die Sozialdemokraten einen höheren Zuspruch; am besten noch bei der Wählerschaft jenseits der 60 mit 39,9 Prozent Stimmenanteil. Die CDU blieb mit 35,6 Prozent der gültigen Stimmen nur um 0,8 Punkte hinter der SPD zurück. Anders als die SPD ist hier ein deutlicher Zusammenhang zwischen Alter und Parteianteil erkennbar: Den geringsten Zuspruch hatten die Christdemokraten mit 27,8 Prozent bei der Wählerschaft unter 24 Jahren. Von Altersgruppe zu Altersgruppe steigt der Anteil bis 45,1 Prozent bei den Senioren. In dieser Alters-
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WAHLBETTEILIGUNG UND WAHLENTSCHEIDUNG gruppe lässt die CDU sogar die SPD hinter sich zurück. Als „dritte kommunale Kraft“ in den Großstädten haben sich die GRÜNEN etabliert. Insgesamt erzielten sie 12,2 Prozent Stimmenanteil bei sehr unterschiedlichen Gewichten in den Altersgruppen: Bei der Wählerschaft unter 45 Jahren ist sie mit knapp 20 Prozent verankert; im höheren Alter nimmt der Anteil stark ab: Bei den Senioren votierte nur jeder 27. Für die GRÜNEN. Vom dritten auf den vierten Platz verdrängt wurde in den letzten Jahrzehnten die FDP. Mit 5,4 Prozent Stimmenanteil liegt sie nur noch knapp über der früheren 5-Prozent-Hürde. Auch bei den Liberalen ist ähnlich wie bei den GRÜNEN mit zunehmenden Alter eine geringere Präferenz erkennbar. Die höchsten Anteilwerte wurden mit 7,7 Prozent Anteil bei den Wählerinnen und Wählern um die 30 notiert, während bei den Senioren der Stimmenan-
teil bei 4,4 Prozent liegt. Die übrigen Parteien wurden eher von Nicht- Senioren gewählt: Bei allen Wählern unter 60 liegt der Stimmenanteil etwas über 12 Prozent; nur die Senioren haben mit 6,9 Prozent deutlich niedriger votiert. Gab es bei den Geschlechtern im Wahlverhalten Unterschiede? Nach Eliminierung des Frauenüberschusses (auf 1000 Wähler kamen 1083 Wählerinnen) kamen folgende Resultate für die Parteien heraus (Messgröße: auf 1000 Männer-Stimmen kommen folgende FrauenStimmen): CDU: 1010; SPD: 1044; GRÜNE: 1157; FDP 913 und Sonstige 729. Hier zeigt sich, dass die GRÜNEN eindeutig von Frauen bevorzugt worden ist, gefolgt von der SPD mit 1044 und CDU 1010.
stimmen je 1000 Männerstimmen. Alle Ergebnisse der 16 NRWStädte können Sie beim Autor abrufen. Und zwar nicht nur die Daten der hier besprochenen Kommunalwahl, sondern auch die Statistik für die Landtagswahl dieses Jahres. Klaus Kosack, Bonn
Als eher Männerparteien entpuppten sich die FDP mit 913 und insbesondere die sonstigen Parteien mit 729 Frauen-
Grafik 4
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PREISWERT UND BÜRGERFREUNDLICH
Briefwahlorganisation in Dortmund
Preiswert und bürgerfreundlich Teure Briefwahl
Fast jede 4. Stimme per Brief
Aus einem Wahltag wird eine Wahlphase
Jeder dritte Euro, den eine Wahl kostet, wird in die Briefwahl gesteckt. Die Erwartungen der Wahlberechtigten sind hoch: Wer per Brief wählen will, möchte einen einfachen Antrag stellen; übersichtlich und selbstredend portofrei. Die Unterlagen sollen ihn in wenigen Tagen erreichen. Am liebsten bereits gestern, man fährt ja gleich schon in Urlaub, hat die Koffer längst gepackt. So nimmt die Bedeutung der Briefwahl von Wahl zu Wahl zu. In Dortmund geben fast 23 % aller Wählerinnen und Wähler ihre Stimme bereits vor dem Wahltermin per Brief ab. Diese Quote liegt in anderen, vergleichbaren Großstädten noch höher. Die Tendenz ist steigend. In einigen (südlichen) Stimmbezirken haben bereits rd. 35 % aller Wählerinnen und Wähler einen Wahlschein beantragt. So mutiert der Wahltag zur Wahlphase. Knapp 80.000 Wahlscheine waren bei der Bundestagswahl 2002 auszustellen. Bei den Kommunalwahlen 2004 waren es 54.000, bei der diesjährigen Landtagswahl waren es 69.000 – nach 52.000 im Jahr 2000. Bis zum Jahr 2000 wurden die Anträge manuell bearbeitet. Kleine Gruppen – jeweils zuständig für einen Wahlkreis, damit die Stimmzettel nicht vertauscht werden konnten – tippten die Anträge ein, druckten den Wahlschein aus, übertrugen die Nummer aus dem Wählerverzeichnis auf den roten Wahlbrief und verpackten alles manuell. Die Arbeitsteilung war eher vertikal, d. h.
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die Gruppen haben selbst den Ablauf der Arbeiten organisiert und in einen zeitlichen Ablauf gebracht. Die Aufteilung in die Wahlkreisgruppen schränkte zudem die Bedienung bei der Direktwahl ein. Da Anträge nur in den Gruppen bearbeitet werden konnten („Backoffice“), wurde im „Frontoffice-Bereich“ lediglich der Antrag entgegengenommen, um ihn in die Gruppe zu tragen und dort möglichst schnell bearbeiten zu lassen. Das führte zwangsläufig zu Wartezeiten. Zeitgleich mit der flächendeckenden Einführung der Wahlgeräte und der Neuorientierung der Wahlsoftware (Ablösung des Host-Verfahrens zu Gunsten von OK.ewo) wurde die Briefwahlbearbeitung einer extremen Arbeitsteilung unterworfen. Begleitend kam hinzu, dass ab dann Anträge, die über das Internet gestellt werden und per definitionem keine Unterschrift tragen können, lt. Bundeswahlordnung als schriftlich gestellte Anträge anzusehen sind.
Das Grundprinzip Alle Briefwahlanträge fließen in einen elektronischen workflow ein, d. h. sie werden so gespeichert, dass sie für verschiedene Zwecke aufgerufen werden können. Dies sind a) Anträge, die per Internetformular gestellt werden (rd. 15 % aller schriftlichen Anträge) b) Anträge, die mit der Benachrichtigungskarte gestellt werden c) Formlose Anträge (Brief, Fax, u. a.) d) Anträge im Publikumsbe-
reich Anträge nach a) stehen in der erforderlichen Form zur weiteren Bearbeitung bereit. Anträge nach b) werden doppelseitig eingescannt, solche nach c) noch manuell bearbeitet und anschließend in die Verpackung gegeben. Für die Bearbeitung der Anträge nach a) und b) wurde eine Softwarelösung gefunden, die die Anträge abgreift und den korrespondierenden Datensatz aus dem Wählerverzeichnis zeitgleich aufruft. Die Angaben werden verglichen und nach evtl. Korrektur der angegeben Versandanschrift und Überprüfung der Unterschrift in eine Druckdatei überführt, aus der ein Wahlschein erstellt wird. Gedruckt wird auf Kombiwahlscheine. Dabei hängen Wahlschein und roter Wahlbrief so zusammen, dass bspw. die Nummer aus dem Wählerverzeichnis bei der Ausstellung des Wahlscheines zeitgleich auf den Wahlbrief aufgedruckt wird. Die gesamten Sendungen werden anschließend in einer Kuvertiermaschine verpackt. Diese verfügt prinzipiell über 4 Zuführfächer, kann aber auf 7 erweitert werden (Kommunalwahlen).
Geplante Kapazitäten Erfahrungsgemäß ist der Briefwahlanfall in der 3. und 4. Woche vor einer Wahl am größten, sodass – gerade in beginnenden Urlaubszeiten – Tagesleistungen von 6.000 bis
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PREISWERT UND BÜRGERFREUNDLICH 8.000 Anträgen zu bewältigen sind. Engpass ist zunächst die Phase der Öffnung der Briefwahlanträge und Vorbereitung für den Einscannprozess. Beim Einscannen können bis etwa 2.000 Anträge pro Stunde eingeplant werden. Beim Verifizieren, der Ausstellung des Wahlscheines, werden je Arbeitsplatz 500 bis 600 Wahlscheine erreicht. Vier Lizenzen wären danach ausreichend, weitere erhöhen die Flexibilität – insgesamt wurden 8 beschafft. Begrenzt werden diese Kapazitäten durch die Zugriffszeiten auf das EWO-Verfahren, welches das Wählerverzeichnis verwaltet und aus dem heraus gedruckt wird. Knapp 1.000 Wahlscheine können pro Stunde ausgedruckt werden, wobei hier einer der neuralgischen Punkte liegt. Aufgrund der Programmlogik im zentralen EWO-Verfahren können immer nur kleine Pakete mit max. 200 Wahlscheinen zum Druck gegeben werden, da nur so die erforderliche Sicherheit besteht, dass alle Drucke präzise ausgeführt werden. Die Verpackungsstraße leistet gleichfalls bis zu 1.000 Stück pro Stunde, wenn die Zuführung weitgehend gleich bleibt. Diese Kapazitäten reichen aus, um eine Tagesleistung von 6.000 Anträgen taggenau zu bearbeiten. Die bis 15:00 Uhr eingegangenen Online-Anträge können noch am selben Tag bearbeitet und zum Versand gegeben werden. Die dabei eingesetzten Hilfskräfte – das Gros erscheint um 10:00 Uhr – wechseln im Laufe des Tages ihre Arbeitsplätze. Vom Einscannen/Verifizieren hin zum Ausdrucken/Verpacken bzw. zur Registrierung der rücklaufen-
den Wahlbriefe oder auch zum Verpacken des Materials für die Wahlvorstände. Übersteigt die Antragsflut den geplanten Rahmen, startet die nächste Tagesschicht bereits um 8 Uhr. Dieser Anteil wird dann erst einen Tag später zugestellt, zusätzliche Überhänge können jedoch kaum auflaufen. Das eingesetzte Aushilfs-Personal setzt sich zu etwa je einem Drittel aus städtischen MA (Fachangestellte, die noch keine Planstelle haben u. ä.), Studenten und Bewerbern vom Arbeitsmarkt zusammen. Auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis und ausreichend viele ältere Personen wird Wert gelegt. Insgesamt waren bei der Bundestagswahl 2002 und den Kommunalwahlen 2004 weniger als 30 Aushilfskräfte eingesetzt rd. 20 weniger, als zuvor. Bei der Landtagswahl 2005 sind es 23 Aushilfskräfte.
Praxiserfahrungen a) Beim Einscannen kommt es darauf an, dass die Karten sauber produziert und formatgenau geschnitten worden sind, da sie ansonsten nicht einwandfrei gelesen werden können und aufwendig nach zu bearbeiten sind. b) Da die Zugriffszeiten auf das Einwohnerwesen beschränkt sein können, was in keinem Test vorher in seiner Wirkung darstellbar ist, kommt es gerade zu Beginn der Briefwahl leicht zu Staus, die nicht schnell genug abgebaut werden können. Gerade Client-ServerLösungen im Einwohnerwesen erfahren immer wieder verschiedene Patches, die zu Beeinträchtigungen der Zugriffszeiten seitens der Wahladministration führen.
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So blieb es bei der Landtagswahl 2005 in den ersten Tagen Theorie, 2000 Anträge pro Stunde zu verifizieren. Verringerte Zugriffszeiten ließen zunächst viel weniger zu, wodurch sich in kurzer Zeit ein Antragsstau von 1,5 Tagen bildete, der erst nach 2 Wochen vollständig abgebaut werden konnte. Diese Schwierigkeiten haben deutlich gemacht, dass derzeit kaum eine Störung aufgefangen werden kann – außer durch kostenintensive Überstunden oder Minderung des Bürgerservice. c) Der Ausdruck der Wahlscheine kann nur in kleinen Partien vorgenommen werden, da anders nicht kontrolliert werden kann, ob alles ordnungsgemäß abgearbeitet wurde. Nach der Programmlogik muss jeweils der Zwischenspeicher geleert sein, bevor ein neuer Druck angestoßen werden kann. Andernfalls treten erheblich Störungen auf. Hier müssen jeweils praktische Erfahrungswerte gewonnen werden. d) Beim Ausdruck ist auf das richtige Papier der Kombiwahlscheine zu achten, da ansonsten die Drucker in zu kurzen Intervallen zu reinigen sind, was die Produktion erheblich stört. e) Für die Jahre 2002 bis 2006 war eine Verpackungsmaschine geleast worden. Damit eine kontinuierliche Arbeit möglich ist, müssen erhebliche Erfahrungen gesammelt werden; Mechanik und Elektronik, aber auch das Material (z. B. Umschläge und deren Papierdicke) sind in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Das Verpackungsgut stellt mit seinen verschiedenen Qualitäten und Maßen eine au-
Der Umgang mit Überhängen
Spareffekt: 20 Personen
Kombiwahlschein
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DIE NÄCHSTE, BITTE! ßerordentlich hohe Anforderung an solche Maschinen.
Druck und Verpackung bleiben Schwachstellen
Durch die phasenweise hohe Beanspruchung der Maschine ist sie besonderen Belastungen ausgesetzt. Neben einer regelmäßigen Wartung insbesondere vor einer Wahl wurde sie jeweils von Wartungspersonal des Leasinggebers eingestellt. Dass dann nachgesteuert werden musste, lag in der Natur der Sache. Probleme entstanden immer dann, wenn sie ausfiel, was mehrmals vorkam. Ein standby-service wäre unwirtschaftlich gewesen. So entstanden Überhänge, da natürlich Probleme immer in ungünstigen Zeiten auftraten und/oder es musste per Hand verpackt werden.
Fazit Dennoch konnte man sich auf das Grundprinzip der Abwicklung verlassen, da es die Aufgaben klar gliederte. Der Rationalisierungseffekt war beträchtlich, wurde nur getrübt durch vielfach unzureichend ausgestaltete Schnittstellen zum Einwohnerwesen.
Perspektiven
Als Schwachstellen hatten sich Ausdruck und Verpackung erwiesen. Daher war beabsichtigt, diese Prozesse auszulagern. Das würde bedeuten, dass täglich eine Druckdatei zu einem Dienstleister geschickt würde, der dann die elektronisch gefertigten Wahlscheine druckt, gemeinsam mit den anderen Unterlagen versandfertig zusammenstellt und bei einem Zusteller einliefert. Die Anforderungen wären zu formulieren, die möglichen Anbieter zu kontaktieren, zu beraten und letztlich eine Ausschreibung vorzunehmen. Ob dieser Weg jetzt bereits gegangen werden kann, ist noch offen. Angesichts der zum wiederholten Male aufgetretenen Verzögerungen in der Abstimmung mit dem Einwohnerwesen (Zugriffsprobleme; EWO-Datenbank PerformanceProbleme) ist diese Phase noch nicht ausreichend sicher. Eine Vergabe der „letzten Strecke“ an einen Dienstleister erfordert jedoch eine Wirtschaftlichkeit, also auch die Einsparung von Aushilfskräften, an etwa 6 Stellen war gedacht worden. Dadurch würden sich jedoch die personellen Ressourcen
soweit verringern, dass bspw. eine manuelle Bearbeitung von Wahlscheinanträgen im Falle von Systemstörungen nicht mehr möglich und damit die Flexibilität der Wahlorganisation gefährdet ist. Dafür scheinen die Risiken bis 2006 noch nicht endgültig minimiert. Das Grundprinzip scheint jedoch richtig zu sein: Vollständige elektronische Bearbeitung der Wahlscheinanträge – unter Einbeziehung einer großen Zahl von Onlineanträgen, und anschließend die Übergabe an einen Dienstleister für Druck und Versand. Wenn das 2006 nicht realisiert werden kann, stellt der Wahlblock 2009/2010 (NRW) die nächste große Herausforderung dar, die Briefwahlbearbeitung im vorgenannten Sinne weiterzuentwickeln. Ernst-Otto Sommerer, Dortmund
Wer wird Zahl des Jahres 2005?
Die Nächste, bitte! Was ist Ihr Vorschlag?
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Es begann mit 1,95583, dem Umrechnungskurs von DM in den Euro. Er wurde Zahl des Jahres 2002. Auch im darauffolgenden Jahr stammte diese Zahl aus der Politik: 2010, die Zahl zum heute noch umstrittenen rot-grünen Reformprogramm „Agenda 2010“. Für 2004 dann bekam die IV die Ehre, als Zahl des Jahres her-
ausgehoben zu werden. Dreimal also stammten die Vorlagen aus dem Bereich der Politik. Und nun? Wie lautet die Zahl des Jahres 2005? Wie üblich sind Sie gefragt. Aus Ihren Vorschlägen wird die eine Zahl ausgewählt, die sich dann „Zahl des Jahres
2005“ nennen kann. Wenn Sie einen Vorschlag haben, senden Sie den bitte an die Redaktion. Am besten per E-Mail und möglichst mit einer kleinen Begründung. Martin Schlegel, Hagen
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ENTGELTE DER ARBEITNEHMER 2002
Stuttgart führt beim Arbeitnehmereinkommen deutscher Großstädte
Entgelte der Arbeitnehmer 2002 Die in Stuttgart beschäftigten Arbeitnehmer erzielten 2002 – wie schon in den beiden vorangegangenen Jahren – unter allen Großstädten die höchsten Arbeitnehmerentgelte. Auch die Entwicklung seit 1996 war in der baden-württembergischen Landeshauptstadt am günstigsten. Wesentliche Ursache für diese Spitzenstellung Stuttgarts ist die Ausrichtung auf das Produzierende Gewerbe und hier vor allem auf produktive Industriezweige mit hohem Lohn- und Gehaltsniveau. Das Arbeitnehmerentgelt ist der quantitativ bedeutendste Teil des gesamtwirtschaftlichen Einkommens. Es umfasst nach der Definition der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) sämtliche Geld- und
Sachleistungen, die den Arbeitnehmern aus Arbeits- oder Dienstverhältnissen zugeflossen sind, und setzt sich im Einzelnen zusammen aus den Bruttolöhnen und -gehältern sowie den tatsächlichen und unterstellten Sozialbeiträgen der Arbeitgeber. Das Arbeitnehmerentgelt wird vom Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder für Stadt- und Landkreise nach dem produktionsortbezogenen Inlandskonzept ermittelt und sektoral auch für das Produzierende Gewerbe nachgewiesen; die kürzlich vorgelegten Daten1) beziehen sich auf das Jahr 2002.
Höchstes Einkom-
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men in Stuttgart … Unter allen Städten Deutschlands mit rund 500.000 oder mehr Einwohnern2 ) wird in Stuttgart das höchste ProKopf-Arbeitnehmereinkommen erzielt. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, haben die in der baden-württembergischen Landeshauptstadt beschäftigten Arbeitnehmer im Jahre 2002 ein Arbeitnehmerentgelt in Höhe von 41.500 Euro je Arbeitnehmer erhalten, unter den anderen Großstädten wurde die Marke von 40.000 nur noch in Frankfurt am Main und München mit 40.800 bzw. 40.140 Euro je Arbeitnehmer überschritten. Der bundesdeutsche Durchschnitt mit
Tab. 1: Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer in den 14 größten Städten Deutschlands 2002
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ENTGELTE DER ARBEITNEHMER 2002 32.710 Euro je Arbeitnehmer wurde damit in Stuttgart um über ein Viertel (26,9 %) übertroffen. Auch in den anderen westdeutschen Großstädten lag das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer über dem Bundesdurchschnitt, in den ostdeutschen Großstädten jedoch darunter, und zwar in Berlin nur knapp, nämlich um 0,4 %, in Dresden und in Leipzig schon deutlicher, nämlich um 12,5 % bzw. 15,9 %. Im Vergleich zum durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelt aller Großstädte (36.070 Euro je Arbeitnehmer) wurde in Stuttgart ein um immerhin 15,1 % höheres Einkommen erwirtschaftet.
… und stärkster Zuwachs
Tab. 2: Arbeitnehmerentgelt und geleistete Arbeitsstunden je Arbeitnehmer nach Wirtschaftsbereichen in Deutschland 2002
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Darüber hinaus konnte Stuttgart im mittelfristigen Vergleich (2002 gegenüber 1996) die höchste Zunahme aller Großstädte verzeichnen und damit seine schon früher erreichte Spitzenstellung beim Pro-Kopf-Arbeitnehmereinkommen weiter ausbauen. 1999 konnte Stuttgart die bis dahin beim Arbeitnehmerentgelt führende Stadt Frankfurt am Main ablösen.
Im Einzelnen ist das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer zwischen 1996 und 2002 in Stuttgart um 4.840 Euro je Arbeitnehmer angestiegen, dies ist der größte absolute Zuwachs aller Großstädte. Lediglich in München haben die Pro-Kopf-Arbeitnehmereinkommen mit 4.110 Euro je Arbeitnehmer ebenfalls um mehr als 4.000 Euro je Arbeitnehmer zugenommen, um über 3.000 Euro je Arbeitnehmer außerdem in Dresden und in Nürnberg. Die besondere Dynamik ost- und süddeutscher Städte wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass nur noch in Frankfurt am Main und in Leipzig das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer stärker angewachsen ist als im Bundesdurchschnitt (+ 2.610 Euro je Arbeitnehmer). In Anbetracht des schon 1996 hohen Niveaus fast noch bemerkenswerter ist, dass Stuttgart auch beim relativen Wachstum zwischen 1996 und 2002 deutlich an der Spitze der Großstädte lag, nämlich mit + 13,2 % nur knapp hinter Dresden mit + 14,0 %.
Daneben konnten nur noch München (+ 11,1 %), Leipzig (+ 10,8 %) und Nürnberg (+ 10,0 %) zweistellige Zuwachsraten verzeichnen, in allen anderen, überwiegend nord- und westdeutschen Großstädten (einschließlich Berlin und Frankfurt am Main) lagen die Steigerungsraten unter dem Zuwachs in Deutschland (+ 8,7 %) bzw. aller Großstädte (+ 8,6 %).
Rangverschlechterung Stuttgarts Ein erheblicher Teil der in Stuttgart erwirtschafteten Arbeitnehmereinkommen fließt aufgrund der dort hohen Zahl an Berufseinpendlern in umliegende Gemeinden ab. Dies ist ein Grund dafür, dass Stuttgart bei den wohnortbezogenen Einkommensgrößen der VGR im Ranking der Großstädte etwas zurückfällt – im Jahre 2002 blieb die baden-württembergische Landeshauptstadt beim Pro-Kopf-Einkommen recht deutlich hinter München und auch noch hinter Düsseldorf zurück. Im Einzelnen wurde bei dem alle Einkommen aus Erwerbstätigkeit und Vermögen
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ENTGELTE DER ARBEITNEHMER 2002 umfassenden Primäreinkommen für Stuttgart ein Wert von 24.490 Euro je Einwohner gemessen, für München und für Düsseldorf waren es 28.280 bzw. 24.960 Euro je Einwohner. Beim Verfügbaren Einkommen, also nach Abzug von direkten Steuern und Sozialbeiträgen bzw. Hinzufügung von Sozialleistungen und anderen Transfers, verblieben den in Stuttgart wohnenden Menschen im Durchschnitt 19.670 Euro je Einwohner, die entsprechenden Pro-Kopf-Werte für München und Düsseldorf beliefen sich auf 21.250 bzw. 19.940 Euro je Einwohner.
Ausrichtung auf das Produzierende Gewerbe... Eine wesentliche Ursache für die Spitzenstellung Stuttgarts sowohl im Niveau als auch bei der mittelfristigen Entwicklung des Arbeitnehmerentgelts ist in der starken Verankerung der baden-württembergischen Landeshauptstadt im Produzierenden Gewerbe zu suchen. In diesem Wirtschaftsbereich waren 2002 in Stuttgart 26,6 % aller Arbeitnehmer beschäftigt, im Durchschnitt der Großstädte jedoch nur 19,7 %. Der sektorale Einfluss auf das gesamte Arbeitnehmerentgelt wird durch die Daten in Tabelle 2 belegt. Danach übertraf im Jahre 2002 das ProKopf-Arbeitnehmerentgelt im Produzierenden Gewerbe mit 39.400 Euro je Arbeitnehmer den Durchschnitt aller Wirtschaftsbereiche (32.700 Euro je Arbeitnehmer) um 20,6 %. Wenn man das Baugewerbe ausklammert, in dem mit 28.700 Euro je Arbeitnehmer ein deutlich unterdurchschnittliches Arbeitnehmerentgelt
gezahlt wird, dann erreichten die sonstigen Bereiche des Produzierenden Gewerbes mit 42.100 Euro je Arbeitnehmer sogar ein um 28,8 % über dem Durchschnitt liegendendes Pro-Kopf-Entgelt. Beim Verarbeitenden Gewerbe waren es 2002 mit 41.600 Euro je Arbeitnehmer 27,3 % mehr als im Durchschnitt aller Bereiche. Die im Vergleich zu den Dienstleistungen – und damit den gerade in Großstädten überproportional stark vertretenen Wirtschaftsbereichen – deutlich höheren Entgelte im Produzierenden Gewerbe sind zum Teil darauf zurückzuführen, dass die dort beschäftigten Arbeitnehmer mehr Arbeitsstunden im Jahr leisten (Tabelle 2), was auch mit der dort relativ geringen Bedeutung von Teilzeitarbeit zusammenhängt. Vor allem aber ist die Entlohnung der Beschäftigten im Verarbeitenden Gewerbe offenbar besser als bei den meisten Dienstleistungen. Auch bei der Entwicklung zwischen 1996 und 2002 hat das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer beim Produzierenden Gewerbe mit + 14,5 % und beim Verarbeitenden Gewerbe mit + 14,9 % die gesamtwirtschaftliche Entwicklung (+ 8,6 %) deutlich übertroffen. Angesichts dieser Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsstruktur und Höhe des gesamtwirtschaftlichen Arbeitnehmereinkommens verwundert es nicht, wenn außer für Stuttgart auch noch für Leverkusen, Ludwigshafen, Ingolstadt und Erlangen als weiteren stark industriell geprägten Städten – mit Arbeitnehmeranteilen des Produzierenden Gewerbes zwischen fast 40 % und knapp 52 % – im Jahre 2002 ein Arbeitnehmerentgelt von mehr
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als 42.000 Euro je Arbeitnehmer errechnet wurde.
... und hohe Entgelte in einzelnen Branchen Neben der strukturellen Komponente, also der starken Verankerung im Verarbeitenden bzw. im Produzierenden Gewerbe, wirkt sich auf das gesamte Arbeitnehmereinkommen Stuttgarts positiv aus, dass in der baden-württembergischen Landeshauptstadt auch in den einzelnen Wirtschaftsbereichen höhere Löhne und Gehälter gezahlt werden als in vielen anderen Großstädten bzw. in Deutschland insgesamt; dies gilt nicht zuletzt für das Verarbeitende und das Produzierende Gewerbe selbst. Wie aus Tabelle 3 hervorgeht wurden im Jahr 2002 im Produzierenden Gewerbe Stuttgarts 60.060 Euro je Arbeitnehmer verdient, das ist über die Hälfte (52,3 %) mehr als im nationalen Durchschnitt (39.440 Euro je Arbeitnehmer). Lediglich die im Produzierenden Gewerbe Münchens beschäftigten Arbeitnehmer haben mit 61.930 Euro je Arbeitnehmer ein noch höheres Arbeitsentgelt erhalten. Bereits deutlich hinter dem Betrag für Stuttgart lagen die individuellen Arbeitnehmerentgelte beim Produzierenden Gewerbe in Frankfurt am Main (55.840 Euro je Arbeitnehmer), in Essen (50.050 Euro je Arbeitnehmer), in Köln (49.730 Euro je Arbeitnehmer) und in Hamburg (49.230 Euro je Arbeitnehmer). In allen anderen Großstädten wurde im Produzierenden Gewerbe weniger verdient als im Durchschnitt aller Großstädte (48.980 Euro je Arbeitnehmer), in den beiden sächsischen Metropolen sogar
Strukturelle Komponente
Jahresverdienst in Stuttgart: 60 000Euro
Nur Münchner bekommen mehr
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ENTGELTE DER ARBEITNEHMER 2002 weniger als im Durchschnitt des Produzierenden Gewerbes in Deutschland insgesamt (39.440 Euro je Arbeitnehmer).
Tab. 3: Arbeitnehmerentgelt und Arbeitnehmer im Produzierenden Gewerbe in den 14 größten Städten Deutschlands 2002
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Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die hoch aggregierten Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für das Produzierende Gewerbe ebenfalls strukturellen Einflussfaktoren unterliegen. So werden innerhalb des Produzierenden Gewerbes in der Energie- und Wasserversorgung bzw. innerhalb des Verarbeitenden Gewerbes vor allem in den Wirtschaftszweigen Fahrzeugbau, Luft- und Raumfahrzeugbau und Chemie überdurchschnittlich hohe Bruttoverdienste bezahlt.3) Entsprechend haben die vier genannten Industriestädte Leverkusen, Ludwigshafen, Ingolstadt und Erlangen 2002 beim Produzierenden Gewerbe mit 54.290 bis 59.480 Euro je
Arbeitnehmer ebenfalls überdurchschnittlich hohe Arbeitnehmerentgelte aufgewiesen.
Modellrechnung zur Analyse der Einflussfaktoren Nachfolgend soll den genannten strukturellen Einflüssen weiter nachgegangen werden, was aus Datengründen jedoch nur anhand von – hoch aggregierten – Zahlen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen möglich ist. In Tabelle 3 sind Kennziffern aufgelistet, aus denen die Bedeutung des Produzierenden Gewerbes für die 14 Großstädte hervorgeht. Beispielsweise nimmt Stuttgart, obwohl bezüglich der Zahl der Einwohner nur an 7. Stelle unter den Großstädten, bei der Zahl der Arbeitnehmer im Produzierenden Gewerbe den 4. Rang
ein, und zwar hinter Berlin, München und Hamburg, aber immer noch vor den bevölkerungsmäßig ebenfalls größeren Städten Köln, Frankfurt am Main und Dortmund. Hierzu hat zum einen die allgemein hohe Zahl der Berufseinpendler nach Stuttgart beigetragen, zum anderen aber auch die besondere Ausrichtung der Wirtschaft auf das Produzierende Gewerbe. Wie erwähnt lag im Jahre 2002 der Anteil der in diesem Wirtschaftsbereich Beschäftigen an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer in Stuttgart mit 26,6 % deutlich über dem Durchschnitt aller Großstädte (19,7 %), lediglich in Duisburg (29,6 %) war diese Quote noch höher. Über dem Großstädtedurchschnitt liegende Anteilswerte wurden außerdem noch in Bremen, Nürnberg, München, Essen und Dresden gemessen.
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ENTGELTE DER ARBEITNEHMER 2002 Betrachtet man dagegen nur das Verarbeitende Gewerbe, so ergibt sich für Stuttgart sogar wieder die höchste Quote aller Großstädte: Der Anteil der im Verarbeitenden Gewerbe beschäftigten Arbeitnehmer an der Gesamtzahl aller Arbeitnehmer betrug 2002 in Stuttgart 21,8 %, das sind nur unwesentlich weniger als im gesamtdeutschen Durchschnitt (22,1 %). Lediglich in Duisburg (21,3 %), in Nürnberg (19,9 %) und in Bremen (19,5 %) betrug diese sektorale Beschäftigungsquote ebenfalls etwa ein Fünftel.
Bedeutsame Standorteffekte Mit Hilfe der sektoralen Anteilswerte lässt sich abschätzen, inwieweit der relativ hohe Pro-Kopf-Wert für das Arbeitnehmerentgelt Stuttgarts auf strukturellen Effekten basiert, also vor allem der markanten Ausrichtung auf das Verarbeitende Gewerbe, oder aber auf – interregional verglichen – höhere Arbeitnehmereinkommen Stuttgarts in den einzelnen Branchen und damit gewissermaßen auf Standorteffekte zurückzuführen ist. Im Rahmen eines Vergleichs Stuttgarts mit dem Bundesdurchschnitt wurden die bundesdeutschen Werte für das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer in sechs Wirtschaftsbereichen mit der jeweiligen Zahl der Arbeitnehmer Stuttgarts multipliziert und anschließend das so errechnete, fiktive Arbeitnehmerentgelt je Wirtschaftsbereich aufsummiert und durch die Gesamtzahl der Arbeitnehmer Stuttgarts dividiert. Nach dieser Berechnung würde sich für Stuttgart ein strukturbedingtes Arbeitnehmerentgelt
von 33.395 Euro je Arbeitnehmer ergeben; dies bedeutet, dass die beträchtlichen Unterschiede im Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer zwischen Stuttgart (41.500 Euro je Arbeitnehmer) und dem Bundesdurchschnitt (32.700 Euro je Arbeitnehmer) nur zum geringeren Teil auf direkt messbare strukturelle Besonderheiten und damit in stärkerem Maße auf höhere Einkommen Stuttgarts in den einzelnen, hier sechs Wirtschaftsbereichen zurückzuführen sind. Allerdings dürfte – wie angedeutet – ein nicht unerheblicher Teil der zuletzt genannten standortbezogenen Effekte insoweit auch struktureller Natur sein, als gerade innerhalb des Verarbeitenden Gewerbes in Stuttgart solche Wirtschaftszweige besonders stark vertreten sind, in denen überproportional hohe Löhne und Gehälter gezahlt werden, wie vor allem im Fahrzeugbau.
Dresden als Städte mit 2002 etwas weniger als 500.000 Einwohner. Nicht einbezogen werden kann dagegen Hannover, da in allen VGR-Kreisdaten niedersächsische Landeshauptstadt als Teil der Region Hannover nicht mehr separat dargestellt wird. 3) Vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2003 für die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2003, S. 586 bis 589.
Werner Münzenmaier, Stuttgart
Anmerkungen
1) Vgl. Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder - Reihe 2 Kreisergebnisse, Band 2: Arbeitnehmerentgelt in den kreisfreien Städten und Landkreisen Deutschlands 1996 bis 2002, herausgegeben vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg im Auftrag des aus den statistischen Landesämtern der 16 Bundesländer, dem Statistischen Bundesamt und dem Bürgeramt, Statistik und Wahlen, Frankfurt a.M. bestehenden Arbeitskreises „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“, Stuttgart 2004; Erwerbstätigenrechnung – Reihe 2 Kreisergebnisse: Erwerbstätige in den kreisfreien Städten und Landkreisen der Bundesrepublik Deutschland 1991 bis 2002, herausgegeben vom Arbeitskreis „Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder“ im Auftrag der statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Wiesbaden 2004. 2) Die Untersuchung erstreckt sich auch auf Leipzig, Nürnberg und
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DATEN DER EINKOMMENSSTEUERSTATISTIK
Eine hervorragende Zahlenquelle für die kleinräumige Analyse in Dortmund
Daten der Einkommenssteuerstatistik 28000 verdienen unter 15000 Euro
Jede Stadt, wie klein auch immer, ist in Wahrheit zweigeteilt; die eine ist die Stadt der Armen und die andere die der Reichen… (Plato, Die Republik, 370 v.Chr.) Angaben über Einkommensgröße und -art spiegeln mehr als andere Merkmale den jeweiligen Status sowie die soziale Lage der Bevölkerung wider. Die kleinräumige Verfügbarkeit dieser Daten ermöglicht es, Aussagen über die Heterogenität von Stadtteilen zu treffen und lässt damit Rückschlüsse über die Ausgestaltung der sozialen Umwelt zu.
56% der Ehepaare sind Doppelverdiener
Pro Jahr netto 20500 Euro
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In einem Pilotvorhaben verschiedener Städte aus Nordrhein-Westfalen und des Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik (LDS) wurden die amtlichen Ergebnisse zum ersten Mal in kleinräumiger Aufbearbeitung vorgelegt. Erhebungsgrundlage der Einkommensteuerstatistik sind die von den Finanzbehörden bearbeiteten Lohn- und Einkommensteuererklärungen. Da den Steuerpflichtigen Erklärungsfristen von bis zu zwei Jahren eingeräumt werden, sind die aktuell vorliegenden Daten das Ergebnis aus dem Veranlagerungsjahr 1998. Die verwendeten Begriffe entsprechen den Definitionen aus dem Steuerbescheid1. Im Vergleich zu anderen Statistiken ist darauf zu achten, dass der durchschnittliche Einkommensbetrag stark variiert, je nach dem auf welche Einkommensart er
bezogen wird. Darüber hinaus sind Steuerpflichtige nicht mit Einzelpersonen gleichzusetzen, da Ehegatten, die zusammen veranlagen, als ein Steuerpflichtiger gelten. Über die vorliegende Statistik werden keine Transferleistungen wie z.B. Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld erfasst. Aus diesem Grund sind die Zahlen inkongruent zur Wirtschaftskraft.
Gesamtstädtische Betrachtung Im Jahr 1998 erzielten die ca. 190.000 Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen der Stadt Dortmund positive Einkünfte von rund 6 Mrd. EUR. Dabei entfallen etwa je 50 % der Steuererklärungen auf Einzelpersonen sowie auf Ehegatten nach Splittingtabelle. Von den Ehepaaren wiederum waren 56 Doppelverdiener und 44 % Alleinverdienende. Unter Berücksichtigung dessen mussten ca. 240.000 Personen Lohn- oder Einkommensteuer zahlen. Das sind 41,3 % der Dortmunderinnen und Dortmunder, bzw. 60 % der erwerbsfähigen Bevölkerung2. Immerhin vier von zehn Personen im Erwerbsalter haben also kein oder jedenfalls kein steuerpflichtiges eigenes Einkommen. In Dortmund beträgt das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Steuerpflichtigen 26.594 EUR, wovon nach Abzügen und Steuern 20.501 EUR als Netto-Einkommen verbleiben. Wie bereits erläutert
werden dabei Ehepaare, die per Splittingtabelle veranlagen, gemeinsam als ein Steuerpflichtiger geführt. Betrachtet man die Einkünfte nach Größenklassen, so entfallen 28 % der Steuerpflichtigen in die niedrigste Gruppe mit Einkünften unter 15.000 EUR und ein gutes Drittel in die Stufe 15.000 – 30.000 EUR. In den oberen Einkommensgruppen befinden sich weniger Steuerpflichtige: Fast ein Viertel verdient zwischen 30.000 – 50.000 EUR pro Jahr, 12 % erzielen Einkommen zwischen 50.000 – 100.000 EUR und nur 2,2 % der Steuerpflichtigen erwirtschaften Einkünfte von über 100.000 EUR. Zusammenfassend erzielen drei Viertel der steuerpflichtigen Dortmunderinnen und Dortmunder ein Einkommen von weniger als 37.500 EUR pro Jahr. Der Anteil der Steuerpflichtigen ohne Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit variiert zwischen 8 und 21 % und liegt durchschnittlich bei 13,7 %. Dieser Indikator beschreibt die sozialökonomische Erwerbsstruktur. Er kann nicht mit der Anzahl der Selbständigen gleichgesetzt werden, da auch Einkommen aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung etc. hinzugerechnet werden. Steuerpflichtige ohne Einkünfte aus nicht-selbstständiger Arbeit verdienen mit rund 48.000 EUR pro Jahr im Schnitt 60 % mehr als „abhängig Beschäftigte“3 (30.000 EUR).
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DATEN DER EINKOMMENSSTEUERSTATISTIK
Kinderfreibeträge werden nach dem Einkommensteuergesetz für Kinder unter 18 Jahre und für solche im Wehr- oder Zivildienst, Ausbildung oder Studium etc. bis zum 27. Lebensjahr gewährt. Auf gesamtstädtischer Ebene veranlagen 66,5 % der Steuerpflichtigen ohne Kinderfreibetrag, einen Kinderfreibetrag haben 17 %, zwei Freibeträge 12 % und mit drei oder mehr Kinderfreibeträgen veranlagen über 4 % aller Steuerpflichtigen. Die Differenzierung zwischen Grund- und Splittingtabellenfällen wird in Grafik 1 verdeutlicht. Steuerpflichtige ohne Kinderfreibetrag haben mit 22.700 EUR das niedrigste Einkommen im Vergleich zu denen mit Freibeträgen. Die höchsten Einkommen dieser Kategorie werden in der Splittingtabelle bei zwei und in der Grundtabelle bei drei oder mehr Kinderfreibeträgen erzielt (siehe Grafik 2). Dabei wird das Kindergeld nicht mitberechnet.
men, wie drei Viertel der Steuerpflichtigen, die ein Einkommen von weniger als 37.500 EUR pro Jahr erwirtschaften. Durch den Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit soll in der Steuerpolitik soziale Gerechtigkeit gewahrt und gestärkt werden. Daher müssten die kleinräumigen Unterschiede beim zu versteuerndem Einkommen größer sein, als beim Nettoeinkommen. In Rombergpark-Lück lem berg beträgt das zu versteuernde Einkommen pro Steuerpflichtigen mit rund 54.000 EUR fast das 3,5-fache vom Borsigplatz, dem Bezirk mit dem geringsten Durchschnittseinkommen. Nach Abzug der Lohn- und Einkommensteuer verringert sich der Unterschied auf das 2,8-fache. Auch die Standardabweichung reduziert sich von
Der durchschnittliche Steuersatz beschreibt das Verhältnis zwischen dem Gesamtbetrag des zu versteuernden Einkommens und der zu zahlenden Einkommensteuer. Nach der Statistik des Erhebungsjahres 1998 beträgt die durchschnittliche Steuerbelastung in der Stadt Dortmund 22,2 %. Da der Steuersatz progressiv mit den positiven Einkünften steigt, liegt er in einkommensstarken Bezirken mit bis zu 32 % mehr als doppelt so hoch wie in einkommensschwachen Gegenden (15 %). Insgesamt tragen 2,2 % der Steuerpflichtigen, die Einkünfte über 100.000 EUR erzielen, mit über 27 % den gleichen Anteil am Lohn- und EinkommensteueraufkomStadtforschung und Statistik 2/ 05
ca. 7.000 EUR auf rund 4.500 EUR. Damit verringert die progressive Besteuerung die Unterschiede im Einkommen.
Kleinräumige Betrachtung Die kleinräumige Verfügbarkeit der Einkommensdaten lässt differenzierte Aussagen über die Struktur der einzelnen Statistischen Bezirke zu. In 69 % der Stadtteile werden Einkommen in der Größenordnung des Durchschnitts (26.500 EUR) erzielt. Drastisch unter dem Schnitt liegt das Einkommen in 7 Bezirken, während 11 Bezirke eindeutig darüber liegen. Grafik 3 veranschaulicht die innerstädtische Einkommensverteilung, wobei ein mit anderen Städten des Ruhrgebiets vergleichbares Nord-Süd-Gefälle zutage tritt.
Grafik 1
Grafik 2
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DATEN DER EINKOMMENSSTEUERSTATISTIK te aus nicht-selbständiger Arbeit mit 18.000 EUR rund ein Drittel weniger als „abhängig Beschäftigte“. Dies könnte mit der Struktur des Bezirkes und der hohen Anzahl an Kleingewerbebetrieben zusammen hängen.
Grafik 3
Ausgeprägte räumliche Disparitäten
Im Durchschnitt 85000 Euro
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Die kleinräumigen Unterschiede in der Einkommenshöhe und -verteilung werden durch die unterschiedliche Erwerbsbeteiligung noch verstärkt. Während im Süden um die 80 % der erwerbsfähigen Bevölkerung steuerpflichtig sind und direkt oder im Rahmen der Ehegatten-Regelung steuerlich veranlagt werden, liegt dieser Anteil in den nördlichen Bezirken zum Teil unter 40 %. Durch diese doppelte Verstärkung erwirtschaftet im Ergebnis unter der Annahme einer gleichen Anzahl erwerbsfähiger Personen der Bezirk RombergparkLücklemberg ein fast sechs mal höheres Netto-Einkommen als der Borsigplatz. Ausgeprägte räumliche Disparitäten lassen sich beim Anteil der Steuerpflichtigen ohne Einkünfte aus nicht-selbständiger Arbeit feststellen. So verdienen diese in Rombergpark-Lücklemberg mit durchschnittlich 160.000 EUR pro Jahr fast drei Mal so viel wie die „abhängig Beschäftigten“ im selben Bezirk. Zu ganz anderen Ergebnissen kommt man in Scharnhorst-Ost. Dort verdienen Steuerpflichtige ohne Einkünf-
In fast allen Innenstadtbezirken veranlagen weiter über 50 % der Steuerpflichtigen nach Grundtabelle. Während bei den Grundtabellenfällen eine Konzentration auf die City festzustellen ist, streuen sich die Steuerpflichtigen nach Splittingtabelle über das ganze Stadtgebiet. Dabei bleibt die Einkommensdisparität getrennt nach Veranlagerungsart weitgehend identisch zur allgemeinen Verteilung. In Dortmund geben 48 % der gemeinsam veranlagenden Steuerpflichtigen keinen Kinderfreibetrag an. Die meisten Splittingtabellenfälle ohne Freibetrag leben in der Innenstadt (61 %), einen oder zwei Kinderfreibeträge findet man vor allem in den ländlich geprägten Vororten Dortmunds, während in der Nordstadt viele Steuerpflichtige mit drei oder mehr Kinderfreibeträgen leben. Bei Betrachtung des Einkommens je Steuerpflichtigem in den unterschiedlichen Gruppen tritt wiederum die bekannte Verteilung zutage. Dabei sind Kinderfreibeträge in einkommensstarken wie -schwachen Familien zu finden. Zu bedenken ist an dieser Stelle, dass für studierende Kinder bis zum 27. Lebensjahr Freibeträge gewährt werden. Damit tauchen sie in der vorliegenden Statistik länger auf, als Kinder mit einem geringeren Bildungsabschluss. Die Verteilung bei Grundtabellenfällen entspricht im we-
sentlichen der Splittingtabelle. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang Eichlinghofen. Hier sind die Einkommen nach Grundtabelle ohne Kinderfreibetrag nur unterdurchschnittlich, während bei allen anderen Freibeträgen der Bezirk zu den Top 10 der Stadt gehört. Das könnte mit der hohen Anzahl an Studenten zusammen hängen, die vorzugsweise in diesem Viertel nahe der Universität wohnen. Den höchsten Anteil an Alleinverdienern bei Steuerpflichtigen nach Splittingtabelle haben die Nordstadt-Bezirke mit 57 – 63 %. Das könnte mit der hohen Ausländerquote von bis zu 50 % in diesen Vierteln zu Tun haben. Gleichzeitig sind es auch diejenigen Bezirke, in denen das durchschnittliche Einkommen pro Allein- oder Doppelverdiener am geringsten ist (ca. 15.000 EUR bzw. ca. 25.000 EUR). Der höchste Anteil an doppelverdienenden Ehegatten findet sich in den Bezirken der Südstadt mit um die 70 %. Hier werden durchschnittliche Einkommen je Steuerpflichtigem bis zu 60.000 EUR (Alleinverdiener) bzw. 85.000 EUR (Doppelverdiener) erzielt.
Ausländerquote In Bezirken mit einem hohen Ausländeranteil sind die Nettoeinkommen der Einwohner unterdurchschnittlich. Daraus lässt sich aber nicht schließen, dass in Bezirken mit einem niedrigen Ausländeranteil die Nettoeinkommen überdurchschnittlich sind. So wohnen beispielsweise in klassischen Arbeitervierteln nur 3 – 5 % Ausländer, die Nettoeinkommen pro Einwohner liegen dessen ungeachtet etwas unter dem Stadtdurchschnitt. Die
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DATEN DER EINKOMMENSSTEUERSTATISTIK niedrigen Nettoeinkommen bei hoher Ausländerquote zeugen u.a. von der hohen Anzahl Steuerpflichtiger, die Einkünfte unter 15.000 EUR pro Jahr erwirtschaften. Die NordstadtBezirke haben Ausländerquoten bis zu 50 %. Hier verdienen mehr als 40 % der Steuerpflichtigen weniger als 15.000 EUR.
Wohnfläche Personen, die ein größeres Einkommen erwirtschaften, können mehr Geld für ihre Lebenshaltungskosten ausgeben und sich eine größere Wohnung leisten. Diese Vermutung kann durch die kleinräumige Einkommensteuerstatistik bestätigt werden, nach der ein ausgeprägter Zusammenhang (Korrelation von 0,84) zwischen der durchschnittlichen Wohnfläche pro Person und jeweiligen Nettoeinkommen nachgewiesen werden kann. Die durchschnittliche Wohnfläche in Gebäuden mit Wohnraum beträgt in Dortmund 36 qm pro Kopf4; die Wohnfläche pro Wohnung 72 qm. Die größten Wohnungen mit durchschnittlich zum Teil weit über 90 qm befinden sich in den Bezirken mit dem größten Einkommen (z.B. Rombergpark-Lücklemberg und Holzen). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Wohnfläche pro Person am Westfalendamm, die mit 45 qm führend in Dortmund ist. Dass dort die Einkommen nur an sechster Stelle liegen, können am großen Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre liegen. Die kleinste Wohnfläche in Gebäuden mit Wohnraum findet sich in Scharnhorst-Ost mit ca. 28 qm pro Person. Auch am Nordmarkt und Borsigplatz stehen pro Kopf nur 29 qm zur
Verfügung. In diesen Bezirken wird ausnahmslos ein Einkommen von rund 20 % unter dem Stadtdurchschnitt erzielt. Eine Ausnahme zum positiven Zusammenhang Einkommen – Wohnfläche bildet der Statistische Unterbezirk Eichlinghofen. Dort werden zwar durchschnittliche Einkommen pro Steuerpflichtigem von ca. 30.000 EUR erwirtschaftet, die Wohnfläche pro Wohnung beträgt aber nur 58 qm und steht damit an zweit niedrigster Stelle in Dortmund. Dies könnte mit dem großen Anteil von Einkünften unter 15.000 EUR zu tun haben, welche die heterogene Struktur des Stadtteils widerspiegeln. Es ist davon auszugehen, dass die große Anzahl von Studenten den Durchschnitt der Wohnfläche nach unten drückt.
PKW Bekanntermaßen gelten Angaben über PKW/ Kombi5-Zulassungen als Wohlstandsindikator. So hängen auch in Dortmund die Einkommensverteilung und die Zulassungen unter acht Jahren hängen eng miteinander zusammen (Korrelation 0.8): Wer weniger verdient, wechselt sein Auto nicht so häufig. Am Borsigplatz sind 60 % der zugelassenen PKW über acht Jahre alt. Da dort im Stadtdurchschnitt die wenigsten Kraftfahrzeuge zugelassen werden, kommt man auf eine Verteilung von 10 Personen pro PKW unter acht Jahren. Hier findet sich auch die höchste Anzahl von PKW mit weniger als 50 PS. Auf die ganze Stadt gesehen ergibt sich ein ausgeprägter Zusammenhang (Korrelation ca. 0,7) zwischen dem Nettoeinkommen bezogen auf
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die Gesamtbevölkerung und der PS-Zahl. In einkommensstarken Bezirken liegt der Anteil an Neuzulassungen um die 70 %. Hier haben die meisten Einwohner in den letzen acht Jahren ihr Kraftfahrzeug gewechselt. Den höchsten Wert an PKW-Zulassungen hat Wichlinghofen mit 575,5 PKW pro 1.000 Personen (1,7 EW/ Auto), wobei die meisten PKW zwischen 75 und 149 PS liegen. Auch in der Innenstadt müssen sich weniger als zwei Personen ein Auto teilen, obwohl das Nettoeinkommen nur durchschnittlich ist. Da hier die meisten Steuerpflichtigen per Grundtabelle besteuert werden (69,7 %), ist davon auszugehen, dass besonders viele Einwohner alleine leben und ihr Auto als Einzelperson nutzen. Kraftfahrzeuge können entweder vom Autohändler oder vom Eigentümer selbst angemeldet werden. Deswegen ist davon auszugehen, dass in Bezirken mit einer Vielzahl von Autohändlern die Quote aufgrund von Tageszulassungen besonders hoch ist.
Positive Beziehung zwischen Einkommen und PKW
Martina Schwytz, Dortmund
Anmerkungen 1
2 3 4 5
siehe auch: Einkommensteuergesetz 1998. In: Steuergesetze 1998, Bundesanzeiger, 50/61a, Bonn 1998 15 bis 64 Jahre „abhängig Beschäftigte“ = Steuerpflichtige mit Einkommen aus nicht-selbstständiger Arbeit Bezugsgröße = Wohnbevölkerung im Folgenden wird statt „PKW/ Kombi“ nur „PKW“ geschrieben
Zusammenhang zwischen Einkommen und Wohnungsgröße
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DIE DIMENSION „URBANISMUS“
Einzeldimensionen der Stadtstruktur – Städtevergleich
Die Dimension „Urbanismus“ Einleitung Für die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung der zentralen Tendenzen der Stadtentwicklung in Deutschland ist eine Differenzierung des Stadtgebietes erforderlich. Dabei stellen Raum-/Stadtteiltypen, die über die Zeit konstant gehalten werden, ein nützliches Instrument für eine stadtstrukturelle Entwicklungsbeobachtung dar, wie sie das BBR zum Ziel hat. Bei den rund 2.500 Stadtteilen der Innerstädtischen Raumbeobachtung des BBR (IRB) gleicht kein Stadtteil genau dem anderen. Das äußere Bild und die interne Struktur eines jeden Stadtteils wird durch die städtebaulichen Gegebenheiten, die Wohnverhältnisse und die sozialen Lebensbedingungen verschiedener Bevölkerungsgruppen bestimmt. Trotz der Einzigartigkeit eines jeden Stadtteils gibt es jedoch „typische“ Gebiete, in denen Abb. 1: Indikatoren - Faktoranalyse
bestimmte Merkmale mehr oder weniger stark räumlich konzentriert auftreten. Diese „typischen“ Gebiete sind nicht nur stadtspezifisch, sondern lassen sich in allen Städten wiederfinden und bestimmen die Stadtstruktur. Der Unterschied zwischen den Städten besteht dann – zumindest aus Sicht der vergleichenden Stadtforschung – vor allem darin, wie häufig und in welcher Konstellation die „typischen“ Gebiete vorkommen. Eine Aufgabe des 1995 von Städten und der damaligen BfLR (heutiges BBR) gegründeten Gemeinschaftsprojekts „Stadtteiltypisierung“ bestand darin, herauszufinden, mit welchen zentralen und vergleichbaren Dimensionen sich die Stadtstruktur deutscher Städte stadtübergreifend beschreiben lässt, und mit welchen Methoden diese zentralen Dimensionen bestimmt werden können. Die Untersuchung bestehender Stadtteiltypisierungen führte die Arbeitsgruppe zu dem Ergebnis, dass es trotz stadtspezifischer Merkmalsauswahl weitgehend vergleichbare stadtübergreifende Merkmalsdimensionen gibt, mit denen sich die Stadtstruktur deutscher Städte abbilden lässt. Zur Bestimmung dieser Dimensionen wurde häufig eine Faktorenanalyse durchgeführt (vgl. Böltken, F., Göddecke-Stellmann, J., Ley, W. u. S. Reicherts 1996). Die zentralen Merkmalsdimensionen wurden von der Arbeitsgruppe mit folgenden Überschriften versehen: • Sozialer Status • Soziale Probleme / Segrega-
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tion • Lebenszyklus /Altensegregation • Urbane Verdichtung Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, sich anhand einer Faktorenanalyse nochmals der generellen Bedeutung von Merkmalsdimensionen zur Beschreibung der Stadtstruktur zu versichern und einige stadtvergleichende Ergebnisse zur Merkmalsdimension „Urbanismus“ vorzustellen. Dabei stellen die extrahierten Faktoren keine abschließend diskutierten Dimensionen dar, sondern sind als Ansatzpunkt für weitere und vertiefende Überlegungen zu verstehen.
Datenbasis Mit der Faktorenanalyse wird eine Vielzahl von Variablen entsprechend ihrer statistischen Zusammenhänge, die sie untereinander haben, in wenige, voneinander unabhängige Merkmalsgruppen, so genannte Faktoren, zusammengefasst. Mit Hilfe der extrahierten Faktoren kann dann die Stadtstruktur beschrieben werden. In die vorliegende Analyse sind insgesamt 20 Indikatoren aus den Bereichen Bevölkerungsstruktur / -bewegung, Familienstand, Soziales und Flächennutzung eingegangen (s. Abb. 1), die sich an verschiedenen Stadtteiltypisierungen einzelner Städte oder stadtübergreifender Stadtteiltypisierungen orientieren (u.a. Berger, G. 1991, Geisler, J. u. T. Parpart 1981, Strohmeier, K. P., Zimmer-Hegmann, R. et al. 2003, Warmelink, F. u. K. Zehner 1996). Leider konnten aufgrund fehlender oder unzurei-
Stadtforschung und Statistik 2/ 05
DIE DIMENSION „URBANISMUS“ chend vorhandener Merkmale in der Datenbasis, dem IRBDatensatz 2003, nicht immer die „Wunschindikatoren“, wie z.B. „Anteil Einpersonenhaushalte“ oder „Anteil Ein- und Zweifamilienhäuser“ berechnet werden und daher auch nicht in die Analyse eingehen. In die Faktorenanalyse sind insgesamt 726 Stadtteile aus 17 Städten eingegangen (Bonn, Dortmund, Duisburg, Essen, Frankfurt am Main, Gelsenkirchen, Halle, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Köln, Krefeld, Ludwigshafen, Magdeburg, Oberhausen, Offenbach und Wiesbaden). Die Faktorenextraktion basiert auf einer Hauptkomponentenanalyse, d.h. die statistische Unabhängigkeit der Faktoren wird unterstellt (vgl. Bahrenberg, G., Giese, E. u. J. Nipper 1992, S. 219). Zur besseren Interpretierbarkeit wurde zum einem eine Varimaxrotation durchgeführt, zum anderen die Zahl der extrahierten Faktoren nach mehreren Durchläufen mit unterschiedlicher Anzahl Faktoren auf drei Faktoren / Dimensionen eingeschränkt. Diese lassen sich aufgrund ihrer Merkmalskonstellation mit den Begriffen „Urbanismus“, „Soziale Lage“ und „Altenkonzentration“ beschreiben. Diese Begrifflichkeit der Faktoren / Dimensionen orientiert sich dabei auch an den immer wieder in der Literatur beschriebenen Ergebnissen (vgl. u.a. Böltken, F., Göddecke-Stellmann, J., Ley, W. u. S. Reicherts 1996, Hermann, T. 1992, Ruten, C. 2003, Stadt Nürnberg (Hrsg.) 1991 etc.). In Abbildung 2 sind aus Gründen der Übersichtlichkeit die Faktoren und diejenigen Merkmale aufgelistet, deren Faktorladungen mindestens +/-0,5 betragen und somit
einen hohen Zusammenhang mit dem Faktor aufweisen. Im Folgenden wird jedoch nur auf den Faktor „Urbanismus“ eingegangen. Faktor „Urbanismus“ Der Faktor „Urbanismus“ zeigt sehr hohe Ladungen bei den Merkmalen zum Familienstand, zur Bevölkerungsdichte, zu bestimmten Altersgruppen und Flächennutzungsarten. Mit dem Faktor wird eine Spannbreite zwischen eher städtischen und eher familiär geprägten Lebensformen bzw. Bevölkerungsgruppen beschrieben. Betrachtet man die Variablen mit hohen positiven Faktorladungen (vgl. Abb. 2), sind das Merkmale, die eher das „Urbane“ beschreiben. Zu den Merkmalen gehören u.a. • die „Bevölkerungsdichte“, die mit steigenden Faktorwerten in der Tendenz zunimmt und hier als Maß städtischer Konzentration dient. Bevölkerungsdichte liefert einen Beitrag zur „Urbanität“, wenn man sie u.a. „als das Aufeinandertreffen vieler unterschiedlicher, unbekannter Menschen auf relativ engem Raum“ versteht, dass bestimmte „städtische Lebensweisen“ hervorbringt (vgl. Böltken, F. 1979, S. 22). Obwohl dieses Zitat schon älter ist, hat die Aussage auch heute noch Gültigkeit. • die „Altersgruppe der 18 bis unter 30-Jährigen“, die in der Lebensphase der Ausbildung und der beruflichen Orientierung tendenziell eher in den innenstädtischen Gebieten lebt, • das Merkmal „Anteil Familienstand ledig am Familienstand insgesamt“, das zum einen als Hinweis auf lebensphasentypischen Lebensstil interpretiert wer-
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den kann und zum anderen mit einigen Einschränkungen Rückschlüsse auf Haushaltsstruktur zulässt, • die Flächennutzungsarten „Anteil Sondergebiets- und Mischgebietsflächen an der Gebietsfläche insgesamt“ als Indikator städtischer Nutzungsvielfalt.
Abb. 2: Faktoren, Merkmale und Faktorladungen
Dem gegenüber beschreiben die Indikatoren mit hohen negativen Faktorladungen „Anteil Familienstand verheiratet am Familienstand insgesamt“, „Anteil der Altersgruppe der unter 18-Jährigen“ und der mit abnehmenden Faktorwerten tendenziell ansteigende „Anteil Freiflächen an der Gebietsfläche insgesamt“ das „Familiäre“, das sich typischerweise eher am weniger verdichteten Stadtrand wiederfinden lässt. Indexbildung Die Indexbildung stellt den Versuch dar, den Faktor „Urbanismus“ durch eine Kombination der drei höchst ladenden Merkmalen zu fassen, die weitgehend flächendeckend im IRB-Datensatz 2003 zur Verfügung stehen, um somit mehr Stadtteile in die stadtvergleichende Analyse einbeziehen zu können. Während bei der Faktorenanalyse nur 726 Stadtteile der rund 2.500 Stadtteile beschrieben werden können, ist es durch die Indexbildung möglich 1.988 Stadtteile aus 35 Städten in die Analysen einzubeziehen. Die drei höchst ladenden Indikatoren für den Index „Urbanismus“ sind „Anteile Familienstand (ledig und verheiratet) am Familienstand insgesamt“ die „Einwohnerdichte“ und der „Anteil der 18 bis unter 30-Jährigen an der Bevölkerung insgesamt“ (vgl. Abb. 2). Um eine doppelte Gewichtung des Familienstands zu vermeiden, geht nur der
Der Faktor „Urbanismus“:
Familienstand, Einwohnerdichte, junge Leute
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DIE DIMENSION „URBANISMUS“ „Anteil Familienstand verheiratet am Familienstand insgesamt“ in den Index ein. Bei der Art der Indexbildung wird die Gleichgewichtigkeit der Indikatoren unterstellt.
Abb. 3: Klassengrenzen Index „Urbanismus“
Für die Indexbildung werden die drei Indikatoren in Quintile eingeteilt und aufsummiert, so dass sich für den Index „Urbanismus“ ein Wertebereich von 3 bis 15 ergibt. Anschließend
werden die Indexwerte in drei Klassen eingeteilt (Grad Urbansimus niedrig, mittel und hoch). Die Klassen werden so gewählt, dass die mittlere Klasse am stärksten besetzt ist, um die Gebiete mit niedrigem bzw. hohem Grad Urbanismus deutlicher herauszustellen. In der nebenstehenden Abbildung 3 sind die Klassengrenzen für den Index dargestellt.
Die Verteilung der IRB-Stadtteile nach dem Grad „Urbanismus“ zeigt sich folgendermaßen: 28 % der 1.988 Stadtteile fallen in die Klasse mit niedrigem Grad „Urbanismus“, 44 % in die mit mittlerem Grad „Urbanismus“ und 28 % in die verbleibende Klasse mit hohem Grad „Urbanismus“. Betrachtet man den Grad „Urbanismus“ differenziert nach der Lage „Innere Stadt“ (Innenstadt und Innenstadtrand = 785 Stadtteile) und „Äußere Stadt“ (restliches Stadtgebiet = 1092 Stadteile), entfallen, wie nicht anders zu erwarten, über die Hälfte, nämlich rund 55 % der Stadtteile der „Inneren Stadt“, in die Klasse mit hohem Grad „Urbanismus“, während nur rund 10 % der Stadtteile der „Inneren Stadt“ einen niedrigen Grad „Urbanismus“ aufweisen. Von den 1092 Stadtteilen der „Äußeren Stadt“ sind immerhin noch gut 10 % durch einen hohen Grad „Urbanismus“ gekennzeichnet.
Urbanismus – Städtevergleich Nachdem die Einzeldimension „Urbanismus“ hergeleitet und erläutert wurde, werden im Folgenden einige stadtvergleichende Ergebnisse auf Basis des Index vorgestellt. Dabei soll u.a. überprüft werden, ob die Klassen „Urbanismus“ niedrig, mittel und hoch bezüglich einiger Indikatoren ausreichend differenzieren, und ob sich die Art der Differenzierung in der Tendenz in allen Städten zeigt. Bevölkerungsverteilung nach dem Grad „Urbanismus“ In Abb. 4 sind die Bevölkerungsanteile 2003 für jede Stadt dargestellt, die in Stadtteilen mit niedrigem, mittlerem 52
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DIE DIMENSION „URBANISMUS“ oder hohem Grad „Urbanismus“ leben. Die Städte sind absteigend nach dem Anteil der Bevölkerung in Stadtteilen mit hohem Grad „Urbanismus“ sortiert. Wie aus der Abbildung hervorgeht, leben in Freiburg i. Br. 2003 mit rund 67 % die meisten Menschen in Stadtteilen, die durch einen hohen Grad „Urbanismus“ gekennzeichnet sind. Die restlichen 33 % der Einwohner leben in Stadtteilen, die aus der stadtvergleichenden Bundessicht in die Klasse mit mittlerem Grad „Urbanismus“ fallen. Die Klasse niedriger Grad „Urbanismus“ fehlt in Freiburg vollständig, was auf die Art der Klassenbildung und -abgrenzung zurückzuführen ist. Stadtteile, die aus Sicht der vergleichenden Stadtforschung einen mittlerem Grad „Urbanismus“ aufweisen, würden z.T. aus der Perspektive der Stadt Freiburg sicherlich in die Klasse mit niedrigem Grad „Urbanismus“ fallen. Weitere Städte mit hohen Bevölkerungsanteilen in Stadtteilen, die durch einen hohen Grad Urbanismus gekennzeichnet sind, sind Regensburg, Leipzig, Heidelberg, Berlin, Leipzig und München. Die ersten drei Städte sind „kleinere“ Großstädte mit großen Universitäten. Berlin, Leipzig und München verfügen ebenfalls über eine große Universität und sind zudem attraktive und wachsende Großstädte, so dass auch hier viele junge Menschen zum Studium, zur Ausbildung oder zum Arbeiten kommen. In diesen Städte fallen sehr häufig die Merkmale hoher Anteil der 18 bis unter 30-Jährigen an der Bevölkerung, hohe Bevölkerungsdichte und geringer Anteil Verheiratete am Familienstand räumlich zusammen, so dass viele Stadtteile einen hohen Grad
„Urbanismus“ aufweisen und dementsprechend auch der Anteil Bevölkerung sehr hoch ist, der in solchen Stadtteilen lebt. Demgegenüber tritt diese Merkmalskombination in den Stadtteilen der drei Ruhrgebietsstädte Oberhausen, Duisburg und Gelsenkirchen viel seltener auf, weswegen in diesen Städten nur zwischen 6,6 % und 8,7 % der Einwoh-
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ner in Stadtteilen leben, die durch einen hohen Grad „Urbanismus“ gekennzeichnet sind. Der überwiegende Teil der Einwohner lebt hier in Stadtteilen mit mittlerem Grad „Urbanismus“, der sich aus der häufig auftretenden Merkmalskombination mittlerer bis niedriger Anteil der 18 bis unter 30-jährigen an der Bevölkerung, mittlere bis hohe Bevöl-
Abb. 4: Bevölkerungsanteile 2003 in Stadtteilen differenziert nach dem Grad Urbanismus
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DIE DIMENSION „URBANISMUS“
Abb. 5: Ausländeranteil 2003 in Stadtteilen differenziert nach dem Grad „Urbanismus“
kerungsdichte und mittlere bis hohe Anteile Verheiratete am Familienstand ergibt. Mit der hier gezeigten Verteilung der Bevölkerung nach dem Grad „Urbanismus“ wird deutlich, dass diese Einzeldimension, die ja das „Städtische“ beschreibt, auch in relativ kleinen Städten stark und in relativ großen Städten schwach ausgeprägt sein kann.
werden können. Was leistet „Urbanismus“? Hier soll anhand einiger Indikatoren gezeigt werden, ob die Dimension „Urbanismus“ mit weiteren Merkmalen zur komplexeren Beschreibung „urbaner“ Verhältnisse verbunden ist, und damit andere Merkmale durch die relativ einfach gebildete Dimension mehr oder weniger stark mit erfasst
Abbildung 5 zeigt den Ausländeranteil 2003 in Stadtteilen differenziert nach dem Grad „Urbanismus“. Die Städte sind absteigend nach dem durchschnittlichen Ausländeranteil sortiert. Die vier höchsten durchschnittlichen Ausländeranteile weisen die Städte Offenbach (31,4 %), Frankfurt am Main (27,3 %), Stuttgart (23,8 %) und München (23,5 %) auf. Am unteren Ende der Rangskala liegen erwartungsgemäß die ostdeutschen Städte Leipzig (5,2 %), Halle (3,9 %), Dresden (3,7 %) und Magdeburg (3,5 %). Bis auf Ingolstadt und Koblenz, wo die höchsten Ausländeranteile in den Stadtteilen mit mittlerem Grad „Urbanismus“ erreicht werden, zeigt sich in allen Städten, dass mit abnehmenden Grad „Urbanismus“ auch die Anteile der ausländischen Bevölkerung abnehmen, auch wenn natürlich die Höhe der Ausländeranteile nach dem Grad „Urbanismus“ von Stadt zu Stadt unterschiedlich ist. Weit überdurchschnittliche Ausländeranteile in Stadtteilen mit hohem Grad „Urbanismus“ werden in Ludwigshafen (44,0 %) und Offenbach (45,5 %) erreicht. Hier liegen die Ausländeranteile um 23,5 % bzw. um 13,2 % über dem städtischen Durchschnitt. In Abbildung 6 ist für das Jahr 2003 die Anzahl Arbeitslose je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter (15 bis 65 Jahre) in Stadtteilen differenziert nach dem Grad „Urbanismus“ dargestellt. Die Rangliste der Städte ist hier wie beim Ausländeranteil absteigend nach dem Stadtdurchschnitt sortiert. Die höchsten durchschnittlichen Arbeitslosenzahlen je 100 Einwohner im
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DIE DIMENSION „URBANISMUS“ erwerbsfähigen Alter werden in den Städten Ostdeutschlands (Halle, Magdeburg, Berlin und Dresden) und in einigen Städten des Ruhrgebiets (Gelsenkirchen, Dortmund und Duisburg) erreicht. Die höchste durchschnittliche Zahl von 14,8 Arbeitslosen je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter verzeichnet 2003 Halle. Die niedrigsten Zahlen werden in den „kleineren“ Großstädten mit großen Universitäten, wie z.B. Heidelberg, Bonn, Freiburg oder Münster, sowie in den süddeutschen Landeshauptstädten München und Stuttgart erreicht. Ebenso wie bei den Ausländeranteilen zeigt sich auch hier in fast allen Städten eine Abnahme der Arbeitslosen je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter mit dem Grad Urbanismus. Von diesem Muster weichen nur sieben Städte (Heidelberg, Münster, Hannover, Ingolstadt, Regensburg, Frankfurt am Main und Halle) ab. In diesen Städten werden die höchsten Arbeitslosenzahlen je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter in den Stadtteilen erreicht, die einen mittleren Grad „Urbanismus“ aufweisen. Die Zahlen sind jedoch im Vergleich zu denen in Stadtteilen mit hohem Grad „Urbanismus“ nur zwischen 1,8 und 0,2 Arbeitslosen je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter höher. In den Städten Krefeld, Gelsenkirchen und Ludwigshafen liegen die Arbeitslosenzahlen je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter in Stadtteilen mit hohem Grad „Urbanismus“ deutlich mit 5,1 bis 4,1 Arbeitslosen je 100 Einwohnern im erwerbsfähigem Alter über dem Stadtdurchschnitt. Auch anhand hier nicht dargestellter Indikatoren, wie Anteil der Altersgruppe der unter
15-Jährigen an der Gesamtbevölkerung oder der Anteil Sozialhilfeempfänger zeigt sich, wie die beiden zuvor beschriebenen Indikatoren, dass mit der durch die drei Merkmale „Bevölkerungsdichte“, „Anteil Verheiratete am Familienstand“ und „Anteil der 18 bis unter 30-Jährigen“ definierten Dimension „Urbanismus“ komplexere Zusammenhänge des „Städtischen“ erfasst werden.
Abb. 6: Arbeitslose je 100 Einwohner im erwerbsfähigen Alter 2003 in Stadtteilen differenziert nach dem Grad Urbanismus
Sebastian Metzmacher, Bonn
Literatur
Bahrenberg, G., Giese, E. u. J. Nipper: Statistische Methoden in der Geographie 2. Multivariate Statistik. 2. Auflage. Stuttgart 1992. Böltken, F.: „Städtische Lebensweise“ Eine empirische Untersuchung des Zusammenhangs von Siedlungs- und Verhaltensweise. Inaugural-Dissertation. Köln 1979. Böltken, F., Göddecke-Stellmann, J., Ley, W. u. S. Reichertz: Ansätze zur Stadtteiltypisierung – Vorstellung des Arbeitsstandes und von Modellen aus Städten. Tagungsbericht der Frühjahrstagung des VDSt in Göttingen 1996. S. 23-31. Göttingen 1996. Berger, G.: Beiträge zur Auswertung der „Stuttgarter BürgerUmfrage 1990“ Teilbericht 1. Stadtraum-Typisierung und Durchführung der Befragung – Informationen zum methodischen Design. Stuttgart 1991 Geisler, J. u. T. Parpart: Stadtentwicklung Wiesbaden. Beiträge zur Stadtteiltypisierung. Wiesbaden 1981. Hermann, T.: Die sozialen und politischen Strukturen Hannovers in kleinräumlicher Gliederung 1987 / 1990. Bericht zur Explorationsstudie „Die Implikationen der EXPO 2000 für die sozialen und politischen Strukturen der Stadt und des Großraums Hannovers“ im Auftrag der Niedersächsischen Staatskanzlei – Planungsgruppe EXPO –. Hannover 1992. Ruten, C.: Strukturtypisierung zur kleinräumigen Bevölkerungsprognose. Stadt Münster Amt für Stadt- und Regionalentwicklung, Statistik (Hrsg.). Münster
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2003. Stadt Nürnberg (Hrsg.): Räumliche Gliederung Nürnbergs nach sozialstrukturellen Merkmalen. In: Statistische Nachrichten 1/1991. Nürnberg. Strohmeier, K. P., Zimmer-Hegmann, R. et al.: Sozialraumanalyse – Soziale, ethnische und demographische Segregation in den nordrhein-westfälischen Städten. Gutachten für die Enquetekommission „Zukunft der Städte in NRW“ des Landtags Nordrhein-Westfalen. Dortmund und Bochum 2003. Warmelink, F. u. K. Zehner: Sozialräumliche Veränderungen in der Großstadt – Eine faktorökologische Untersuchung von Stabilität und Wandel städtischer Quartiere am Beispiel von Köln. In: Friedrichs, J. u. R. Kecskes (Hrsg.): Gentrification. Theorie und Forschung, S. 41-54. Opladen 1996.
Über Statistik: „Ich komme auch ohne Statistik aus.“ „Und wie begründen Sie dann Ihre nächste Lohnerhöhung?“
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EIN WEG ZUM KLEINRÄUMIGEN BILDUNGSMONITORING
Räumliche Auswertung von Schuldaten
Ein Weg zum kleinräumigen Bildungsmonitoring In dieser Ausgabe von „Stadtforschung und Statistik“ wird nur kurz auf den Weg zum kleinräumigen Monitoring eingegangen. Die ausführlichen Ergebnisse der Untersuchung folgen in der nächsten Ausgabe. Spätestens seit PISA ist bekannt, dass der Bildungserfolg in hohem Maße von der sozialen Herkunft der Schüler
und Schülerinnen abhängt. In den Städten spiegelt sich die Segregation der Bevölkerung in einer räumlichen Bildungs-
disparität wider. In eher „bürgerlichen“ Stadtgebieten besuchen die meisten Kinder ein Gymnasium – in den ärmeren Gebieten sind Hauptschule und Gesamtschule die häufigsten Schulformen. Am Beispiel des Ruhrgebiets wird im Folgenden ein Bildungsmonitoring vorgestellt, welches kleinräumig – auf Ebene der Stadtteile – Sozialstrukturdaten und Bildungsdaten in Verbindung bringt und so den Zusammenhang von Bildungschancen und sozialer Lage transparent macht. Das Verfahren wurde am Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung (ZEFIR) der Ruhr-Universität Bochum entwickelt und findet in ähnlicher Form im Rahmen des Studierendenmonitors der Bochumer Universität Verwendung. Mit Daten der Kommunalstatistik erfolgt eine Raumtypisierung. Dabei werden die Raumeinheiten in Sozialraumtypen gleicher sozialstruktureller Ausprägung zusammengefasst. Sozialstrukturell „benachteiligte“ Räume können so von den „nicht benachteiligten“ unterschieden werden. Die Schulen des Ruhrgebiets werden über ihre Adresse „ihrem“ Stadtteil oder „ihrer“ Gemeinde zugewiesen. Die Grundschulen sind dabei von besonderer Bedeutung, da diese zumeist ein sehr kleines, schulnahes
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HOHES C Einzugsgebiet haben und sich in deren Schülerschaft der umliegende Sozialraum am stärksten widerspiegelt. Werden die Übergangszahlen von den Grundschulen zu den weiterführenden Schulen mit den Schulstandorten verknüpft, gelingt es, diese Daten mit dem Sozialraum in Beziehung zu setzen. Die Übergangsquoten korrelieren stark mit den sozialen Lagen der Stadtteile. Neben der rein statischen Darstellung der Übergängerzahlen jeder einzelnen Schule lassen sich diese auch in „Bewegung“, als dynamische Ströme zwischen den Schulen, mit einem Geographischen Informationssystem darstellen. Durch Verknüpfungen innerhalb der GIS-Datenbank werden die Grundschulen mit den weiterführenden Schulen in Beziehung gesetzt. So lassen sich
die „Einzugsgebiete“ jeder weiterführenden Schule abfragen, sozialräumlich typisieren und kartografisch darstellen. Durch die Kombination mit den Sozialraumdaten der Stadtgebiete ist es möglich, zum einen Rückschlüsse auf die Zusammensetzung der Schülerschaft zu ziehen, zum anderen die erreichten Schulabschlüsse in einen sozialräumlichen Zusammenhang zu bringen (“Hat die Schule XY so niedrige Abiturientenzahlen, weil die Schüler vor allem aus einem benachteiligten Milieu kommen?“). Zudem lässt sich für die Grundschulen anzeigen, an welche weiterführende Schule sie ihre Kinder abgeben. Räumliche „Wanderungsmuster“ der Schüler werden verdeutlicht. Über die Schulnummer lassen sich weitere Schuldaten räumlich zuweisen und auswerten.
Das hier skizzierte Bildungsmonitoring ermöglicht eine recht präzise Beschreibung des unterschiedlich schwierigen „Geländes“, in dem Bildungseinrichtungen operieren, und es erlaubt eine Schärfung der Schulprofile bezogen auf die Eigenheiten der Sozialräume, in denen Schulen agieren. Zudem können bildungsrelevante Fragestellungen bis auf die Ebene der Stadtteile und für jeden Schulstandort beantwortet werden.
mit Blick auf Herrn Stoiber. Nun kann ich die Vermutung nur schwer unterdrücken, dass recht viele Politiker zu den „Zahlenlegasthenikern“ gehören. Sollte ich Recht haben, ist es unsere Aufgabe, damit umzugehen, uns auf die Situation einzustellen.
duzieren, müssen nicht nur für uns verstehbar sein, sondern vor allem für die Nutzer: Verwaltungsleute, Wahlbeamte, Politiker, Journalisten, … Wenn die mit unseren Informationen nichts anfangen können, müssen wir uns überlegen, ob wir mit der Datenproduktion anfangen sollen.
Tobias Terpoorten, Bochum
Quellen:
LDS Schuldaten Schuljahr 03/04 /KOSTAT 03/ Volkszählung 87/ eigene Berechnung und Kartografie
Hohes C Vielen ist das „C“ enorm wichtig. Zum einen denen, die den so genannten Saft verkaufen. Aber auch der christlichen Union, wobei sie das „Christlich“ nicht als Deminuitiv verstanden wissen möchte. Doch auf beide will ich nicht eingehen, mich vielmehr Drittem zuwenden: Dieter Hildebrandts neuem Buch, in dessen Titel er großen Wert auf das „C“ legt. „Er ist, glaube ich, genau wie Strauß, ein Zahlenlegastheniker. Er greift sich die Zahlen aus der Luft.“ formuliert er
Wenn Hildebrandt den bekannten Satz „Der Wurm muss dem Fisch schmecken – und nicht dem Angler“ wiederholt, hat das für uns in gleicher Weise Relevanz. Zahlen, die wir pro-
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Der Titel dieses lesenswerten Buch lautet: „Ausgebucht“. Martin Schlegel, Hagen
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN
Teil II: Saudi Arabien Projekt
Saudisches Lob und arabische Entscheidungen Eine Panne
Milchmädchenrechnung
Kein Urlaub
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Oder: „Wenn wir die Feuerwehrleute nicht hätten“ Wir waren abends in der Deutschen Botschaft. Auf der Rückfahrt ging das Benzin im 1.Tank (90 Liter) langsam zu Ende. Zum ersten Mal haben wir auf den Ersatztank umgeschaltet (50 Liter), die Lampe ging an. Wir fuhren sorglos nach Hause, am nächsten Morgen ging es ins Ministerium, dann am Nachmittag nach Hause zurück über die stark befahrenen Stadtautobahnen. Plötzlich stottert der Motor 2-3 km vor unserer Siedlung aber immer noch auf der Autobahn, dann ging er aus: es gelang gerade noch, das Auto auf den schmalen Mittelstreifen vor „unserer“ Ausfahrt zu lenken. Das Drücken aller Knöpfe war vergeblich, auch die Anleitungen in der Gebrauchsanweisung waren befolgt worden. Was tun? Auto stehen lassen, zu Fuß zu einer Tankstelle? Warten auf Polizeiautos oder Straßenhilfen à la ADAC? Aussteigen in Gluthitze, die dicken Brummer brettern vorbei. Plötzlich kommt ein PickupTruck, er stoppt vor unserem Auto. Es steigt ein Feuerwehrmann aus, der nur arabisch spricht. Er bastelt eine Abschleppvorrichtung, die beim zweiten Mal tatsächlich funktioniert und den LandCruiser von der Autobahn zieht. Vor seiner Wohnung (ganz nahe bei einer Tankstelle und nicht weit weg von unserer Siedlung: wieder ein Glücksfall) parkt
er beide Auto und fährt zur Tankstelle um 5 Liter Benzin zu kaufen. Pech: Die Tankstelle ist verwaist, die Tankwarte sind beim Beten. Er schafft es trotzdem und bringt das Benzin zum Auto. Kein Trichter zum Einfüllen? Kein Problem: Eine Plastikwasserflasche, Boden abschneiden, Benzin einfüllen, fertig ist der Trichter! Dann werde ich in seine Wohnung eingeladen: „My house is your house“ und er fährt Getränke und Obst auf, dazu ein riesiges transportables Radio mit arabischer Musik. Die Gespräche sind schwierig, aber wir tauschen Karten und Telefonnummern aus, er bringt mich nach einer knappen Stunde zum Auto und es springt nach einer Schreckminute an: mit einer Verspätung von 2 Stunden bin ich völlig durchgedreht zu Hause. Was habe ich falsch gemacht? Hier der Originalton des letzten Eigentümers: „Mein Vorgänger hat mit dem Auto viel gebastelt und Technik eingebaut. Dazu brauchte er vorhandene Schalter und hat den Schalter ‚Ersatztank mit Signallampe‘ einfach zweimal eingebaut und Sie haben, ohne es zu wissen, den Falschen betätigt. Er wusste ja, welches der richtig Funktionierende ist“: So kann man es natürlich auch machen! Schreck lass nach! Ein Ausflug in die saudische Wüste: beinahe der letzte!
Wann geht es zurück?
Eigentlich ist die Antwort für den Statistiker ganz einfach. Er führt jeden Tag drei unterschiedliche Strichlisten: eine für die Restvertragsdauer (nach Tagen), die zweite nach den ‚abgesessenen‘ Kalendertagen, die Dritte nach der Zahl der Tage, die er als GAE (General Advisor on Elections) noch ins Ministerium fahren muss/darf; die 55 Urlaubstage jeweils abgezogen. Aber das sind die berühmten Milchmädchenrechnungen. Der für die Wahlen zuständige Deputy Minister hat nur milde gelächelt, als ich ihn auf die große Zahl von Urlaubstagen hinwies („Der September wäre doch ein guter Monat für eine Indienreise, meint meine Frau“). Darauf folgt sein stereotyper Satz, den er seinen Ministerkollegen und Besuchern gegenüber gern verwendet: „Wir stehen mitten drin in der Vorbereitung der ersten allgemeinen Wahlen in der Geschichte des KSA (Kingdom of Saudi Arabia). Deshalb haben ‚Roschka‘ (so wird mein Name hier meist ausgesprochen) und N. (er selbst) keine Zeit für auch nur einen Tag Urlaub.“ Das ist es dann. Immerhin läuft mein Vertrag nur bis zum 26. März 2005 und einen bockigen Vertragspartner würde man wohl ziehen lassen, auch wenn der letzte der drei Wahltermine erst am 21. April ist (und wir uns fest vorgenommen haben, vom 3. bis 12. April zu einem Kongress in Sydney zu sein). Die Saudis zerbrechen sich über solche fern liegenden Planungen
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN nicht den Kopf: ‚Roschka‘ wird gebraucht für die Vorbereitungen aller drei Wahlen (das ist das einzige, was sie im August 2004 interessiert). Den Urlaubsanspruch, den Vertragsablauf und die Australienfahrt kann man wenige Tage vor den Terminen immer noch mit einem Entscheidungsvorschlag der GTZ zu einer Lösung bringen (notfalls ‚vergoldet‘, auch wenn die Saudis sich fast noch sparsamer geben als Schotten und Schwaben zusammen).
Entscheidung auf Arabisch Sie selbst entscheiden fast nie etwas, sondern lassen sich eine Lösung immer nur von außen abringen; meist so, dass sie nicht einmal zustimmen, sondern den Vorschlag ohne Widerspruch (aber auch ohne schriftliche, manchmal sogar ohne mündliche Zustimmung) zur Kenntnis nehmen. Als gutes (oder: abschreckendes?) Beispiel: ein Brief verlässt ein Ministerium. Die damit befassten Mitarbeiter zeichnen den Brief ab, der ‚Oberste‘ unterschreibt nicht etwa, sondern bestätigt nur die Unterschriften seiner ‚untergebenen‘ Fachleute!
Viele Kamele – unser Auto im Angebot Wir haben uns vorgenommen, das Wochenende wirklich zur Entspannung zu nutzen; Donnerstag ist meist der Einkaufstag, am Freitag schauen wir uns um und versuchen, Interessantes und Neues zu erkunden (sobald die Sonne untergegangen ist, lässt Mohammed allerdings die Kassen klingeln und öffnet die Restaurants). So waren wir Mitte August auf der Spur der Kamele. Wir hatten schon gelegentlich beim Vorbeifahren auf
der Autobahn kleine Karawanen brauner Kamele gesehen, ohne näher herankommen zu können. Dann erfahren wir von einem saudischen Arbeitskollegen, dass die Kamele im Juli und August wegen der extremen Temperaturen nicht in der Wüste sind, sondern ganz nahe bei Riyadh lagern (Vielleicht wird da auch gekauft und verkauft?). Wir fanden den Lagerplatz sehr schnell, hatten allerdings etwas Mühe, durch den tiefen Sand zu den Pferchen zu kommen (Hier half natürlich der 4-Rad-Antrieb ganz vorzüglich). Vor der Einfahrt zu den Zelten der ‚Kameltreiber‘ und der Futterstellen ihrer Tiere mussten wir zunächst an drei toten Tieren vorbeifahren, die - mit teilweise auseinander getrennten Gliedmaßen - wie Fleischklumpen mit übergespannter Haut aussahen und einfach herumlagen. Danach fuhren wir mit unguten Gefühlen auf tiefen Sandpfaden zwischen den Lagerstellen hindurch und haben von den Zeltbewohnern keine negativen Blicke und Aggressionen verspüren können. Nachdem wir die träge und traurig aussehenden und auf Fressen und Trinken konzentrierten Kamele ausgiebig fotografiert hatten, hielt plötzlich ein beeindruckend großer und teuer aussehender Geländewagen neben uns. Am Steuer ein sehr wohlhabend aussehender Araber, daneben ein Greis mit grau-weißem Bart (vielleicht sein Vater). Er gab uns ein Zeichen, das Autofenster herunter zu kurbeln und fragte uns sehr direkt, ob wir ihm unser Auto (Toyota Land Cruiser, 200.000 km auf dem Buckel - hier eine ganz normale Sache -, Baujahr 1995, aber gut erhalten) verkaufen würden. Wir wussten, dass Autotyp und Baujahr sehr gesucht sind. Unsere Antwort
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hatte ein „Ja, aber...“ vorndran: warum nicht, wenn der Preis stimmt und wir erst März 2005 darüber reden wollen. Den Saudi schien das nicht zu stören; er gab uns seine Mobile-Nummer (die Festnetztelefone spielen bei der beweglichen Bevölkerung überhaupt keine Rolle: man will überall und jeder Zeit erreichbar sein und den Anderen erreichen können), wollte unsere haben und bat uns um einen Anruf Ende Februar: er werde im Rahmen einer vernünftigen Preisspanne ein gutes Angebot machen. Wir fuhren etwas verblüfft nach Hause und fanden dort auf dem Mobile „1 missed call“ vor: es war der Saudi, der uns nochmals an den Anruf Ende Februar erinnerte: wieder eine Erfahrung mehr!
Eine saudische Hochzeit
Entscheidungsunwillig
Wir hatten nach unserem fast schlimm ausgegangenen Abenteuer in der Bergwüste in der Notaufnahme eines Krankenhauses eine junge saudische Ärztin kennen gelernt und sie an Hedwigs Geburtstag in ein herrliches Lokal (eine goldschimmernde Kugel auf einem Turm weit über der Innenstadt) eingeladen. Als wir etwas verspätet hinkamen, saß sie schon an unserem reservierten Tisch, in Begleitung ihres Vaters und ihrer Stiefmutter(!). Wir machten gute Miene zum nicht bösen Spiel, da unsere Gäste interessante Gesprächspartner waren und hatten einen anregenden Abend bei vorzüglichem Essen. Nach einigen Wochen die Einladung der Ärztin zur Hochzeit ihrer Schwester: „Bringen Sie bitte so viele Gäste mit wie Sie möchten“. Es folgte eine edel gestaltete Einladungskarte mit Lageplan des Veranstaltungshauses (bei59
SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN des auf Arabisch).
Weihrauchzufächler
Männer und Frauen feiern getrennt
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Wir brachten ein weiteres deutsches Ehepaar mit und fanden das vorher ausgekundschaftete stattliche ‚Gesellschaftshaus‘ in voller Pracht und herrlich angestrahlt. Vor der Tür erwartete uns (gegen 22.30 Uhr) der Brautvater. Er führte die abaya-bekleideten Damen in den Frauenteil des Hauses, meinen Kollegen und mich in den prunkvoll ausgestatteten Hauptsaal. Dort saßen auf goldverzierten Stühlen etwa 50 Männer, die meisten sehr würdig aussehend und in arabischer Tracht. Ich wurde als der Mann vorgestellt, der die Regierung in Wahlsachen berät und mit meinem Kollegen zentral platziert. Außer dem Brautvater zog uns niemand in ein Gespräch (das wäre in diesem weiträumigen Saal auch nicht möglich gewesen), allerdings wurden wir neugierig gemustert. Wie immer hier kommen dann sofort die dienstbaren Geister und offerieren in kurzen Abständen herrlichen, frisch gepressten Saft (Orange und Erdbeere), Kaffee unterschiedlicher Machart (und hier selten genießbar), Tee verschiedener Sorten, kühles Mineralwasser (in größeren ‚Joghurtbechern‘ angeboten, die oben mit einer Metallfolie verschlossen sind). Nach einer halben Stunde ging dann die Tür zu einem Speisesaal auf, ein interessantes Büfett erwartete uns (herrliche Vorspeisen und Nachtische, dazwischen riesige Schalen mit vorzüglichem Reis und ein gebratener Hammel (vom Koch – mit Plastikhandschuhen – wurden die guten Stücke professionell auseinander gerissen und auf die Teller gelegt). Während des raschen Essens an unserem Tisch wieder Ge-
spräche über Politik, Wahlen, Reformbedarf, Wohnungsbau, Preise. Dann: Kaffee beim Herausgehen, Weihrauchzufächler verwöhnen uns. Nach der Einladung durch den Brautvater in sein Privathaus im September die Frage nach unseren Frauen. Er schaute verlegen und wollte sich erkundigen. Seine Auskunft: die Damen sind noch nicht fertig mit Feiern, ob ich nicht gegen 2 Uhr morgens zum Abholen zurückkommen könnte. Das geschah und gegen 3 Uhr war die für die Männer wenig aufregende Veranstaltung zu Ende. Was haben die Damen erlebt? Sie durften im Frauenteil des Palastes wie die anderen weiblichen Teilnehmer ihre Abayas ablegen und sahen zum ersten Male ganz normal gekleidete Saudi-Damen. Man setzte sich an lange Tischreihen, Getränke und Snacks gab es an einem Büfett, dazu extrem laute arabische Musik. Man versuchte sich zu unterhalten und einen Blick auf die Braut zu erhaschen; einige der Damen tanzten rhythmisch zur Musik. Außer einem späten Imbiss in einem Speisesaal für die gegen 2 Uhr aufbrechenden Damen und zum Teil anregenden Gesprächen geschah weiter nichts Bewegendes, so dass die vom müden Chauffeur abgeholten Damen wenig zu berichten hatten. Dabei gewesen zu sein, war schon fast alles. Wir erwarten mit Interesse die Heimeinladung in das Haus des Brautvaters!
Deutsche in Saudi Arabien Lange vor meiner Abreise nach Saudi Arabien war ich immer wieder erstaunt (und manchmal verärgert) über die Einstellung vieler Mitmenschen zum Thema Arbeit, zum Sinn poli-
tischen Engagements, zu einer positiven Sicht vieler Dinge aus dem weiteren und näherem Umfeld. Zusammenfassend fällt mir das Wort ‚Allgemeine Verdrießlichkeit‘ ein, das aus meiner Sicht der Dinge Vieles in Deutschland unbefriedigend erscheinen lässt: es geht – trotz Herzogs aufrüttelnder Berliner Rede – nach meinem Gefühl noch immer kein Ruck durch Deutschland. Wer sollte ihn auch auslösen? Die Regierung, die Opposition, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Jugend oder die Älteren, die Gebildeteren oder die ‚einfachen Leute‘? Wenn man mit solcher Eindrücken zum Beispiel nach Saudi Arabien kommt und schon bald Kontakt hat zur ‚Deutschen Kolonie‘, so ist man plötzlich mit den ‚anderen Deutschen‘ konfrontiert. Die hier auf Zeit lebenden und arbeitenden Landsleute sind meist aus eigenen Stücken hergekommen, vielleicht gelockt durch die erwartete Exotik, das Abenteuer, das Erlebnis der Fremde, die Notwendigkeit des Zusammenhaltens in einer sprachlich, kulturell und mental fremden Welt (aber fast immer umgeben von hilfsbereiten und freundlichen Mitmenschen, seien es nun Saudis, Ägypter, Libanesen, Syrer oder die vielen immer herzlichen und aufgeschlossenen ‚Hilfsarbeiter‘ aus Indien, Pakistan, Bangladesch oder Sri Lanka, ohne die hier nichts laufen würde). Dazu mögen die wahrscheinlich überdurchschnittlich hohen Einkommen kommen, das Aufeinander-Angewiesensein in der Fremde, die besondere spezielle Vorbildung auf einigen Gebieten. Zusammengefasst: mein Eindruck von der ‚Landsmannschaft‘ der Deutschen in Riyadh (eingeschlossen dabei die in deutlich geringerer Zahl hier tätigen deutschen Frauen)
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN ist außerordentlich positiv. Es sind Leute ganz unterschiedlichem Ausbildungsniveaus, aber geeint durch zwei wesentliche Merkmale: sie haben auf ihren Gebieten auf unterschiedlichen Ebenen eine profunde Ausbildung, verbunden mit einer unverzichtbaren Eigenschaft: der ‚praktischen Ader‘ bei der Problemlösung und dem gemeinsamen Anpacken (mit anderen Ausländern ebenso wie mit den Saudis, den arabischen Nachbarn, den Südasiaten). Man kann im Kontakt mit den Einheimischen jeglicher Rangordnung immer wieder hören, wie zufrieden sie mit den ins Land gekommenen deutschen Experten sind: ihre gründliche Vorbildung, ihre Unvoreingenommenheit gegen den Mitmenschen ganz unterschiedlichen Standes, ihre rasche Auffassungsgabe und die schon angesprochene praktische Begabung zur Lösung fast aller anstehenden Probleme macht die Deutschen hier so beliebt und gesucht. Viel trägt dazu bei, dass die hiesige diplomatische Vertretung (an der Spitze ‚natürlich‘ ein kommunikativer Badener!) hier eine gemeinsame Heimatbasis zu vermitteln als ihre Aufgabe ansieht, und dass die Deutschen auch unter sich sehr rasch zusammenfinden. Es kann schon ein Telefonat unter zunächst Fremden, ein zufälliges Treffen beim Barbecue am Pool in der Wohnsiedlung (mit einem gepflegten alkoholfreien Holsten-Apple oder -Lemon) oder eine mehreren Spezialisten gestellte gemeinsame Aufgabe dazu führen, dass sich gute Bekanntschaften oder sogar Freundschaften entwickeln. Dazu gehört natürlich der Austausch von Erfahrungen: Wo kauft man am günstigsten ein? Wie bringt man ein hier – sehr günstig – erstandenes
neues Auto auf dem besten Wege nach Deutschland? Wer unter den Landsleuten ist ein guter Organisator von Treffen mit Saudis in ‚echten‘ einheimischen Lokalitäten – meist allerdings ohne Frauen, deren Teilnahme dort auf ‚Familientage‘ beschränkt ist? Welche Filme oder Vorträge bietet die Botschaft in dieser Woche – mit einem alkoholischen Getränk vorher oder nachher, schließlich ist man dort auf deutschem Territorium? Wie findet man am besten zum Ziel in einer Stadt mit nur sehr wenigen englischsprachigen Verkehrsschildern? Wie überlebt man im Autoverkehr angesichts der doch sehr ‚flotten‘ und ziemlich unkonventionellen Fahrweise der Saudis?
Viel Lob Gefragt nach meinen Eindrücken über das Leben in derzeitigen Deutschland kommt man kaum dazu, eine möglichst ausgewogene Antwort zu finden: die Saudis haben dann meist gleich Beispiele zur Hand, wie großartig ihre deutschen Experten die Sachen in die Hand nehmen, welche profunde Bildung sie haben, wie kooperativ sie sind als Lehrer, Kollegen, Fachkräfte und im ganz privaten Bereich. Es ist fast immer ein – nur zunächst verwunderliches – Vergnügen, da zuzuhören und zu wissen, dass es mit unseren Landsleuten nicht zum Schlechtesten bestellt ist. Es liegt wahrscheinlich nicht an den Deutschen im Ausland, dass der ‚Ruck durch Deutschland‘ daheim nicht zu spüren zu sein scheint.
Ansichten über Deutschland In dem ersten halben Jahr unseres Aufenthalts in Saudi Arabien habe ich bei der Frage (wo auch immer!) nach der Nati-
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onalität ‚American‘? natürlich mit ‚German, from Hamburg‘ geantwortet. Wie schon vorher in diesem Bericht war die Freude bei meiner Antwort sichtlich größer als wenn ich mich als USA -Bürger identifiziert hätte. Was hört man so, wenn man – außer im Fahrstuhl des Ministeriums – sich als Deutscher zu erkennen gibt? So viele Kontakte, so viele Antworten. Ein paar Beispiele: • Gespräch mit einem älteren Angestellten in einem Krankenhaus: ich liebe ihr Land (Kultur, Geschichte, Goethe, Schiller). Alle anderen Personen neben mir in einer Schlange mussten warten, ich wurde bevorzugt bedient. • Ein Shoura-Mitglied (120köpfiges Beratergremium, vom König ausgewählt) bei einem Abendessen mit UNExperten: wir waren alle ganz glücklich als wir von der Wiedervereinigung Ihres schönen Landes hörten. • Was mir an Deutschland gefällt: es bildet seine Leute gut aus, sie haben gesunden Menschenverstand, denken und handeln praktisch: Man kann sie überall einsetzen, sie finden immer eine Lösung. Die Produkte, die aus Deutschland kommen sind (fast!) immer erstklassig; die mitgeschickten Monteure schaffen es, sie unseren Anforderungen und Gegebenheiten rasch anzupassen; das hält meist ewig! • Schade, dass die Deutschen so stark zum Aggressor und Unruhestifter in der Region (Israel) halten. Jeden Tag werden Palästinenser von den Israelis getötet und man hört kein scharfes Wort gegen Israel. (Die Judenverfolgungen im Dritten Reich sind kein Thema. Eher noch: ‚die werden schon schlim-
Freude über die Antwort „German“
Großes Lob für Deutschland
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN
Meinung zur EU
Gespaltene Einstellung zu den USA
me Dinge getan haben, sonst hätte Hitler sie nicht so bestraft). • Gut, dass die Deutschen es den Amerikanern gezeigt haben mit der Verweigerung der Beteiligung am Krieg im Irak. Ihr Land hat damit Selbstbewusstsein bewiesen: dass gefällt uns. Wir Saudis trauen uns nicht, eine solche klare Haltung zu irgendetwas einzunehmen. • Ein Syrer: ‚wir haben jeden Tag dafür gebetet und gehofft, dass Hitler den Krieg gewinnt. Daran waren wir interessiert, um endlich die französische Herrschaft loszuwerden. • Wenn man mal nach Deutschland kommt, dann fällt einem sofort auf, wie sauber und geordnet alles ist (kein Chaos wie bei uns). Es gibt vielleicht mehr Vorschriften für die Menschen, aber dann weiß man doch, dass man sich darauf wirklich verlassen und sicher fühlen kann. Kein Vergleich zu Saudi Arabien! Wenn man die fast immer sehr positiven Meinungen vorsichtig zu relativieren versucht (innenpolitische Situation, Judenverfolgungen, Israel, Arbeitslosigkeit, deutsches OstWest-Problem etc.), dann wird man rasch korrigiert: ‚Jedes Land hat doch seine Probleme, aber ihr Deutschen packt sie wenigsten an und macht – aus unserer Sicht – fast alles richtig. Interessant: die EU wird immer wieder angesprochen als kommender Gegenpol zu den USA und als – positiv bewerteter – Machtfaktor in der Welt. Frankreich wird hier praktisch nirgendwo erwähnt, die Engländer gelten – wie wir – als zuverlässige Fachleute. Zu den USA gibt es eine gespaltene Einstellung: positiv
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bei Vielen der Oberschicht (die dort studiert haben), negativ in der unbedingten und praktisch immer positiven Haltung gegenüber Israel. Positiv auch wegen der guten Kontakte der USA gegenüber Ägypten und Jordanien (die beide hier sehr geschätzt werden und zuverlässige Experten nach Saudi Arabien schicken; mit dem Vorteil, sprachlich voll mit den Saudis mithalten zu können). Schaut man in das Straßenbild, so sind neben den arabischen Hinweisen und Werbetafeln fast nur US-amerikanische in sehr großer Zahl zu sehen. Und: wenn der Computer verschiedene Sprachen anbietet, so ist es – neben Arabisch – immer nur ‚Englisch (USA)‘
Datteln und Begegnungen Anfang September kam die Vorankündigung und dann die Einladung: der Sekretär meines Deputy Ministers brachte zweimal hintereinander große Plastikschachteln voller köstlicher Datteln von der Farm seiner Familie mit ins Büro: als Geschenk an die deutschen Kollegen (auch Herrn Frank wurde eine solche Ladung durch Besucher in seinem Stuttgarter Büro abgeliefert). Verbunden mit diesen Präsenten war die Einladung, seine Großfamilie und ihn an einem Donnerstag auf seiner Farm zu besuchen. Am 30. September konnten wir endlich fahren: die beiden Hruschkas, der deutsche Mitarbeiter und ein Kollege von der deutschen Botschaft in Riyadh (die beiden letzteren Arabisch sprechend!). Es ging mehr als 200 Kilometern auf guten Straßen westwärts, überwiegend durch meist unbewohntes Gelände, alles gelblich in der sandigen Wüstenfarbe. Vieles war steinige Einöde, manches bebautes
und bewässertes Land (ohne fast permanente Wasserzufuhr wachsen hier keinerlei Kulturpflanzen), im Norden zum Teil schroffe Hügelketten, an den Rand des Grand Canyon erinnernd. Zunächst in das Familiengebäude des Clans hinein: natürlich ohne Schuhe, Sitzgelegenheiten rundum an den Wänden. Die Familie in drei Generationen war vertreten, Frauen tauchten – außer Hedwig – nirgendwo auf. Die Begrüßung: die jüngeren Araber grüßten die älteren Saudis mit Küssen auf die Stirn oder oben auf den Kopf, auch den Ausländern wurden freundlich die Hände geschüttelt (hier auch dem deutschen weiblichen Gast). Wie überall: zur Begrüßung gab es mehrere Teesorten, kleine Schalen mit Datteln wurden hingestellt (und daraus kräftig zugelangt). Small talk, besonders mit dem sehr interessierten Senior der Familie sowie seinen Enkeln und Enkelinnen. Danach per Autokarawane mitten auf die Felder, wo ein großes Zelt aufgestellt war, das etwa 25 Familienangehörige und Freunde mühelos aufnehmen konnte: der Boden war mit dicken Teppichen ausgelegt: alle hockten sich auf den Boden, wieder gab es Tee, Saft, Datteln, dann Vorspeisen (hauptsächlich verschiedene Arten gebratenes Fleisch – auch von Tauben –, das köstlich zubereitet war und von allen per Hand in kleinere Stücke zerrissen wurde). Bald darauf die Hauptmahlzeit: alles saß weiterhin auf dem Boden, auf den Teppichen wurden große kreisrunde Tücher und Plastikplanen ausgebreitet, darauf silberne (?) Platten mit Bergen von Reis, Nudeln, Gemüse und Teilen eines Hammels. Es gab für jeden Teller und Löffel, der Hammel wurde auch
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL II: LOB UND ENTSCHEIDUNGEN jetzt auseinandergerissen und die Stücke aus der Hand stückweise verzehrt. Verblüffend: das erwies sich als die zweckmäßigste Art der Teilung nach Portionen, man konnte sich dabei die interessantesten Stücke mühelos aussuchen. Zwischendurch immer wieder die Gespräche: die Alten sprachen, die Jüngeren hörten zu. Oder: einzelne aus dem mittleren Alter berichteten über Ereignisse im Dorf oder aus Riyadh (woher die meisten zum Wochenende gekommen waren). Die Hruschkas konnten nur über die ‚deutschen Araber‘ erfahren, was gerade erörtert wurde. Aber allein das Mienenspiel und die Rollenverteilung nach der Rangordnung sowie die Wohllaute des Arabischen waren es wert, zuzuhören. Die Einladung an die deutschen Gäste, doch über Nacht hier zu bleiben, haben wir freundlich aber bestimmt unter Hinweis auf unsere Arbeitsvorbereitungen für den Samstag (Wochenbeginn!) abgelehnt: es wäre doch wohl auch ziemlich anstrengend geworden. Nach dem opulenten Mahl ging es wieder per Auto zu Besichtigungen: Fischteiche, große Schafherden, Kamele, und endlich die Dattelpalmen und Feigenbäume in großer Zahl: die Früchte an den Bäumen „zum Nalange“ (würde man in Baden sagen). Wer macht die Arbeit auf der Farm? Die anwesenden Saudis sahen nicht nach körperlicher Arbeit aus, wohl aber die ehrfurchtsvoll in der Nähe stehenden ‚Expatriats‘ (wahrscheinlich Inder, Pakistani oder Bangladeshi), die für ‚Appel und Ei‘ in Saudi Arabien ihr Brot (und das ihrer Familie daheim) verdienen.
Warum Wahlen? Auch hier war im Freien wieder ein Teppichzelt aufgebaut, eine
Klima-Anlage blies kühle Luft in die teetrinkende Runde, die jetzt auf einmal engagiert diskutierte: der Landwirt mit dem deutschen Diplomaten, zwei Brüder aus verschiedenen Fakultäten – Jura und Theologie – Alte mit Jungen, Sheiks mit der jüngeren Generation. Themen: die anstehenden Wahlen (was soll das eigentlich? Soll man sich registrieren lassen? Für die Älteren war das ‚Ja‘ selbstverständlich, die Jüngeren sagten eher ‚Nein oder vielleicht‘). Was hat denn ein gewählter Gemeinderat überhaupt zu sagen: ‚Die da oben‘ oder die Stammesfürsten bestimmen ja doch weiterhin, wo es langgeht. Wie läuft denn so eine Wahl in Deutschland ab? Werden die Frauen im Königreich wählen oder sogar kandidieren dürfen? (Hier konnte auch der ‚General Advisor on Elections‘ nichts Definitives sagen – wie er auch kurz zuvor beim ZDF-Interview nur allgemeine Einschätzungen abzugeben wusste.) Dann verblüffend zum Thema Demokratie: Wie ist denn Hitler 1933 eigentlich an die Macht gekommen? Wie geht es denn bei den US-Wahlen konkret zu? Schließlich eine Frage an die deutschen Gäste von dem Theologen: „Haben Sie eigentlich gemerkt, dass ich und zwei weitere aus dieser Runde der deutschen Frau bewusst nicht die Hand gegeben haben?“ Wir hatten das natürlich bemerkt, aber die Begründung ging unter in den Diskussionen der beiden juristisch-theologisch geschulten Brüder, die sich sehr herzlich, aber doch deutlich und konträr ihre Meinung zu diesem Thema sagten. Dann noch die Frage aus dem deutschen Lager: was denkt eigentlich das saudische Volk über seine Regenten, wo verlaufen die Grenzlinien von
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Zustimmung und Ablehnung, wie geht es weiter mit dem Königreich aus dem Blickwinkel der Entwicklung in Arabien und der UNO? Die Fragen und Antworten sind hier nicht wiederzugeben und wahrscheinlich auch nicht repräsentativ; am interessantesten war vielleicht die Wortgewandtheit des islamischen Theologen, verbunden mit seiner verblüffenden Kenntnis von weltweiten Zusammenhängen. Die deutschen Besucher schieden am Abend – angefüllt mit den verschiedensten Eindrücken – aus der gastlichen Runde und kamen müde, aber mit ganz neuen Erfahrungen, ‚daheim‘ (in Riyadh!) an.
Klimaanlage im Zelt
Erhard Hruschka, Ahrensburg
Pro und contra Wahlen
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WILLKOMMEN IN BRAUNSCHWEIG
Statistische Woche 2005
Willkommen in Braunschweig steller Büssing (später MAN) betrieb den ersten Omnibuslinienverkehr. Heute ist das Zweigwerk der Volkswagen AG mit über 6.000 Beschäftigten der größte industrielle Arbeitgeber der Stadt und wird als so genannte Business Unit betrieben. Es stellt für den Konzern vor allem Achsen und Kunststoffteile her.
Bild 1: Burgplatz mit Burg Dankwarderode, Rathaus und Dom St. Blasii
Nach 1992 lädt Braunschweig erneut die Fachöffentlichkeit zur 105. Statistischen Woche 2005 ein. Im 100. Jahr des Bestehens der Kommunalstatistik in Braunschweig und 59 Jahre nach der Gründungsversammlung des Verbandes Deutscher Städtestatistiker in unserer Stadt ist dies sicherlich ein guter Anlass, der Statistik ein Forum in Braunschweig zu bieten. Neben den vielen interessanten Tagungsbeiträgen gibt es aber auch ein „Leben nach den Vorträgen“. In diesem Sinne möchten wir Ihnen Braunschweig etwas näher bringen und Sie animieren, in die Geschichte, Gegenwart und die touristischen Möglichkeiten unserer Stadt einzutauchen. Braunschweig ist mit rund 240.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die zweitgrößte Stadt Niedersachsens und Zentrum der Region zwischen Harz und Heide. Sie ist geprägt durch ein spannendes Wechselspiel zwischen Historie und Gegenwart. Begonnen hat
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Braunschweigs Geschichte vor etwa 1.000 Jahren, als sich der Rast- und Stapelplatz („Wik“) Brunswik zu einem wichtigen Kreuzweg mittelalterlichen Fernhandels entwickelte. Seit dem 13. Jahrhundert bis in das 17. Jahrhundert hinein war Braunschweig Mitglied in der Hanse und wuchs zu einer der mächtigsten Städte jener Epoche heran. Braunschweig ist die Stadt Heinrichs des Löwen. Eindrucksvolle Gebäude, wie der Dom St. Blasii und die Burg Dankwarderode erinnern noch heute an den mächtigen Welfen, der Mitte des 12. Jahrhunderts Braunschweig zu seiner Residenzstadt machte. Sein bronzener Löwe, einst Wahrzeichen seiner Macht, ist heute Wappentier der Stadt und auf dem Burgplatz zu betrachten. In der jüngeren Vergangenheit entwickelte sich Braunschweig zu einem Zentrum des Fahrzeug- und Maschinenbaus. Der Bus- und Nutzfahrzeugher-
Mit rund 3.300 Beschäftigten ist die Siemens Niederlassung Braunschweig einer von drei Hauptstandorten für den Geschäftszweig Transportation Systems u. a. mit Steuerungsund Regeltechniken für den Transrapid. Volkswagen Financial Services hat sich in den vergangenen Jahren zu einem dynamischen Finanzunternehmen entwickelt. Mit weltweit über 5.000 Beschäftigten, davon die Hälfte am Hauptsitz Braunschweig, steuert das Unternehmen die Finanzdienstleistungen des Volkswagenkonzerns im europäischen und asiatisch-pazifischen Raum und ist der größte automobile Finanzdienstleister in Europa. Darüber hinaus hat es sich als Bank für Privatkunden etabliert. Wirtschaftsstrukturell beabsichtigt die Stadt Braunschweig den Sektor Finanzdienstleistungen z. B. durch den Ausbau von entsprechenden Fortbildungseinrichtungen weiter zu stärken. Aber auch die Flügel- und Klaviermanufakturen – Schimmel und Grotrian-Steinweg – liefern „den guten Ton“ aus Braunschweig in alle Welt. Das heutige wirtschaftliche
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WILLKOMMEN IN BRAUNSCHWEIG Profil der Stadt wird in hohem Maße durch die Forschungsund Technologielandschaft bestimmt. Die TU Braunschweig – Carolo Wilhelmina – ist die älteste Technische Universität Deutschlands und bildet derzeit rund 13.500 Studierende aus. Hinzu kommen die Fachhochschule BraunschweigWolfenbüttel mit derzeit rund 7.000 sowie die Hochschule für Bildende Künste mit etwa 1.200 Studierenden. Braunschweig ist darüber hinaus eine erste Adresse für innovative Unternehmen, die die Nähe zur Universität und zu 14 international renommierten Forschungseinrichtungen wie der Physikalisch-TechnischenBundesanstalt (mit ihren Atomuhren bestimmt sie die gesetzliche Uhrzeit in Deutschland), der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft, der Gesellschaft für Biotechnologische Forschung, der Biologischen Bundesanstalt oder dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt suchen. Mit der Zusammenarbeit zwischen Forschung und Wirtschaft, beispielsweise auf dem Gebiet der Biotechnologie, der Informationstechnologie und rund um den Forschungsflughafen Braunschweig mit dem Schwerpunkt Luftverkehrssicherheit, ist Technologietransfer tägliche Praxis. Mit diesem Umfeld ist auch der „Braunschweig Preis“ zu verbinden, den die Stadt Braunschweig seit 1999 als internationalen Preis für hervorragende Forschungsund Entwicklungsarbeiten auslobt. Kulturell bietet Braunschweig das Spektrum von klassisch bis modern. Das Braunschweiger Staatstheater bietet als Vierspartenhaus von der Oper über Ballett bis hin zum Schau-
spiel ein breites Repertoire. Im „Theaterspielplatz“ kommen zudem eigens für Kinder und Jugendliche inszenierte Stücke zur Aufführung. Internationale Festivals wie „Theaterformen“ oder „Braunschweig Classix“ setzen alljährlich Akzente. Ebenso werden von den Braunschweigern und ihren Gästen Veranstaltungen wie das Literaturfestival, Kultur im Zelt, Tanztheater International, das Filmfest Braunschweig oder auch die Kulturnacht, die im zweijährigen Turnus rd. 100.000 Menschen aus Braunschweig und der Region nahezu alle Facetten kulturellen Schaffens näher bringt, geschätzt. Im Herzog Anton Ulrich-Museum – dem ältesten Museum des europäischen Kontinents – können Sie Meisterwerke von Rembrandt, Rubens und Vermeer van Delft auf sich wirken lassen. Kunst des Mittelalters u.a. mit Stücken des Welfenschatzes, die originale Bronzeskulptur des Braunschweiger Löwen sowie den historischen Rittersaal finden Sie in der Burg Dankwarderode unmittelbar in der Innenstadt. Der Sport hat in Braunschweig schon immer eine besondere Bedeutung gehabt und den einen oder anderen sportgeschichtlichen Meilenstein gesetzt. So war Braunschweig 1874 der Austragungsort des ersten Fußballspiels auf dem Kontinent und „Eintracht Braunschweig“ die erste Bundesligamannschaft mit Trikotwerbung. Auch wenn die Fußballmeisterschaft der „Eintracht“ schon lange Geschichte ist, so hat der Verein doch einen gewissen Kultstatus und mancher Verein der 2. Bundesliga hätte gern den fünfstelligen Zuschauerschnitt des derzeitigen Regionalligisten.
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Daneben bestimmen heute die Bundesliga-Basketballer, American Football und nicht zuletzt der Tanzsport die Szene. So konnte bereits zum sechsten Mal der Weltmeistertitel in den Formations-Standardtänzen nach Braunschweig geholt werden. Die Stadt Braunschweig lädt Sie ein, sich vor, während oder nach der Statistischen Woche ein eigenes Bild von ihr zu machen und die vielfältigen Angebote zu nutzen. Unter www. braunschweig.de erhalten Sie weitere Informationen sowie aktuelle Veranstaltungshinweise. Seien Sie herzlich willkommen. Jörg Hohmeier, Hermann Klein, Braunschweig
Bild 2: Schloss Richmond
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MANFRED VON SCHAEWEN WURDE 75
Wegbereiter der Städte-Kooperation
Manfred von Schaewen wurde 75
Informationsquelle Melderegister
Neue Aufgabe Stadtforschung
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Die Glückwünsche für Manfred von Schaewen zu seinem 75. Geburtstag mit einer Würdigung seiner Leistungen zu verbinden, liegt mir aus zwei Gründen am Herzen. Vor allem gibt mir dies Gelegenheit, mich persönlich für die über fast dreißig Jahre gewährte Unterstützung bei unseren gemeinsamen Anstrengungen um die Leistungsfähigkeit und Wirksamkeit von Städtestatistik und Stadtforschung zu bedanken. Zugleich kann ich aber auch, in einer Zeit, da man sich in Europa wieder auf die Städte als die Kristallisationskerne der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung und ihre Funktion als Motoren des nationalen Wachstums besinnt, daran erinnern, was wir fachlich und städtepolitisch Manfred von Schaewen zu verdanken haben. Beispielhaft für viele Kolleginnen und Kollegen mit und nach ihm hat er sich als Statistiker und Stadtforscher über Jahrzehnte engagiert und nachhaltig für die Wissensgrundlagen aufgeklärter Stadtpolitik eingesetzt. Davon habe ich ein Berufsleben lang profitiert. In vielem ist unser beruflicher Werdegang ähnlich verlaufen: Beide traten wir 1965 bzw. 1964 als wissenschaftliche Mitarbeiter in städtestatistische Ämter ein, Manfred von Schaewen in Stuttgart, ich in Nürnberg. Beide sollten wir das neu geschaffene Aufgabengebiet „Stadtforschung“ aufbauen. Beide übernahmen wir 1974 die Leitung unserer Ämter und beide arbeiteten wir in dieser Zeit an den gleichen Themen, wie den kleinräumigen Struk-
tur- und Entwicklungsanalysen zur Gestaltung unserer wieder aufgebauten Städte, an der Einbeziehung der Stadtregionen in diese Analysen und an Modellrechnungen der künftigen Entwicklung. Manfred von Schaewens Monographie „Stuttgart und die Region Mittlerer Neckar“ gehört noch heute zu den Standardwerken auf diesem Gebiet. Beide trieben wir Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre – Manfred von Schaewen auch als Leiter des Meldeamtes – die Nutzung des Melderegisters als Quelle kleinräumiger Struktur- und Bewegungsdaten für die kommunale Planung voran, was schließlich als Teilvorhaben „Statistik“ in das länderübergreifende Forschungs- und Entwicklungsvorhaben Einwohnerwesen mündete. Beide bemühten wir uns – mit finanzieller Förderung des Bundes und in Zusammenarbeit mit der damaligen Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung – BfLR – (heute Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung – BBR) – um die konzeptionellen, methodischen und datenmäßigen Grundlagen kleinräumiger Bevölkerungsprognosen und regionaler Wohnungsmarktbeobachtung und beide gehören wir zu den Initiatoren des KOSIS-Verbundes (Verbund Kommunales Statistisches Informationssystem), in dem heute 140 vorwiegend kommunale Institutionen in Deutschland und im benachbarten Ausland kostensparend und leistungssteigernd zusammenarbeiten. Gestützt auf das Ansehen und Vertrauen, das er in seiner Stadt genoss, hat es Manfred von Schaewen geschafft, seinen für
Statistik und Stadtforschung besonders aufgeschlossenen Oberbürgermeister Rommel und den Stuttgarter Gemeinderat zur Vorfinanzierung des kommunalen statistischen Informationssystems DUVA mit 1 Mio DM zu bewegen, was die Entwicklung dieses grundlegenden Instruments kommunaler Statistik überhaupt erst möglich gemacht hat. Auf seine zahlreichen richtungweisenden Vorträge und Publikationen kann ich nur hinweisen (siehe „… um die Kommunalstatistik verdient gemacht“, in: Landeshauptstadt Stuttgart, Statistisches Amt (Hrsg.), Statistischer Informationsdienst, Beiträge aus Statistik und Stadtforschung Nr. 4/1992). Über all diesen handfesten und bis heute fortwirkenden Leistungen Manfred von Schaewens steht seine unschätzbare, heute unter dem Druck der Verhältnisse bei vielen verloren gegangene Bereitschaft, mehr als nur die unmittelbaren Interessen des Tagesgeschäfts zu verfolgen, in die Zukunft zu investieren und Grundlagen zu schaffen, von denen die Städtestatistik und die sie tragenden Städte dauerhaft zehren. Dies alles beschränkte sich nicht auf seinen persönlichen Einsatz. Er verstand es auch, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Amt für die weit in die Zukunft reichenden Gemeinschaftsprojekte zu begeistern. So hat er schließlich ein Amt hinterlassen, das in der eigenen Verwaltung großes Ansehen genießt und bundesweit zu den führenden städtestatistischen Ämtern zählt.
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INSPIRATION IN DER EISENBAHN Ich habe in Manfred von Schaewen in den fast dreißig Jahren fachlicher Zusammenarbeit einen in jeder Hinsicht verlässlichen Mitstreiter gehabt und einen Freund gewonnen, der mir mit Rat und Tat zur Seite stand, Vorschläge auf ihre Machbarkeit durchleuchtete und, wenn erforderlich, mit Kritik nicht hinter dem Berg hielt. Diese Freundschaft hat
uns auch nach seiner Pensionierung 1992 und meinem Ruhestand zehn Jahre später bis heute verbunden, so dass ich jedes Jahr erleben kann, wie Manfred von Schaewen nicht nur ein nach wie vor fachlich interessierter Städtestatistiker, sondern auch ein hervorragender und begeisterter Skiläufer geblieben ist. Mögen ihm mit seiner lieben Frau noch viele
gesunde und aktive Jahre gegönnt sein. Klaus Trutzel, Nürnberg
In memoriam Herman Hollerith
Inspiration in der Eisenbahn Alles das klingt wie eine Legende, so aber könnte es begonnen haben: Gemeint ist die Nutzbarmachung der Lochkartentechnik für eine Erfassung und Auswertung von großen Mengen an Einzeldaten in der amtlichen Statistik. Der Anstoß zur dafür bahnbrechenden Idee erfolgt Ende des 19. Jahrhunderts in einem amerikanischen Eisenbahnzug. Mittels Lochzange markiert der Schaffner, wie damals üblich, Ausgang, Ziel und Preis der Reise auf den Fahrkarten der Reisenden. Jedes Ticket weist danach in mehreren Spalten Lochungen auf: ein Datenträger, meist in Form eines Pappkärtchens, visuell vom Eisenbahnpersonal unschwer zu decodieren.1 Bei einem Reisenden zündet ein Funke. Er heißt Herman Hollerith und ist Ingenieur. Ab 1880 ist er an der Auswertung des 10. Census in den USA beteiligt. Diese unionsweite Zählung umfasst statt der bisher sieben Fragen nunmehr über 200. Daraus hat sich, für 50 Millionen Bürger, ein gewaltiges Datenvolumen ergeben. In Washington treffen von überall
her Güterzüge ein, voll mit Fragebogen. Um sie auswerten zu können, ist pro erfasster Person ein Zählblättchen erforderlich. Mehrfach hat man im Bureau of the Census diskutiert, welche Möglichkeiten gegeben sind, die aufwändigen Sortierund Zählarbeiten maschinell durchzuführen. Hollerith ist einer in der Heerschar von Auswertern – und erhält durch ein zufälliges Gespräch mit dem verantwortlichen Leiter für die Erstellung der Sterblichkeitsstatistik bei diesem Census den ersten Anstoß, sich Gedanken über eine Maschine zur Auszählung der Censusdaten zu machen.2 Das fundamentale Problem besteht darin, die auf den Zählblättchen angekreuzten Felder mechanisch lesen zu können.
Die punched card Der junge Ingenieur entwickelt mit der punched card, im Deutschen als Lochkarte, von den Franzosen als la carte perforeé bezeichnet, einen maschinenlesbaren Datenträger als Basis für eine Erfassung und – vielfältige – Auswertung großer
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Datenmengen. Das erfolgt zuerst und ausschließlich für statistische Zwecke.
Die Vorläufer Prozesssteuerung, so heißt das heute, hat es mittels Lochkarten lange vor Hollerith gegeben. Falcon setzt 1728 für die automatische Steuerung eines Webstuhls Holzbrettchen mit Lochkombinationen ein. 1745 baut de Vaucanson eine umlaufende Blechwalze mit Lochkombinationen als „Programmspeicher“. Damit können Webmuster wiederholt werden. Und der Weber Jacquard, ebenfalls Franzose, verwendet ab 1805 ein Lochband aus Kartonkarten zur automatischen Steuerung von Webstühlen.3 Diese Technik wird auch für frühe Musikmaschinen – und bis heute für die Drehorgeln in holländischen Städten und auf Kirmesplätzen verwendet. Im übrigen: Digital arbeitende Rechenmaschinen, so genannte Differenzmaschinen, hat der englische Mathematiker Charles Babbage (1792-1871) schon früher entwickelt: und darüber hinaus, zusammen
Auswertung der VZ
Die Lochkarte, der maschinenlesbare Datenträger
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INSPIRATION IN DER EISENBAHN mit seiner Lebensgefährtin Lovelace, das Konzept einer programmgesteuerten (analytischen) Maschine, die bereits Lochkarten vorsah.4
Ausbau der Lochkartentechnik
Metallische Kontaktplatten
„Unfehlbar wie die Mühlen Gottes“
Zur punched card bedarf es einer Maschine, die Lochungen in den Datenträgern auszählen kann. Deren Konstruktion beschäftigt Hollerith mehrere Jahre. 1887 kann er sie vorstellen. Ein Patent darauf wird ihm in Deutschland 1889 erteilt. Seine Maschine arbeitet mit metallischen Kontaktplatten und einem dazu gehörenden Stiftkasten. Wird der Stiftkasten herabgesenkt, trifft an jeder Lochung ein Stift auf die Kontaktplatte. Dadurch schließt sich ein Stromkreis. Die zugeordnete Zähluhr rückt um eine Einheit weiter. Gibt es keine Lochung, so geschieht das nicht. Nach Durchlauf aller Lochkarten können dann an den Zähluhren die Additionen der einzelnen Merkmalsausprägungen abgelesen werden. Das gesamte, von Hollerith Tabulating Machine oder Tabulator genannte System besteht aus punched cards, dem Kartenlocher (das ist zuerst – wie bei den Zugschaffnern – eine Lochzange, dann ein Pantograph und schließlich ein Handlocher), dem Kartenleser, den elektromagnetischen Zähluhren und der Sortiereinrichtung. Das verwendete Lochkartenformat entspricht der Größe einer damaligen 20Dollar-Note.5 Zunächst sind die Lochungen rund. Die punched card in dieser Ursprungsform weist 240 mögliche Punkte für die Setzung von Löchern auf. Im frühen 20. Jahrhundert gibt es dann ein Kartenformat mit 45 Zeilen und 12 Lochpunkten pro Zeile, mithin 540 Punkte
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pro Karte. Die bis zuletzt verwendete 80-Spalten-Lochkarte mit – aus Platzgründen jetzt rechteckigen – Löchern hat die IBM 1928 erstmalig vorgestellt.6 Übrigens: Als alle diese entwickelten Komponenten produktionsreif sind, ist der 10. Census der Vereinigten Staaten von 1.500 Mitarbeitern binnen mehr als sieben Jahren noch nicht lange abschließend ausgewertet. Herman Holleriths Maschine kann inzwischen 1.000 Lochkarten je Stunde verarbeiten. Erste überzeugende Einsätze in New York und Baltimore veranlassen das Bureau of the Census, die 11. US-Volkszählung – sie ist für 1890 vorgesehen – mit Holleriths Technik durchzuführen.
Ein nachhaltiger Durchbruch Eine in den Vereinigten Staaten unvermindert anhaltende Entwicklungsdynamik führte im administrativen, dem militärischen, besonders aber im gewerblichen Bereich zu sprunghaft steigendem Bedarf an Daten und daraus zu gewinnenden sach- und problemgerechten Informationen. Aufgrund der innerhalb des beendeten Dezenniums angewachsenen Zahl von USBürgern sind „13 million household schedules, resulting in more than 62,5 million population punched cards..“ zu erfassen und auszuwerten. Dazu kommen 700 Pantograph punches (die Vorläufer der späteren Handlocher) und 96 Hollerith Electric Tabulating Systems zum Einsatz.7 Das zu bewältigende Datenvolumen ist jetzt rund zwölfmal (!) höher als ein Jahrzehnt zuvor. Die neue Technik übertrifft
die kühnsten Erwartungen: Nach nur sechs Wochen liegt eine erste grobe Auswertung der Daten vor. Schon im Dezember desselben Jahres, zwei Jahre früher als geplant, kann das offizielle Endergebnis präsentiert werden. 5 Millionen Dollar an Zählungskosten sind eingespart. Nur noch gut 500 Mitarbeiter waren für die Abwicklung erforderlich. Das System erweist sich auf Anhieb rundum überzeugend als erste technisch brauchbare Lösung zu einer Erfassung, Speicherung und Auswertung von Massendaten. Es markiert den Anfang eines Entwicklungsweges, der zu den heutigen Computersystemen geführt hat. Beeindruckt resümiert die Fachzeitschrift „Electric Engineer“ 1891: „Dieser Apparat arbeitet unfehlbar wie die Mühlen Gottes, aber er schlägt sie glatt in Bezug auf die Geschwindigkeit.“8 Nach 1890 verleiht die Columbia University in New York – dort hat er seine akademische Ausbildung erhalten – Herman Hollerith die Ehrendoktorwürde.
Kind deutscher Auswanderer Als jüngster Sohn deutscher Auswanderer aus der Pfalz ist Herman Hollerith am 29. Februar 1860 in Buffalo geboren worden. Sein Vater, ehemals Gymnasialprofessor für alte Sprachen in Speyer, ist mit seiner Frau 1848 in die USA ausgewandert. Er stirbt, als Herman neun Jahre alt ist. Des begabten Kindes nimmt sich Carl Schurz aus (Erftstadt)Liblar bei Köln an – ein „FortyEighter“(1848er) und deshalb Emigrant, langjähriger Freund des Vaters Johann Georg und später unter Präsident Hayes Innenminister der USA.9 Hollerith kann sich an der
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INSPIRATION IN DER EISENBAHN Bergakademie der ColumbiaUniversity einschreiben und legt dort, erst 19 Jahre alt, seine Diplomprüfung als Bergingenieur mit Auszeichnung ab. Als Assistent seines Lehrers Trowbridge bleibt er zunächst dort und beschäftigt sich mit Fragen der Industriestatistik. Nach seiner Mitarbeit bei der Durchführung des Census von 1880 wechselt er 1882 als Lehrer für Technische Mechanik an das berühmte Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1883 entwickelt er in St.Louis elektromagnetische Luftdruckbremsen für Eisenbahnfahrzeuge. 1884 bis 1889 ist er Mitarbeiter des amerikanischen Patentamtes in Washington. In diese Zeit fällt die bis zur Anwendungsreife gebrachte Entwicklung seines Electric Tabulating Systems.
Siegeszug in der amtlichen Statistik Herman Hollerith, dieser vielseitige und innovative Ingenieur, arbeitet nach dem weltweit beachteten erfolgreichen Einsatz seiner Lochkartentechnik im Rahmen des US-Census von 1890 an der Verbesserung und technischen Ergänzung seines Systems. Das erlebt einen Siegeszug durch die amtliche Statistik vieler Länder überall auf der Welt. Die k. u. k. – Doppelmonarchie ÖsterreichUngarn führt zuerst in Europa ihre 1890er Volkszählung mit Hollerithtechnik durch. 1896 macht sich Herman Hollerith selbständig und gründet die Tabulating Machine Company. Und sogleich entwickelt er eine neue Vertriebsstrategie für seine Technik: Die notwendigen Maschinen können auch geleast werden. Die punched cards sind natürlich käuflich zu erwerben. Früh bedient sich auch das zaristische Rußland des know-how dieses Mannes
für die Organisation eines Zensus. „The first Russian Census of 1897 used more than 120 million punched cards and up to 70 Hollerith tabulators of the 1890 model.“10 Im auch damals föderalistisch aufgebauten Deutschen Reich steht das Königreich Württemberg am Anfang der Nutzung Hollerithscher Maschinentechnik für die Durchführung und Auswertung einer Volkszählung. Oberfinanzrat Professor Dr. Losch hat anläßlich einer Amerika-Reise die Zählmaschinen im Washingtoner Bureau of the Census kennen gelernt. In Form eines Gutachtens legt er eine sorgfältige Untersuchung zur Anwendung des Verfahrens für die bevorstehende Volkszählung von 1910 vor. Ergebnis: Beachtliche Vorteile gegenüber manueller Bearbeitung. Trotz damit erweitert möglichem Auszählungsprogramm wird bei geringerem Personal- und Raumbedarf ein Zeitaufwand von nur zwei Jahren und eine Kostensenkung um etwa 10.000 Mark veranschlagt. Ebenso erfolgreich wie Württemberg wickeln den Zensus von 1910 mit dem neuen System erfolgreich ab: das benachbarte Großherzogtum Baden, das Königreich Sachsen und die Reichslande Elsaß-Lothringen.11 Außerdem der größte deutsche Bundesstaat, das Königreich Preußen, „… das wegen seiner hohen Einwohnerzahl besondere Anforderungen an die Technik stellt.“12 Das Kaiserliche Statistische Reichsamt dagegen nimmt aus sozialpolitischen Gründen Abstand davon: Etwa 1.000 Arbeitslose und Invaliden sind im Rahmen der Volkszählung als Hilfsarbeiter beschäftigt.13 Im „Berliner Tageblatt“ vom 11. Dezember 1910 hat C. J. Magnus die beiden maß-
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geblichen Effekte eines Einsatzes der neuen Technik im Kontext einer Großzählung, geradezu zeitlos gültig, wie folgt beschrieben: „Wenn auch zur Lösung einer bestimmten Aufgabe der Maschinenbetrieb immer billiger wird als irgendeine andere Methode, so zeigt sich erfahrungsgemäß, dass man bei Anwendung der Hollerithmaschinen die Entdeckung macht, dass, nachdem man einmal die gelochten Karten besitzt, es möglich ist, noch viele interessante Probleme zu lösen und Statistiken herzustellen, welche lange gewünscht wurden, aber wegen der Unkosten nicht gelöst werden konnten. Es werden hierbei nicht nur Leute durch die Maschinen gespart, sondern der Vorteil zeigt sich vor allem durch viel umfangreichere, genauere, zuverlässigere Ergebnisse.“14 Holleriths Verfahren wird ab 1890 in immer mehr Branchen der gewerblichen Wirtschaft, im öffentlichen Bereich, den Streitkräften, bei Eisenbahngesellschaften, im Hochschulbereich eingesetzt. Es wird ständig verbessert, dadurch leistungsfähiger. Das alles geschieht weitgehend noch zu Holleriths Lebzeiten. Er stirbt, hochgeehrt und vielfach ausgezeichnet, nach einem Herzanfall, noch keine siebzig Jahre alt, am 17. November 1929 in Washington. Ausgereizt ist das lochkartenbasierte System für eine Verarbeitung von Massendaten in den 1970er Jahren: Neue Speichermedien, wie Magnetband, Magnetplatte, Magnettrommel beginnen, in der Groß-EDV die punched card zu verdrängen. Sie ist, als Residuum, nur noch in manchen Stempeluhren und. kurioserweise, bis heute in ihrem Herkunftsland, den USA, für Wahlautomaten ge-
Großes Lob
Schnellere Auszählung, weniger Kosten
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JEDER WIRD MAL 50 / FEHLER bräuchlich. Ulrich Naumann, Köln
Anmerkungen 1
2 3
nach einer anderen Darstellung wurde Hollerith „durch einen Trick, den Eisenbahnschaffner benutzten (dazu inspiriert); sie lochten die Fahrkarten an bestimmten Stellen, um gewisse Merkmale eines Passagiers, wie Geschlecht und Hautfarbe, festzuhalten und so eine Mehrfachnutzung der Tickets durch verschiedene Personen auszuschließen.“ (Güll, R., Die Hollerithmaschinen, in: Statistisches Monatsheft BadenWürttemberg, Jg.2004, 6. Güll, R., a.a.O. Biener, K., Zum 140. Geburtstag von Hermann Hollerith,in: Hum-
4 5 6 7
8 9 10 11 12 13
boldt-Universität Berlin (Hrsg.), RZ-Mitteilungen, Nr. 21, März 2001, S. 54. nach Meyers Großes Taschenlexikon, Bd.2, 9.Auflage, Mannheim 2003, S. 462. Biener, K., a.a.O., S. 54. Probert, W., Lochkarten, http:// www.transfer.ik.fh-hannover.de , S. 4. Angaben bei Kistermann, F.W., Locating the Victims: The Nonrole of Punched Card Technology and Census Work, in: IEEE Annals of the History of Computing, vol. 19, No. 2, 1997, p. 36. Güll, R.., a.a.O. o.V., Der Dehomag D 11 (von Hollerith), http://www.page.mi.fuberlin.de Kistermann, F.W., a,a.O., p. 36. Güll, R., a.a.O. o.V., Die Jahre 1910-19119 bei der IBM, http://www.ibm.com/de/ibm. unternehmen. Güll, R., a.a.O.
14 Magnus, c. G., Aus einem Bericht über die Volkszählung 1910 in Berlin, wieder abgedruckt in: Berliner Statistik, Monatsschrift des Statistischen Landesamtes Berlin, Jg. 1950, 7, S. 162. (Kursive Hervorhebungen vom Verfasser.)
Jeder wird mal 50 Na ja, nicht ganz jeder, wie wir Statistiker genau wissen. Aktuell liegt die Quote im früheren Bundesgebiet bei 95,3 %, bei den Frauen einen guten Punkt höher und bei den Männern entsprechend darunter. Sieht man in die zu Anfang der 50er Jahre gültige Sterbetafel, so tauchen doch noch andere
Zahlen auf. Nur 82,6 % der Männer erreichten die sechste Null; bei den Frauen hingegen 87,0 %. Einer der nächsten, der nun die Hälfte zum 100-Jährigen hinter sich gebracht hat, ist William Henry Gates III, unser Mr. Microsoft, der reichste Mann der Welt. Würde Bill Gates uns zur Statistischen Woche in Braun-
schweig besuchen, würden wir noch einen 49-Jährigen begrüßen, denn er wird erst am 28. Oktober 50 Jahre alt.
„Überlebensanalyse von Gebäudebeständen“ fehlt ein Autor: Prof. Dr. Niklaus Kohler. Zusätzlich wird er auf zwei Arten geschrieben, einmal mit „ö“ und dann richtig mit „o“. Bei dem anderen Uni-Karlsruhe-Artikel sind zwar alle Autoren genannt, dafür ist die Überschrift irreführend. Dieser Aufsatz analysiert nicht den „Wohnungsbestand“, son-
dern befasst sich mit dem Gesamtbestand, also Wohn- und Nichtwohngebäuden. Mea culpa. Ich bitte Sie, mich weiterhin auf diese und andere Fehler aufmerksam zu machen. Sie dürfen aber auch ruhig sagen, wenn Ihnen etwas gefallen hat.
Martin Schlegel, Hagen
Fehler Über Statistik: Den Zahlen ist es egal, ob wir sie lieben oder hassen. Dann lieben wir sie doch.
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Sie sind da, um gemacht zu werden, und deshalb stand in Ausgabe 1/2002 über dem Editorial: „Öffentlich in Sekt baden“. Auch die letzte Ausgabe war nicht fehlerfrei, diesmal aber in neuer Dimension: Die Fehler konzentrierten sich auf die Beiträge, die die Universität Karlsruhe beisteuerte. Bei
Martin Schlegel, Hagen
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL III: FEIER, WAHL UND ATTENTAT
Teil III: Saudi Arabien Projekt
Feier, Wahl und Attentat Ramadan Der 1.Tag des Ramadan war ein Freitag. Also: Feiertag, arbeitsfrei; für uns 8 Uhr morgens Gelegenheit, im herrlichen Compound-Schwimmbad erfrischende Runden zu drehen. Am Eingang zum Recreation Center sortierte ein uns gut bekannter Inder Geschirr. Da passierte gleich der erste Ausrutscher des ‚Advisors’: ‚Hallo, Sie sind ja schon beim Vorbereiten des Frühstücks!’ Die Antwort hat ihn gleich verlegen gemacht: ‚It’s Ramadan, Sir’. Arbeitbeginn morgens nicht vor 10 Uhr (die Schlusszeiten zwischen 14 und 15 Uhr scheinen nach ersten Eindrücken gleich geblieben zu sein). Vom 4. bis 19. November sind zumindest die öffentlichen Dienststellen (und viele andere) geschlossen, die ‚normalen’ Mitarbeiter im Zwangsurlaub (von dem Jahresurlaub werden allerdings nur 5 Tage abgezogen). Gearbeitet wird – zum Teil – auf der Führungsebene und in den Beratungs- und Beschlussgremien. Auch der Advisor Hruschka hatte – im sonst fast leeren Ministerium – zweimal Anwesenheitspflicht, um dringende Konzepte für die Vorbereitung der Wahlen zu schreiben. Für 5 Tage durfte er sich aber (natürlich mit Frau Hedwig) absetzen und nutzte die Gelegenheit zu einer Reise nach Beirut, dem Südlibanon und nach Damaskus (anstrengend, aber höchst interessant!). Im englischsprachigen Radio Riyadh war der Morgen (8.30 – 11 Uhr) bisher ausgefüllt mit ‚Light Music’, wozu auch klassische Musik (vieles aus
deutschen Konzertsälen!) zählte. Dies alles fehlt im Monat Ramadan: fast alle Berichte und Reportagen beziehen sich auf Religiöses und den Fastenmonat (auch der Kinderfunk macht keine Ausnahme). Koranlesungen und -interpretationen wechseln sich ab mit Gedanken eines Muslims. • Warum ich zur Universalreligion Islam übertrat. • Was muss ich tun (Fragen von Muslims und Antworten von höchster geistlichen Stelle), wenn ich im Ramadan einen Verstoß gegen Allahs Gebote begehe oder beobachte. • Skizzen aus dem Leben und Wirken des Propheten Mohammed. • Warum die nichtislamischen Religionen in sich so widersprüchlich sind, dass sie nicht den Anspruch einer Universalreligion erheben können. • Wie haben sich die Gläubigen auf Reisen oder bei schwerer Krankheit während der Fastenstunden zu verhalten Die Freundlichkeit der Mitmenschen ist unverändert auf einem sehr angenehm hohen Niveau. Dies fällt besonders auf, wenn man sich entschließt, nach dem Ende der Fastenstunden mit Muslims zum Iftar (gemeinsames Essen zum Fastenbrechen) zusammen zu kommen. Alle Kinder sind in den engeren oder erweiterten Familienkreis gleichberechtigt einbezogen und scheinen das zu genießen. Nach dem Ende des Ramadan gibt es Festtage, genutzt zum Verwandtenbesuch, zu Urlaubsreisen. Die allgemeine
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Stimmung ist fröhlich und locker (wobei nicht klar ist, ob das religiöse Gründe hat oder nur mit den Urlaubstagen zu erklären ist). Im Rückblick auf den Fastenmonat Ramadan ist für den Außenstehenden kein besonderer Wandel im Leben seiner Mitmenschen zu beobachten: man hatte seit Wochen viel Besonderes erwartet und eigentlich – außer den genannten Äußerlichkeiten – nichts extrem Anderes bemerkt (der Autor geht dabei davon aus, dass dies mit seiner vielleicht zu nüchternen und sehr realitätsbezogenen Sicht der Dinge zu tun hat: nichts in seinem Umfeld hat ihn im Ramadan persönlich und tiefgreifend bewegt).
Auswirkungen des Ramadans auf die Wahl Bei den Zeitplanungen für die anstehenden Wahlen hat der Monat Ramadan neben der ‚Hajj’ (der Zeit des Pilgern nach Mecca und Medina, 2005 vom 15. bis 26.Januar) eine wichtige, aber für den Außenstehenden zunächst unklare Rolle gespielt. Wie kann man Termine für Wahlvorbereitungen, amtliches Arbeiten, Zeitpläne für die Bürger etc. verlässlich in die Ramadan-Zeit legen? Was ist in den 3 Wahlregionen überhaupt möglich, wenn die Zeiten zwischen dem 15.Oktober und dem 21.November (Ende der Schulferien) und vom 15. bis 26. Januar blockiert sind, man aber gleichzeitig die Wahlen wegen der unverzichtbaren Vorlauftermine nicht auf die 71
SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL III: FEIER, WAHL UND ATTENTAT lange Bank schieben will?
Kurzurlaub im Libanon
Zeitplanprobleme
Der Ersteller der Zeitpläne hörte zwei kontroverse Meinungen: • Das Einhalten von Zeitplänen im Ramadan können Sie vergessen. Vor 10 Uhr geht niemand zur Arbeit, die Bürger haben nach dem Fastenbrechen zum vorhergehenden Sonnenuntergang die Nacht zum Tag gemacht, müssen als Muslime vor Sonnenaufgang frühstücken, legen sich anschließend nochmals hin und haben dann bis zum späten Nachmittag die Verpflichtung, nichts zu essen und zu trinken (auch kein Wasser). • Das vorher Gesagte ist nach der entgegengesetzten Meinung nur etwas Äußerliches: die Muslim-Familien genießen die RamadanZeit als freudiges Ereignis, sie sind in dieser Zeit den Mitmenschen gegenüber besonders aufgeschlossen und werden in den Tagen der religiösen Erweckung besonders konzentriert und eifrig zu Werke gehen. Was tun, wenn die Auftraggeber der dringend benötigten Zeitpläne gleichzeitig gegen das Hinausschieben der Wahltermine sind und beiden vorgenannten Ansichten je zur Hälfte zuneigen? Es bot sich an, Zeitpläne nach rein fachlich-sachlichen Erwägungen aufzustellen und die Reaktionen abzuwarten (die letztlich zu einem entschiedenen ‚Sowohl-als-auch’ führten).
Libanon und Syrien Während der Ramadanferien wurden dem Advisor Hruschka zwar 2 Arbeitstage ‚aufgebrummt’ jedoch gleichzeitig 3 freie Tage (‚aber bitte in der Region und per Mobile immer 72
erreichbar’) konzediert. Inzwischen angepasst an die Denkweise der Saudis (zu viele Rückfragen sind oft schädlich) hat er dies als 5 Urlaubstage interpretiert – weil ja die allgemein freien Tage Donnerstag und Freitag zwischendrin liegen. Im Kontakt mit einem kleinen Reisebüro wurden die regionalen Möglichkeiten, die Flugtermine, Attraktionen, Unterkünfte herausdestilliert. Es blieben unvergessliche Tage in Beirut als Hauptquartier, mit Ausflügen in den Südlibanon (u.a. in die seit Jahrtausenden geschichtsträchtigen Gebiete um Sidon und Tyre) mit seinen ‚übereinanderliegenden’ und durchaus noch zu erkennenden Kulturschichten, bis hin zu den Kämpfen mit der langjährigen Besatzungsmacht Israel (20 Km südlich von Tyre beginnt dessen Gebiet). Eine interessante international zusammengesetzte Reisegruppe und ein gutes gemeinsames Mahl würzten die Ganztagstour und machten Appetit auf mehr. Dies konnte schon am nächsten Tag realisiert werden: das Reisebüro bot für 2 New Yorker Brüder und die Hruschkas eine Reise nach Damaskus an. Es hätte nicht besser laufen können: ein schneller Volvo, ein Fahrer, der die Grenzsituationen souverän beherrschte, ein kompetenter junger Wissenschaftler als Stadtführer, ein – wie seit Mitte April immer – strahlendes Wetter und die gute syrische Küche in der knappen Rastzeit boten den Rahmen für ein ausgiebig genutztes Besichtigungsprogramm (nicht nur die berühmteste islamische (Omayaden) Moschee, das Nationalmuseum mit unermesslichen Schätzen, die Basare im orientalischen Teil und die Quartiere im christlichen Teil. Auch bei
den Handwerkern ( u.a.den Seidenwebern und den Intarsienkünstlern) waren wir eingeladen (und als Käufer willkommen). Der Gesamteindruck: Syrien sucht den Anschluss an die zukunftsträchtige Weltentwicklung, scheint sich aber noch nicht im Klaren zu sein, wem die Zukunft eigentlich gehört und wo oder wie es Anschluss finden kann. Eine Zukunft in der muselmanischen Staatengemeinschaft scheint nicht im Blickpunkt der Syrer zu liegen, ein ‚Heer von befreundeten Staaten’ ist aber auch nicht zu erkennen. Eine Assoziierung an die EU würde man sicher begrüßen, sieht aber sehr realistisch das mangelnde Interesse von der anderen Seite. Die beiden letzten Tage gehörten nun endlich Beirut, in dem die Spuren aus 15 Jahren Bürgerkrieg kaum noch zu sehen sind und die Zerstörungen einige wichtige städtebauliche Neuordnungen und Ausgrabungen ermöglicht haben. Für uns gab es: Libanesisches Essen, Spazierengehen an der Corniche, abendliche Besuche in der großen Fußgängerzone - mit Straßenrestaurants dicht an dicht und auf ‚Weltniveau’ -, eine heiter eingestimmte, speisende oder umherwogende Menschenmenge (ohne Gedränge und unfreundliche Worte): ‚hier ist man Mensch. hier darf man’s sein’. Der Unterschied zu dem strengen Riyadh war unverkennbar, die wenigen Saudis in ihren traditionellen Gewändern (‚Thobs’) schienen verloren in dem Treiben und schauten – soweit zu beurteilen – fassungslos zu. Nach dem Mahl mit herrlichem Rotwein aus dem Bekaa-Valley (mit seinem lange Jahre schlechten Ruf als Kriegsregion) haben wir die traditionelle
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL III: FEIER, WAHL UND ATTENTAT Wasserpfeife – mit Melonengeschmack – probiert und das Experiment als zumindest interessant empfunden. Ein HägenDasz-Eis beim abschließenden Bummeln vor der Taxifahrt zurück ins Mövenpick-Hotel rundete den interessanten Eindruck von dem aus den Wirren des Bürgerkrieges wieder auferstandenen lebendigen ‚Paris des Mittleren Ostens’ ab. Fünf Tage voller Eindrücke aus einer für nicht mehr erreichbar gehaltenen Welt: wir müssen das alles noch verdauen und werden später von den Höhepunkten zu berichten haben.
Das Attentat Mittwoch, 28.Dezember, der Tag vor dem Wochenende. In einer wichtigen Wahlangelegenheit hatte ich eine Empfehlung für das weitere Vorgehen abzugeben und sie gleich als – in Paragraphen gefasste – Verordnung des höchsten Wahlgremiums zu formulieren. Auftrag (natürlich zu frühester Stunde und wie fast immer per Handy): sofort erledigen, arabische Übersetzung organisieren, alles für die Sitzung der Entscheider am Abend vorbereiten. Es lief alles ‚wie am Schnürchen’, da es vielfach vorgedacht war. Die Chance: in dieser ungewöhnlichen Angelegenheit eigene Gedanken zu formulieren und beschließen zu lassen. Um 14 Uhr war alles fertig. Teilnahme an der Sitzung nur bei Handy-Anforderung erforderlich, das – meist freie – Wochenende konnte beginnen. Es kam kein Anruf! Dann die deutschen 7-UhrNachrichten im ZDF (hier also 21 Uhr). Am Schluss die Meldung: „Wie wir soeben erfahren, haben Attentäter einen Sprengstoffanschlag auf das saudische Innenministerium in Riyadh verübt, der erheblichen
Sachschaden angerichtet hat.“ Dazu ein Bild vom Innenministerium, das ich jeden Tag als Nachbar vor mir habe (Abstand von meinem Bürofenster 200 Meter). Bedenken kamen mir nicht; wir hörten die Nachricht am Abend nochmals in anderen Sendungen und mit Bildern, sahen ganz arglos dem Wochenende mit Erwartung entgegen. Am Donnerstagmorgen der Anruf: Bitte am Samstag (erster Arbeitstag zum Wochenanfang) in den anderen Dienstsitz des Ministeriums kommen, wegen Zerstörungen im Hause des dienstlichen Domizils. Ich fand mich zum Wochenbeginn dort ein, aber meine arabische Kollegenschaft war nicht da. Also zurück zum eigenen Gebäude. Tiefgarage dort gesperrt und fast alle Parkplätze. Im Inneren schien alles zunächst ganz normal zu sein; der Fahrstuhl zur ‚Führungsetage’ im 1. Stock funktionierte wie immer. Dann sah ich, dass ich den Zimmerschlüssel nicht hätte mitnehmen müssen: die nach innen sich öffnende Tür war mit voller Wucht samt Rahmen nach außen aufgedrückt worden, ein Teil der Wand war gerissen, ein Schrank einfach aufgeplatzt und in zwei Teile zerlegt. Handwerker waren gerade dabei, die heruntergebrochene, nur abgehängte Decke wieder in ihre Halterungen einzuhängen, gleichzeitig sicherten andere das in den Raum ‚geblasene’ Mittelfenster mit einer stabilen Folie. Der Computer arbeitete, auch der teilzerstörte Prozessor, nur der Drucker hatte den Geist aufgegeben; die Akten lagen – ziemlich verdreckt – im Raum. Aufräumen und dann weiterarbeiten! Langsam kam mir das Gefühl
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für die mögliche Lebensgefahr, in der ich fast geschwebt hätte bei einer ‚Einberufung zur Abendsitzung: während die äußere Fensterscheibe mit einem ‚Anti-Shatter-Film’ gegen Risse oder Zersplittern geschützt war, hatte es die innere, dicke Scheibe mit voller Gewalt und Hunderten von Splittern in den Raum gedrückt. Die Wucht war zu sehen an den massiven Löchern im Schreibtisch, an den Wänden und an Glasplatten: es hätte mich und meinen Kopf, hätte ich – wie üblich – an meinem Computer gesessen, ziemlich schlimm zugerichtet, vielleicht getötet. Aber im Nachhinein war es nur ein vorübergehender Schrecken, der allerdings stärker wurde, als mein saudischer Chef mit Kollegen zu einer herzlichen Begrüßung und einem „how are you“ vorbeikam. Nach meinem „ I am still alive, Sir“ sagte der ‚Meister’ zu seiner Mannschaft: „ich habe Hroschka das Leben gerettet mit meiner Vergesslichkeit. Ich sollte ihn zum Vortragen seiner Empfehlungen für den Abend zur Sitzung in das Ministerium einladen und habe es einfach vergessen, ihn anzurufen. So bin eigentlich ich sein Lebensretter!“. So was nennt man auf jiddisch wohl Chuzpe!. Nachmeldung: Verfahren à la Saudia. Es wurde schnell bekannt, wer die Attentäter mit ihrer 1,4 to Sprengladung waren. Man fand ihr Unterschlupfhaus heraus, schoss mit einer mittelschweren Kanone die Tür auf, zersiebte mit weiteren Geschossen die Hausfassade und tötete innerhalb von Minuten alle 7 Attentäter und 4 Helfershelfer. Kurzer Prozess! Die Schuldigen sind jetzt als Märtyrer bei Allah und es blieb ihnen Schlimmeres (saudische Gefängnisse und Verhöre) er-
In Lebensgefahr
Das Büro von Splittern übersät
Tür gesprengt, Wand gerissen, Schrank zerlegt
Kurzer Prozess mit den Tätern
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SAUDI ARABIEN PROJEKT TEIL III: FEIER, WAHL UND ATTENTAT große Teile der Wandkacheln abgerissen und zertrümmert.
Das Innenminsterium vor dem Attentat
spart.
Tempo á la Saudi Arabia
Keine langfristige Planung
Rotes Meer
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Der systematisch Planende und Arbeitende kann hier im Land interessante neue Erfahrungen machen: empfohlene Vorbereitungsschritte für bestimmte Vorhaben werden wohlwollend zur Kenntnis genommen, darauf folgt Schweigen. Irgendwann ist aber der Zwang zum Handeln nicht mehr zu vermeiden: es beginnt dann der volle Einsatz aller gerade greifbaren Ressourcen ohne Rücksicht auf Kosten und Widerstände; das Ergebnis liegt dann immer noch rechtzeitig vor und dem verdutzt Zuschauenden wird die Frage gestellt, wo das von ihm aufgezeigte Problem eigentlich gelegen habe. Dabei soll nicht übersehen werden, dass die Empfehlungen zur Vorbereitung sicher irgendwie zur Kenntnis genommen worden sind und in der Bedrängnis zu einem Kraftakt mit oftmals simplen, aber wirkungsvollen Lösungen geführt haben. Das im vorherigen Abschnitt geschilderte Attentat hatte vom Innenministerium nicht nur eine sehr große Zahl von Fenstern (mit Stahlrahmen!) zerstört, sondern auch an dem Gebäude, das die Form einer Fliegenden Untertasse hat,
Allein die Form des Gebäudes ließ es für den Laien zweifelhaft erscheinen, wie und in welcher Zeitspanne die Reparaturen mit den extrem schwierigen Gerüstkonstruktionen hätten vorgenommen werden können. Offen für den deutschen Nichtfachmann auch die Frage der Ersatzmaterialien (viele hundert von Kacheln verschiedener Farbschattierung und Größe), der Facharbeitskräfte und der Bewilligung der Kosten (wenn man an deutsche Verhältnisse denkt!). Was geschah am Innenministerium nach wenigen Tagen? Riesige und komplizierte Stahlgerüste wuchsen an der Fliegenden Untertasse in ganz kurzer Zeit in den Himmel, mit sicher mehr als hundert gleichzeitig arbeitenden Handwerkern (natürlich fast alles Inder, Pakistani, Bangladeshi, Sri Lanka Leute) an der Baustelle. Aufzüge entstanden fast wie von selbst, die Reste der zerstörten Kacheln verschwanden von den Halterungen, diese wurden repariert, neue Kacheln und Wandplatten wurden im Stundentakt angeliefert (woher wohl?) und per Aufzug an den Gerüsten zu den Lücken gebracht und dort montiert. Nach wenig mehr als drei Wochen waren – trotz der allgemeinen Hajj-Ferien – statt der Riesenbaustelle nur blitzneue Wände zu sehen, die riesigen Stahlrohrgerüste verschwanden wie von Geisterhand. PS 1: So geht es auch! PS 2: Die reparierende Baufirma soll den Namen ‚Bin Laden“ tragen! PS 3: In der gleichen Zeit ist mein Drucker noch immer nicht ersetzt.
Die ‚Wiege der Zivilisation’ Ramadan als Fastenmonat sowie die Zeit der offiziellen Pilgerfahrten nach Mekka (Hajj) bestimmen mit den damit verbundenen Ferien in starkem Maße den Jahresablauf, wenn man von der langen Sommerferien in der Hitze Arabiens absieht. Hajj-Ferien: das klingt für Viele gut, die nicht als GAE (General Advisor on Elections) an den Vorbereitungen der ersten allgemeinen Wahlen in Saudi Arabien sitzen. Immerhin: neben einem Wochenende (Donnerstag/Freitag) konnte aus dem ansonsten gefüllten Programm noch ein dritter Tag für einen Ausflug nach Nordwest-Saudi-Arabien in die ‚Wiege der Zivilisation’ des Zweistromlandes Mesopotamien herausgeschnitten werden. Kollegen hatten begeistert von ihren Eindrücken berichtet. So sind wir an einem Donnerstag per Flug über Medina an einen kleinen Ort am Roten Meer geflogen und danach per Kleinbus die restlichen 260 km (für saudische Verhältnisse fast ein Nahbereich!) durch eine interessante gebirgige Wüstenlandschaft gefahren worden. Unser Ziel: ein bekanntes Hotel, viel besucht als Startpunkt von Ausflügen unter fachmännischer Führung in ein Gebiet, das schon im Alten Testament vielfach erwähnt wurde sowie in den alten assyrischen und arabischen Schriften. Wir starteten in Madain Saleh, der südlichen Hauptstadt des Königreichs der Nabatäer (1. Jahrhundert vor bis 1. Jahrhundert nach Christus) dem Gegenstück zur bekannteren Nordhauptstadt Petra in Jordanien. Die Stadt war ein Mittelpunkt zahlreicher Karawanenwege (zwischen Südarabien, Irak, der Levante, Anatolien, Ägypten und den übrigen Län-
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WEIHNACHTEN dern des Mittelmeeres). Sehenswert hier die Reste ihrer Paläste, in den Felsen gehauenen Behausungen, Tempel und Gräber mit beeindruckenden und gut erhaltenen Fassaden, Bildern und Inschriften. Im Nachbarort Al Ula beeindruckten daneben bis vor kurzem bewohnte Dörfer, die schon zur Zeit des Propheten Mohammed (‚peace be upon him’) beachtliche Siedlungen waren und in denen nachweislich der Prophet Moscheen besucht hat. Immer wieder an den Straßenseiten – völlig ungesichert gegen Kunsträuber – über 2000 Jahre alte Felsenzeichnungen und Texte. Die touristischen Sehenswürdigkeiten waren bis vor einigen Jahren viel besuchte Ziele auch deutscher Reiseunternehmen, die sich aber seit einiger Zeit aus Sicherheitsgründen als Gruppe nicht mehr in das Land trauen. Was bleibt sind einzelne Touristen wie wir aus vielen Ländern der Erde, die von her-
vorragenden Führern ausgezeichnet betreut werden. Der Rückweg war mit 400 Km noch länger als die Herfahrt, aber verkürzt durch die interessanten Kommentare unseres französischen Begleiters zur – von den Deutschen gebauten und von den Franzosen bis 1924 weiter betrieben – HejazBahn, die als Pilgerbahn von Damaskus nach Medina führte und deren Gleisbett und Stationen bis heute eindrucksvoll zu sehen sind. Was uns auf dem Rückweg zu schaffen machte war ein eintägiger Regen vom Vortag, der die Wadis zur Freude der ganz selten Wasser und Flüsse sehenden Einheimischen zu breiten und stellenweise reißenden Strömen verwandelt hat und manche wichtigen Straßen einfach unpassierbar machte. In der Schlussetappe wollten wir 80 KM vor Medina eine offizielle, gut ausgebaute Abkürzungsstraße zum Flughafen benutzen. Was uns niemand sagte: auf den vielleicht 50
Kilometern gab es wegen der Regenfälle massive Erdrutsche, die etwa ein Drittel der Straße behinderten, aber immerhin noch – wenn auch im Schritttempo und sehr mühevoll – passierbar waren. Unser indischer Fahrer hat hier in drei Stunden qualvollen Gerüttels eine Meisterleistung vollbracht. Die hochinteressante Exkursion war jedoch auf jeden Fall die Mühen wert. Erhard Hruschka, Ahrensburg
Ganz ohne Statistik
Weihnachten Die nächsten Zeilen könnte man als leichte Hilfe auf dem Weg zu einem netten Weihnachtsgeschenk verstehen – oder schlicht und einfach als Reklame für zwei Spiele. Doch muss ich ehrlich sagen, dass ich in der Beziehung nun wirklich nicht objektiv bin. Ich bin nämlich der Autor.
Das eine Spiel: M „M sieht aus, als stamme es aus den späten 70ern: völlig abstrakt, herrlich bunt und mit einem Untertitel (Mega-Spass mit Mini-Regeln), der garantiert aus dieser Zeit stammt.“ schreibt ein Tester und fährt fort: „M ist mit einer bewundernswerten Konsequenz altmodisch. Aber davon lasse ich mich nicht abschrecken. An M führte für mich kein Weg vorbei.“ www.spiele-truhe.de
Dazu schreibt der Tester u.a.: „Interessant und neuartig ist der Aspekt der umlaufenden Spielfiguren. In der Summe sind es nur wenige Aktionen, die einem Spieler zur Verfügung stehen, aber aus diesen ist ein funktionierendes Spiel zusammengestellt worden, das mit seinen neuen Mechanismen angenehm interessant ist.“ www.fairspielt.de Martin Schlegel, Hagen
Das andere: Hekla Stadtforschung und Statistik 2/ 05
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ZEIT! ZEIT!
Zeit! Zeit! Erstveröffentlichung in: polis, Zeitschrift für Stadt und Baukultur, Ausgabe 2/2004, 16. Jahrgang.
„Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt, und der wird niemals alt ....“ heißt es in einem alten Schlager. Zeit als unendliches Gut, zum verpulvern, zum verplempern. Nicht mein Fall. Hinrich Krone, Konrad Adenauers langjähriger Kanzleramtschef, sagte auf die Frage, wie sie denn das Zeitproblem für die vielen Aufgaben und Entscheidungen lösen würden: „Wir haben keine Zeit. Aber wir nehmen sie uns“. Das gefällt mir schon eher. Zeit ist für mich kein Kernthema und die totale Fixierung der modernen Gesellschaft auf den Faktor Zeit halte ich für töricht. Zeit reicht sowieso nicht für alles.
Zeit zum ersten
Kommunikation in beide Richtungen
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Als Stadtbaurat kann man nicht • 3000 Bauanträge pro Jahr kennen: • die Details von 30 im Jahr zur Rechtskraft gebrachten Bebauungspläne und 150 im Vorbereitungsstadium kennen; • den detaillierten Zustand von Schulen, Kindertagesstätten, 500 sonstigen Gebäuden wie Büchereien, Theater, Oper,Volksbildungsstätten usw. usw. kennen, • die Beschaffenheit von 800.000 m Straßen, Kanälen, die dazu gehörenden Gehwege, Plätze im einzelnen kennen, • alles über Kläranlagen, Brücken, Stützmauern, Deiche, Pumpstationen, Straßenund U-Bahninfrastruktur usw. wissen, • alles über zahlreiche Neu-, Um- und Erweiterungsbauten für die vorgenannten kommunalen Infrastrukturen parat haben.
Trotzdem muss man das alles verantworten: Was tun? Es gibt nur eine einzige Chance: Man muss das für alles Genannte zuständiges Personal sorgfältig auswählen und erfolgreich führen. Dafür muss man vor allem seine Zeit investieren. Erfolgreich führen heißt insbesondere, das Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die vereinbarten Ziele zu lenken, sie zur effektiven, kritisch-konstruktiven Mitarbeit zu motivieren, ihnen Vertrauen für Verantwortungsübernahme und Entscheidungsfreude entgegen zu bringen, aus den erzielten Erfolgen gemeinsam Kraft und Bewusstsein zu schöpfen und unweigerlich auch auftretende Misserfolge gemeinsam zu analysieren um daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Alle Beschäftigten kann man nicht direkt, sondern nur über eine Art Kommunikations- und Informationspyramide führen und darauf drängen, dass jede weitere Führungsperson ebenfalls intensiv kommuniziert und informiert. Und zwar in beide Richtungen. Dies erfordert auf allen Ebenen erhebliche Zeitinvestitionen. Die operativen Angelegenheiten werden in klassischer Hierarchie Stadtbaurat – Amtsleiter – Abteilungsleiter – Sachgebietsleiter erledigt, die strategischen Angelegenheiten und besondere Projekte in der Sonderform Stadtbaurat/Amtsleiter/Projektleiter mit interdisziplinär zusammengesetzten Projektgruppen. Ziele eindeutig möglichst gemeinsam zu erarbeiten, zu formulieren und vorzugeben und im Gegenstrom von unten Probleme an-
tizipatorisch zu erkennen und auf der geeigneten Ebene zu lösen, sind die permanent vorhandenen Anforderungen. Die Zeitinvestition darf sich allerdings nicht nur auf das Fachinhaltliche beschränken, sondern muss Teamgeist erzeugen. Nur wem Arbeit trotz allem Ärger, Frust und Verdruss Spaß und Freude macht, arbeitet kreativ und effektiv! Kommunikationszeit also auch für das Persönlich-Private, für Gruppendynamik, für Gemeinschaftsgefühl ist unerlässlich für Führungspersonen. Aber auch von den Geführten ist Bereitschaft und Engagement für Teamgeist einzufordern. Der genannte Aufwand an Zeit, gepaart mit einer niedrigen Schwelle für Erreichbarkeit, Ansprechbarkeit, für Offenheit und Zugänglichkeit, gewährleistet wie nichts anderes, dass ein Team, eine Mannschaft eine hohe fachliche und menschliche Übereinstimmung erreicht und die vielen vorgenannten Tausende von Tätigkeiten und Entscheidungen in einem kompetenten Sinne bearbeitet und erfolgreich erledigt. Da das Planungs- und Baudezernat auch in viele Projekte und Aufgaben anderer Dezernate auf Ämterebene eingebunden ist, verlangt die Parallelkoordination dahin sowie auch zum Verwaltungsvorstand auf der Ebene des Stadtbaurates keinen größeren Zeitaufwand. Erforderlich ist natürlich eine gradlinige, vertrauensvolle Zusammenarbeit, verbunden mit intensiver Kommunikation. Störungen und besondere Zeitaufwände ergeben sich dann, wenn statt unternehmerischem Zupacken ein bedenkenträgerisches Unterlassen einsetzt, was nicht
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ZEIT! ZEIT! selten vorkommt. Die Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern gestaltet sich immer zeitaufwändiger. Nicht, weil der einzelne zu viel Zeit beansprucht, sondern weil gute Bürgerbeteiligung zusätzliche Kommunikationswünsche weckt – grundsätzlich eine erfreuliche Entwicklung. Da diese Beteiligung aber überwiegend unmittelbare personelle Kapazität erfordert und in den vergangen Jahren ein rasanter Personalabbau stattfand (im Bonner Baudezernat waren es seit 1991 30 %) entsteht hier ein permanentes Dilemma, das viel Frustration erzeugt. In der Zusammenarbeit mit der Politik stelle ich als parteiloses Wesen einen Sondenfall dar. Ich beteilige mich grundsätzlich nicht an den wöchentlichen Fraktionsvorstands- und Fraktionssitzungen, sondern nur auf besondere Einladung oder besonderen Wunsch meinerseits hin. Das spart einerseits viel Zeit und bewahrt vor häufigen Fehlläufen, die die Politik aufgrund immer kürzer werdender Halbwertzeiten in der Zielorientierung auslöst. Andererseits hat man den Nachteil, in schwierigen Situationen oder bei Angriffen völlig auf sich gestellt zu sein und einer unterstützenden parteipolitischen Phalanx entsagen zu müssen.
Zeit zum zweiten Gerade weil unsere Zeit zur Spezialisierung, zur sektoralen Betrachtung neigt, wird es in einer immer komplexeren Welt zunehmend schwieriger, ganzheitliche Beobachtungen, Betrachtungen und ableitende Entwicklungen aufzustellen, zu analysieren und zu prognostizieren. Dies ist die wichtigste und vornehmste Aufgabe des für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Bauwesen zu-
ständigen Stadtbaurats. Die Zeit für diese Beobachtungen, Betrachtungen und ableitende Entwicklungen ist für mich keine besondere Zeit, sie ist schlicht das „Leben“. Ich glaube, dass es einem Neugierigen, den Dingen gern auf den Grund Gehenden, einem Suchenden nach dem „was die Welt im Innersten zusammenhält“, einem unternehmenslustigen und etwas abenteuersuchenden Menschen leicht fällt, aus dem „Leben“ die richtigen Schlüsse für die Arbeit zu ziehen. Hilfreich war für mich, dass ich bereits frühzeitig mit 28 Jahren die Führungsaufgabe als Planungs- und Baudezernent in einer mit 40.000 Einwohnern überschaubaren Stadt übernehmen durfte, die mit allen ihren Problemen auch im Detail alle Facetten des Lebens erkennen ließ, sozusagen von der Wiege bis zur Bahre. Hilfreich ist auch die Bereitschaft und Freude, die persönlichen Erkenntnisse mit Menschen anderer Berufe und Erfahrungen zu diskutieren und eigene Erkenntnisse in Vorträgen und Veröffentlichungen zum Diskurs zu stellen. Wer sich aber anmaßen sollte, in den in „Zeit zum ersten“ genannten tausenderlei Angelegenheiten auch nur annähernd allwissend zu werden, wird sich wie in einem Hamsterrad totlaufen und nichts, gar nichts für eine erfolgversprechende Stadtentwicklung tun können. Nie war die Bindungskraft des Phänomens Stadt für Menschen und Unternehmen, für Institutionen und Interessierte schwächer als heute, da Mobilität und Globalisierung tagtäglich unendliche Standortalternativen weltweit ermöglichen. Also kommt es gerade in unserer Zeit und in der Zukunft zunehmend darauf an, Stadt und Region permanent attrak-
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tiv zu qualifizieren in Städtebau und Architektur, in sozialer Ausgewogenheit und Bildung, in Kultur und Freizeit, in Freiraum und Landschaft. Dafür ist beruflich und privat Zeit zu nehmen: Für eigene kreative Vorstellungen, Visionen und Utopien, um ganzheitlich Denkende zu finden und mit ihnen den Diskurs zu führen, um Anderes und Andere zu beobachten und daraus für die Zukunft zu lernen. Es ist Zeit und Mut zu nehmen, das Erkannte und Erdachte zu formulieren, vorzutragen, zur Diskussion zu stellen, Realisierungswege aufzuzeigen und Realisierung zu wagen: Das ist die vornehmste und wichtigste Aufgabe des Stadtbaurats.
Zeit zum dritten Woher kommt die Kraft für die Aufgabe? Die Normalität 20-, 30-prozentiger Übererfüllung der formalen dienstlichen Arbeitszeit, die darüber hinausgehende permanente Erreichbarkeit durch Telefon und Handy, die häusliche IT-Vernetzung mit dem Arbeitsplatz und das Erfordernis, „Leben“ auch im Privaten für den Beruf zu erkennen und zu begreifen, bergen alle die Gefahr, sich distanzlos der Arbeit auszuliefern und sich dort totzulaufen. Einziges Rettungsmittel: Der Arbeitswelt auch eine rein private Welt gegenüberzustellen! Diese private Welt sollte so schön und stark sein, dass man ihr, wenn’s darauf ankäme, die Arbeitswelt opfern würde. Nur so ist man auch in der Arbeitswelt stark. Was macht die private Welt schön und stark? Familie und Kinder, Freundschaften, schöne Neigungen. Jeder muss sich selbst finden
Private Welt erhalten
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ZEIT IST WICHTIGER ALS GELD und finden wollen. Mit Rennrad oder Mountainbike oder Kanu Landschaften erleben, zu Fuß auf steile Berge: So schaffe ich mir Distanz. Pflanzen und Tiere im Garten zu hegen: Das bringt mir Bezug zu Existentiellem und Wesentlichem. Landschaften und Städte, darin Räume, Gestalt und Gestalten zu erkennen: Das bringt mir Erfahrung. Menschen, Kultur und Literatur zu erleben: Das bringt mir Erkenntnis. Neugierig und offen für alles zu sein und dafür Zeit zu neh-
men ist die Grundlage dafür, wieder abgeben zu können, zu erdenken, zu schreiben, zu diskutieren, vorzutragen, Mut zu haben sich zu messen. Und: Sich nicht so wichtig zu nehmen, Demut zu üben, sich die Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren, jeden Tag etwas anderes, etwas neues beginnen zu können.
Banalität, Nein zu Machtbesessenheit und Eiferei, Nein zum Verpulvern und Verplempern von Zeit. Und Mut zum Ja zu haben, zum Lösen vom tot drehenden Hamsterrad, für das Ja zum gedankenverlorenen Sitzen auf einem warmen Stein in der Abendsonne. Sigurd Trommer, Bonn
Zeit zum letzten: Abschließen will ich die fragmentarischen Gedanken mit dem selbstgehegten Wunsch, Mut zum Nein zu haben, zum Nein für Oberflächlichkeit und
Der Einfluss von Zeit und Kosten bei der Wahl der Verkehrsmittel
Zeit ist wichtiger als Geld Die Statistik der Stadt Zürich hat Ende 2004 eine Studie vorgestellt, die untersucht, wie stark Pendeldauer und Pendelkosten die Verkehrsmittelwahl von Pendlern beeinflussen. Zu diesem Zweck wird ein multinominales logistisches Modell für die drei Hauptverkehrsmittel Zug, Bus/Tram und Auto geschätzt. Anhand der geschätzten Koeffizienten werden Nachfrageelastizitäten bezüglich Pendelzeit und Pendelkosten berechnet. Die präsentierten Schätzungen basieren auf Daten der eidgenössischen Volkszählung 2000. Untersucht werden Zupendelnde aus dem Kanton Zürich in die Stadt Zürich. Die Koeffizienten von Pendelzeit, quadrierter Pendelzeit und Pendelkosten sind statistisch hochsignifikant (auf dem 1-Prozent-Signifikanzniveau). Die Schätzergebnisse impli78
zieren, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person ein bestimmtes Verkehrsmittel wählt, sinkt, wenn die Pendelzeit oder die Pendelkosten steigen. Die geschätzten Zeitelastizitäten sind (in Absolutwerten) rund dreimal höher als die geschätzten Kostenelastizitäten. Das bedeutet, dass die Verkehrsmittelnachfrage von Pendelnden stärker auf Zeitals auf Preisanreize reagiert. Sinkt (steigt) die Reisezeit für ein Verkehrsmittel um 1 Prozent, steigt (sinkt) die Nachfrage nach diesem Verkehrsmittel prozentual mehr an, als wenn der Fahrpreis um 1 Prozent sinkt (steigt). Die Schätzergebnisse dieser Studie können dazu dienen, die Auswirkungen verkehrspolitischer Maßnahmen zukünftig auf exakte Weise zu prognostizieren. Rückwirkend betrachtet bestätigen sie die Verkehrsmittelentwicklung der
letzten Jahrzehnte. Der Ausbau des Zürcher S-Bahnnetzes, der sich insgesamt in schnelleren Reisezeiten niederschlug, hat dazu beigetragen, dass der ÖVAnteil im Raum Zürich gegen den gesamtschweizerischen Trend konstant geblieben ist.
Autoren der Studie sind Prof. Dr. Rainer Winkelmann und lic. oec publ. Oliver Bachmann vom Sozialökonomischen Institut der Universität Zürich. Die Studie trägt den Titel „Zeit und Geld – Wie beeinflussen Zeit und Kosten die Verkehrsmittelwahl von Zupendelnden in die Stadt Zürich?“ und kann bei der Statistik der Stadt Zürich (E-Mail: statistik@stat.stzh.ch) angefordert werden.
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FREIBURG IM FRÜHLING
Zahlen und Videos
Freiburg im Frühling „So viele waren wir noch nie“, stellte ein Vorstandsmitglied trocken fest und prompt verlangte ein anderer, doch immer in Freiburg zu tagen. Doch die Vorstandssitzung im März war nicht nur gut besucht, es wurde auch gut debattiert. Offen, direkt und unverblümt – aber nie verletzend. Auch heiße Eisen wurden nicht hitzig angegangen, ein Stil mit Vorbildcharakter.
siert ist. Natürlich lässt sich auch hier etwas kritisieren. So herrschte bei den Vorträgen ein weitgehend hohes Niveau und bei den Vortragenden ein breites Präsentations-Spektrum. Hier zu viel Altbekanntes, dort überladene Diagramme und ein anderer erzählt alles seinem Laptop. Ein Referent benutzte „Datenwüste“ als Plural von Datenwust, ein netter Lapsus.
Ein Thema war das liebe Geld, regelmäßig ein vermintes Feld. Dabei nahm die Debatte über diese Zeitschrift einigen Raum ein, wobei aber nicht über „Sein oder Nichtsein“ geredet wurde. Die Existenz ist unbestritten, der Weg zum Kunden ist die Frage: PDF oder Papier? Die Papier-Fraktion stellte die klare Mehrheit.
In einem längeren Beitrag ging die Badische Zeitung auf unsere Frühjahrstagung ein „Die einen schrumpfen, die anderen wachsen – noch“ titelten sie. So stellten sie bereits in der Titelzeile fest, dass die Statistiker ein Thema anpacken, das für die einen ein Problem ist und den anderen noch bevorsteht.
Freiburg im März war aber nur zum kleinen Teil Vorstand, vorwiegend bestand das Treffen aus der Frühjahrstagung. Sie fand im altehrwürdigen Historischen Kaufhaus statt, dem Münster gegenüber und gleich neben dem Foltermuseum.
Die Frühjahrstagung hat auch Abende und dann geht das Lernen weiter. Bislang verstand ich unter Bahnhof Bahnhof. Nun weiß ich, dass der „normale“ Bahnhof als Durchgangsbahnhof firmiert. Daneben gibt es den Keilbahnhof, den Turmbahnhof wie auch den Inselbahnhof und natürlich den Kopfbahnhof. Die Freude des Statistikers am Schienenverkehr kann sich auch anders ausleben: Als Straßenbahnfan. Mit strengem Blick auf mich erfuhr ich, dass Hagen 1976 die Straßenbahn abgeschafft hat. Die Wagen wurden in alle Himmelsrichtungen verkauft. Acht davon nach Innsbruck, von denen einer gerade defekt ist, die anderen sieben laufen noch. Der Kollege hat uns auch noch informiert, um wie viele 4-, 6- und 8-Achser es sich
Hauptthema war der demografische Wandel. Ein Thema, das in der Statistik schon lange eines ist, nun die Politik erreicht hat, damit zunehmend wichtiger wird. Gute, neue und in vielerlei Hinsicht überraschende Vorträge wurden geboten. Ich wünschte manch einem Politiker, er oder sie würde sich die Zeit nehmen, einen Tag oder auch länger den Kommunalstatistikern zu lauschen. Die Zeit wäre gut investiert, wenn man an der Verbreiterung des eigenen Horizonts interes-
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handelt; doch habe ich das vergessen. Ich habe es genossen, dass auch andere ein leicht verrücktes Hobby pflegen. Auch wenn mit unserer Frühjahrstagung der Frühling in Deutschland einzog und im sonnigen Freiburg nicht nur Schneeglöckchen, sondern viele Krokusse ins Licht der Welt blickten, war die Freibadsaison noch lange nicht eröffnet. Bei einem Besuch im Hallenbad stellte ich Erstaunliches fest: Videoüberwachte Umkleidekabinen. Ein drastischer Weg, sich vor Zerstörungen zu schützen. Martin Schlegel, Hagen
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UNVERZICHTBAR FÜR DIE PLANUNG / IMPRESSUM
100 Jahre Statistik in Braunschweig
Unverzichtbar für die Planung Am 1. April 1905 erhielt Braunschweig eine eigenständige kommunalstatistische Stelle. 20 Jahre später, im August 1925, wurde dem Statistischen Amt auch die Aufgabe „Wahlen“ zugeordnet, die es bis heute ebenfalls innehat. Zum Jubiläum ist die Broschüre „100 Jahre Städtestatistik in Braunschweig“ erschienen, die sich nicht nur mit der Geschichte des Amtes befasst, sondern auch näher auf die Entwicklung Braunschweigs eingeht. Eine Zeit, in der aus 135 000 Einwohnern eine Viertelmillion wurde, ein spannender Blick zurück. Zur Halbzeit vor 50 Jahren hat das Statistische Amt unter dem langjährigen Amtsleiter Dr. Bernhard Mewes eine deutschlandweit beachtliche Bedeutung erlangt. Zu seinen herausragenden Leistungen als Diplomat und kompetenter
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Fachmann gehörte die Zusammenführung der statistischen Arbeitsgemeinschaften in der amerikanischen und der britischen Besatzungszone zum wieder gegründeten Verband Deutscher Städtestatistiker (VDSt). Mit viel Geschick hat er zwischen der Kommunalstatistik und dem Deutschen Städtetag einerseits sowie den statistischen Ämtern des Bundes und der Länder andererseits vermittelt. Darüber hinaus führte er den VDSt in das Internationale Statistische Institut (ISI). Während früher die Erhebung von Daten im Vordergrund stand, haben Statistik und Stadtforschung in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend die Funktion eines Trendmelders wahrgenommen. Dabei ist die Bevölkerungsentwicklung nach wie vor ein entscheidender Indikator für strukturellen Wandel. Struktu-
relle Veränderungen der ‚ausgewachsenen Stadt’, regionale Unterschiede, Rückgang und demografischer Wandel der Bevölkerung sind Themen, die ganz neue Herausforderungen an nahezu alle Fachabteilungen der Verwaltung stellen. Deshalb sind Statistik und Stadtforschung als Lieferant von notwendigen Planungsgrundlagen insbesondere für die Bereiche Jugend, Schule, Soziales und Stadtplanung unverzichtbar. Die 140 Seiten umfassende Veröffentlichung ist beim Referat Stadtentwicklung und Statistik, Tel. 0531/470-4107, für eine Schutzgebühr von 15,Euro erhältlich. Sie steht auch im Internet unter: w w w. b r a u n s c h w e i g . d e / statistik/100jahre zum Download zur Verfügung. Hermann Klein, Braunschweig
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STATISTIK, NA SO WAS! Bei der Vorbereitung der Freiburger 100-Jahr-Festschrift erhielt Herr von Hamm von einer intensiven Nutzerin des Statistischen Dienstes die folgenden Zeilen. Ein Beitrag, der ein interessantes Licht auf die Statistik und ihre Anforderungen wirft, und zeigt, dass auch das Statistik-Umfeld durchaus Ernst und Humor verbinden kann.
Statistik, na so was! • Warum gibt es in den Stadtteilen Rieselfeld und Vauban so viele Kinder? • Wie viele Kindergartenplätze braucht es dort? • Sind die Schulen in St. Georgen zu groß oder zu klein? • Müssen dort Wohnungen gebaut werden, damit die Schulen nicht zu groß werden? • Was muss man überhaupt in einer sich verändernden Gesellschaft bauen? Reihenhäuser, große oder kleine Wohnungen, öffentlich geförderte Wohnungen, groß oder klein? Wo, in der Stadt verteilt, gezielt in bestimmten Stadtteilen, warum? • Wo gibt es denn schon Reihenhäuser, große und kleine Wohnungen, Sozialwohnungen, große und kleine, wie viel, zuviel, zuwenig? • Schrumpft die Bevölkerung, vermehren sich die Haushalte? • Wenn ja, wie sehr und wann?
• Wie alt werden die Leute in Freiburg und wie viel davon 100? • Und wo wohnen sie, allein, zu zweit? • Wie viel Pflegeheimplätze braucht die Stadt? • Welche Ampelphasen müssen wegen der Kinder und der Alten verlängert werden und wo? • Wie viel Kleingärten werden nachgefragt? • Wer wählt wo welche Partei und warum? • Wer ist auf finanzielle Transferleistungen angewiesen, warum und wo wohnt sie oder er und mit wie viel Personen im Haushalt? • Fühlen sich Kinder, Familien, Singles, Frauen, Männer, junge und alte Menschen wohl in der „Wohlfühlstadt“ Freiburg? • Noch mehr Fragen? • Kein Problem!
für Statistik, aber fragen Sie auch, welche der Fragen sinnvoll sind, welche Fragen und ihre Beantwortung unsere Lebensqualität verbessern, welche uns richtig Steuergelder sparen, welche uns sogar Fördergelder bringen. • Oder vertrauen Sie nur auf Bauchentscheidungen und dem unprofessionellen Spruch: Ich glaube nur an die Statistik, die ich selber gefälscht habe. • Armer Tor! • Vermehren sich die Tore? Bei manchen würde es ja begrüßt. • Diese Frage wird das Amt für Statistik aller Wahrscheinlichkeit nicht beantworten können, auch nicht mit 100-jähriger Erfahrung, aber viele andere Fragen schon – mit exakt berechneter Wahrscheinlichkeit. Regina Theis-Schwenninger, Freiburg
• Fragen Sie doch das Amt
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IBM-LIEDGUT / TAGUNGSKALENDER
IBM-Liedgut Thomas J. Watson (1874 – 1956) führte die IBM mit harter Hand aus der Provinz an die Weltspitze. Unerbittlich verlangte er steigende Verkaufsziffern und parallel dazu förderte er den Stolz der Mitarbeiter auf die stetig wachsende Firma. Mit großer Strenge sorgte er für hohe Motivation und erzwang unbedingte Firmentreue, die auf eine Verschmelzung von Person und Unternehmen hinauslief. Die Identifikation jedes Mitarbeiters mit IBM war sein Ziel und er unternahm viel, um das zu erreichen. Zum Beispiel regelmäßiger Gesang. Lieder waren selbstverständlicher Bestandteil von Versammlungen, Tagungen oder Firmenfeiern. Watsons bekannte Liebe zum Lied führte nicht nur zur Firmenhymne „Immer vorwärts“ (vgl. Stadtforschung und Sta-
tistik, Ausgabe 1/2005), sondern zu weiterem IBM-Liedgut. Die Lieder gaben dem Stolz auf das Unternehmen Ausdruck. Auch feierten sie in heute nicht vorstellbarer Weise den Vorsitzenden. Das folgende Lied stammt aus der frühen IBMZeit, als die Firma noch CTR hieß: Mister Watson heißt der Mann, Und für ihn arbeiten wir. Er ist das Haupt der C-T-R, der feinste, gerechteste Mann, den es gibt, aufrecht und treu. Er hat uns gelehrt, wie man ehrlich spielt Und dabei Moneten macht. Später wurden in Ausnahmefällen schon mal leitende Mitarbeiter mit Lied-Beifall bedacht. Beispielsweise Fred W. Nichol, Vizepräsident der IBM
und langjähriger Weggefährte von Watson, dem folgendes Lied gewidmet ist: IBM ist sein Entzücken, Denkt daran morgens, mittags, nachts. Er ist immer auf dem Posten, Für IBM marschiert er stets Chor V.P. Nichol ist ein Führer, Arbeitet für die IBM. Unten fing er an vor Jahren, Stieg die Leiter dann empor. Welche ein Vorbild für uns alle.
Quelle: William H. Rodgers: Die IBM Saga – ein Unternehmen verändert die Welt. Martin Schlegel, Hagen
Tagungskalender
(Stand: 17.08.2005)
2005 14.09. – 17.09.2005
SCORUS-Konferenz in Amsterdam (Niederlande)
26.09. – 29.09.2005
Statistische Woche in Braunschweig
2006 20.03. – 22.03.2006
Frühjahrstagung in Koblenz
09.10. – 12.10.2006 (18.09.– 21.09.2006
Statistische Woche in Dresden falls keine Bundestagswahl in 2006)
2007
24.09. – 27.09.2007
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Statistische Woche in Kiel
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EIN SLR GEFÄLLIG? / ENDE GUT – ALLES GUT
Wer rechnen kann, macht weniger Fehler
Ein SLR gefällig? Man braucht ein Auto und warum sollte es nicht ein SLR McLaren sein? Dieser jüngste Spross von Daimler-Chrysler besitzt zwar nur zwei Sitze und zwei Türen, aber 626 PS und einen auffälligen Preis. Doch wer in 3,8 Sekunden auf 100 sein muss sowie als Spitze 334 km/h braucht, darf nicht knausern. Möchten Sie den Wagen haben? Dann legen Sie schon mal etwas Geld zur Seite. Nehmen wir an, Sie verdienen 20 Euro pro Stunde - natürlich Netto. Nach nur 1000 Stunden Arbeit liegen 20 000 Euro auf der hohen Kante. Vorausgesetzt natürlich, dass Sie auf Essen, Trinken, Wohnen und
Kultur verzichten, nur von den Zinsen leben oder sich von Ehefrau bzw. Freundin aushalten lassen. Die fünf Räder mitsamt Achsen und die Nummernschilder trügen bereits Ihren Namen. Nach einem Jahr sind Bodenblech und vielleicht beide Türen in Ihren Händen. Stunde auf Stunde wird der Super-Flitzer immer mehr Ihr Eigentum; hier ein Griff, dort ein Knopf, ein Aschenbecher, ein Blinker usw. Nach 21 500 Stunden Arbeit haben Sie 430 000 Euro zusammen, die fehlenden 5 000 schieße ich zu. Und schon gehört der SLR Ihnen, denn dieser Wagen kostet tatsächlich 435 00 Euro.
Wagen dann für sich alleine. Denn Sie haben zehn Jahre lang ausschließlich für das Auto geschuftet. Haben wie ein Parasit gelebt, denn für das alltägliche Leben musste Ihre Partnerin herhalten und wird längst das Weite gesucht haben. Bleiben Sie lieber beim Golf, Sie behalten viel Geld und Ihre Frau. Dass ich keine geschlechtsneutrale Formulierung gewählt habe, halte ich für korrekt, denn ein 435 000 Euro-Auto ist eine Männer-Macke. Martin Schlegel, Hagen
Wahrscheinlich haben Sie den
Satanarchäolügenialkohöllisch
Ende gut – alles gut Es gibt viele gute Schriftsteller und der 1995 verstorbene Michael Ende nimmt hier eine ganz besondere Rolle ein, hat er mit seiner überbordenden Phantasie doch so viele amüsante Bücher verfasst. Dabei denke ich natürlich an „Die unendliche Geschichte“, mehr noch an „Momo“, weniger an „Der Spiegel im Spiegel“ und „Das Gauklermärchen“, aber ganz intensiv habe ich sein „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“ im Kopf. Ein Werk, das auf Seite 237 endet mit:
„Tutto è ben` quell` che finisce bene. Und das heißt auf deutsch: Ende gut, alles gut.“ Für den Leser ist mit diesem Wortspiel um den Namen des Autors der Punkt erreicht, an dem er glücklich das Buch zuklappen und ins Bett gehen kann. Doch am nächsten Morgen steht unweigerlich die Frage im Raum: Warum nur 237 Seiten? Ich will keineswegs unverschämt sein und fordern, dass
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genau diese Frage auch bei unseren Statistiken gestellt werden muss, doch einen kleinen Traum wäre es schon wert. Zumindest wünsche ich mir, dass – wenn auch die lesernahe Lockerheit eines Michael Ende bei unseren Themen nicht möglich ist – wir versuchen sollten, unsere Informationen verstehbar an den Kunden zu bringen. Denn: Nur Informationen, die beim Kunden ankommen, sind tatsächlich Informationen. Martin Schlegel, Hagen
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Autorenverzeichnis Baasen, Geert, Dipl.-Soz., Statistisches Landesamt Berlin, Leiter der Geschäftsstelle des Landeswahlleiters, g.baasen@statistik-berlin.de Eicken, Joachim, Diplom-Geograf, Abteilungsleiter im Statistischen Amt der Landeshauptstadt Stuttgart, joachim.eicken@stuttgart.de Gallus, Rainer, Diplom-Volkswirt, Köln, rainergallus@web.de Hannemann, Prof. Volker, Diplom-Geograf, Weyhe, volker.hannemann@t-online.de Hohmeier, Jörg, Braunschweig, Referat Stadtentwicklung und Statistik Hruschka, Prof. Dr. Erhard, Senatsdirektor a.D., Ahrensburg, erhard@hruschka.de Klein, Hermann, Diplom-Ingenieur, Amtsleiter, Braunschweig, Referat Stadtentwicklung und Statistik, hermann.klein@braunschweig.de Kosack, Klaus-Peter, Diplom-Geograf, Leiter der Statistikstelle im Bürger- und Standesamt Bonn, klaus.kosack@bonn.de Lindemann, Utz, Diplom-Geograf, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Statistischen Amt Stuttgart, utz.lindemann@stuttgart.de Metzmacher, Sebastian, Diplom-Geograf, Bonn, BBR, Referat I-6 „Laufende Raum- und Stadtbeobachtung“, sebastian.metzmacher@bbr.bund.de Münzenmaier, Dr. Werner, Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart, werner.muenzenmaier@fm.fv.bwl.de Naumann, Ulrich, Abteilungsleiter, Köln, ulrich_naumann@yahoo.de Pestl, Olaf, Diplom-Ingenieur, Leiter des Büros für Stadtentwicklungsplanung der Stadt Iserlohn, stadtentwicklung@iserlohn.de Schubert, Eberhard, Erfurt, Bereichsleiter im Stadtentwicklungsamt, Bereich Statistik und Wahlen, eberhard.schubert@erfurt.de Schwytz, Martina, Stadtverwaltung Dortmund, martina.schwytz@stadtdo.de Sommerer, Ernst-Otto, Diplom- Sozialwissenschaftler, Leiter des Amtes für Statistik und Wahlen in Dortmund, sommerer@stadtdo.de Terpoorten, Tobias, Diplom-Geograf, Bochum, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung – ZEFIR, tobias.terpoorten@ruhr-uni-bochum.de Theis-Schwenninger Regina, M.A., Freiburg, Freiburger Stadtbau GmbH – Stadtentwicklung Trommer, Sigurd, Dipl.-Ing., Stadtbaurat Bundesstadt Bonn, Vorsitzender des Bau- und Verkehrsausschusses des Deutschen Städtetages, eva.schumann@bonn.de Trutzel, Klaus, Diplom-Kaufmann, Stadtdirektor a.D., Nürnberg, kum.trutzel@t-online.de
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