Stadtforschung Statistik – Ausgabe 2/2009

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Editorial

Grün vorn!?

Die Wahlen lassen uns in diesem Jahr nicht los. Es wäre auch seltsam, wäre es anders. Die erste Ausgabe dieses Jahres hatte den Schwerpunkt Wahlen, dieses Heft ebenfalls. Und auch die Stati-stische Woche in Wuppertal konzentriert sich auf dieses Thema. „Weniger bringt mehr“, sagen Pukelsheim/ Leutgäb. „Viele Städte berichten viel“, überbringen Bergmann/ Martin und Hubert Harfst stellt fest: „Grün vorn“. Mich hat das schon ziemlich über-rascht, als ich las, dass die Grünen bei der Europawahl die stärkste Gruppe bilden. Nun betrachtet Harfst nur eine Auswahl, nämlich einige Großstädten, und „Grün vorn“ gilt auch nur für die unter 60-Jährigen. Doch Wahlen ist längst nicht alles. Manch einem bauwilligen Politiker rate ich, den Wixforth-Artikel zu lesen – oder sich ihn erklären zu lassen. Ingo Heidbrink zeigt, dass Urban-Audit lebt. Marco Scharmer beschreibt den weiten Weg, der vom verfügbaren Einkommen zur ungebundenen Kaufkraft führt. Blicke nach Peking, Rostock, Wuppertal und Köln runden dieses Heft ab. Interessant sind auch wieder die Kurzvorstellungen einiger Neumitglieder. Wir Statistiker können leicht sagen: „Eine Zahl sagt mehr als 1 000 Worte!“ Und wir liegen damit völlig richtig. Deswegen wird jedes Jahr eine Zahl des Jahres gewählt. Die Jury besteht auch im Jahr 2009 aus den Redaktionsmitgliedern von „Stadtforschung und Statistik“. Doch diese Jury ist wieder einmal von Ihnen abhängig, denn Sie sind es, von denen die Vorschläge kommen. Nur Mut. Martin Schlegel, Hagen

Stadtforschung und Statistik 2/ 09

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Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 2 • 2009

Inhalt Seite

Sport

Methodik

Aus den Kommunen

Schwerpunkt Abstimmungen

Peter Leutgäb, Friedrich Pukelsheim, Augsburg

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Mit weniger Wählerstimmen zu mehr Gemeinderatssitzen Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel

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Nicole Bergmann, Andreas Die Praxis in den Städten - Umfrageergebnisse Martin, Hannover Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen

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Martin Schlegel, Hagen

So spielt das Leben – Europawahl Der Schnipsel

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Dietmar Talkenberg, Saarbrücken

„Deutsche Mutter, heim zu Dir!“ Die Saarabstimmung 1935

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Hans Menge, Bonn

Kann Wahlanalyse schlecht sein? – KODAS – Datum e.V. Wahlen: eine ganz persönliche Rückschau

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Hubert Harfst, Hannover

Von 18 bis 59: Die Grünen führen Repräsentative Wahlstatistik zur EW 2009

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Hartmut Bömermann, Berlin

2 von 3 Berlinern zogen binnen 10 Jahren um / Bis zu 97% Fluktuation Die ortsstationäre Bevölkerung in Berlin

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Ingo Heidbrink, Düsseldorf

Vergleich mit Urban-Audit-Daten Düsseldorf und die anderen europäischen Wissenszentren

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Juliane Steinberg, Christina Westphal, Rostock

Auf den Spuren alternder und schrumpfender Gesellschaften Das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels

Jürgen Wixforth, Berlin

Mehr Einwohner heißt nicht automatisch mehr Finanzen Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung

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Marco Scharmer, Düsseldorf

Der Weg vom verfügbaren Einkommen zur ungebundenen Kaufkraft Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell

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Luca Rebeggiani, Hannover

Deutschlands Abschneiden bei den Olympischen Spielen 2008 Die süß-saure Peking-Ente

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Stadtforschung und Statistik 2/ 09


Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 2 • 2009

Inhalt

Streiflichter

Internes

Seite

Erika Schlegel, Hagen

Ex-AG bei der Frühjahrstagung in Rostock Simulation, Zisterzienser und Molli

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Martin Schlegel, Hagen

Statistische Frühjahrstagung 2009 Rostocker Splitter

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Stefan Böckler, Duisburg; Ricarda Etz, Wiesbaden; Barbara Kocker, Unna; Cathrin Knop, Frankfurt/Oder; Hans-Jürgen Leppla, Kaiserslautern; Burk­hard Marienfeld, Dortmund; Laura Martschink, Mannheim; Tanja Nieder, Wiesbaden; Ulrich Stein, Stuttgart; Jürgen Wittig, Kassel

Potenzierte Kunst – VZ als Vollerhebung – Volle Regale – Vanilleeis mit Senf Statistik stirbt zuletzt

73

Martin Schlegel, Hagen

Volkszählungen, Wahlen, Wohnen, Preise, Gesundheit Themen in der Statistik 1909, 1933 und 1959

77

Martin Schlegel, Hagen

Der Schrecksenmeister

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Martin Schlegel, Hagen

Lügen und Plagiate

32

Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Versuch mit der Unendlichkeit

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Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Von Liebe in der Dunkelheit

51

Martin Schlegel, Hagen

Urlaub mit der Lizenz zum Lesen Österreichs Bibliotels

63

Wuppertaler Stadtportrait Symbiose aus Stadt und Land

68

Stadt in Zahlen / Köln Einfach mal Mut haben

71

Auf Wiedersehen und Herzlich Willkommen Wechsel in der Redaktionsarbeit

72

Martin Schlegel, Hagen

Wuppertal und Weihnachten

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Hans Menge, Bonn

Präsentation von Daten – PowerPoint und Excel Grafik und Sprache

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Presseamt der Stadt Wuppertal Martin Schlegel, Hagen

Rubriken

Martin Schlegel, Hagen

Editorial: Grün vorn!?

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Bevor der Ernst beginnt: Drei Eingänge

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Impressum

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Autorenverzeichnis

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Stadtforschung und Statistik 2/ 09

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Bevor der Ernst beginnt

Drei Eingänge

Der VDSt-Vorstand hatte es einstimmig so festgelegt und der Beschluss bestand aus vier Teilen: 1. Bei dem Empfang auf der Statistischen Woche gibt es nicht wie früher üblich einen Zugang, sondern drei. 2. Der Nordeingang ist den Damen gewidmet. 3. Der östliche Eingang ist für diejenigen Herren vorgesehen, die das umsetzten, was ihre Frau vorschlägt. 4. Der südliche Eingang ist von den Herren zu benutzen, die unabhängig von ihrer Frau agieren. Rechtzeitig vor dem Empfang begab sich unser Vorsitzender zum Südportal. Neugierig, wie es sich für einen Statistiker gehört, also zwecks Recherche. Gleich als er um die Ecke bog und das Südportal vor Augen hatte, konnte er seine Hypothese ad acta legen. Anders als erwartet herrschte kein Gedränge, sondern gähnende Leere. Nur ein einsamer Kollege wartete auf Einlass und unser Chef fragte ihn: „Warum stehen Sie hier?“ Die Antwort – kurz und prägnant: „Meine Frau hat mich hier hin geschickt.“

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Mit weniger Wählerstimmen zu mehr Gemeinderatssitzen

Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel Friedrich Pukelsheim, Peter Leutgäb, Augsburg

Mit weniger Stimmen zu mehr Sitzen? Bei den bayerischen Kommunalwahlen 2008 gelang der Trick sechsunddreißig Mal. Im Superwahljahr 2009 dürfen die Partei­strategen in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Thüringen ihr Spielerglück versuchen. Das Spiel heißt Listenverbindungen. Wir zeigen, wie's geht.

Listen­ verbindungen Listenverbindungen sind eine Eigenart der Verhältniswahlkomponente mancher Kommunalwahlsysteme. Wenn Parteien und Wählergruppen eine Listenverbindung anmelden, werden sie am Ende der Wahl bei der Verrechnung von Stimmen in Mandate zunächst als eine einzige Zählgemeinschaft geführt. In diese erste Rechnung, die Oberzuteilung, geht die Listenverbindung als Ganzes ein. Für jede Listenverbindung wird dann eine zweite Rechnung fällig, die Unterzuteilung. Hier werden die Sitze, die im ersten Schritt der Listenverbindung als Ganzes zugefallen sind, an die einzelnen Partner im Verhältnis ihrer Stimmen weiter verteilt. Listenverbindungen sind keine Koalitionsaussagen. Jeder kann mit jedem, der zusagt. Bei der bayerischen Kommunalwahl 2008 kam es in 668 von landesweit 2127 Kommunen zu

901 Listenverbindungen.1 Wer da mit wem zusammenspannt, steht in den Sternen. Alles ist möglich, viel kommt zu Stande. Ein buntes Bild in Bayern. Dass Listenverbindungen nicht als Offenbarungseid gegenüber den Wählerinnen und Wählern gemeint sind, lässt sich am Stimmzettel ablesen. Verbundene Listen sind dort nicht so hervor gehoben, dass es jeder gleich sieht. Aber wer mit der Lupe sucht, wird meist fündig. Auf bayerischen Stimmzetteln ganz unten, im Kleingedruckten. Listenverbindungen sind eben Zählgemeinschaften nur für den Tag der Abrechnung. Schon bei der Dokumentation der Wahlergebnisse verschwinden sie aus den Ergebnistabellen, als müsse man im Nachhinein sich ihrer schämen. Warum also das Ganze? Listenverbindungen hängt die vielversprechende Aura an, nachteilige Ungleichheiten im Wahlsystem abzumildern. Wir werden sehen, dass es manchmal so ist, aber manches Mal auch nicht. Und sechsunddrei-

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ßigmal schufen sie 2008 in Baye­rn die groteske Absurdität, dass von zwei Listen die mit weniger Stimmen mehr Sitze erhielt.

Listenverbindung – ein Wahltrick

Unter 3 kandidierenden Listen wurde genau eine Listenverbindung in 72 Kommunen angemeldet, unter 10 kandidierenden Listen in einer Kommune. Insgesamt kam es zu genau einer Listenverbindung in 456 Kommunen. Es gab 668 Kommunen mit Listenverbindungen. Die Gesamtzahl aller Listenverbindungen beläuft sich auf 901 (= 456×1 + 191×2 + 21×3).

Sitzverzerrungen Das wahlsystematische Element, dessen notorische Verzerrungen durch Listenverbindungen kuriert werden sollen, ist das Verfahren zur Verrechnung von Stimmen in Mandate, das nach D‘Hondt benannt ist. Wir bevorzugen dafür die redundantere Bezeichnung Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/ Hagenbach-Bischoff).2

Abb. 1: Listenverbindungen bei den bayerischen Kommunalwahlen am 2. März 2008

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Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel

Abbildung 2: Formeln für die D‘Hondt-Sitzverzerrungen.

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Dieses Stimmenverrechnungsverfahren ist allerdings ein Auslaufmodell, eben wegen seiner verzerrenden Ergebnisse. Als unverzerrte Alternativen bieten sich in Deutschland die Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Schepers) an oder auch die Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten (Hare/Niemeyer).3 Die Doppelpackung „D‘Hondt & Listenverbindungen“ ist der historische Regelfall (Bayern, Saarland). Wenn die Gesetzgebungsdienste die zahlenmäßigen Zusammenhänge verstehen, werden mit der Novellierung des Zuteilungsverfahrens im selben Aufwasch die Listenverbindungen aus dem Gesetz entfernt (Zürich, Schaffhausen, Aargau).4 Andernfalls bleiben

sie als ein Relikt vergangener Zeiten im Gesetz stehen (Rheinland-Pfalz). Und in seltenen Momenten der Weltgeschichte lässt sich ein so mit Fossilien beschwertes Gesetz beim demokratischen Neuaufbau recyceln (Thüringen). Werfen wir zunächst einen Blick auf D‘Hondt pur, ohne Lis­tenverbindungen. Hier zeigen die Sitzverzerrungen eine klare Struktur: Das obere Drittel der stimmenstarken Listen erhält einen Bonus. Da das Ganze eine Verteilungsrechnung darstellt, ist des einen Freud des anderen Leid: Die unteren zwei Drittel der stimmenschwachen Listen müssen mit einem Malus zu Recht kommen. Bonus und Malus gelten pro Wahl und gleichermaßen für

alle Ratsgrößen. Es geht schön übersichtlich der Reihe nach: Die stimmenstärkste Liste gewinnt am kräftigsten dazu, die zweitstärkste Liste ein bisschen weniger, bis hin zur stimmenschwächsten Liste, die am meisten draufzahlt.5 Mit Listenverbindungen bleiben die Sitzverzerrungen zwar vorhersagbar, aber die geordnete Übersichtlichkeit geht verloren und eine verwirrende Ergebnisvielfalt tritt zu Tage. Die Verwirrung beruht auf der doppelten Anwendung der Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/ Hagenbach-Bischoff), weil so die ihr innewohnenden Verzerrungen verstärkt werden. Was am Ende heraus kommt, gerät zum Glücksspiel. Der Begriff Sitzverzerrung bezeichnet die gemittelten Abweichungen der praktisch zugeteilten Sitze vom theoretischen Idealanspruch, wobei in die Mittelung alle möglichen Wahlergebnisse mit gleichem Gewicht eingehen. Für die Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/ Hagenbach-Bischoff) sind die Sitzverzerrungen mit den obigen Formeln vorhersagbar. Ohne Listenverbindungen ist der Trend eindeutig: Das obere Drittel der stimmenstarken Lis­ ten profitiert auf Kosten der restlichen stimmenschwachen Listen. Mit Listenverbindungen ist der Sachverhalt ohne Formelrechnung nicht erfassbar: Alles wird möglich. Ein lehrreiches Beispiel liefert die Stadt Friedberg in Abbildung 2. Dort kandidierten sechs Listen und eigentlich müssten sich die Wählerinnen und Wähler der Liste 2 der Stimme des Volkes beugen und anerkennen, dass Liste 1 mehr Zuspruch gefunden hat. Aber das bayerische Kommunalwahlgesetz umschifft das Votum des Wahlvolks.

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Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel Indem Liste 2 sich mit den Lis­ ten 3 und 5 verbindet, stehen die Partner zusammen in der Oberzuteilung an der Spitze und werden mit dem Rang-1Bonus bedacht. Davon kommt in der Unterzuteilung am meisten bei Liste 2 an, die unter den Partnern der Listenverbindung die stärkste ist. Das Arrangement verschafft der Liste 2 also zweimal den Spitzenplatz und sichert so einen Bonus gleich doppelt ab. Durchsichtiger gerät die Analyse für Drei-Parteien-Systemen. Dies ist die einfachste Konstellation, in der Listenverbindungen eine Rolle spielen. Denn gibt es nur eine Liste, wird die Wahl zur einfachen Mehrheitsentscheidung. Bei zwei Listen fehlt der Dritte, gegen den sich die Verbindung richten könnte (2008 in Bayern in etwa vierhundert Kommunen).

Drei-ParteienSysteme Ab drei Listen werden Listenverbindungen bedeutsam. Auch wenn dies die einfachste Konstellation ist, gibt es schon vier Möglichkeiten. Das reicht aus, um zu erkennen, was alles anders laufen kann als gedacht. Fall A (1,2,3) lässt die Lis­ten unverbunden. Hinzu kommen die Fälle B, C und D mit jeweils einer Listenverbindung. Bei Partition B (1,2+3) gehen die beiden kleineren miteinander, bei C (1+2,3) die beiden größeren. Bleibt noch der Fall D (1+3,2), wo Groß und Klein gegen die Mitte antreten. Der Listenpartition B gilt die geballte Sympathie des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs: Es dürfen sich also nur „Kleine mit Kleinen“, nicht aber „Kleine mit Großen“ oder gar „Große mit Großen“ verbinden.6 Das Gericht hatte

eine Streitsache in Sachen Ausschussbesetzung zu beurteilen. Welche Fraktion oder Gruppe im Kreis­tag groß ist und welche klein, steht dabei im Vorhinein fest. Dagegen kommt bei einer Volkswahl erst im Nachhinein am Ende des Wahltags heraus, wie eine Partei oder Liste rangmäßig abschneidet. Die verwaltungsgerichtlichen Voraussetzungen sind also andere als bei Kommunalwahlen. Das macht aber nichts; die Sache sieht sowieso anders aus, als der Gerichtshof sich das denkt. Dass es gar arg so schlimm sei, wenn sich „Große mit Großen“ verbinden, leuchtet schon dem gesunden Menschenverstand nicht ein. Wenn der eine Große einen anderen Großen zum Partner hat, dann hat der eine ein großes Problem, dem anderen Großes weg zu nehmen. Leichter fällt das in der Konstellation „Kleine mit Großen“. Wir beschreiben die Lage lieber als „Große mit Kleinen“, um das verführerische Ranggefälle von den Handelnden zu den Behandelten zu betonen. Groß und Klein sind stark gegenüber der Mitte und sichern sich so einen ersten Bonus in der Oberzuteilung. Und dann bleibt Groß stark gegenüber Klein in der Unterzuteilung und schneidet gleich ein zweites Mal mit Vorteil ab.

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Lassen wir Zahlen sprechen. Bei den bayerischen Kommunalwahlen 2008 gab es 585 Kommunen, in denen drei Listen kandidierten. Davon entfielen 513 unter den listenverbindungsfreien Fall A (1,2,3), 51 unter B (1,2+3), 6 unter C (1+2,3) und 15 unter D (1+3,2). Das Leben ist vielgestaltig; was möglich ist, kommt vor. Abbildung 3 listet die Sitzverzerrungen auf, die bei den Listenpartitionen A–D für die Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/Hagenbach-Bischoff) 2008 in Bayern beobachtet wurden sowie die, die aus den theoretischen Formeln heraus kommen. Der Orientierungspunkt für eine unverzerrte Sitzzuteilung wird von der Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Schepers) geliefert, die meist zum selben Ergebnis führt wie die Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten (Hare/ Niemeyer).

Abb. 3: D‘Hondt-Sitzverzerrun­ gen für drei Listen bei den bayerischen Kommunalwahlen 2008

Die empirischen D‘Hondt-Verzerrungen geben die durchschnittlichen Abweichungen zu den Sitzen an, die bei den Kommunalwahlen 2008 mit der unverzerrten Divisormethode mit Standardrundung (Sainte­Laguë/ Schepers) heraus kommen. Die theoretischen Sitzverzerrungen beruhen auf den Formeln aus Schaubild 2. Die

D`Hondt-Verzerrungen

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Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel Schaubild 4 zeigt, was passiert. Unverbunden hätten Liste 1 und Liste 5 zusammen 28+3 = 31 D‘Hondt-Sitze gemacht. Mit der Listenverbindung fallen ihnen sogar 32 Sitze zu (Spalte C1). In der Unterzuteilung landet auch der zweite Bonussitz beim Stärkeren (Spalte C2). Im Endeffekt bekommt Liste 1 statt der unverzerrten 27 Sitze somit 29 Sitze zugeteilt (Spalte D).

Schaubild 4: Doppelbonus für die stimmenstärkste Liste 2008 im Landkreis Unterallgäu.

Listenverbindung – ein Glücksspiel

Gesamtverzerrung (= Summe der positiven Sitzverzerrungen) wird im Vergleich zum listenverbindungs­freien Fall A bei B gedämpft, bei C verstärkt und bei D maximiert. Die theoretischen Sitzverzerrungen messen, wie sehr die D‘Hondt-Sitzzuteilungen bei wiederholter Anwendung im Mittel vom unverzerrten Idealergebnis abweichen. Im unverbundenen Fall A betragen die theoretischen D’Hondt-Verzerrungen grob 0.4 für die stimmenstärkste Liste, was durch –0.1 für die mittlere und –0.3 für die kleinste Liste austariert wird. Die große Liste kann also einen D‘Hondt-Bonus von vier Sitzen pro zehn Wahlen erwarten, wobei einen Sitz die mittlere Liste hergegeben muss und drei die kleine. Empirische und theoretische Zahlen gehen schön Hand in Hand.

Große mit Kleinen Was die Formeln vorhersagen, hinkt der Wirklichkeit hintennach. Bei den bayerischen 8

Kommunalwahlen 2008 erreichte mehrfach die größte Liste einen Doppelbonus, indem sie mit kleineren Listen eine Listenverbindung einging. Schaubild 4 zeigt am Beispiel des Landkreises Unterallgäu, wie so etwas zu Stande kommt. Bei der unverzerrten Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Schepers) entfällt auf je 51900 Stimmen rund ein Sitz. Für die größte Liste erhalten wir den Quotienten 1377975/51900 = 26.55, der zur nächstgelegenen Sitzzahl 27 gerundet wird (Spalte A). Schon ohne Listenverbindung gibt die Divisormethode mit Abrundung (D’Hondt/Hagenbach-Bischoff) der größten Liste einen Sitz dazu. Sie erhält 28 Sitze, denn der Quotient 1377975/48000 = 28.7 wird abgerundet (Spalte B). Tatsächlich lagen aber zwei Listenverbindungen vor. Die größte Liste 1 verband sich mit der fünftstärksten Liste 5; zudem verbanden sich die viertund die sechsstärksten Listen.

Spalte (A) zeigt die unverzerrten Sitzzahlen, die ohne Listenverbindungen mit der Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Sche­ pers) und gleichlautend mit der Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten (Hare/ Niemeyer) heraus kommen; bei der Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/HagenbachBischoff) erhält Liste 1 einen ersten Bonussitz hinzu (Spalte B). Bei den Rechnungen mit verbundenen Listen gewinnt Liste 1 sogar einen zweiten Bonussitz (Spalte C2).

Zufälligkeiten Die Bildung von Listenverbindungen verkommt deshalb zum Glücksspiel, weil eine Unmenge von Möglichkeiten existiert, wie sich das Bewerberfeld partitionieren kann. Für die sechs Listen in Schaubild 2 gibt es 201 mögliche Lis­ tenpartitionen, für die sieben Listen in Schaubild 4 sind es schon 875.7 Die nackte Information an die Wählerinnen und Wähler: „Einige Listen haben sich verbunden.“ ist viel zu unpräzise, als dass sie eine Orientierung bieten könnte. Eine erste Spielregel gilt bei Lis­tenverbindungen genauso wie in jedem anderen Spiel: Wer nicht mitspielt, kann nicht gewinnen. Im Vergleich zur listenverbindungsfreien D’Hondt-Auswertung muss

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Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel jede Liste, die unverbunden nur für sich steht, ihre Eigenständigkeit im Durchschnitt mit Sitzverlusten bezahlen.8 Die zweite Spielregel ist das Gegenstück zur ersten: Gibt es nur eine Listenverbindung, hat sie schon gewonnen. Gegenüber der D’Hondt-Auswertung ohne Listenverbindungen werden die Partner einer (einzigen) Listenverbindung im Durchschnitt immer Sitzgewinne einfahren.9 In zwei Dritteln der Kommunen (456 von 668, siehe Schaubild 1), in denen 2008 in Bayern Listen sich verbanden, blieb es bei genau einer Listenverbindung. Deren Partner konnten sich auf einen Bonus freuen einfach schon deshalb, weil die Konkurrenz schlief. Liste 2 repräsentiert zwar weniger Stimmen, bekommt dank der Verbindung mit den Listen 3 und 5 im Endergebnis (Spalte E) aber mehr Sitze (13) als die stimmenstärkste Liste 1 (12). Der Sitz wäre sonst der unverbundenen Liste 6 zugeteilt worden. Ohne Listenverbindungen ergeben die Divisormethode mit Standardrundung (Sainte-Laguë/Schepers) und die Divisormethode mit Abrundung (D’Hondt/ Hagenbach-Bischoff) dasselbe Ergebnis (Spalten A und B). Die Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten (Hare/ Niemeyer) differiert um einen Sitz (C). In 212 Kommunen kamen zwei oder mehr Listenverbindungen zu Stande. Dies sind die Situationen, in denen das Ganze zum Glückspiel zu werden beginnt. Vor- und Nachteile müssen immer eine Nullsummen-Rechnung ergeben. Es ist schlichtweg unmöglich, dass alle immer nur hinzugewinnen. Wie sich Bonus und Malus auf mehrere Listenverbindungen

aufteilen und was davon bei den einzelnen Partnern ankommt, ist ohne Rechnung nicht mehr vorhersagbar. Es ist noch nicht einmal direkt zu sehen, was mit der Gesamtverzerrung passiert. Dass die Bildung von Listenverbindungen nicht immer die Gesamtverzerrung im System mindert, hat schon Schaubild 3 angedeutet. Von den 201 Listenpartitionen, die bei sechs Listen möglich sind, wurden 2008 in Bayern 73 Partitionen realisiert. Davon führten nur 44 zu einer Verminderung der Gesamtverzerrung. Bei den übrigen 29 Partitionen wurde die Gesamtverzerrung nicht kleiner, sondern größer! Hier ist ein besonders ausgewogen erscheinendes Beispiel, über das nachzugrübeln sich lohnt. Es entstammt der vorausgegangenen Wahl von 2002. In Bad Füssing kam es damals bei neun Listen zu drei Verbindungen von je drei Listen, und zwar 1+3+5, 2+4+7 und 6+8+9. Die Listen sind wieder in der Reihenfolge ihres Wählerzuspruchs durchnummeriert. Wer zahlt hier am meisten drauf? Wer macht den besten Schnitt? Um den geneigten Leserinnen und Lesern den Spaß am Spiel zu lassen,

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verschieben wir die Antworten ins Kleingedruckte.10 Bei den bayerischen Kommunalwahlen 2008 kam es in 35 Kommunen zu 36 gegenläufigen Sitzvergaben: Weniger Stimmen erzielten mehr Sitze. Ursache sind die Listenverbindungen, deren verwirrende Auswirkungen durch die Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/Hagenbach-Bischoff) verstärkt werden. In Eurasburg erreichte die stärkste Liste mit 6206 Stimmen 3 Sitze, die zweitstärkste Liste mit weniger Stimmen (6172) aber mehr (4); letztere profitierte, weil sie mit der Verbindung 2+6+7 in der Oberzuteilung an die Spitze gelangte. In insgesamt sieben Kommunen kam die stimmenstärkste Liste sitzmäßig nur auf Platz 2. Beim Vergleich der Stimmenzahlen ist zu beachten, dass jeder Wähler so viele Stimmen hat, wie es Ratssitze zu besetzen gibt.

Schaubild 5: Diskordanzsieg der zweitstärksten Liste 2008 in der Stadt Friedberg (AGS 09771130).

Weniger Stimmen, mehr Sitze

Gegenläufigkeiten Man sollte meinen mögen, dass der Spaß spätestens aufhört, wenn der Wählerwille vollends auf den Kopf gestellt wird und weniger Stimmen zu mehr Sitzen führen. Wir nen9


Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel ren Diskordanzen möglich. Auch die Divisormethode mit Standardrundung (SainteLaguë/Schepers) und die Quotenmethode mit Ausgleich nach größten Resten (Hare/ Niemeyer) sind bei Vorliegen von Listenverbindungen nicht gegen Diskordanzen gefeit. Allerdings treten bei der Divisormethode mit Abrundung (D‘Hondt/Hagenbach-Bischoff) wegen ihrer notorischen Verzerrtheit Diskordanzen etwa doppelt so häufig auf wie bei den unverzerrten Verfahren. Außerdem wird von zwei konkurrierenden Verbindungen in der Regel die größere begünstigt, während bei den unverzerrten Methoden die Schwankungen eine Tendenz zur Symmetrie zeigen.

Wahlgrundsätze

Schaubild 6: Diskordante Sitzvergaben, Bayern 2008.

10

nen eine Situation, in der von zwei Listen die mit weniger Stimmen mehr Sitze bekommt, eine gegenläufige Sitzvergabe oder eine Diskordanz. Schaubild 5 rechnet vor, wie es in Friedberg zum Diskordanzsieg der zweitstärksten Liste kommt, obwohl sie mehr als fünftausend Stimmen hinter der stärksten Liste zurück liegt. Trotzdem zieht sie im End­ergebnis mit 13 Sitzen am Stimmenkönig vorbei, der mit nur 12 Sitzen das Nachsehen hat. Durch die formelmäßige Sicht der Dinge hatte sich das Malheur in Schaubild 2 ja schon angekündigt.

Friedberg ist kein Sonderfall. Schaubild 6 zeigt alle sechsunddreißig Diskordanzen, die 2008 in Bayern auftraten. Siebenmal schaffte die zweitstärks­te Liste den Sprung an die Spitze, die stimmenstärkste Liste hatte das Nachsehen. Die aufgeführten Listen­ partitionen geben einen Eindruck von der Vielfalt, wie sich Listen verbinden können. Weil Listenverbindungen mehr­­ fache Zuteilungsrechnungen nach sich ziehen und die darin vorkommenden Rundungsschritte nicht aufeinander abgestimmt sind, sind bei jedem Stimmenverrechnungsverfah-

Dürfen Kommunalwahlen den Charakter von Glücksspielen annehmen? Artikel 28 des Grundgesetzes gibt den Standard vor: Wahlen müssen allgemein und unmittelbar sein, sowie frei, gleich und geheim. Dabei bezieht sich der Grundsatz der Wahlgleichheit zum einen als Chancengleichheit der Parteien auf die Listen und Bewerber, zum andern als Erfolgswertgleichheit der Stimmen auf die Wählerinnen und Wähler. Der Glücksspielcharakter von Listenverbindungen beeinträchtigt sicher nicht die Chancengleichheit der Parteien. Alle Parteistrategen haben in gleichem Maße die Chance, mit zu spielen. Wenn Spieler ihren Einsatz verschlafen, so wie in Friedberg die Listen 1 und 6, wird deshalb das Wahlgesetz nicht verfassungswidrig. Sehr viel problematischer erscheint uns, ob Listenverbindungen auch aus Wählersicht rechtens sind. Schon dass die Wahl unmittelbar ist, erscheint

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Listenverbindungen bei Kommunalwahlen — Ein Glücksspiel fraglich. Denn es wird ja nicht nur einmal gerechnet, sondern mehrmals. Auch ist ungewiss, ob die Stimmen der Wählerinnen und Wähler frei genannt werden können. Es sind doch fremde Dritte, die entscheiden, ob gegebenenfalls die Stimmen erst in einer Verbindung mit anderen Listen verrechnet werden. Und wie ist es um die Wahlgleichheit bestellt? Wenn allen Stimmen der gleiche Erfolgswert zukommt, wie können dann weniger Stimmen zu mehr Sitzen führen? Hier wäre eine rechtsdogmatische Apologetik von sophistischer Tiefgründigkeit nötig, die wir als Statistiker mit unseren bescheidenen Talenten nicht liefern können.11

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Anmerkungen •

1

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Friedrich Pukelsheim ist Ordinarius, Lehrstuhl für Stochastik und ihre Anwendungen, am Institut für Mathematik der Universität Augsburg. Eines seiner Forschungsgebiete umfasst die Untersuchung der wahlmathematischen Umsetzungen von verfassungsrechtlichen und wahlgesetzlichen Vorgaben. Diplom-Mathematiker Peter Leutgäb ist Mitarbeiter am Lehrstuhl. Die im Folgenden zitierten Arbeiten, die von den Autoren mitverfasst sind, sind unter der Internetadresse www. uni-augsburg.de/pukelsheim/publikationen.html abrufbar. Wir benutzen den Begriff Kommunen als Sammelbegriff für kreisfreie Städte, Landkreise und kreis­angehörige Gemeinden. Siehe auch F. Pukelsheim / S. Maier / P. Leutgäb: Zur Vollmandat-Sperr­ klausel im Kommunalwahlgesetz. Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 3/2009, 85-90. F. Pukelsheim: Die Väter der Mandatszuteilungsverfahren. Spektrum der Wissenschaft 9/2002, 83. F. Pukelsheim: Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen? Der schwierige Umgang mit einem hehren Ideal. Stadtforschung und Statistik 1/2003, 56-61. F. Pukelsheim / C. Schuhmacher: Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen. Ak­ tuelle Juristische Praxis – Pratique Juridique Actuelle 5/2004, 505-522.

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Zu den teilweise irrigen quantitativen Vorstellungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs siehe Abschnitt 8 in F. Pukelsheim: Mandatszuteilungen bei Verhältniswahlen: Idealansprüche der Parteien. Zeitschrift für Politik 3/2000, 239–273. Das Ausmaß der Sitzverzerrungen bei den bayerischen Kommunalwahlen 2002 wird beschrieben in F. Pukelsheim: Wahlen in Bayern: Wahlgleichheit – Muster ohne Wert? Spektrum der Wissenschaft 10/2002, 75-76. Ohne Listenverbindungen findet man die Formeln für die Sitzverzerrungen bei D‘Hondt in K. Schuster / F. Pukelsheim / M.Drton. / N.R. Draper: Seat ­biases of apportionment methods for proportional representation. Electoral Studies 22 (2003), 651-676. Mit Listenverbindungen sind die Verzerrungsformeln neu und entstammen der Diplom­ arbeit Listenverbindungen von P. Leutgäb (Augsburg, 2008). BayVerwGH 57 (2004) 56-63 [58]. Ähnlich das Bundesverwaltungsgericht im Tönisvorst-Urteil: Eine Zählgemeinschaft seitens der Mehrheit darf die Zusammensetzung der Ausschüsse nicht zu Lasten einer Minderheit ändern, siehe BVerwGE 119 (2004) 305-311 [309]. Nicht mitgezählt sind dabei die akademischen Randfälle, wo „jeder für sich“ steht: und keine Unterzuteilung nötig wird, oder „alle zusammen“ gehen: und es keine Oberzuteilung gibt. Die Formeln aus Schaubild 2 liefern:

wobei die Liste j unverbunden bleibt, während eine andere Verbindung zwei oder mehr Partner hat: Die Formeln liefern:

wobei die Liste j eine von p Partnerlisten der (einzigen) Listenverbindung V ist, während die übrigen Listen alleine stehen. 10 Liste 1 ist der größte Einzahler, ihr Bonus schrumpft um einen Drittelsitz (0.548-0.914 = -0.366). Liste 6 gewinnt am meisten, sie springt um fast einen halben Sitz nach vorne (0.202-(-0.227) = 0.429). In der Wahl überholte dann Liste 6 mit zwei Sitzen die Liste 5, die nur einen Sitz bekam. 11 Auch das Bundesverfassungsgericht sieht Listenverbindungen sehr kritisch: Jede Listenverbindung [führt] zu einem Verstoß gegen die Chancengleichheit, weil sie den Erfolg von

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Wählerstimmen ungleich gewichtet, ohne dass dafür ein zwingender, sachlicher Grund angeführt werden kann, siehe BVerfGE 82 (1991) 322-352 [345]. Das Urteil erging allerdings hinsichtlich der Überwindung einer Fünfprozent-Sperrklausel bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen, nicht in Hinsicht auf die Rolle von Listenverbindungen im Kommunalwahlrecht.

Über Statistik

:

Stützt eine St atistik die eige ne Meinung, sind die Zahlen zu treffend und fach lich korrekt er m ittelt. Im andere n Fall werden die Annahmen in Frage gestellt , die Qualifikation des Produzen ten überprüft und festgestellt, da ss die verwende te Methode fü r dieses Problem ohnehin völlig ungeeignet is t.

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Die Praxis in den Städten – Umfrageergebnisse

Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen Nicole Bergmann, Andreas Martin, Hannover

Wer macht was wie?

Wahlvorbericht, wahl­ abendliche Präsentation, Wahlnachtbericht

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Im August 2008 traf sich die VDSt-Arbeitsgemeinschaft „Wahlanalyse und Ergebnispräsentation” zu ihrer ersten Arbeitssitzung in Hannover. Auf der Sitzung legten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Schwerpunkte für die kommenden Jahre fest. Außerdem beschlossen sie eine Befragung der KOSIS-Mitgliedsstädte, um zu ermitteln, • wie welche Aufgaben im Rahmen der Wahlorganisation ausgeführt werden, • welche Software für die Wahlorganisation eingesetzt wird, • ob und in welchem Umfang Wahlvorberichte, Wahltagspräsentationen und Wahlberichte erstellt werden, • welche Themen und Fragestellungen dabei von Bedeutung sind, • ob ein Interesse an einer Mitarbeit in der VDSt-Arbeitsgemeinschaft “Wahl­ analyse und Ergebnispräsentation” besteht und schließlich, • ob ein aktiver Beitrag zur Statistischen Woche 2009 geleistet werden kann, die unter dem Motto “Wahlen” steht. Die letzte Umfrage zu dem Thema wurde 2004 durchgeführt. Die damalige Erhebung sollte herausfinden, welche EDV-Programme zur Unterstützung der Wahlorganisation und Ergebnisfeststellung eingesetzt

wurden. Die aktuelle Umfrage sollte herausfinden, wie Wahlberichterstattung und -analyse in den Städten umgesetzt werden und welchen Unterstützungsbedarf die Statistikstellen bei ihren Wahlanalysen haben. Schließlich verstehen sich die VDSt-AG sowie die KOSIS-Gemeinschaft KOWAHL auch als Plattformen des Informationsaustausches zum Thema Wahlberichterstattung.

Methode und Rücklauf

an der Umfrage teilgenommen, von weniger als 50 000 bis über 1 Millionen Einwohner. Dennoch sind die vorliegenden Auswertungen nach der Stadtgröße vor dem Hintergrund der fehlenden Repräsentativität zu bewerten. Zum einen sind vor allem große Städte mit einer eigenen Statistikstelle Mitglied im KOSIS-Verbund, zum anderen haben sich überwiegend die Städte beteiligt, die eine aktive Wahlberichterstattung betreiben. Obwohl das Größenverhältnis der teilgenommenen Städte sicherlich nicht repräsentativ ist, erlauben die Auswertungen Aussagen, die sich nicht nur auf die “Großen” beziehen. Im Folgenden werden die Antworten der Städte ausgewertet, die sich auf die Fragen zur Wahlberichterstattung und Ergebnispräsentation beziehen. Dabei ist zwischen einer Wahlberichterstattung vor einer Wahl (Wahlvorbericht), der Präsentation am Wahlabend sowie Berichten, die in der Wahlnacht oder zu einem späteren Zeitpunkt erstellt werden, zu unterscheiden.

Von Dezember 2008 bis Ende Januar 2009 wurden insgesamt 120 Städte im KOSIS-Verbund per E-Mail gebeten, an der Befragung teilzunehmen. Die Befragung wurde online durchgeführt. Für die Erstellung und Bereitstellung des Online-Fragebogens sowie für die Auswertung der Antworten wurden Online-Module der KOSIS-Gemeinschaft DUVA eingesetzt. Der Fragebogen enthielt Fragen zu den Themenbereichen • Wahlorganisation, • Wahlvorbericht, • Präsentation am Wahlabend sowie • Wahlbericht und -analyse.

Wahlvorberichte

80 Städte haben den umfangreichen Fragebogen ausgefüllt, eine Rücklaufquote von 66,7 Prozent. Dabei haben Städte ganz unterschiedlicher Größe

Wahlvorberichte informieren über die bevorstehende Wahl. Ihr Inhalt richtet sich nach der Zielgruppe, für den der Bericht erstellt wird. So können Wahlberechtigte Interessantes über

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Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen ihr Wahlrecht und Details der Wahlorganisation erfahren, Wahlkämpfer einiges über die Strukturen der Wahlberechtigten im Wahlgebiet. Die Frage nach dem Wahlvorbericht wurde von 71 Städten beantwortet. 33 Städte veröffentlichen einen Vorbericht. Das entspricht einem Anteil von 46 Prozent an den gültigen Nennungen. Die meisten Vorberichte richten sich an Wahlberechtigte und an die Parteien bzw. deren Kandidatinnen und Kandidaten gleichermaßen. Die meisten Städte veröffentlichen im Vorbericht die Ergebnisse vorangegangener Wahlen (28 Nennungen; vgl. Abb. 1). Vereinzelt werden sogar die Berichte zur jeweils vorausgegangenen Wahl oder Teile daraus als Vorbericht wieder aufgelegt (vier Nennungen). Neben den historischen Wahldaten präsentieren viele Städte aktuelle statistische Informationen über die Struktur der Wahlberechtigten (25 Nennungen). Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer erfahren so Interessantes über die kleinräumigen demographischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen des Wahlgebietes. Diese Berichte sind somit auch für andere Bereiche (z.B. Forschung, Lehre, Wirtschaft, Presse usw.) eine überaus interessante Quelle kleinräumiger Strukturdaten. Zusätzlich informieren Wahlvorberichte die Wahlberechtigten über das allgemeine Wahlrecht (23 Nennungen) oder geben Auskunft über die Lage der Wahllokale sowie die Öffnungszeiten der Briefwahlstellen (vier Nennungen). Vereinzelt werden im Rahmen der Vorberichte die einzelnen Wahlvorschläge vorgestellt. Ob ein Wahlvorbericht erstellt wird oder nicht, ist offensicht-

Abbildung 1: Wahlvorberichte – Inhalte

lich nicht allein von der Stadtgröße abhängig. Mit einem Anteil von 75 bzw. 67 Prozent veröffentlichen die Mehrzahl der Städte mit mehr als 450.000 bzw. über 600.000 Einwohnerinnen und Einwohner einen Vorbericht (vgl. Abb. 2). Doch auch in mehr als der Hälfte der Städte mit einer Bevölkerung von 200.000 bis unter 300.000 werden Informationen vor einer Wahl zusammengestellt. Und auch bei Städten der Größenklasse 50.000 bis unter 100.000 haben knapp die Hälfte (47 Prozent) geantwortet, dass sie einen Vorbericht veröffentlichen. Die meisten der befragten Städte veröffentlichen den Wahlvorbericht sowohl in gedruckter als auch in elektronischer Form (26 Nennungen). Lediglich in zwei Städten erscheint der Wahlvorbericht als Druckwerk (Heft, Broschüre). Zwei weitere Städte präsen-

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tieren ihre Vorberichte ausschließlich im Internet.

Abbildung 2: Wahlvorberichte – Erstellung eines Vorberichts in Abhängigkeit von der Stadtgröße

Präsentationen am Wahlabend Ergebnispräsentationen am Wahlabend werden von nahezu allen befragten Städten erstellt. Insgesamt 78 der 80 an der Umfrage beteiligten Städte geben an, dass sie am Wahlabend die aktuellen Wahlergebnisse zumeist im Internet präsentieren. 71 Städte stellen dem aktuellen Ergebnis auch die Resultate vorausgegangener Wahlen vergleichend gegenüber (vgl. Abb. 3). Neben der Darstellung der aktuellen Ergebnisse im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen haben viele Präsentationen weit mehr zu bieten. So stellen 59 Städte die Wahlergebnisse für Gebiete dar, die nicht Bestandteil der üblichen Einteilung (Wahlbezirke, Wahlkreise 13


Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen

Abb. 3: Ergebnispräsentation am Wahlabend – Inhalte

Abb. 4: Ergebnispräsentation am Wahlabend – Darstellung von Stadtteilergebnissen nach Größenklassen

usw.) sind. Beispielsweise auf der Ebene von Stadtteilen und Stadtquartieren, mit denen sich die Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt meistens sehr viel besser identifizieren können (53 Nennungen). Zunehmend enthalten die Präsentationen aber auch Umrechnungen der aktuellen und historischen Ergebnisse für Parteihochburgen bzw. Kellerbezirke (22 Nennungen) sowie für die sozialräumlichen Schwerpunktgebiete der jeweiligen Stadt (acht Nennungen). Kontextanalysen werden somit zunehmend in die Präsentationen am Wahlabend einbezogen. Die Wahlabend-Präsentation ist ebenfalls nicht von der Stadtgröße abhängig ist. Allerdings nimmt mit zunehmender Größe auch der Umfang der Präsentationen zu. Während nur etwa ein Drittel der Städte mit weniger als 50.000 Einwohnerinnen und Einwohnern ihre Ergebnisse auf der Stadtteilebene präsentieren, sind es 80 Prozent der Städte mit Einwohnerzahlen von 450.000 bis unter 600.000 (vgl. Abb. 4). Die Darstellung der Wahlergebnisse in sozialräumlichen Schwerpunktgebieten, in Parteienhochburgen und Hochrechnungen hängt ebenfalls von der Größe der Stadt ab (vgl. Abb. 5 und 6).

Wahlberichte und Wahlanalysen

Abb. 5: Ergebnispräsentation am Wahlabend – von Parteihochburgen nach Größenklassen

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In Wahlberichten werden die Ergebnisse dargestellt und interpretiert. Sie werden oftmals noch in der Wahlnacht erstellt und am Tag nach der Wahl einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt. Kleinräumige Betrachtungen und Vergleiche zu vorangegangenen Wahlen gehören dabei zum Standard. Die Entwicklung der WahlerStadtforschung und Statistik 2/ 09


Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen gebnisse in Hochburgen und Kellerbezirken der Parteien sowie in sozialräumlichen Schwerpunktgebieten der Stadt sind ebenso Gegenstand vieler Berichte wie eine Auswertung der Wahlergebnisse nach Alter und Geschlecht (= repräsentative Wahlstatistik), einer Wählerwanderungsanalyse, der Berechnung des Wählerpotenzials und ihrer Ausschöpfung (= Wählermobilisierung), eines Städtevergleichs sowie weiteren Analysen. Insgesamt erstellen 70 von 78 Städten, die diese Frage beantwortet haben, einen Wahlbericht. Ein Zusammenhang zwischen der Stadtgröße und der Veröffentlichung eines Wahlberichts ist nicht erkennbar. 27 der 70 Städte, die einen Wahlbericht veröffentlichen, erstellen diesen ganz oder zum Teil bereits in der Wahlnacht. Hier ist zwischen der Erstellung eines Wahlnachtsberichts und der Stadtgröße eine Abhängigkeit erkennbar (vgl. Abb. 7). Während nur ein Drittel der Städte unter 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern bereits am Folgetag über die Wahl berichten, sind es bis zu zwei Drittel der Städte mit einer Bevölkerungsgröße von mehr als 450.000. Neben den 27 Städten, die einen Wahlnachtsbericht erstellen, veröffentlichen weitere 20 Städte ihren Bericht oder Teile ihres Berichts in der Arbeitswoche nach der Wahl. Weitere 19 Städte präsentieren ihre Auswertungen noch später. Unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung enthalten nahezu alle Wahlberichte kleinräumige Darstellungen der Wahlergebnisse auf der Ebene der Wahlbezirke/Stimmbezirke oder Wahlkreise/Wahlbereiche sowie gleichzeitig einen Vergleich zwischen den aktuellen Ergebnissen und de-

Abb. 6: Ergebnispräsentation am Wahlabend – Darstellung von sozialräumlichen Schwerpunktgebieten nach Größenklassen

Abb. 7: Wahlberichte und Wahlanalysen – Erstellung eines Wahlberichts in der Wahlnacht in Abhängigkeit von der Stadtgröße

Abb. 8: Wahlberichte und Wahlanalysen – Inhalte in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Veröffentlichung

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Wahl(vor)berichte und Wahlanalysen nen vorausgegangener Wahlen (jeweils 63 Nennungen oder 90 Prozent; vgl. Abb. 8).

Ergebnisse für Sozialräume

Repräsentative Statistik

Wählerwanderung

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Analysen der Wahlergebnisse und deren Veränderungen in den Hochburgen der Parteien stellen 48 Städte für ihren Wahlbericht zusammen. Allerdings werden diese Auswertungen nur von 17 Städten bereits in der Wahlnacht angefertigt. Zur Ermittlung des altersund geschlechtsspezifischen Wahlverhaltens werden die Ergebnisse der Repräsentativen Wahlstatistik genutzt. Viele Städte ergänzen die vom Statistischen Bundesamt vorgegebenen Repräsentativbezirke um weitere Wahlbezirke, um ein für die jeweilige Stadt repräsentatives Ergebnis zu erzielen und um die Beobachtungen für die eigene Berichterstattung nutzen zu können. Insgesamt haben 35 Städte angegeben, dass das Ergebnis der Repräsentativen Wahlstatistik fester Bestandteil ihres Wahlberichtes ist. Neun Städte fertigen die repräsentative Wahlstatistik bereits in der Wahlnacht an. Städtevergleiche finden Eingang in die Berichte von 30 Städten. Lediglich elf Städte tragen bereits in der Wahlnacht die Ergebnisse aus den Vergleichsstädten zusammen. Die geplante zentrale Sammlung und Bereitstellung der Wahlergebnisse durch die Statistikstelle der Landeshauptstadt Hannover als geschäftsführende Stelle der KOSIS-Gemeinschaft KOWAHL und der VDSt-AG “Wahlanalyse und Ergebnispräsentation” sollen dazu beitragen, dass sich mehr Städte an dem Vergleich beteiligen und von den Ergebnissen für den eigenen Bericht profitieren können. Eine Berechnung von Wählerpotenzialen der Parteien und

die Analyse ihrer Ausschöpfung zur Bestimmung der Wählermobilisierung werden von 24 Städten (34 Prozent) für den Bericht durchgeführt. Zehn Städte führen diese Analyse bereits in der Wahlnacht aus. Die Betrachtung der Wahlergebnisse nach sozialräumlichen Schwerpunktgebieten wird von 22 Städten durchgeführt (31 Prozent). Dabei werden aktuelle und historische Ergebnisse in Stadtgebieten mit signifikant hohen oder geringen Anteilen von verschiedenen Strukturmerkmalen (Arbeiter, Angestellte, Arbeitslose, Familien mit Kindern, Alleinerziehenden, Wohnfläche pro Kopf usw.) dargestellt. In neun Städten sind diese sozialräumlichen Kontextanalysen Bestandteil des Wahlnachtsberichts. In 15 Städten (21 Prozent) werden die Wahlbezirke zusätzlich nach sozialräumlichen Merkmalen typisiert. Die Wahlergebnisse werden nach so gebildeten Sozialtypen im Wahlbericht abgebildet. Ebenfalls neun Städte verarbeiten diese Ergebnisse bereits in der Wahlnacht. Im Gegensatz zu den vorgenannten Auswertungen ist die Analyse der Wählerwanderung sehr viel aufwendiger. Wanderungsströme werden überwiegend auf der Grundlage von kleinräumigen Ergebnissen und deren Veränderungen im Vergleich zu einer vorausgegangenen Wahl berechnet. Ihre Ermittlung setzt das Vorhandensein eines Programms zur Berechnung der wahrscheinlichen Wählerwanderungsströme voraus. Die meisten Städte, die in ihrem Wahlbericht Ergebnisse einer Wanderungsanalyse darstellen, berechnen die Ströme auf der Basis des von S.R. Thomson (Aarhus, Dänemark) beschriebenen Logit-

Modells selbst (z.B. Wiesbaden, Freiburg, Hannover) oder lassen sich die Ergebnisse von einem Institut ermitteln (z.B. München). Daher verwundert es nicht, dass nur 12 Städte eine Betrachtung der Wählerwanderung aufnehmen. Lediglich drei Städte sind in der Lage, die Wählerwanderungen bereits in der Wahlnacht auszuwerten und darzustellen. Eine Wahltagsbefragung führte zum Zeitpunkt dieser Umfrage lediglich eine Stadt durch. Aufgrund der zeitaufwendigen Auswertung wird auf eine Darstellung im Wahlbericht verzichtet. Inzwischen werden auch in weiteren Städten Wählerinnen und Wähler beim Verlassen des Wahllokals befragt. Die VDSt-AG “Wahlanalyse” bemüht sich um eine koordinierte Wahltagsbefragung, um eine Vergleichbarkeit zwischen den in den teilnehmenden Städten erzielten Ergebnissen herbeizuführen. Erste Ergebnisse werden im Rahmen der Statistischen Woche 2009 in Wuppertal vorgestellt. Von den 70 Städten, die einen Wahlbericht erstellen, kooperieren neun mit einem „externen“ Partner. Unterstützung erhalten diese Städte bei privaten Wahl- oder Meinungsforschungsinstituten (vier Nennungen), Hochschul­ instituten (drei Nennungen), kommunalen Rechenzentren sowie durch Schülerinnen und Schülern eines Gymnasiums im Rahmen eines Schulprojektes (jeweils eine Nennung). Zwischen den Inhalten der Wahlberichte und der Stadtgröße ist wie schon bei den Präsentationen am Wahlabend ein Zusammenhang erkennbar. Während nahezu alle Städte in ihren Berichten die Ergebnisse der jeweils aktuellen Wahl auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen darstellen und mit den

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Der Schnipsel Resultaten vorangegangener Wahlen vergleichen, sind weiterführende Auswertungen überwiegend in den Berichten der größeren Städte zu finden. Wahlberichte werden überwiegend (56 Nennungen) doppelt präsentiert: gedruckt und zugleich im Internet. Lediglich sieben Städte geben an, dass ihre Berichte als Heft oder Broschüre erscheinen und sechs veröffentlichen ihre Analysen ausschließlich im Internet.

Fazit Durch die hohe Bereitschaft der Städte, sich an der Umfrage zu beteiligen, konnte ein Überblick über die Inhalte und

Schwerpunkte der Wahlvorberichte, Präsentationen am Wahlabend und Wahl(nachts-) berichte erstellt werden. Insgesamt haben sich 80 der 120 angeschriebenen Städte an der Befragung beteiligt. Trotz der hohen Rücklaufquote ist das Befragungsergebnis nicht repräsentativ für alle Städte und Gemeinden Deutschlands. Es wurden nur Städte des KOSISVerbundes angeschrieben. Diese verfügen über Statistikstellen und somit über Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich mit den Themen und Aufgaben der kommunalen Statistikstelle befassen. Und, wie bei anderen Befragungen auch, haben bei dieser Umfrage vor

allem diejenigen geantwortet, die betroffen sind – also die Städte, die in irgendeiner Form dazu beitragen, dass das Wahlgeschehen und die Wahlergebnisse transparenter werden. Die Antworten der befragten Kolleginnen und Kollegen in den Städten zeigen aber auch, dass die Arbeitsschwerpunkte der VDSt-Arbeitsgemeinschaft „Wahlanalyse und Ergebnispräsentation” die Themen sind, die auf allgemeines Interesse stoßen. Darüber hinaus hat die AG viele Anregungen für ihre zukünftige Arbeit gewinnen können. Dafür sei allen Beteiligten an dieser Stelle nochmals gedankt.

Auf Papier und im Netz

So spielt das Leben – Europawahl

Der Schnipsel Martin Schlegel, Hagen

„Sachen gibt’s, die gibt’s gar nicht.“ hört man schon mal. Und so eine Geschichte ist auch bei der letzten Europawahl passiert. In Turmkirchen öffnet ein Briefwahlvorstand die Wahlunterlagen und staunt: Im blauen Umschlag befindet sich nur ein

Schnipsel. Der Rest des Stimmzettels ist im roten Umschlag. Der Wähler hatte auf seinem Stimmzettel ordentlich eine Partei angekreuzt, da hatte er kein Problem. Doch dann erschien ihm dieser Stimmzettel mit seinen über 30 Parteien wohl zu lang. Also schnitt er den Streifen mit seiner Partei

sorgfältig raus und steckte nur dieses Stückchen in den blauen Umschlag. Den Rest – er wollte ja nichts für sich behalten – packte er mitsamt dem ordnungsgemäß unterschriebenen Wahlschein in den roten Umschlag. Ungültig.

Über Statistik

:

Für manchen ist das Sammeln von Zahlen aller Art ein au sfüllendes Hobby . Für einen Profi nicht.

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„Deutsche Mutter, heim zu Dir!“

Die Saarabstimmung 1935 Dietmar Talkenberg, Saarbrücken

Wahlbeteiligung: 97,89%

Emotionsgeladener Wahlkampf

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Am 13. Januar 1935, vor ca. 75 Jahren, fand unter der Aufsicht des Völkerbunds die Abstimmung über die künftige politische Zugehörigkeit des Saargebiets statt. Grundlage war das Saarstatut des Vertrags von Versailles. Abstimmungsberechtigt waren alle Personen, die 20 Jahre und älter waren und am 28. Juni 1919, dem Tag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, im Saargebiet ihren Wohnsitz gehabt hatten. Damit waren 539.541 Saarländer und Saarländerinnen aufgerufen, zu entscheiden, ob das seit 1919 unter der Verwaltung des Völkerbunds stehende Gebiet dem Deutschen Reich oder der Französischen Republik eingegliedert, bzw. der Status quo der Völkerbundsverwaltung beibehalten werden sollte. Das Saargebiet stand wie nie zuvor im Focus des Weltgeschehens, da für alle Beteiligten viel auf dem Spiel stand: „die politische Selbstbestimmung der Saarländer, die Hoffnungen des antifaschistischen Exils, das außenpolitische Prestige des Dritten Reiches, die französischen Saarinteressen und nicht zuletzt die Legitimation der vom Völkerbund verkörperten internationalen Rechtsordnung.“1 Nach einem emotionsgeladenen, einjährigen Wahlkampf in dem sich alles auf die Alternativen „Rückkehr in die deutsche Volksgemeinschaft“ und „Niemals zu Hitler“ zugespitzt hatte, kam es zu einem eindeutigen Ergebnis:

• 528.105 Personen gaben ihre Stimme ab, was einer Wahlbeteiligung von 97,89 Prozent entspricht, 0,42 Prozent der Stimmen waren ungültig. • 90,73 Prozent der Stimmberechtigten entschied sich für die Vereinigung mit Deutschland, • 8,86 Prozent der Stimmberechtigten votierten für den Status quo und lediglich • 0,40 Prozent der Stimmberechtigten optierten für die Vereinigung mit Frankreich. Das Ergebnis der Abstimmung war von der Reichsregierung erwartet und von Frankreich, zumindest der Tendenz nach, befürchtet worden. Dagegen hatten die antifaschistischen Kräfte auf einen Sieg für den Status quo gehofft. Überraschend war die Eindeutigkeit der Zustimmung zur Rückkehr nach Deutschland, die zu einem Triumph Hitlers wurde. Enttäuscht und schockiert waren dagegen die Verfechter des Status quo (Sozialdemokraten und Kommunisten und andere antifaschistische Gruppen), die gehofft hatten, an der Saar Hitler und den Nationalsozialisten eine Niederlage zufügen zu können (Schlagt Hitler an der Saar!), um ein nazifreies und doch quasi deutsches Rückzugsgebiet zu behalten. Trotz der massiven finanziellen und personellen Einflussnahme der Nationalsozialisten, aber auch der Franzosen, auf den Abstimmungskampf im

Jahr 1934 und die dominierende Präsenz der Deutschen Front (DF) am Wahltag, kann die Abstimmung zumindest als formal frei und geheim bezeichnet werden.2 Am 1. März 1935 erfolgte die Wiedereingliederung des Saargebiets ins Deutsche Reich, dessen Schicksal es zusammen mit der Pfalz als Gau Saarpfalz (ab 1942 mit dem lothringischen Departement Moselle als Gau Westmark) bis zum Ende des 2. Weltkriegs teilte. Das Abstimmungsergebnis markierte den vorläufigen Endpunkt einer langen Auseinandersetzung. Vorläufig deshalb, weil nach dem 2. Weltkrieg der Konflikt wieder auflebte. So konnte Frankreich 1945 erneut Ansprüche auf die Gebiete an der Saar durchsetzen und sich das (gegenüber dem Saargebiet vergrößerte) Saarland wirtschaftlich anschließen. 1955 entschieden sich die Saarländer mit einer Mehrheit von 67 Prozent gegen das von Frankreich und Deutschland ausgehandelte „Saarstatut“, das eine Europäisierung unter dem Dach der Westeuropäischen Union vorgesehen hatte. Damit wurde der Weg für eine politische und wirtschaftliche Vereinigung mit Deutschland frei. Durch die Bildung der EU, aber auch durch den Bedeutungsverlust der Montanindustrie, dürfte das Saarland wohl kaum wieder zu einem Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland werden.3

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Die Saarabstimmung 1935 Um die Ergebnisse der Saarabstimmung 1935 besser einordnen und verstehen zu können, ist es notwendig, auf einige Themen einzugehen, die den geschichtlichen Kontext beleuchten. Es sind: • „Französische Expansionspolitik und das Saarstatut im Vertrag von Versailles“, • „Die Saarpolitik Frankreichs und der Reichsregierung von 1919 bis 1933“ und • „Der Abstimmungskampf 1933 bis 1935“. • „Die Ergebnisse der Landesratswahl 1932 im Vergleich zur Saarabstimmung“. Der letzte Abschnitt soll zeigen, wie langfristige Grundeinstellungen in als existentiell empfundenen Fragen über aktuelle politische Fragestellungen siegen.

Französische Expansionspolitik und das Saarstatut im Vertrag von Versailles Die Anfänge der nach Osten gerichteten Expansionspolitik Frankreichs liegen im 16. Jahrhundert, als es ihm gelang, sich mit Hilfe der deutschen protestantischen Fürsten in den Besitz der drei Bistümer Metz, Toul und Verdun zu setzen. Seinem Ziel, die als Bedrohung empfundene Einkreisung durch die Habsburger Territorien, die von den Niederlanden bis Spanien reichte, aufzubrechen und den Rhein zur „natürlichen“ Grenze zwischen den beiden Ländern zu machen, war Frankreich 1680 durch die Anne­ xion Straßburgs und des Elsass ein Stück näher gekommen. Die Reunionspolitik und die Kriege Ludwigs XIV, insbesondere der Pfälzische und der Spanische Erbfolgekrieg, führten dazu, dass zwischen 1679 und 1697 die links­

rheinische Pfalz, das heutige Saarland und der Moselraum als „Saarprovinz“ französisch waren. 1680 ließ Ludwig XIV am Mittellauf der Saar zur Absicherung seiner Neuerwerbungen durch seinen Festungsbaumeister Vauban die heutige Stadt Saarlouis errichten. Mit dem Frieden von Rastatt und Baden (1714) verlor Frankreich nahezu alle Territorien wieder und behielt nur Saarlouis als Enklave. Die nächste Expansion Frank­ reichs nach Osten erfolgte nach 1792 im Zuge der Revolutionskriege, die durch den Frieden von Basel 1795 zu einer Abtretung aller linksrheinischen Gebiete an Frankreich führten. Damit war auch das heutige Saarland wieder französisch und sollte es als Teil des „Département de la Sarre“ bis 1814 bleiben. Der 1. Pariser Frieden brachte 1814 eine Grenzziehung an der Saar, bei der Frankreich die Städte Saarlouis, Saarbrücken und das Sulzbachtal mit seinen Kohleminen behalten durfte. 1815, nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo, kam es zum 2. Pariser Frieden, bei dem die heute bestehende Grenze festlegt wurde. Die beiden Städte und das Sulzbachtal wurden ein Teil Preußens. Führender Verfechter des Anschlusses der Saarregion an Preußen war der Saarbrücker Bürger und Hüttenbesitzer Heinrich Böcking, der 1815 die Delegation der beiden Städte Saarbrücken und St. Johann4 zu den Pariser Verhandlungen geleitet hatte. 1866 geriet die Saarregion erneut in den Focus der französischen Interessen. Napoleon III brachte die Abtretung der Saar als Kompensation für sein militärisches Stillhalten im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 ins Spiel, was

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jedoch zum Widerspruch des Industriellen Stumm bei Bismarck führte, und damit keine Veränderungen brachte.5 1871 siegten die verbündeten deutschen Truppen gegen Frank­reich. Im Frieden von Frankfurt (1871) musste dieses das Elsass und Teile Lothringens mit Metz an das neu gegründete Deutsche Kaiserreich abtreten und die Saarregion wurde vom Grenzland zum Hinterland. Dies sollte sich 1918 mit der Niederlage Deutschlands und seiner Verbündeten im 1. Weltkrieg wieder ändern, da ElsassLothringen sofort wieder nach Frankreich eingegliedert wurde. Die Friedensverhandlungen mündeten in den Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag enthielt das am 10. April 1919 verfasste Saarstatut als Kompromiss zwischen den Forderungen des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau nach einer Annexion der Saarregion durch Frankreich und den Vorstellungen des amerikanischen Präsidenten Wilson, die Selbstbestimmung der Völker zu gewährleisten. Ursprünglich hatte Wilson die Ansprüche Frankreichs kategorisch abgelehnt, bis ihm Clemenceau ein Memorandum übergab, in dem von 150.000 an der Saar lebenden Franzosen gesprochen wurde. Weshalb Clemenceau eine solche Zahl lancierte, ist klar. Unklar ist deren Höhe. Görgen6 vermutet, dass Frankreich dafür die Einwohnerzahl des Saargebiets des Jahres 1802 als Grundlage diente. Wilson ließ sich auf einen Kompromiss ein und stimmte zu, dass das Saargebiet für 15 Jahre der Verwaltung durch den Völkerbund unterstellt wurde und während dieser Zeit

Vier zentrale Themen

Wechselhafte Geschichte

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Die Saarabstimmung 1935

Vertrag von Versailles

die Saargruben in den Besitz Frankreich übergingen. Danach sollte eine Abstimmung den endgültigen politischen Status des Saargebiets klären. Am 10. Januar 1920 trat der Vertrag von Versailles in Kraft. An diesem Tag entstand das Saargebiet als neues Territorium.

Die Saarpolitik Frankreichs und der Reichsregierung 1919–1932

Hunderttagestreik

Abb. 1: Stadtarchiv Saarbrücken, GÖ Mappe 26 o.Nr.

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Das Saarstatut war von Anfang an ein schlechter Kompromiss, da er sowohl von Frankreich als auch von Deutschland abgelehnt wurde. Frankreich fühlte sich durch das Saarstatut von seinen Verbündeten um seine Kriegsbeute betrogen, nachdem Großbritannien schon Frankreichs Forderung nach der Rheingrenze abgelehnt hatte.

Für die Saarländer aber wurde so die Niederlage Deutschlands zu einem doppelten Problem, da sie zusätzlich eine ihnen verhasste Besatzung durch Frankreich zu erdulden hatten. Sie fühlten sich ohnmächtig dem Diktat der Siegermächte ausgeliefert. Insbesondere die Anwesenheit von Besatzungstruppen, auch aus den französischen Kolonien, führte bei der katholisch-proletarischen Bevölkerung zusätzlich zur Ablehnung Frankreichs.7 Mit Ablehnung begegnete man der Arbeit der ersten Regierungskommission des Völkerbunds, die von dem Franzosen Victor Rault geleitet wurde. Zielstrebig förderte dieser den französischen Sprachunterricht, bereitete die Währungsund Zollunion mit Frankreich vor und unternahm alles, den späteren Anschluss des Saargebiets an Frankreich abzusichern. Diese Parteilichkeit der Völkerbundsverwaltung nahm ihr in den Augen Deutschlands und der Saarländer jede Legitimität. Die Folge war, dass sich alle saarländischen gesellschaftlichen und politischen Gruppen immer wieder gegen die als Willkürherrschaft empfundene Völkerbundsverwaltung zusammenschlossen. Die Einigkeit in der Ablehnung Frankreichs sollte bei den sonst naturgemäß miteinander streitenden politischen Parteien bis 1933 halten8. Wirklich an die Substanz aber ging, dass Frankreich durch die Inbesitznahme der Kohlegruben (Mines Domaniales Francaise de la Sarre) unmittelbarer Arbeitgeber eines Drittels aller Beschäftigten im Saargebiet wurde, von denen eine weitere große Zahl von Beschäftigten abhing. Französische Banken beherrschten bald den Kapitalmarkt und auch die Stahlindustrie

wurde weitgehend von französischem Kapital dominiert9. Frankreich spielte die damit verbundene Macht voll aus. Als weitere Bedrohung wurde die französische Schulpolitik empfunden, die die Identität des Saargebiets verändern sollte. So wurden neben dem staatlichen Schulwesen französischsprachige Werksschulen (Domanialschulen) gegründet und die Werksangehörigen unter Druck gesetzt, ihre Kinder dort anzumelden10. Die Auseinandersetzungen nahmen Züge eines Kulturkampfs an. Als 1923 der französische Einmarsch ins Ruhrgebiet an der Saar publik wurde, entlud sich unter Führung der Gewerkschaften der aufgestaute Zorn im „Hunderttagestreik“, bei dem 99 % der Belegschaft der Saargruben in den Streik traten. Die Minenverwaltung antwortete mit Aussperrung und drakonischen Strafen. Linsmayer stellt dazu fest, dass es am Ende des Streiks nur Verlierer gab. Die Gewerkschaften hatten ihre arbeitspolitischen Ziele nicht erreicht. Schwerwiegender waren aber die Folgen für die französischen Arbeitgeber: Sie hatten jede Chance auf eine Loyalität ihrer Arbeitnehmer verspielt11. 1925 wurde in dem noch von Frankreich und Belgien besetzten Rheinland eine Jahrtausend-Feier der Zugehörigkeit zum Deutschen Reich begangen, die auch von den Saarländern zu einer mehrtägigen eindrucksvollen Demonstration ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland genutzt wurde.12 Frankreich konnte in diesen Jahren immer weniger auf seine Politik unterstützende Saarländer bauen. Seine Hoffnung, das im 18. Jahrhundert von Ludwig XIV gegründete Saarlouis zu einem französischen Vorposten zu machen, war

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Die Saarabstimmung 1935 schon in den Anfängen 1919 gescheitert. In den Köpfen der Saarländer und der französischen Besatzungsmacht war der Weltkrieg auf allen politischen und kulturellen Feldern weitergegangen. Trotzdem nahm die französische Politik bis etwa 1926 an, das Plebiszit 1935 für sich entscheiden zu können. Erst danach wurde der französischen Regierung immer deutlicher, dass sie niemals die Zustimmung der Saarländer zu einem Anschluss an Frankreich bekommen würde13. Die Folge war, dass Frankreich mit der Reichsregierung 1929/30 Gespräche über eine vorzeitige Rückgabe des Saargebiets führte. Diese scheiterten jedoch, da Frankreich als Bedingung stellte, seinen dominierenden Einfluss auf die Saargruben bis weit über 1935 hinaus zu erhalten14. Dem konnte die Reichsregierung nicht zustimmen. So war eine Chance vertan, der demokratischen Reichsregierung mit der Rückgliederung des Saarlandes zu einem stabilisierenden außenpolitischen Erfolg zu verhelfen. Den sollte dann Hitler 1935 bekommen.

Der Abstimmungskampf 1933–1935 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 und der Schulterschluss mit der Machtelite des Kaiserreichs am „Tag von Potsdam“ veränderten die Parteienlandschaft an der Saar innerhalb kurzer Zeit. Die NSDAP, die bis dahin nur 6,7 Prozent bei den Landesratswahlen im Saarland erhalten hatte, verzeichnete einen starken Zulauf, was alle anderen Parteien unter Druck brachte. Schon Mitte 1933 wurde im Saarland die Deutsche Front

(DF) gebildet, der alle national-bürgerlichen Parteien und die NSDAP angehörten. Das nutzte vor allem der NSDAP. Schon im Herbst 1933 lösten sich diese Parteien auf und es entstand die 2. DF, in der sie nur noch als „gleichgeschaltete“ Gruppen unter Führung der NSDAP wirkten. Allerdings verschlossen sich neben den Sozialdemokraten und Kommunisten weitere gesellschaftliche Kreise dieser Parteienkonstellation. Auf Betreiben15 des pfälzischen Gauleiters Bürckel löste sich aus taktischen Gründen die NSDAP im Saargebiet auf und es wurde die 3. DF gebildet, der sich nun alle Gruppierungen anschließen konnten. „Den Begriff ‚Partei’, so wurde nun verkündet, „gibt es an der Saar nicht mehr, es gibt nur noch ein gemeinsames Sehnen: Unser Deutschland.“16 In geschickter Weise war der seit den 20er Jahren gängige Begriff der „Volksgemeinschaft“ aufgegriffen worden, der den Erfolg der DF sichern sollte. Wie Linsmayer zeigt, konnte die 3. DF das ganze Repertoire der mit Deutschland verbundenen Erinnerungskultur für sich besetzen und nutzen und damit die Hoffnungen und Sehnsüchte des überwiegenden Teils der Bevölkerung bedienen17. Hinzu kam, dass es der DF gelungen war, die Saarländer zu einem permanenten Bekenntnis zu Deutschland zu bringen, was einen kritischen Reflex über politische Alternativen und den „Preis der Rückgliederung“ unmöglich machte. Die von den antifaschistischen Gruppen 1934 gegründete Einheitsfront kam nicht nur zu spät, um noch wirksam zu sein, sondern hatte mit der Propagierung des „Status quo“ bei

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ihrer Stammwählerschaft im Arbeitermilieu unüberwindliche Vermittlungsprobleme. Es war einem Kumpel nicht zu erklären, warum er für eine Verlängerung der als Unterdrückung empfundenen Herrschaft der „Mines Domaniales Francaise“ votieren sollte, da auch diese Parteien und die Gewerkschaften 14 Jahre das Gegenteil propagiert hatten. Dadurch, dass auch die Französische Regierung ab 1933 aktiv für den Status quo warb und ihre Parteigänger finanziell unterstützte, befanden sich die antifaschistischen Gruppen plötzlich in einem Boot mit den bisherigen Gegnern, was ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich verringerte. Nicht einmal der Völkerbund unterstützte ein Status-QuoVotum, da er keine Bereitschaft zur Verlängerung des Mandats erklärte.

1933: Gründung der Deutschen Front (DF)

Die Ergebnisse der Landesratswahlen 1932 im Vergleich zur Saarabstimmung Da die Saarabstimmung 1935 ein singuläres Ereignis war, bieten sich einzig die Wahlergebnisse der Landesratswahlen 1932 zum Vergleich an. Die Landesratswahlen an der Saar brachten am 13. März 1932 eine große Mehrheit von 43,2 Prozent für das Zentrum. Die KPD erhielt 23,2 Prozent, die SPD 9,9 Prozent und die NSDAP kam lediglich auf bescheidene 6,7 Prozent. Im Vergleich dazu errang die NSDAP am gleichen Tag bei den Wahlen zum Reichspräsidenten im Reichsgebiet einen Anteil von 30,1 Prozent. Für viele Antifaschisten war aufgrund dieser Ergebnisse und „...einer Bevölkerung die

Die DF besetzt die Erinnerungskultur

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Die Saarabstimmung 1935

Verluste für KPD und SPD

Abb. 2: Stadtarchiv Saarbrücken, GÖ Mappe 26–268

überwiegend katholisch und proletarisch, wie im Bilderbuch allen gesicherten Befunden der Wahlforschung über die Bestimmungsgründe nichtfaschistischen bzw. faschismusresistenten Verhaltens entspricht...“18, ein Sieg über Hitler nicht ausgeschlossen. Die tatsächlichen Ergebnisse widersprachen dann allen wahlsoziologischen Prognosen. So waren der KPD und SPD im Vergleich zur Landesratswahl zwei Drittel ihrer Wähler verloren gegangen. Selbst im für die DF schlechtesten Wahlbezirk (Reinheim) lag die Zustimmung noch bei 85,6 Prozent. Im Industriehalbmond von Völklingen über Saarbrücken, Dudweiler und St. Ingbert bis nach Neunkirchen lagen die Ergebnisse mit Werten zwischen 88,4 und 89,9 Prozent unter dem Landesdurchschnitt, während der ländliche Bereich im Norden und Osten des Saargebiets Ergebnisse zwischen 95,2 und 99,1 Prozent aufwies. So wird deutlich, dass es der DF gelungen war, die seit 15 Jahren währende Konfrontation zwischen Frankreich und Deutschland und damit die na-

tionale Frage für die Saarländer so in den Vordergrund zu stellen, dass sie alles überlagerte und eine Erörterung der politischen Kosten eines Anschlusses an Hitlerdeutschland keine Basis hatte. „Deutsche Mutter, heim zu Dir!“ überlagerte bei der Mehrheit alle anderen Erwägungen. Während die Deutsche Front und die NSDAP ihren Erfolg feierten, wurden bei den Antifaschisten aus der Enttäuschung heraus sofort Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ergebnisse laut. Die Gerüchte über großflächige Wahlfälschungen konnten weder benoch widerlegt werden, da alle Stimmzettel wenige Tage nach dem 13. Januar am Sitz des Völkerbunds in Genf vernichtet worden waren, jedoch spricht vieles gegen diese Annahme19. Vielmehr erscheinen die von Paul und Linsmayer dargestellten Analysen als überzeugender für die Erklärung für das Abstimmungsergebnis, als eine Betrugshypothese. Ein Protest wurde beim Völkerbund von keiner der an der Abstimmung beteiligten Gruppen eingelegt.

Anmerkungen 1

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8 9 10 11 12

13 14 15 16 17 18

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Linsmayer, Ludwig, Die Macht der Erinnerung, in: Ludwig Linsmayer (Hrsg.), Der 13. Januar, Die Saar im Brennpunkt der Geschichte, Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken, Bd. 1, 2005, S. 16 Paul, Gerhard (Hrsg.), Deutsche Mutter, heim zu Dir; Warum es misslang, Hitler an der Saar zu schlagen; Der Saarkampf 1933– 1935, Köln, 1984, S. 19 Der Volkswitz hat sich dieses Themas mit aller Klarheit angenommen: Mitterand ist bei Kohl zum Saumagen-Essen eingeladen und stochert lustlos auf seinem Teller herum. Da flüstert Kohl ihm etwas ins Ohr, worauf Mitterand hastig den Teller leer isst. Und was hat ihm Kohl zugeflüstert? „Wenn Du nicht aufisst, bekommst Du das Saarland zurück!“ Die Städte Saarbrücken, St. Johann und Malstatt-Burbach sind 1909 zur Großstadt Saarbrücken zusammengeschlossen worden. Lempert, Peter, „Das Saarland den Saarländern!“ Die frankophilen Bestrebungen im Saargebiet 1918–1935, Kölner Schriften zur Romanischen Kultur, Herausgegeben von Peter-Eckhard Knabe, Bd. 3, Köln 1985, S. 22 Görgen, Josef, Fundamental-Irrtümer der französischen Diplomatie. Frankreich und die 150.000 Saarfranzosen, in: Gelbe Hefte 3. Jg. 1927, S. 918–923 Am 10.01.1920, mit der Übergabe an den Völkerbund, verließen die Besatzungstruppen das Saargebiet. Eine Ausnahme bildete der frankophile Saarbund, der aber ohne politischen Einfluss war. Linsmayer, Ludwig, a.a.O., S. 26 Linsmayer, Ludwig, a.a.O., S. 27 Linsmayer, Ludwig, a.a.O., S. 27 Initiiert wurde diese Feier vom Provinzialausschuss der Rheinprovinz unter Vorsitz des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer. Lempert, Peter, a.a.O., S. 50 Lempert, Peter, a.a.O., S. 51 Lempert, Peter, a.a.O., S. 51 Linsmayer, Ludwig, a.a.O., S. 41 Linsmayer, Ludwig, a.a.O., S. 44 Henning, Eike, Warum siegte der Faschismus an der Saar?, in: Gerhard Paul, „Deutsche Mutter heim zu Dir“, Der Saarkampf 1933 bis 1935, Köln 1984, S. 14 Paul, Gerhard, a.a.O., S. 373 f.

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Kann Wahlanalyse schlecht sein? – KODAS – Datum e.V.

Wahlen: eine ganz persönliche Rückschau Hans Menge, Bonn

So war es im alten Rom: JEDES Jahr wurden Consuln, Praetoren, Aedile, Volkstribunen, Quaestoren und diverse Unterbeamte gewählt. Und kräftig Wahlkampf geführt, die Mittel dabei waren schon in vorchristlicher Zeit eher durch den Zweck geheiligt, das weiß man. Über „Wahlberichterstattung“ ist weniger bekannt. Die Ergebnisse wurden ausgerufen. Statistische Wahlanalysen? – Na ja, Pergament war knapp und vom Internet gab es zwar schon „inter“, aber noch kein web. Genau 2000 Jahre später – also anno MCMLXXV – gab es auch in der Provinz Germania inferior (NRW) so ein Superwahljahr. Kommunal- und Landtagswahl 1975 fielen auf einen Tag. Tolles Ergebnis: Nichtwähler bei der KW 1975: nur 13,6% (vorher und nachher wieder über 30%). Gut für die Schwarzen, noch besser für die Blaugelben – schlecht für die Roten. So ein Mist, denn einer von Letzteren war ich. Und hatte mächtig wahlgekämpft: Plakate kleben, Fußgängerzonen beleben mit Reden, mit der Stadtteilzeitung, die ich damals betrieb, ganz ortsgebundene Themen zum Streit ausschreiben. Und dann kam die neue Erfahrung für einen zwar Roten, aber auch Blauäugigen.

Zunächst ja konsequent gedacht und gehandelt: Wer verliert, tut gut daran zu ergründen, warum und durch welche Wählerschichten. Also Wahlanalyse machen. Machte ich, für meine Partei. Einen ganzen Sonntag lang nach der Wahl saß ein wissbegieriger Kreis im Bonner Rathaus zusammen und grübelte über den Analyseergebnissen, die ich mit dem neuen Kunsthandwerk vorbereitet hatte: „KODAS“. Erinnert ihr euch noch? – KOmmunales DatenAnalyse-System, entwickelt von DATUM e.V. (†) in Zusammenarbeit mit der Stadt Köln. Warum nicht auch einsetzen für die Wahlanalyse? Also tat ich’s. Kam auch ordentlich was raus, denn das „EDV-Werkzeug“ KODAS umfasste z.B. KOKRE, KOHIS, KOFAK und KOKAR für Kreuztabellen, Histogramme, Faktorenanalyse und Kartierung – letztere noch mit dem „Schnelldrucker“: 8 Papierbahnen für das Stadtgebiet von Bonn. Die ganze Wand im Rathaus war zugehängt. Beeindruckend… Damals. Am Ende hatten wir ein gutes Gefühl: In 4 Jahren, 1979, würden wir es besser machen. Aber das dicke Ende kam für mich viel schneller: Mein oberster Chef, auch ein Roter, oder? Er war gleichzeitig Chef eines damals recht bekannten Wahl-

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forschungsinstituts (†) und zitierte mich vor seinen Chefsessel (den brauchte er, denn im Stehen war er kleiner)… Damals verstand ich nicht wirklich, was ihn bewegte, denn ich war, wie gesagt, blauäugig. Er dagegen in dem Moment glutäugig. Und verbat mir „ein für alle Mal“, ihm mit dem verdammten KODAS ins Handwerk zu pfuschen. Uiiiih, die Ansprache war so gewaltig, dass mir sein erhöhender Stuhl recht entbehrlich schien. Meine blauen Augen sahen für eine Zeit lang schwarz, tief schwarz – für meine berufliche Zukunft, und der Intellekt zeigte blaue und gelbe Flecken. Seitdem wurde meines Wissens nie wieder eine gutgemeinte Wahlanalyse mit KODAS versucht. Was natürlich nur daran liegt, dass KODAS1 in der KONKURS-Masse landete.

Gründe für die Nieder­lage suchen…

Anmerkungen 1

2

als archäologisches Relikt davon heute noch aktiv ist KOSIS2, das/ der nur als „Verbund“ überlebt hat und lebt und lebt. Die Softwaren mögen sich wandeln – KOSIS richtet sich darauf ein, genau dafür ist es da. Teil 1 der Fußnote oben ist natürlich nur ein Wortspiel. „Kommunales“ ist eben KO, egal welcher Namensgeber damit hantiert. Die Älteren unter uns wissen, dass die historische Logik etwas anders war.

... um es 1979 besser zu machen.

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Von 18 bis 59: Die Grünen führen

Repräsentative Wahlstatistik zur EW 2009 Hubert Harfst, Hannover

Wie bei früheren Wahlen1 konnten die Städte, die ihre repräsentativ ausgewählten und weitere Wahlbezirke selbst ausgezählt haben, schon wenige Wochen nach der Wahl noch vor Auszählung der Unterstichprobe der bundesweiten Wahlstatistik erste „harte“ (nicht durch Umfragen, sondern durch Auszählung gekennzeichneter Stimmzettel gewonnene) Ergebnisse über das Wahlverhalten nach Alter und Geschlecht vorlegen.

Die Statistikstelle der Landeshauptstadt Hannover hat die Ergebnisse aus insgesamt 29 Städten mit 3,2 Millionen Wählerinnen und Wählern zusammengefasst und stellt diese Daten hier vor. Dabei sind leichte Verzerrungen zu Lasten der Union und DER LINKEN nicht auszuschließen, denn die süddeutschen und die ostdeutschen Städte (nur Dresden und Leipzig) sind etwas unterrepräsentiert.

Die Wahl­ beteiligung Erwartungsgemäß liegt die Wahl­beteiligung trotz der gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in einigen Bundesländern unter dem Bundesdurchschnitt. Gleichgeblieben ist die Spanne zwischen den Altersgruppen. Die Wahlbeteiligung der über 60jährigen lag bei den Frauen um 14, bei den Männern sogar um 20 Prozentpunkte über der Beteiligung der jüngsten

Tabelle 1

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Repräsentative Wahlstatistik zur EW 2009 Altersgruppe. Die über 60-jährigen Männer sind die aktivsten Wähler: 50,1 Prozent von ihnen machten mit.

Der Einfluss der Senioren Bei der Alterung der Gesellschaft gewinnen die Seniorinnen und Senioren mit ihrer Wahlentscheidung immer mehr an Gewicht. „Der Stimmenanteil der älteren Wählerinnen und Wähler ab 60 Jahre beziffert sich 2040 auf fast die Hälfte (44 Prozent) der gesamten Wählerschaft. Angesichts dieser altersstrukturellen Verschiebung ist damit zu rechnen, dass sich auch das Spektrum der politischen Themen ändern wird. In diesem Zusammenhang ist anzunehmen, dass vor allem die Renten- und die Gesundheitspolitik einen wichtigen Stellenwert einnehmen werden.“2

Die Wahl­ entscheidung Bedeutsam ist dies im Hinblick auf die Wahlentscheidung dieser Altersgruppe. Selbst in den Städten erreicht die Union hier 43 Prozent der Stimmen, gefolgt von der SPD mit gut einem Viertel der (26,4 Prozent) der abgegebenen Stimmen – knapp 70 Prozent der Stimmen entfallen also auf diese zwei Parteien. In Ostdeutschland ist das Wahlverhalten der Seniorinnen und Senioren dagegen nicht so eindeutig. DIE LINKE schiebt sich hier (leider nur gestützt auf das Ergebnis in Dresden und Leipzig) mit 26,8 Prozent der Stimmen zwischen CDU (36,6 Prozent) und SPD (14,6 Prozent). Die GRÜNEN dagegen haben diese Altersgruppe (noch) nicht

erreicht, besser gesagt als Wählerinnen und Wähler gewonnen. Ihr Ergebnis ist hier mit etwa sieben Prozent nur einstellig. In den übrigen Altersgruppen dagegen sind die GRÜNEN eindeutig die Wahlgewinner – zumindest in den Städten. Hier erreichten sie fast ein Fünftel (18,9 Prozent) der Stimmen und sicherten damit ihre bundesweit dritte Position. In allen Altersgruppen unter 60 sind die GRÜNEN inzwischen stärkste Partei vor der UNION und der SPD. Dieser Erfolg ist besonders auf den Zuspruch bei den Frauen zurück zu führen. Bei den jüngeren Frauen beträgt der Vorsprung vor CDU und SPD zwischen fünf und elf Prozentpunkte. Nur bei den Männern zwischen 18 und 25 Jahren sowie zwischen 45 und 59 Jahren liegen die „klassischen“ Volksparteien noch vorn. Leider lässt sich das Wahlverhalten der ältesten Gruppe, sie umfasst inzwischen fast ein Drittel aller Wahlberechtigten, nicht weiter aufgliedern. Aber es kann vermutet werden, dass die grüne Wählerschaft langsam in diese Gruppe hinein wächst. Union und SPD liegen bei den Altersgruppen bis 60 Jahren fast immer gleichauf – mit leichtem Vorsprung der SPD bei den Jungwählerinnen und Wähler. Bei den über 60jährigen, der größten Altergruppe mit zugleich höchster Wahlbeteiligung liegt die CDU/CSU dagegen weit vor allen anderen Parteien. Eine Prognose, ob mit wachsendem Stimmengewicht die Stimmen dieser Altersgruppe weiterhin mehrheitlich den Unionsparteien zukommen werden, ist dagegen nicht mög-

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lich. Noch bei der Bundestagswahl 2005 war der Vorsprung der CDU bei den Seniorinnen und Senioren und in den Großstädten mit gerade 0,4 Prozent denkbar knapp (siehe Fußnote 1). Auch die GRÜNEN galten lange Zeit als Partei der ganz jungen Wählerschaft. Die FDP und DIE LINKE sind eher „Männerparteien“. In allen Altersgruppen sind die Stimmanteile der Männer höher als die der Frauen, die Spanne erreicht bei der FDP 4,9 Prozent (Altergruppe 25 bis 34 Jahre) und bei DER LINKEN 3,7 Prozent (Altergruppe 35 bis 44 Jahre). In dieser Altersgruppe erreicht die Linkspartei in den hier vertretenen Städten einzig ein zweistelliges Ergebnis. Wenn neben Dresden und Leipzig weitere ostdeutsche Städte in dieser Zusammenstellung vertreten wären, würde sich das aber anders darstellen. Die sonstigen Parteien, insgesamt 26, reicht von der DKP über die Piratenpartei und diverse Rentnerparteien bis hin zu den REPUBLIKANERn und zur DVU. Bei den Sonstigen haben auffallend viele jüngere Männer ihr Kreuz gemacht. Obgleich eine detaillierte Aufgliederung nicht möglich ist3, ist zu hier eher Orientierungslosigkeit und auch Politikverdrossenheit als ein bewusstes Wählen von Parteien an den Rändern des politischen Spektrums zu vermuten.

Mehr Senioren – andere Politikthemen

Grüne liegen vor Union und SPD

Fazit Es ist festzustellen, dass das Wahlverhalten in den größeren Städten zum Teil erheblich, zum Beispiel bei den GRÜNEN, vom Durchschnitt abweicht. Unterschiede im Wahlverhalten zwischen West und Ost lassen sich bei dieser Wahl leider nicht untersuchen, weil außer Dresden und Leipzig keine wei-

Die Senioren bilden den Rückhalt der Union

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Repr채sentative Wahlstatistik zur EW 2009

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Der Schrecksenmeister tere Stadt aus Ostdeutschland an dieser Sonderauswertung der Repräsentativen Wahlstatistik teilgenommen hat. Dies wird sich, so die Hoffnung, zur Bundestagswahl 2009 ändern. Dann könnte nach Aussetzen der Repräsentativen

Wahlstatistik in den 90ger Jahren, eine Reihe von drei Wahlen in die Analyse eingehen.

Anmerkungen 1 2

siehe Stadtforschung und Statistik Heft I/2005, S. 52ff. und I/2006, S. 9ff. „Auswirkungen des demografischen Wandels auf die Struktur

3

der Wählerinnen und Wähler“ in: Auswirkungen des demografischen Wandels, Statistische Analysen und Studien Nordrhein-Westfalen Band 25, Hrsg :Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NordrheinWestfalen jetzt IT.NRW), Düsseldorf 2005, S. 75ff. Die Wahlstatistik gliedert bei den „Sonstigen“ nur die REP und die DKP aus.

Der Schrecksenmeister Martin Schlegel, Hagen „Ich habe mir erlaubt, das Märchen geringfügig zu bearbeiten und mit einem neuen Titel zu versehen. Ich gestehe gerne, dass ich es der Verkäuflichkeit halber „Der Schrecksenmeister“ genannt habe, denn wer kauft heutzutage schon ein Buch, das von einem harmlosen Krätzchen handelt. Ein Schrecksenmeister aber verheißt schon auf den ersten Blick mysteriöse Ereignisse, abenteuerliche Alchimie und haarsträubenden Grusel.“ Nun gut, eigentlich hat das nichts mit Statistik zu tun. Der

Text stammt ja auch aus „Der Schrecksenmeister“, einem Werk des bekannten zamonischen Schreibers Hildegunst von Mythenmetz, eine – allerdings meisterhafte – Neudichtung des Klassikers von Gofid Letterkerl: „Echo, das Krätzchen“. Doch unterschlagen werden darf nicht der, der dieses Werk aus dem Zamonischen ins Deutsche übersetzt hat: Walter Moers, der mehr ist als nur Übersetzer. Er erkannte, dass dieses Werk durchsetzt ist mit Abschweifungen ungeheurer

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Art: Beschreibung eingebildeter Wehwehchen, akribischen Angaben zur Körpertemperatur, bis hin zur Farbe von Urin und Stuhlgang. Das sei niemandem zuzumuten und so nahm er sämtliche Abschweifungen heraus und kürzte das Buch um 700 Seiten. „Der Schrecksenmeister“ ist eines der erfolgreichen MoersBücher, vielleicht auch, weil es das erfüllt, was in dem Eingangszitat gesagt wurde. Kürze, denn Kürze bringt Würze. Wir können daraus lernen.

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Auf den Spuren alternder und schrumpfender Gesellschaften

Das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels Juliane Steinberg, Christina Westphal, Rostock

Altern und schrumpfen

Mehr Pflegebedürftige

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Ergrauende Haare, abnehmende physische Kräfte, Altersweisheit und mehr Gelassenheit – Merkmale wie diese kommen einem in den Sinn, denkt man ans Altern. Doch wie altert eine Gesellschaft? Und warum? Die Lebenserwartung der Menschen steigt in den Industriestaaten stetig an. Gleichzeitig werden immer weniger Kinder geboren. Mehr Ältere stehen weniger Jüngeren gegenüber. Die Gesellschaft altert und schrumpft – ein Demografischer Wandel vollzieht sich. Den Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklungen geht das Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels nach. Als gemeinsame Initiative der Universität Rostock und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (MPIDF) wird im Rostocker Zentrum die politikrelevante, interdisziplinäre Forschung beider Einrichtungen gebündelt, die zu einem tieferen Verständnis des Demografischen Wandels beiträgt. Das Rostocker Zentrum wird von drei Säulen getragen: der Forschung, der Lehre und dem Dialog. Geleitet wird es von Gabriele Doblhammer (geschäftsführend), Professorin für empirische Sozialforschung und Demografie an der Universität Rostock, und von James

W. Vaupel, Direktor am MPIDF. Die Themenbreite der ersten Säule – der Forschung – des Rostocker Zentrums vermittelt einen Eindruck davon, in wie vielfältiger Weise der Demografische Wandel auf die Gesellschaft wirkt.

Die Arbeit der Forschungsbereiche Wie entwickeln sich in einer alternden Gesellschaft die Gesundheit und Lebensqualität Älterer und was bestimmt deren Risiko pflegebedürftig zu werden? Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um passgenaue Infrastrukturen und die medizinische Versorgung in einer alternden Gesellschaft zu gewährleisten? Der Forschungsbereich Prognosen und Planungen, geleitet von Gabriele Doblhammer, widmet sich diesen Themen in einer Reihe von internationalen Projekten. So wird beispielsweise in dem EU-Projekt FELICIE untersucht, wie sich der Pflegebedarf unter der Prämisse einer steigenden Lebenserwartung in Deutschland zukünftig entwickeln wird. Das Ergebnis: Trotz einer Verbesserung der allgemeinen Gesundheit der Älteren wird die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahrzehnten steigen – insbesondere, weil

die Männer länger leben und die Babyboom-Jahrgänge die oberen Altersgruppen erreichen. Prognosen zeigen, dass Demenzerkrankungen eine immer wichtigere Rolle dabei spielen. Unter den Älteren wird es jedoch bis 2030 mehr verheiratete Paare und weniger kinderlose Personen geben, so dass Familienangehörige als potenziell Pflegende vermehrt vorhanden sein werden. Innerhalb eines weiteren europäischen Projektes - genannt MICMAC – wurden in einer systematischen Literatur­ analyse der Einfluss von Alter, Geschlecht, Bildung, Familienstand, Adiposität und Rauchen auf die Gesundheit, die altersbedingte Pflegebedürftigkeit und die Sterblichkeit untersucht. Die Analyse bestätigt das bekannte Paradoxon, dass Frauen im Vergleich zu Männern zwar ein größeres Risiko haben, pflegebedürftig zu werden, jedoch eine geringere Sterblichkeit aufweisen. Überraschender war ein zweites, auf den ersten Blick widersprüchliches Ergebnis: Im Vergleich zu Über- und Normalgewichtigen werden adipöse Menschen zwar häufiger pflegebedürftig und haben dann wenig Chance auf vollständige Genesung, sie haben aber auch ein geringeres Risiko zu sterben.

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Rostocker Zentrum zur Erforschung Demografischen Wandels Der Forschungsbereich Alterndes Arbeitskräftepoten­ tial untersucht, inwieweit der Demografische Wandel das wirtschaftliche Wachstum von Volkswirtschaften beeinflusst, wie er auf den Arbeitsmarkt wirkt und welche Folgen für die soziale Alterssicherung zu berücksichtigen sind. Es altert und schrumpft nicht nur die Bevölkerung allgemein, sondern auch die erwerbsfähige Bevölkerung. Da dieser Prozess regional unterschiedlich ausfällt, kann die wirtschaftliche Attraktivität zwischen Regionen variieren. Unter der Leitung von Thusnelda Tivig hat das Forscherteam dazu eine Demographic-Risk-Map entwickelt. Für ausgewählte Standortfaktoren in 260 Regionen der EU wurde das demografische Standortrisiko berechnet, das aufzeigt, welches Standortpotenzial eine Region bis 2030 bei gegebenen demografischen Entwicklungen erwarten kann. In der gesamten EU werden die Erwerbsfähigen (20- bis 64-Jährige) bis 2030 zwar nur leicht altern, jedoch deutlich in der Anzahl schrumpfen (www.demographic-risk-map.eu). In einer weiteren Studie Wachstum und Demografie, durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie in Auftrag gegeben, werden die individuellen Entscheidungen für eine Familie und Kinder aus ökonomischer Sicht für verschiedene Staaten, einschließlich Deutschland, untersucht. Anschließend sollen aus diesen Kenntnissen Handlungsempfehlungen für die Politik abgeleitet werden, die langfristig positiv auf die demografische Entwicklung in Deutschland wirken. Gleichzeitig berät Thusnelda Tivig in ihrer Funktion als Leiterin der Forschungsgruppe

und Inhaberin des Lehrstuhls für Wachstum und Konjunktur an der Universität Rostock die Bundesregierung im Rahmen der Initiative Wirtschaftsfaktor Alter. Die Initiative konzentriert sich darauf, die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern und die Potenziale der Märkte für generationengerechte Produkte und Dienstleistungen zu erfassen und Öffentlichkeit und Wirtschaft dafür zu sensibilisieren. Wechselwirkungen zwischen demografischen und politischen Phänomenen stehen im Zentrum des Bereichs Bevölkerung und Politik. Unter der Leitung von James W. Vaupel wird hier erforscht, wie politische Entscheidungen von heute die Bevölkerung von morgen beeinflussen, und umgekehrt, wie demografische Prozesse auf die Politik wirken

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könnten. Wird etwa eine zahlenmäßige Verschiebung der Wählerschaft hin zu den Älteren die Durchsetzung von politischen Maßnahmen für junge Menschen und Familien erschweren? Welche regionalen Unterschiede bestehen bei der Geburtenentwicklung und inwieweit werden diese Differenzen durch politische Maßnahmen beeinflusst? Wird der Demografische Wandel möglicherweise sogar die Sicherheitspolitik beeinflussen, wenn etwa für die Bundeswehr, aufgrund der hohen Nachfrage nach jungen Menschen auf dem Arbeitsmarkt, nicht mehr genügend qualifizierte Rekruten zur Verfügung stehen? Inwieweit wird sich die steigende Lebenserwartung künftig auf die Gestaltung des Lebensverlaufs auswirken? Und welche Kosten würden für eine Gesell-

Mehr Ältere! Probleme für die Jüngeren?

Abb. 3: Das Rostocker Zentrum: Eine gemeinsame Initiative der Universität Rostock und des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung

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Rostocker Zentrum zur Erforschung Demografischen Wandels

Abb. 1: Regionales Demografisches Standortrisiko im Bereich „Verfügbarkeit von Arbeitskräften“

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schaft entstehen, blieben die Anpassungen der Lebensläufe in einer alternden Gesellschaft aus? Letzteres berechnen die Wissenschaftler beispielsweise mit dem Rostocker Indikator: Der Demografische Wandel könnte nach diesen Berechnungen früher für erhebliche ökonomische Belastungen sorgen als allgemein erwartet. Denn schon bald erreichen die geburtenstarken Jahrgän-

ge („Babyboomer“) eine auf dem Arbeitsmarkt kritische Altersschwelle. Sind die über 50Jährigen auch in Zukunft in so geringem Maß am Arbeitsleben beteiligt wie heute, würde in Deutschland 2025 etwa acht Prozent weniger gearbeitet als heute. Wenn das Altern der Bevölkerung nicht schon bald die wirtschaftliche Entwicklung drosseln soll, müssen demnach die Verteilung der Arbeit über

den Lebenslauf neu überdacht werden und Anreize für eine veränderte Beschäftigtenstruktur geschaffen werden.

Der Geburten­ monitor Das aktuelle Projekt des Rostocker Zentrums ist der neue Geburtenmonitor. Mit diesem wird das Ziel verfolgt, das Geburtengeschehen in Deutsch-

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Rostocker Zentrum zur Erforschung Demografischen Wandels land so zeitnah wie möglich abzubilden. Dazu wird die zusammengefasste Geburtenziffer (total fertility rate, TFR) für Deutschland erstmals auf Basis monatlicher Geburten berechnet. Die zusammengefasste Geburtenziffer auf Monatsebene ist ein Indikator zur Bestimmung von kurzfristigen Änderungen in der Fertilität. Mit der bisherigen jährlichen Betrachtungsweise der Geburtenrate ist die Beobachtung von Änderungen im Geburtengeschehen nur eingeschränkt und zeitverzögert möglich. Damit stellt die monatliche TFR ein wichtiges Analyseinstrument für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger dar. Aufbauend auf den geschätzten Monatszahlen wurde im April 2009, fünf Monate vor Bereitstellung der konkreten Daten durch das Statistische

Bundesamt, eine Gesamtjahresgeburtenrate von 1,366 für das Jahr 2008 geschätzt.

Die Sozialwissenschaftler von morgen Zusammen mit der Universität und dem MPIDF, das unter der Leitung von James W. Vaupel und Joshua R. Goldstein zu den international renommiertesten Forschungsinstituten in der Demografie gehört, bündelt das Rostocker Zentrum in einzigartiger Weise interdisziplinären Sachverstand auf dem Gebiet der Bevölkerungswissenschaften. Dieser Standortvorteil wird auch für die Ausbildung der Wissenschaftler von morgen genutzt. Ein dreistufiges Studienkonzept der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät

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führt über den Bachelor- und Masterabschluss zum Promotionsstudium. Die bundesweite Besonderheit der Rostocker Lehre ist die Verzahnung mit der Demografie. Auf der ersten Stufe wird der interdisziplinäre BA-Studiengang Sozialwissenschaften angeboten, an dem sich die Demografie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre zu gleichen Teilen beteiligen. Auf der zweiten Stufe ist im Rahmen eines Masterstudiums eine konzentrierte fachliche Ausbildung in einer der drei Disziplinen möglich, wobei ein Wahlbereich die Beibehaltung einer gewissen disziplinären Vielfalt gestattet. In den drei Masterstudiengängen besteht die Option einen Promotionspfad zu wählen, der in einem dreijährigen Promotionsstudium „Demografischer Wandel“ mündet. Die Promovenden

Bachelor/ Master/ Promotion

Abb. 2: Berechnete und geschätzte Werte für die zusammengefasste Geburtenziffer auf Monatsebene

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Lügen und Plagiate profitieren dabei von zahlreichen Veranstaltungen der International Max Planck Research School for Demography (IMPRSD), an der auch Wissenschaftler des Rostocker Zentrums lehren.

Der Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit Eine große Nachfrage nach Informationen zu Hintergründen, Charakteristika und Folgen des Demografischen Wandels – insbesondere vor dem Hintergrund dringender Lösungskonzepte – erfordern einen uneingeschränkten Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Die Kommunikation der politikrelevanten Forschung in die Richtung von Politik und Öffentlichkeit wird

durch den Bereich Outreach mit Mitarbeitern in Rostock und Berlin gewährleistet. Im regelmäßig aktualisierten Informationsportal zum Demografischen Wandel zdwa. de sowie dem vierteljährlich erscheinenden Infoletter Demografische Forschung aus Erster Hand werden dem interessierten Leser die aktuellen Forschungsergebnisse zu den Ursachen und Konsequenzen des Demografischen Wandels in Deutschland und Europa in aufbereiteter Form zur Verfügung gestellt. Neben Diskussionspapieren und Tagungsbänden sowie Auftritten in den unterschiedlichen Medien bilden Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen sowie Wissenschaftsgespräche die Informationskanäle nach außen und unterstützen ganz grundlegend politische Mei-

nungsbildungs- und Entscheidungsprozesse. Zusätzlich wird derzeit das Dateninformationssystem DemoData aufgebaut. Dieses Online-Tool wird der interessierten Öffentlichkeit zukünftig nutzerfreundlich und einfach den Zugang zu umfassenden demografischen Daten ermöglichen.

Webseiten des Ros­ tocker Zentrums: www.zdwa.de – Informationsportal zum Demografischen Wandel www.rostockerzentrum.de – Homepage des Rostocker Zentrums zur Erforschung des Demografischen Wandels www.demogr.mpg.de – Homepage des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung

Lügen und Plagiate Martin Schlegel, Hagen

Alle schwören auf die Wahrheit und dann wird kräftig gelogen. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!“, das Buch über „Die Weltgeschichte der Lüge“ bringt Lüge auf Lüge ans Tageslicht. Dabei befassen sich die Autoren - Traudl Bünger und Roger Willemsen – intensiv mit „dem Kerngebiet der Lüge: der Politik“. Ob Uwe Barschel, Roland Koch, Bill Clinton, Georg W. Bush, Winston Churchill, sie alle bekommen ihr Fett ab. Zu lesen ist auch: „Dem ZK-Sekretär der SED für Wirtschaftsfragen, Günter Mittag, zuständig für die Planwirtschaft der DDR, wurde einst vorgeschlagen, den Warenexport auf 521 32

Millionen Valutamark festzulegen, damit auch per 30.9. ein Exportüberschuss gemeldet werden kann. Das ist ihm aber zu läppisch, er streicht die Zahl 521 durch und ersetzt sie durch 920. Ein Fall von Abertausenden.“ Eine mehr als ärgerliche Sache und eben ein kräftiges Argument dafür, dass Statistiker Statistiken machen müssen – und nicht Politiker. Eine andere, diesmal aber nette Geschichte aus dem gleichen Buch: „Als der Schriftsteller Egon Friedell entdeckte, dass Anton Kuh von ihm abgeschrieben hatte, schrieb er ihm:

Sehr geehrter Herr, überrascht stelle ich fest, dass Sie meine bescheidene Erzählung „Kaiser Josef und die Prostituierte“ unverändert, nur mit der Hinzufügung, „von Anton Kuh“, im „Querschnitt“ veröffentlicht haben. Es ehrt mich selbstverständlich, dass Ihre Wahl auf meine kleine launige Geschichte gefallen ist, da Ihnen doch die gesamte Weltliteratur seit Homer zur Verfügung gestanden hat. Ich hätte mich deshalb auch gerne revanchiert, aber nach Durchsicht Ihres gesamten Werks fand ich nichts, worunter ich meinen Namen setzen möchte.“

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Mehr Einwohner heißt nicht automatisch mehr Finanzen

Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung Jürgen Wixforth, Berlin

Politiker machen es sich manchmal einfach: Sie plädieren für eine kräftige Ausweitung des Wohnungsbaus, hoffen auf Einwohnerzuwächse und glauben, dass sich so die gemeindlichen Finanzen ins Lot bringen lassen. Diese Rechnung geht beileibe nicht immer auf, wie Jürgen Wixforth hier nachweist. Doch sprengt dieser Nachweis den Umfang unserer Zeitschrift. Deswegen können Sie hier nur die Kurzfassung lesen – und die auch noch auf zwei Ausgaben verteilt: Im ersten Teil beschreibt er den Rahmen seiner Analyse und geht auf die Effekte aktueller Wohnbaupolitik ein. In Ausgabe 1/ 2010 dann beschreibt er für uns die „Effekte früherer Wohnbaupolitik“. Die Redaktion

Einleitung

In den letzten Jahren gingen die Einnahmen der bundesdeutschen Gemeinden gravierend zurück (u. a. Deutsche Bundesbank 2007). Die Verringerung der Steuereinnahmen lag besonders an der schlechten konjunkturellen Lage wie an der Steuerreform 2000. Zusätzlich sind die Schlüsselzuweisungen geschrumpft, da die Länder bei ihren ebenfalls rückläufigen Einnahmen nur einen geringeren Anteil der Steuerverbundmasse überweisen konnten. Mit einem hohen Anteil an pflichtigen Leistungen, v. a. im Sozialbereich, konnten die Kommunen über die Ausgabenseite ihre Haushaltssituation kaum konsolidieren. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass die Kommunen in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ihre Optionen ausgeschöpft haben, um Einnahmeverbesserungen zu erzielen. Neben Veräußerungen und der Anhebung der Hebesätze bieten auch Baulandausweisungen eine Möglichkeit, Geld in die Kassen zu bringen.

Hiermit ist die Vorstellung verknüpft, dass zusätzliche Einwohner höhere Steuereinnahmen zur Folge haben – v. a. aus der Einkommensteuer und höheren Zuweisungen im Finanzausgleich. Erst mit dem Jahr 2006 stellte sich die Finanzlage der Kommunen wieder positiver dar. Ein positiver Saldo führt jedoch nicht automatisch dazu, dass die Ausweisung von neuen Wohngebieten, auch aus fiskalischen Überlegungen, zurückgehen wird: Einerseits profitieren viele Gemeinden weiterhin nicht von der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und erhoffen sich auch in Zukunft über den Einwohnerzuwachs zusätzliche Einnahmen. Andererseits sind Baulandausweisungen als Mittel für finanzpolitische Erwägungen nach der Formel „Zuzug = Einnahmewachstum“ politisch einfach vermittelbar. Von den kommunalpolitischen Entscheidern wird dabei vielfach übersehen, dass eine proportionale Entwicklung zwischen Einwohnern und kommunalen Einnahmen nicht

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gegeben ist und mit dem Zuzug von Bewohnern auch neue Ausgabenbedarfe entstehen, die es zu finanzieren gilt. Dieser Beitrags soll die oftmals unreflektierten Annahmen zur Einnahmeerzielung durch Bevölkerungszuzug auf eine sachlichere und empirisch fundierte Basis stellen. Dabei wird das Augenmerk nur soweit wie nötig auf den komplexen Finanzverflechtungen mit seinen oft gegenläufigen Wirkungszusammenhängen liegen. Vorrangig werden empirische Hinweise der Einnahmen- und Ausgabenveränderungen durch veränderte Einwohnerzahlen und -strukturen dargelegt. Die Ergebnisse beziehen sich auf strukturell differenzierte Gemeindetypen mit jeweils ähnlich strukturierenden Merkmalen im Umland von Hamburg, sodass aus den Ergebnissen zielgerichtete kommunale Handlungsoptionen abgeleitet werden können. Die Ergebnisse sind im Wesentlichen ausgewählte Befunde aus der Dissertation des Autors (Wixforth 2009).

Mehr Geld in die Kassen

Unreflektierte Annahmen überprüfen

Untersuchungsgebiet: Hamburg plus Umland

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung Abb. 1: Gemeindetypen der Stadtregion Hamburg als Grundlage der weiteren Untersuchungen (Quelle: Eigene Darstellung)

Cluster 1: Der Cluster „größere Städte“ repräsentiert die suburbanen Zentren des Untersuchungsraums. Diese sind zwischen 1992 und 2002 mit 7 % (Region: +11 %) moderat gewachsen. Der Anteil der jungen Bevölkerung bis 15 Jahre und auch der Anteil der älteren Bewohner über 64 Jahre sind durchschnittlich ausgeprägt. Die Städte weisen eine hohe Arbeitsmarktzentralität von 350 Beschäftigten je 1.000 Einwohner auf (Region: 258 Beschäftigte). Damit stellen diese Gemeinden v. a. Angebotsorte von Arbeit und Zentralörtlichkeit im stadtregionalen Kontext dar. Cluster 2: Dieser Typus hat bereits einen sehr hohen Anteil älterer Einwohner erreicht (23,3 gegenüber 16,5 % in der Region). Da dieser Wert ganz erheblich über dem Regionsmittel liegt, wird dieser Cluster mit dem Etikett „gealterte Kommunen“ bezeichnet. Auch der extrem negative Bevölkerungssaldo von -7 ‰ im Jahr 2002 (Region: -0,7 ‰) und die weit unterdurchschnittliche Beschäftigtenquote von unter 29 % (Region: 34 %) verweisen auf eine stark gealterte Bewohnerschaft in den entsprechenden Kommunen. Cluster 3: Die in diesem Cluster gruppierten Kommunen lassen sich als „dynamische Wachstumsorte“ bezeichnen. Sie haben in der Zeit von 1992 bis 2002 eine positive Bevölkerungsentwicklung von +22 % verbuchen können und damit eine doppelt so hohe Zuwachsrate wie die Gesamtregion. Bei dem Anteil der Personen bis 15 Jahre liegen diese Gemeinden mit 18 % deutlich über dem Regionsmittel (16,4 %). Der Anteil und auch die Zunahme des Anteils der Alten an der Gesamtbevölkerung sind weit unterdurchschnittlich. Der natürliche Bevölkerungssaldo ist mit fast +0,5 ‰ leicht positiv, dennoch beruht die Bevölkerungszunahme überwiegend auf Wanderungsgewinnen: So weist der Indikator für die Bautätigkeit mit 56 fertiggestellten Wohnungen je 1.000 Einwohner von 1997 bis 2002 (Region: 37 Wohnungen) die höchste Quote aller Gemeindecluster auf. Cluster 4: Dieser Typ setzt sich aus Kommunen des weiteren Umlands zusammen („dünn besiedelte Kommunen“). Trotz der überwiegend peripheren Lage zu Hamburg weisen diese Städte und Gemeinden zwischen 1992 und 2002 den zweithöchsten Bevölkerungszuwachs von über 16 % und auch einen positiven natürlichen Bevölkerungssaldo auf. Damit einher geht ein überdurchschnittlicher Anteil an jungen Menschen bis 15 Jahre, der – ähnlich wie bei Cluster 3 – mit 18 % mehr als zwei Prozentpunkte über den Werten der anderen Cluster liegt. Cluster 5: Dieser Typus – die „früh suburbanisierten Kommunen“ – hat einen starken Anstieg der älteren Bevölkerung hinter sich (3,1 %-Punkte gegenüber 2 %-Punkte in der Gesamtregion), obwohl der Anteil der Älteren bereits 1997 über dem Mittel lag. Gleichzeitig ist der Anteil der jungen Menschen unter 15 Jahren mit 14,8 % (Region 16,4 %) unterdurchschnittlich. Diese Daten sowie die räumliche Lage der Gemeinden am Stadtrand von Hamburg lassen vermuten, dass es sich bei diesem Typus um frühzeitig von der Wohnsuburbanisierung erfasste Kommunen handelt, die derzeit eine starke Alterung der Bevölkerung erfahren. Die höchste Beschäftigtenquote aller Gemeindetypen (35,3 gegenüber 34 % in der Gesamtregion) deutet darauf hin, dass hier ein überproportionaler Anteil einer Elterngeneration wohnt, bei der nach dem Auszug der Kinder wieder beide Teile berufstätig sein können.

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung

Suburbaner Raum von Hamburg Die Ergebnisse entstammen einer gemeindespezifischen Betrachtung des suburbanen Umlands von Hamburg. Dazu wurde in einem ersten Schritt eine Regionsabgrenzung auf der Basis von Pendlerverflechtungen durchgeführt. Das Vorgehen dazu ist bei Wixforth/ Soyka (2005) dokumentiert. Die hierdurch dem Hamburger Umland zugeordneten 80 Städte und Gemeinden (auf Ebene kommunaler Verwaltungsgemeinschaften unterhalb der Kreisebene: Samtgemeinden in Niedersachsen, Ämter in Schleswig-Holstein) wurden dann einer quantitativen Typisierung unterzogen, um unterschiedliche Struktur- und Entwicklungstypen zu identifizieren. Ziel war es, die Vielzahl der Städte und Gemeinden in wenigen – möglichst unterschiedlichen – Gruppen zu vereinen, wobei innerhalb der Gruppen möglichst große Homogenität vorliegt. Dazu wurden in einer Abfolge aus Hauptkomponenten-, Cluster- und Diskriminanzanalyse 16 Indikatoren verwandt (Wixforth 2009). Dabei zeigte sich, dass in der Stadtregion Hamburg (ohne die Kernstadt) die demografischen Komponenten einen prägenden Einfluss auf mehrere der identifizierten Gemeindetypen hatten, sodass sich die entsprechenden Gruppen gut für Analysen der Auswirkungen von Einwohnerveränderungen auf die kommunalen Finanzen eignen. In den folgenden Ausführungen wird umfangreich auf die einzelnen Gemeindecluster eingegangen. Eine Kurzcharakteristik der einzelnen Typen erfolgt in dem Kasten.

Fiskalische Effekte von Bevölkerungsveränderungen Mit der Gemeindefinanzreform von 1969 kam es zu einer starken Zunahme des Einwohners für die kommunalen Einnahmen (Beteiligung der Gemeinden an der Einkommensteuer). Auch die weitere Aushöhlung der Gewerbesteuer zu einer stark gewinnabhängigen Einnahmeart hat die Bedeutung es Gemeindeanteils an der Einkommensteuer verstärkt. Gerade in den Umlandgemeinden großer Städte hat der Wettbewerb um Einwohner eine hohe Relevanz, da die vielfach festgestellten höheren relativen Einnahmen auch Ausdruck des Zuzugs einkommensstärkerer Bevölkerungsschichten sind. Deshalb sind die Umlandgemeinden westdeutscher Großstädte daran interessiert, den fiskalischen Effekten der Bevölkerungsveränderungen nachzugehen, und die Wirkungszusammenhänge empirisch zu überprüfen. In den folgenden Abschnitten wird unterschieden zwischen • Effekten der aktuellen Wohnbaupolitik – d.h., welche kommunalfiskalischen Hoffnungen sind mit der Baulandausweisung verbunden und • Auswirkungen der Wohn­­baupolitik der Vergangenheit – d.h. welche fiskalischen Prozesse resultieren als „Planungsgewinn“ oder „Altlast“ aus Entscheidungen der Vergangenheit.

Effekte aktueller Wohnbaupolitik Die Erschließung von Wohnbauland stellt eine bedeutsame kommunale Entscheidungspolitik dar. Baulandauswei-

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sungen verfolgen dabei i.d.R. kein eigenständiges politisches Ziel, sondern dienen finanzpolitischen Erwägungen (z.B. kommunale Einnahmesteigerungen), wirtschaftspolitische Überlegungen (z.B. zur Schaffung eines lokalen Arbeitsangebots) und sozialpolitischen Zielen (z.B. Versorgung der Bevölkerung mit Eigenheimen). Insbesondere in dem hier untersuchten Gemeindetypus der Umlandgemeinden von Großstädten scheint die Einwohnergewinnung eine lohnenswerte Investition darzustellen. Im Rahmen der Einwohnerexpansion durch Suburbanisierungsprozesse schneidet dieser Raumtyp in vergleichenden Analysen der Einnahme- und Steuerentwicklung regelmäßig am besten ab (z.B. Eltges 2003), woraus ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Gewinnung von Einwohnern und höheren Einnahmen mit gutem Grund anzunehmen ist. Allerdings bleibt eine Betrachtung der finanziellen Auswirkungen von Bevölkerungsveränderungen auf den Gemeindehaushalt solange unvollständig, bis nicht auch die kommunalen Ausgaben mit ins Kalkül einbezogen werden. So werden im Rahmen dieses Abschnitts mit der Einkommensteuer und den Schlüsselzuweisungen die beiden wichtigsten Einnahmearten näher betrachtet, die auf die Veränderung der Bevölkerungszahl und -struktur reagieren. Dazu werden auch empirische Ergebnisse der gegenseitigen Abhängigkeit präsentiert. Auf der Ausgabenseite werden v.a. Infrastrukturbedarfe für Kinder und Jugendliche thematisiert. Zu diesem zusammengefassten Aufgabenbereich werden ebenfalls empirische Ergebnisse vorgestellt. 35


Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung

Verzögerung von 5 Jahren

Tab. 1: Niveau des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer sowie die Veränderung der Bevölkerung und des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer im miteinander korrespondierenden Zeitraum

Einkommensteuer Die Gemeinden erhalten 15 % am Aufkommen der Lohn- und veranlagten Einkommensteuer sowie – quantitativ nachrangig – 12 % am Aufkommen des Zinsabschlags nach Maßgabe einer sog. Schlüsselzahl. Bei der Berechnung dieser Schlüsselzahl wird die Einkommensteuerleistung der Einwohner in den jeweiligen Gemeinden als Ausgangspunkt genommen, d.h. interkommunale Steuerverlagerungen treten nur bei Wa n d e r u n g s b e w e g u n g e n von Einkommensbeziehern auf. Die Verteilung nach dem Wohnsitzprinzip führt zu systematischen Benachteiligungen der Arbeitsstättengemeinden, da nach dem Zerlegungsgesetz die Lohnsteuerzahlungen innerhalb eines Betriebs vollständig den Wohngemeinden der Beschäftigten zugeordnet werden (Wixforth 2007). Die Verteilung des 15 %-igen Gemeindeanteils an der Einkommensteuer erfolgt im ersten Schritt länderbezogen, d.h. maßgeblich für den Gemeindeanteil ist zunächst das Gesamtaufkommen des jeweiligen Landes. In einem zweiten Schritt wird den Gemeinden insgesamt 15 % des landesweiten Gesamtaufkommens zugeteilt. Hierbei steht der Gesamtheit der Gemeinden in einem Bundesland

Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Jahresrechnungsergebnisse und der Einwohnerstatistik der Statistischen Landesämter

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der 15 %-ige Anteil am Landesaufkommen der Einkommensteuer zu, der Anteil der einzelnen Gemeinden ist von ihrer jeweiligen Schlüsselzahl abhängig. Diese wird nur bis zu gesetzlich festgelegten Sockelgrenzen (30.000 Euro für Ledige und 60.000 Euro für gemeinsam veranlagte Ehepaare) berücksichtigt. Wenn einzelne Einwohner einer Gemeinde darüber hinausgehende höhere Einkommen erzielen, wird dieser übersteigende Betrag nicht zur Berechnung der Schlüsselzahlen herangezogen. Mit dieser Einschränkung soll verhindert werden, dass einzelne Gemeinden überwiegend Bezieher sehr hoher Einkommen anzuziehen versuchen und damit den kommunalen Wanderungswettbewerb forcieren. Mithilfe dieser gekappten Steuerleistungen wird ermittelt, welcher Anteil jeder einzelnen Gemeinde an dem Teilsteueraufkommen der Einkommensteuer des Landes zusteht. Die Verteilung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer mit der Schlüsselzahl wird aus der Lohn- und Einkommensteuerstatistik ermittelt. Hierbei entsteht ein doppelter Zeitverzug: Einerseits werden die Schlüsselzahlen für einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt und andererseits wird

für diese Zeitperiode eine mehrere Jahre zurückliegende Steuerstatistik als Grundlage gewählt. So wird für die Zeitperiode von 2003 bis 2005 die Einkommensteuerstatistik aus dem Jahr 1998 herangezogen. Die frühstmögliche Anwendung der Steuerstatistik ist somit erst fünf Jahre nach dem Erhebungsjahr möglich. Die Stadt-Rand-Wanderung führt insgesamt zu einer Verringerung des Anteils der Kernstadt an der Schlüsselzahl des jeweiligen Landes. Dagegen profitieren die Randgemeinden von der Suburbanisierung und können i.d.R. ihre Schlüsselzahl und somit auch ihre Einnahmen erhöhen. Diese Steuermehreinnahmen schlagen sich durch die Zeitverzögerung aber erst nach fünf Jahren im Gemeindehaushalt nieder. Auch ist die Veränderung der Schlüsselzahlen nicht proportional zu der Veränderung der Einwohneranteile, da sie darüber hinaus von weiteren Faktoren (Erwerbsquote, ProKopf-Einkommen, Entwicklung der anderen Gemeinden des Landes) abhängen (Henckel 1981). Trotz dieser strukturellen Verwerfungen ist zunächst davon auszugehen, dass eine Gemeinde – bezogen auf ihre Entwicklung der Einnahmen – dann rational handelt, wenn sie eine aktive Einwohnergewinnung verfolgt, da ein Einwohnerwachstum mittelfristig zu absolut höheren Einkommensteuereinnahmen führt. Dies belegen die Untersuchungen im Rahmen des DFGProjekts (Tabelle 1). Die Gemeinden im Umland, die frühzeitig von der Suburbanisierung und damit auch von einem ausgeprägten Einwohnerwachstum erfasst wurden, haben derzeit hohe

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung Einkommensteuereinnahmen. Exemplarisch zeigt sich dieser Sachverhalt bei den „früh suburbanisierten Kommunen“ (Pro-Kopf-Wert von 363 Euro, damit um 48 Euro über dem nächsthöheren Cluster): Da der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer der Wohnsitzgemeinde des Steuerpflichtigen zusteht, kann dies damit begründet werden, dass dort überproportional viele Familien wohnen, die bereits vor mehreren Jahrzehnten ins Umland gezogen sind und bei denen heutzutage die Kinder schon das Elternhaus verlassen haben. Dies ermöglicht es beiden Elternteilen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, was sich auch in einer über dem Regionsdurchschnitt liegenden Beschäftigungsquote der Wohnbevölkerung zeigt. Die positive Beschäftigungssituation führt wiederum zu einer entsprechend geringen Arbeitslosigkeit. Über einen hohen Anteil von Gemeindebürgern mit einem zu versteuernden Einkommen erzielen diese Gemeinden relativ hohe Schlüsselzahlen, die für die Verteilung der Einnahmen aus dieser Steuer von zentraler Bedeutung sind. Ferner wohnen in diesen Gemeinden überproportional viele wohlhabende Bürger. Deren hohe Einkommen füllen die Margen bis zu der festgelegten Sockelgrenze vielfach aus, was sich wiederum positiv auf die Einkommensteueranteil der jeweiligen Gemeinden auswirkt. Da mit der Gemeindegröße durchschnittlich auch die erwirtschafteten und steuerlich relevanten Einkommen ansteigen, liegt die Vermutung nahe, dass auch die „größeren Städte“ ähnlich hohe Einkommensteuereinnahmen haben müssten wie die „früh suburbanisierten Kommunen“. Dass

dies nicht der Fall ist, liegt dort v. a. an der höheren Zahl von Transfereinkommensbezieher, die keine Steuern zahlen. Dies belegen Untersuchungen zu den Ausgaben für soziale Leistungen, die in den „größeren Städten“ ein deutlich höheres Niveau erreichen als in den „früh suburbanisierten Kommunen“ (Wixforth 2009). Bei den „dynamischen Wachstumsorten“ sowie bei den „dünn besiedelten Kommunen“ ist die Einkommensteuerhöhe mit einem jeweils weit unter 300 Euro Pro-Kopf-Aufkommen stark unterproportional. Dies hängt damit zusammen, dass dort durch das aktuelle Bevölkerungswachstum zwei Effekte wirksam werden, die das durchschnittliche ProKopf-Aufkommen der Einkommensteuer verringern: • Das Lohnniveau der Einkommensbezieher steigert sich im Lebenszyklus bis etwa zum 55. Lebensjahr (Pohlan et al. 2007: 53). Ein überproportionaler Anteil der Bewohner der derzeitig wachsenden Orte hat aufgrund der Altersstruktur der Suburbaniten somit noch nicht die maximale Steuerleistung erreicht, was die Schlüsselzahl (derzeit noch) entsprechend schmälert. • Da diese beiden Cluster die größten Anteile an junger Bevölkerung bis 15 Jahre, und damit im nicht-erwerbsfähigen Alter, aufweisen, werden diese bei den Einwohnerwerten mitberücksichtigt und verringern die Pro-Kopf-Werte entsprechend. Der rechte Teil der Tabelle 1 stellt der Veränderung der Einwohnerzahl in den Gemeindetypen die Veränderung des Einkommensteueraufkommens gegenüber. Dabei werden die Werte der Bevölkerungsver-

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änderung für die Jahre betrachtet, in denen sie für die Einkommensteuerstatistik relevant wurden, d.h., den Veränderungsraten beim Einkommensteueraufkommen werden Bevölkerungsveränderungsraten gegenübergestellt, die fünf Jahre weiter zurückliegen. Für die Stadtregion Hamburg ist für die Entwicklung der Einkommensteuer in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu erkennen, dass die durchgängig positive Bevölkerungsveränderung in allen betrachteten Clustern zu unterschiedlich gerichteten Veränderungen des Einkommensteueraufkommens führt. Trotz Wachstums haben drei Cluster je Einwohner reale Einnahmeeinbußen hinzunehmen und auch die beiden Cluster, die mit steigender Bevölkerungszahl eine positive Einkommensteuerentwicklung verzeichnen, bleiben bei den Steuermehreinnahmen proportional hinter dem Zuwachs an Bewohnern zurück. Dies lässt sich nur damit erklären, dass sich die restlichen Landesteile der Bundesländer SchleswigHolstein und Niedersachsen in der Systematik der Verteilung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer besser entwickelt haben als das betrachtete Umland. Dafür lassen sich zwei Gründe anführen (auch Henckel 1981): • In den nicht betrachteten Landesteilen hat sich der Anteil der steuerpflichtigen Einwohner positiver entwickelt. Da jeder steuerpflichtige Arbeitnehmer zum Sockelaufkommen und somit zum Einkommensteueranteil einer Gemeinde beiträgt, hat ein stärkerer Anstieg der Steuerfallquoten in den überwiegend peripher-ländlichen Räumen Schleswig-Holsteins und Niedersachsens höhere

Einnahmeeinbußen trotz Wachstum

Das Einkommen steigt bis zum 55. Lebensjahr

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung

Veredelte Einwohner

Steuerkraftmesszahl

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Schlüsselzahlen für die dortigen Kommunen zur Folge. Da die Schlüsselzahlen der Gemeinden eines Landes in der Summe den Wert 1 ergeben, haben höhere Schlüsselzahlen in den hamburgfernen Regionen zwangsläufig niedrigere Schlüsselzahlen im Umland zur Folge. • Die Einkommen der Bewohner in den betrachteten Umlandgemeinden erreichen oder überschreiten zu einem großen Anteil schon die Sockelgrenze, da die Einkommen im suburbanen Umland von Hamburg höher liegen als in den restlichen Landesteilen. In den ländlich-peripheren Räumen der Länder Schleswig-Holsteins und Niedersachsens liegen die Einkommen aber vielfach noch unterhalb der Sockelgrenzen, sodass sich Einkommenssteigerungen dort in steigenden Schlüsselzahlen niederschlagen, die wiederum zu Schlüsselzahlabsenkungen im Umland führen. Die Ausführungen zur Einkommensteuer haben gezeigt, dass sich Einwohnerwachstum als langfristig lohnenswert erweist. Jedoch sind die empirischen Ergebnisse zu dem Gemeindetypus „früh suburbanisierte Kommunen“ auch Ausdruck einer stabilen Wachstumsphase insbesondere der 1970er Jahre und es ist fraglich, ob sich diese­Entwicklungen mit seinen begünstigenden Rahmenbedingungen aus stabilen Arbeitsverhältnissen und geringer beruflicher Mobilität wiederholen lassen. Kurzfristig lässt sich durch Einwohnerwachstum die kommunale Einnahmeseite mithilfe der Einkommensteuer nicht konsolidieren, da durch die Zeitverzögerung bei der

Feststellung der Schlüsselzahl Veränderungen frühestens nach fünf Jahren eintreten. Aber auch dann sind die Entwicklungen bei der Einkommensteuer keineswegs proportional zu den Entwicklungen der Bevölkerungszahl in den Gemeinden. Da die Verteilung des Gemeindeanteils an der Einkommensteuer ein hoch komplexes, vernetztes System aller Gemeinden eines Landes – und letztlich auch der Länder untereinander – ist, kann nur die Aussage getroffen werden, dass sich in der Tendenz über eine positive Einwohnerentwicklung die Einkommensteuerentwicklung günstiger entwickelt als bei Einwohnerstagnation oder -schrumpfung. Schlüsselzuweisungen Die Schlüsselzuweisungen stellen neben den Steuern die quantitativ wichtigste kommunale Einnahmeart dar, zumal ihre nicht zweckgebundene Verwendung eine hohe Ausgabenautonomie gewährleistet. Sie dienen zum Ausgleich interkommunaler Steuerkraftunterschiede und berechnen sich aus der Differenz zwischen Steuerkraft und Finanzbedarf der einzelnen Gemeinde. Die beiden Vergleichsgrößen werden in jeweils einer Messzahl ausgedrückt: • Die Ermittlung des Ausgabenbedarfs leitet sich im Wesentlichen aus der Einwohnerzahl einer Gemeinde ab. Grundlage der Annahme, dass der Finanzbedarf überproportional zur Einwohnerzahl steigt, sind Untersuchungen von Popitz und Brecht aus den 1930er Jahren, die einerseits einem städtischen Einwohner höhere Ansprüche an kommunale Leistungen bescheinigen und andererseits eine Parallelität zwischen

den öffentlichen Ausgaben und der Bevölkerungszahl feststellen. Auf Grundlage dieser Argumentationen werden auch heute noch die Einwohner je nach Größenklasse der Gemeinde unterschiedlich gewichtet und Einwohner in größeren Gemeinden entsprechend höher „veredelt“. Diesem veredelten Einwohner werden i.d.R. noch verschiedene Nebenansätze­ zur Seite gestellt, aus dem sich der Gesamtansatz ergibt. Der Gesamtansatz soll damit möglichst alle, die Finanzkraft differenzierenden Sachverhalte erfassen. • Die Ermittlung der Finanzkraft wird durch die Steuerkraftmesszahl ausgedrückt. Aus finanzpolitischen Überlegungen sind für diese Messzahl nur die Grundsteuern, die Gewerbesteuer sowie die Gemeindeanteile an der Einkommen- und Umsatzsteuer relevant. Da die Steuereinnahmen auch Ausdruck des Einnahmenpotenzials der Gemeinde sind, können bei der Berechnung der Steuerkraftmesszahl die Anteile an der Einkommen- und Umsatzsteuer der Kommunen in ihrer tatsächlichen Höhe zugrunde gelegt werden, da die Grundlagen der Besteuerung in allen Gemeinden gleich sind. Bei der Gewerbe- und den Grundsteuern mit einer kommunalen Hebesatzmöglichkeit werden die unterschiedlichen Hebesätze der Gemeinden „herausgerechnet“ und mit einem landesdurchschnittlichen Hebesatz normiert. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass Gemeinden, die ihre Hebesätze ausschöpfen können oder müssen, im Finanzausgleich

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung nicht im Nachteil sind. Somit verbleiben den Gemeinden auch noch Anreize, ihre Einnahmesituation aktiv zu verändern. Die Summe der Anteile aus Einkommenund Umsatzsteuer sowie aus den normierten Grundund Gewerbesteuern ergibt die Steuerkraftmesszahl. Die Auswirkungen der Baulandausweisungen verändern i.d.R. beide Messzahlen: die Einwohnerzahl durch den Zuzug neuer Bewohner in die Gemeinde sowie die Finanzkraft aufgrund des Einflusses von Bevölkerungsveränderungen insbesondere auf die Einkommensteuer. Obwohl sich beide Messzahlen gegenseitig bedingen, kommt es durch eine mehrfache zeitliche Anpassung der Messzahlen an die Bevölkerungsveränderung zu keinen linearen Wirkungszusammenhängen zwischen der Einwohnerveränderung und der Höhe der zusätzlichen Schlüsselzuweisungen: Die Messzahl für den Finanzbedarf reagiert bereits im Folgejahr des Einwohnerwachstums, da die fortgeschriebene Einwohnerstatistik die Neubürger bereits frühzeitig ausweist. Damit erhöht sich der Finanzbedarf der Kommune im ersten Jahre nach dem Bevölkerungswachstum. Aufgrund der Zeitverzögerungen bei der Einkommensteuerstatistik reagiert die Steuerkraftmesszahl erst nach frühestens fünf Jahren auf die Neubürger. Dies hat zur Folge, dass Zuzüge in den ersten Jahren lediglich bedarfserhöhend wirken und das Finanzkraftsystem der entsprechenden Gemeinde in den ersten fünf Jahren überproportionale Schlüsselzuweisungen gewährt. Erst nach mindestens fünf Jahren kommt es zur systemgerechten Anpassung, indem die veränderte Steuerkraft mitberücksichtigt wird.

In Kombination mit dem Gemeindeanteil an der Einkommensteuer, die erst eine zeitverzögerte Anpassung der Schlüsselzahlen ermöglicht, gleichen die Schlüsselzuweisungen in den ersten Jahren die Einnahmeausfälle aus der Einkommensteuer aus (Gutsche 2004: 79). Jedoch liegen den Bemessungsgrundlagen unterschiedliche Referenzen zugrunde, da die Schlüsselzahl für die Einkommensteuer sich auf die steuerpflichtigen Bürger bezieht, während im Finanzausgleich alle Bewohner Berücksichtigung finden. Inwieweit die Bevölkerungsveränderungen und deren Auswirkungen auf das Aufkommen an Schlüsselzuweisungen bedarfsgerecht eingeschätzt werden, zeigt Tabelle 2. Dabei konzentrieren sich die Angaben der Tabelle auf die niedersächsischen Umlandgemeinden. Die­se Einschränkung war nötig, da in SchleswigHolstein der kommunale Finanzausgleich grundsätzlich anders konzipiert ist, indem der kommunale Finanzbedarf nicht anhand der Einwohnerzahl, sondern mithilfe der planerisch festgelegten Zentralität der Orte ermittelt wird. Der Verzicht auf die Einwohnerzahl für die Bemessung des Finanzbedarfs wird von drei Bundesländern (neben Schleswig-Holstein noch Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern)

favorisiert, während die restlichen zehn Flächenländer die Einwohnerwertung nutzen. Aufgrund dieser landesspezifischen Regelungen stellt sich die Frage in Schleswig-Holstein nicht, da sich die Klassifikation der Zentralität – wenn überhaupt – nur langfristig an die Einwohnerentwicklung anpasst. In Tabelle 2 ist zu erkennen, dass der landesweite Anteil der niedersächsischen Schlüsselzuweisungen in allen Gemeindetypen stark unterhalb des landesweiten Einwohneranteils liegt. Dies zeigt, dass das Umland von Hamburg finanziell relativ gut gestellt ist. Über die normierte Ermittlung des Finanzbedarfs stehen den Umlandgemeinden zunächst Verteilungsmittel in gleicher Höhe zu wie den Gemeinden im restlichen Land. Erst über die Ermittlung der Finanzkraft wirkt sich die originär relativ gute Einnahmesituation der Umlandgemeinden aus, da deren theoretisch ermittelter Finanzbedarf zum Großteil über eigene Einnahmen gedeckt werden kann und somit die verbleibende Differenz zwischen Finanzbedarf und -kraft klein ausfällt. Die betrachteten Gemeinden südlich von Hamburg erhalten folglich nur unterproportionale Mittel aus der niedersächsischen Finanzausgleichsmasse.

Tab. 2: Anteil der Schlüsselzuweisungen und Einwohneranteile der niedersächsischen Gemeindetypen 1997 und 2002

Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Jahresrechnungsergebnisse und der Einwohner- statistik der Statistischen Landesämter

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung

Tabelle 3: Struktur und Entwicklung demografischer Eckwerte in den Gemeindetypen

Tabelle 2 zeigt auch die Relation der Schlüsselzuweisung und der Einwohneranteile im Zeitverlauf. Im Gemeindecluster 3 („dynamische Wachstums­ orte“) wohnten 1997 0,89 % der niedersächsischen Bevölkerung, deren Anteil bis zum Jahr 2002 auf 0,97 % angewachsen ist. Bei der Charakterisierung der Gemeindetypen wurde schon darauf hingewiesen, dass es sich bei den Gemeinden dieser Gruppe um stark wachsende Gebiete handelt. Der Anteil der Schlüsselzuweisungen an diese Gemeinden ist im gleichen Zeitraum zwar auch gewachsen, jedoch nicht so stark wie die Einwohner.

Noch gravierender ist die Situation der „größeren Städte“ (Cluster 1): Diese hatten ein Einwohnerwachstum, mussten bei den Schlüsselzuweisungen aber hohe relative Verluste hinnehmen. Anders Cluster 4: Dort sind sowohl die Einwohnerzahlen als auch die Schlüsselzuweisungen von 1997 bis 2002 anteilig stark angestiegen. Diese gegensätzlichen Entwicklungen deuten an, dass eine Projektion der Schlüsselzuweisungen für einzelne Kommunen nicht sinnvoll durchzuführen ist, da für empirische Modellrechnungen Informationen über alle Kom-

Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Einwohnerstatistik der Statistischen Landesämter Tabelle 4: Ausgaben für junge Familien und deren Anteil an den Gesamtausgaben 2001/02

Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Jahresrechnungsergebnisse der Statistischen Landesämter

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munen des jeweiligen Landes vorliegen müssten. Wie die größeren Städte in der Region zeigen, schützt ein Einwohnerplus nicht vor Verlusten bei den Schlüsselzuweisungen, die jedoch bei einer Einwohnerstagnation noch größer ausgefallen wären. Ausgaben Aktuelle Befunde der neueren Suburbanisierungsforschung zeigen eine zunehmende Differenzierung der Lebensstile der wandernden Haushalte, wobei jedoch Familien mit Kindern weiterhin ein Großteil der Suburbaniten darstellt (Menzl 2007). Insbesondere von Kindern und Jugendlichen wird ein großer Teil der öffentlichen Leistungen in Anspruch genommen, von denen durch die Finanzierungsverantwortung im föderalen Staat die Kommunen einen hohen Anteil tragen (aktuell Seitz 2007: 7). Mit dem bestehenden Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Tageseinrichtung für Kinder sind die Kommunen verpflichtet, ein entsprechendes Angebot bereitzustellen. Durch die politische Vereinbarung zum erweiterten Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für Unter-3Jährige (Bundesministerium der Finanzen 2007: 40) werden die Städte und Gemeinden künftig eher noch zusätzliche Ausgaben in diesem Bereich tätigen. So liegen die Aufgaben der Investition und des Unterhalts von Kindertageseinrichtungen v. a. in der Verantwortung der Kommunen. Diese haben zwar die Möglichkeit der Aufgaben­ übertragung an freie Träger, jedoch bleiben sie in der finanziellen Verantwortung, indem sie dann an die freien Träger Zuschüsse zahlen. Im schulischen Bereich tragen die Kommunen die Sach- und Investitionskos­ ten (z.B. in Schulgebäude)

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Finanzielle Auswirkungen der Einwohnerentwicklung sowie die Ausgaben für nicht lehrendes Personal (z.B. Hausmeister), die Länder hingegen finanzieren die Kosten für das lehrende Personal. Weitere, von den Kommunen zu finanzierende Aufgabenbereiche, die v. a. Kindern und Jugendlichen zugutekommen, sind die Schülerbeförderung und die Jugendhilfe. Die Finanzierung der Hochschulen obliegt hingegen den Ländern, sodass die kommunalen Ausgabenbedarfe für die Gemeindebewohner etwa ab dem 20. Lebensjahr rapide abnehmen. Die empirischen Ergebnisse zeigen deutlich, dass in denjenigen Gemeinden im Hamburger Umland, die in den vergangenen Jahren von einer starken Wachstumsdynamik betroffen waren, aktuell der Anteil der Kinder und Jugendlichen deutlich über den Werten der Nachbargemeinden liegt (Tabelle 3). Die durchschnittlichen ProKopf-Ausgaben für junge Familien liegen in den Umlandkommunen um Hamburg in einer Spanne von 460 bis 521 Euro (Tabelle 4). Dazu wurde der gesamte Einzelplan 2 (Schulen) der kommunalen Haushaltssystematik, die Jugendhilfe (Abschnitte 45 und 46) sowie deren Verwaltung und Einrichtungen (Unterabschnitt 407) betrachtet. Eine nach den Gemeindetypen differenzierte Betrachtung zeigt für die „gealterten“ und für die „früh suburbanisierten Kommunen“ in der Stadtregion Hamburg für die Jahre 2001/02 mindestens um 30 Euro niedrigere Pro-Kopf-Werte als in den anderen Hamburger Clustern. Dies deutet darauf hin, dass in den Gemeindetypen mit Alterungstendenzen dieser Aufgabenbereich eine weniger dominante Stellung innerhalb des

kommunalen Aufgabenkanons einnimmt, da diese Leistungen von nur relativ wenigen Bewohnern nachgefragt werden. Der Großteil der Bewohner ist aus den entsprechenden Lebensaltersabschnitten „heraus­ gewachsen“. Die bereits angeführte Annahme, dass Suburbanisierungstendenzen die zu erwartenden Mehreinnahmen schmälern, da insbesondere junge Paare in der Familiengründungsphase in das Umland ziehen, kann mit den vorliegenden Zahlen bestätigt werden. Beide Wachstumscluster geben mehr für junge Familien aus als die Vergleichscluster (Tabelle 4). Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den beiden wachsenden Clustern um überwiegend kleine Gemeinden handelt, die mehrheitlich keine oder nur einzelne weiterführenden Schulangebote vorhalten, ist die überproportionale Ausgabenquote somit mit einem höheren Anteil an Sachinvestitionen an den Gesamtausgaben in diesem Bereich zu erklären. Um der gesteigerten Nachfrage aufgrund des Zuzugs gerecht zu werden, sind in diesen Gemeinden Sachinvestitionen für den Schul- und Kindergartenbau nötig geworden. Tiefergehende Analysen belegen, dass der Anteil der investiven Ausgaben an den Gesamtausgaben in dem Cluster „dynamische Wachstumsorte“ bei 19 % liegt – im Gegensatz zu nur 13 % bei den „früh suburbanisierten Kommunen“ (Wixforth 2009). Gestützt wird diese These –zusätzliche Investitionserfordernisse in den wachsenden Gemeinden – noch bei der Betrachtung der Schuldentilgungsfähigkeit (Tabelle 5). Da die kommunale Kreditaufnahme an die Investitionstätigkeit gekoppelt ist, zeigt der Indikator die Fähigkeit, die durch die Kreditaufnahmen entstandenen

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Tab. 5:

Schuldentilgungsfähigkeit in den Gemeindetypen 2002

Quelle: Eigene Berechnungen auf Grundlage der Jahresrechnungsergebnisse und der Schuldenstandstatistik der Statistischen Landesämter

Verbindlichkeiten aus eigenerwirtschafteten Mittelzuflüssen zurückzuzahlen. Da bei der Quote die Gesamtschulden durch die Gesamtsteuereinnahmen dividiert werden, weisen niedrige Werte auf eine günstige Schuldensituation hin. Ein Wert unter 1 besagt, dass die gesamte Verschuldung theoretisch in einem Jahr aus den Einnahmen der Steuern der Gemeinden abgezahlt werden könnte. Bei einem Wert über 1 übersteigt die Gesamtverschuldung die Jahressteuereinnahmen. Der ungünstigste Wert ist für die „dynamischen Wachstumsorte“ festzustellen, bei denen als einziger Cluster ein Wert von über 1 festzustellen ist. In diesem Cluster erfordert die Bevölkerungszunahme Investitionen in Infrastrukturen, die aufgrund des Investitionsumfangs nur über Kredite zu finanzieren sind. Sofern die Einnahmeeffekte der Zugezogenen zu optimistisch beurteilt werden bzw. sich erst nach mehreren Jahren einstellen wie bei der Einkommensteuer, verbleiben bei den Kommunen vielfach hohe Schulden. Eine Orientierung an einer kommunalpolitischen Wachstumsstrategie kann somit für die öffentliche Hand teuer werden, da die zusätzlich entstehenden Ausgabenbedarfe oft nicht angemessen berücksichtigt werden.

Investitionsbedarf in wachsenden Gemeinden

Über Statistik

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2 von 3 Berlinern zogen binnen 10 Jahren um / Bis zu 97% Fluktuation

Die ortsstationäre Bevölkerung in Berlin Hartmut Bömermann, Berlin

Tab. 1: Gesamtbestand und ortsstationärer Einwohnerbestand in Berlin 1997, 2002 bis 2007

Im Laufe ihres Lebens wechseln fast alle Menschen ihre Wohnung, viele sogar mehrfach. Die Anlässe sind vielfältig: Ausbildungs- oder Arbeitsplatz, Unabhängigkeit von den Eltern, bessere oder billigere Wohnung, das Eigenheim, ein kinderfreundliches Umfeld oder die Suche nach einer geeigneten Umgebung im Krankheits- bzw. Pflegefall. Die dadurch ausgelösten Ver­änder­ungen in einem Wohngebiet sind für die Beobachtung von Entwicklungen im Stadt­raum von großem Interesse. Neben den Zensen ist die amtliche Bevölkerungsstatistik hierfür eine zen­trale Quelle.

Die Bevölkerungsstatistik kann allerdings nichts über den Bevölkerungsteil sagen, der im „Kiez“ oder Stadtteil verbleibt. Sie sagt nichts über die aus, die an der gleichen Anschrift wohnen bleiben, also die ortsstationäre Bevölkerung. Durch die Aus­wertung der kommunalen Einwohnerregisterstatistik Berlins lässt sich diese über einen längeren Zeit­ raum ortsstationäre Population eingrenzen, und es lassen sich hieraus Informationen über die Wohn­ort­bin­dung der Einwohner und über soziale Veränderungsprozesse gewinnen. Verglichen wird der Einwohnerbestand zwischen zwei Zeitpunkten. Beantwortet wer-

den soll die Frage „Wie groß ist die Gruppe der Einwohner, die vor X Jahren in einem bestimmten Gebiet lebte?“ Gebiete, die für einen Vergleichszeitraum eine geringe stationäre Einwohnerschaft aufweisen, könnten – im einfachsten Fall – durch Neubauten zusätzlichen Wohnraum gewonnen haben. Die Ursache kann aber auch das Resultat der Aufwertung bzw. Abwertung von Gebieten sein, die eine veränderte Ein­wohnerstruktur nach sich zieht. Am schnellsten verändert sich die Einwohnerstruktur, wenn hierunter der Altersaufbau und die soziale Schichtung mit Indikatoren wie Kaufkraft, Bildung, berufliche Stellung usw. verstanden wird, durch den selektiven Austausch von Bevölkerungsgruppen. Ob eine geringe orts­statio­näre Einwohnerschaft mit einem sozialen Strukturwandeln einhergeht, kann nur durch Einbe­ ziehung weiterer Datenquellen untersucht werden. Die laufende Bevölkerungsstatistik erfasst als Bewegungsgrößen Geburten, Sterbefälle, Zu- und Fort­züge. Innerhalb der Jahre 1998 bis 2007 wurden in Berlin folgende Bewegungsfälle registriert: Bevölkerungsbewegun­gen der Jahre 1998 bis 2007

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Die ortsstationäre Bevölkerung in Berlin

Ortsstationärer Einwohnerbestand Mit Hilfe der stichtagsbezogenen Bestandsdaten des Einwohner­registers von Berlin soll die ortsstationäre Population eingegrenzt werden. Betrachtet werden soll der Zeitraum 1997, 2002 bis 2007, und zwar jeweils zum Stichtag 31.12. Um den Vergleich zu ermöglichen, werden die Bestandsdaten zweier Vergleichzeitpunkte durch ein statistisches Matching-Verfahren verknüpft. Das Matching-Verfahren ist erforderlich, da die Daten anonymisiert sind und keine direkte Zuordnung möglich ist. Es berücksichtigt als kleinste räumliche Einheit die Adresse, wie sie im Regionalen Bezugssystem (RBS) des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg geführt wird, sowie unveränderliche demographische Merkmale (siehe. Methodische Erläuterungen). Von den 3,35 Millionen melderechtlich registrierten Einwohnern am Ort der Hauptwohnung am 31.12.2007 haben ein Jahr zuvor 2,9 Millionen unter der gleichen Adresse gelebt, d.s. 86,8 Prozent (Tabelle 1, Spalte 1). In der hier verwendeten Definition gelten sie als ortstationärer oder nicht fluktuierender Einwohnerbestand. Zwischen 2007 und 2005 waren 76,0 % der Einwohner ortsstationär. Inner­halb von fünf Jahren – zwischen den Stichtagen 2007 und 2002 – waren es noch 56,2 Prozent. Bei der Betrachtung des 10-Jahreszeitraums 2007 zu 1997 reduziert sich der Anteil auf 35,5 Prozent. Das heißt 64,5 Prozent der Einwohner 2007 lebten seit weniger als 10 Jahre am gemeldeten Ort der Hauptwohnung. Dies gilt natürlich auch für die in diesem Zeitraum Geborenen.

Die Differenz zwischen dem Bezugsjahr im Kopf der Tabelle 2 und dem jeweils ersten Vorgängerjahr – das sind die Werte unterhalb der Werte in

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der Diagonale – beträgt zwischen 12,6 Prozentpunkte beim Vergleich 2005 auf 2004 und 14,0 Prozentpunkte beim Vergleich 2006 auf 2005. Die

Abb. 1: Ortsstationärer Einwohnerbestand in Berlin zwischen 1997, 2002 bis 2007

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Die ortsstationäre Bevölkerung in Berlin

Abb. 2: Altersstruktur des ortsstationärer Einwohnerbestandes zwischen 1997 und 2007 nach Geschlecht (Basis: Einwohnerbestand 31.12.1997)

Den kleinsten Anteil ortsstationärer Einwohner mit Anteilen zwischen 10,3 und 10,7% findet sich in den Alters­gruppen 19 bis 21 Jahre. Also in einem Lebensabschnitt, in den häufig das Ende der Schulzeit oder der Ausbildung fällt. Nach diesem Minimum steigt der Anteil der nicht fluktuierenden Einwohner­schaft auf über 59 % in den Altersjahren 60 bis 62 an. Bei den Frauen liegt dieser Wert bei den 61- bzw. 62-Jährigen bei 63,7%. In den folgenden Altersjahren fällt – wie zu erwarten – die orts­ bezogene Stabilität stark ab.

Abb. 3: Ortsstationärer Einwohner zwischen 1997 und 2007 in Berlin nach Lebensweltlich orientierten Räumen (LOR) in Friedrichshain-Kreuzberg in Prozent

Fluktuationsverluste sind beim ersten Einjahresvergleichsabstand immer am höchsten. Vermutlich ist das auf eine mobile Einwohnergruppe mit Verweilzeiten unterhalb eines Jahres zurückzuführen. Als Basisjahr für die Berechnung der Prozentanteile wurde jeweils das jüngere Zieljahr und nicht das fernere Herkunftsjahr genommen.

Altersstruktur des ortsstationärer Einwohnerbestandes Zwischen 1997 und 2007 waren nur 35,5 Prozent der Einwohner ortsstationär. Bei der folgenden Betrachtung wird die Prozentu44

ierungsbasis zum Herkunftsjahr gewechselt. Die Frage ist dann nicht, wie groß ist der Anteil der Altbewohner an allen, sondern wie viele des Herkunftsjahres sind im Gebiet geblieben? Der Anteil variiert zwi­schen den Altersgruppen erheblich. Von den unter Einjährigen waren 10 Jahre später noch 20,3 % unter der alten Adresse gemeldet, und zwar 20,2% der Mädchen und 20,4% der Jungen (Abbildung 2). Ein erster Stabilitätsgipfel wird mit über 34% in den Altersjahren 7 und 8 erreicht. In der Altersphase zwischen 0 und 8 Jahre baut sich Stabilität auf, in den folgenden Altersjahren erhöht sich die Fluktuation wieder.

Kleinräumige Betrachtung Die kleinräumige Betrachtung der 447 Planungsräume (Lebensweltlich orientierte Räume - LOR) zeigt eine beträchtliche Variation der Anteilswerte. Nimmt man nur die Planungsräume mit mindestens 1 000 Einwohnern (Stichtag 31.12.2007), dann reicht die Spannweite der ortsstationären Einwohnerschaft von 2,5% bis 67,7%. Anders sehen die Ergebnisse natürlich aus, wenn man statt der Planungsräume Bezirke zugrunde legt. Eine besonders hohe Fluktuation findet sich in den Bezirken FriedrichshainKreuzberg (27,0 % ortsstationäre Bevölkerung), Pankow

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Die ortsstationäre Bevölkerung in Berlin (27,4 %) und Mitte (29,3 %). Auf über 40 % und damit auf vergleichsweite hohe Stabilitätswerte kommen TempelhofSchöneberg, Steglitz-Zehlendorf und Reinickendorf (Tabelle 2). Tabelle 2 gibt neben diesen Bezirkswerten den kleinsten und den größten Prozentanteil ortsstationärer Einwohner auf Ebene der Planungsräume wieder. Die größten Unterschiede zwischen relativ stabilen und fluktuierenden Planungsräumen gibt es in Pankow (52,0 %-punkte), gefolgt von Friedrichshain-Kreuzberg und Spandau (49,2 %-punkte). Eine Kartierung des ortsstationären Einwohnerbestandes auf Ebene der Planungsräume zeigt die Verteilung im Stadtgebiet. Exemplarisch wird Friedrichshain-Kreuzberg in Abbildung 3 herausgelöst dargestellt.

Die Einwohnerregisterstatistik ermöglicht die Betrachtung beliebiger Vergleichszeiträume zwischen 1992 und dem jeweils aktuellen Bestandsdaten. Als untere räumliche Ebene bieten

Um das Verteilungsmuster der Karte in Abbildung 3 zu konkretisieren, sind die Planungsräume (LOR) mit der höchsten bzw. niedrigsten Fluktuation in Tabelle 3 aufgelistet. In Teilräumen mit hoher Bau­aktivität lag der Anteil naturgemäß besonders niedrig, so z.B. in den Planungsräumen „Stralauer Halb­insel“ oder „Helle Mitte“. Der „Boxhagener Platz“ wiederum ist durch eine Jugendszene geprägt, die kürzere Verweilzeiten vermuten lässt. Am höchsten ist die Ortstreue im Planungsraum „Märchenland“ im Bezirk Pankow. „Märchenland“ ist der Name einer Kleingartenkolonie.

sich die 447 Planungsräume an. Zusätzliche Auswertungsdimensionen sind durch eine Untergliederung nach dem Geschlecht und dem Alter möglich.

Tab. 2 Ortsstationärer Einwohnerbestand in Berlin zwischen 1997 und 2007 nach Bezirken

Zusammenfassung Der vorgestellte Ansatz ergänzt die Wanderungsdaten der Bevölkerungsstatistik, durch die ein Fluk­tuations­geschehen abgebildet wird, um Informationen über die stabilen Bevölkerungsteile, die nicht fluktuieren.

Tab. 3: Lebensweltlich orientierte Räume mit dem niedrigstem bzw. höchstem Anteil ortstationärer Einwohner zwischen 1997 und 2007

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Vergleich mit Urban-Audit-Daten

Düsseldorf und die anderen euro­päischen Wissenszentren Ingo Heidbrink, Düsseldorf

Der vorliegende Beitrag ist eine Zusammenfassung der Veröffentlichung „Düsseldorf im europäischen Städtevergleich. Eine Untersuchung auf Basis von Urban Audit-Daten des Erhebungszeitraums 2003 bis 2006“, erschienen in der Reihe „Beiträge zur Statistik und Stadtforschung“ Heft 47, des Amtes für Statistik und Wahlen der Landeshauptstadt Düsseldorf.

Europa sorgt für Wettbewerb

Abb. 1: Positionierung der Städtetypen von ECOTEC Quelle: ECOTEC 2007

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Die seit Jahren stark an Bedeutung gewinnende europäische Ebene führt aus Sicht der Städte zu einer Zunahme an Wettbewerb und somit zu der Notwendigkeit sich innerhalb des europäischen Städtesystems zu positionieren. Wo steht die eigene Stadt gegenüber vergleichbaren, europäischen Städten? Welche besonderen Merkmale weist sie auf und wo liegen die Unterschiede? Der hier vorgestellte Bericht zielt auf die Beantwortung dieser Fragen aus Düsseldorfer Perspektive anhand städtestatistischer Informationen aus dem Urban Audit-Projekt. Mit den aktuell bereitgestellten Daten des Erhebungszeitraums

2003 bis 2006 besteht nun die Möglichkeit, neben strukturellen Analysen und Vergleichen europäischer Städte, auch zeitlich vergleichende Analysen durchzuführen. Der Datenkatalog von Urban Audit umfasst auf der Ebene der Kernstädte derzeit ca. 280 Indikatoren aus den Bereichen Demographie, Wirtschaft, Soziales und Umwelt. Die tatsächliche Datenverfügbarkeit ist allerdings sehr heterogen und unterscheidet sich sowohl im Ländervergleich als auch hinsichtlich der einzelnen Themenbereiche. Zum Jahresende 2008 lag der Anteil verfügbarer Daten für die Kernstädte bei 58%.1 Daraus ergibt sich

zwangsläufig eine Einschränkung der Analysemöglichkeiten des derzeitigen Urban AuditDatenbestandes.2 Die Stadt Düsseldorf ist seit 2002 Mitglied im Urban Audit-Projekt und liefert seitdem regelmäßig Daten. Die Ausgangsannahme dieser Untersuchung ist, dass nicht alle europäischen Städte gleichermaßen in Konkurrenz zueinander stehen, sondern dass es unterschiedliche Typen von Städten gibt, die sich in wirtschaftlicher und struktureller Hinsicht unterscheiden. Daher wird Düsseldorf nicht mit allen teilnehmenden Urban AuditStädten verglichen, sondern nur mit Städten desselben „Typs“. Hierzu wird auf eine bestehende Städtetypologie zurückgegriffen, die das Ergebnis eines im Auftrag der EUKommission durchgeführten Gutachtens ist (vgl. ECOTEC 2007). Diese Typologie dient vorrangig der Abbildung struktureller Gemeinsamkeiten und zielt auf die Vergleichbarkeit der Wettbewerbsfähigkeit der Städte. Die Typenbildung erfolgte in mehreren methodischen Schritten unter Zuhilfenahme sowohl von statistischen Verfahren als auch unter Berücksichtigung von Expertenwissen.3

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Düsseldorf und die anderen euro­päischen Wissenszentren Im Ergebnis wurden die Urban Audit-Städte in 13 Typen (Cluster) eingeteilt, die wiederum drei Großgruppen zugeordnet wurden (vgl. Abbildung 1). Die Stadt Düsseldorf gehört dem Typ der Wissenszentren innerhalb der Internationalen Zentren Europas an. Zu diesen Städten zählen, neben Düsseldorf, Amsterdam, Barcelona, Dublin, Edinburgh, Frankfurt a.M., Hamburg, Helsinki, Kopenhagen, Köln, London, Lyon, Mailand, München und Stockholm. Die Auswahl der zu untersuchenden Themenbereiche und Indikatoren orientiert sich an den Zieldimensionen der Lissabon-Strategie der EU: Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt. Zudem wurden ausgewählte Aspekte demographischer Strukturen und Entwicklungen in den Vergleichsstädten gegenübergestellt.

Ausgewählte Ergebnisse Die Gruppe der 15 Wissenszentren umfasst Großstädte unterschiedlicher Einwohnerzahl und Bevölkerungsdichte. Die bevölkerungs- und flächenmäßig herausragende Stadt

in dieser Gruppe ist London mit knapp 7,5 Mio. Einwohnern auf einer Fläche von über 1.570 km². Abgesehen von London reichen die Einwohnerzahlen in den Städten dieses Typs von 453.700 in Edinburgh bis 1,7 Mio. in Hamburg. Die Stadt Düsseldorf ist mit ihren rund 572.600 Einwohnern4 die fünftkleinste Stadt in dieser Gruppe. Alle Kernstädte des Typs Wissenszentren haben im Zeitraum 2001 bis 2004 eine positive Bevölkerungsentwicklung erfahren. Die stärksten Zunahmen fielen auf Barcelona (+5%), Lyon (+4,2%) und London (+3,6%). Von den deutschen Wissenszentren hat München mit einer Zunahme von 1,7% den höchsten Bevölkerungszuwachs verzeichnet. Die Kernstadt Düsseldorf zählt mit einer Zunahme von „nur“ 0,3% zu den Wissenszentren mit einem geringeren Wachstum. Einen deutlichen Bevölkerungsrückgang von -4,8% verzeichnet in diesem Zeitraum einzig Dublin. Betrachtet man die Bevölkerungszahlen auf der Ebene von Stadtregionen5, also jener funktionaler Verflechtungsgebiete die über die administrativen Grenzen der Kernstädte

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hinausreichen, dann erhöhen sich die Einwohnerzahlen der Untersuchungsstädte in unterschiedlichem Maße. Die Einwohnerzahl der Stadtregion Düsseldorf beträgt ca. 1,5 Mio. Einwohner und liegt somit um mehr als das zweieinhalbfache höher als die Einwohnerzahl der Kernstadt. In neun von 15 Wissenszentren wuchs zwischen 2001 und 2004 die StadtregionsBevölkerung stärker als die Bevölkerung in den Kernstädten. Das hierfür verantwortliche (stärkere) Umlandwachstum wird als anhaltender Trend zur Suburbanisierung interpretiert. Am stärksten von dieser Entwicklung betroffen waren Amsterdam (+1,6 Prozentpunkte), Barcelona (+1,2 Pp) und Helsinki (+0,9 Pp). Dagegen konnten London, Frankfurt a.M., München und Mailand ein gegenüber ihrem Umland stärkeres Bevölkerungswachstum verzeichnen. Die Stadtregion Düsseldorf verzeichnet im Zeitraum 2001 bis 2004 eine geringe Bevölkerungsabnahme von -0,1% bei leichter Bevölkerungszunahme in der Kernstadt. Dies ist Ausdruck eines Bevölkerungsrückgangs von -0,4% in den Düsseldorfer Umlandkreisen Neuss und Mettmann.

Alle Städte mit Einwohnerzuwächsen

Starker Trend zur Suburbanisierung

Tabelle 1: Kennzahlen der Bevölkerungsstruktur 2004 Anmerkung: Fläche und Einwohnerdichte von London und Lyon = Werte für 2001. Dublin keine Werte.

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Düsseldorf und die anderen euro­päischen Wissenszentren

Wettbewerbs­ fähigkeit

Abbildung 2: Pro-Kopf-BIP in KKS, Produktivität und Beschäftigungsquote 2004 Anmerkung: Dublin, Edinburgh, Helsinki, London, Lyon und Mailand keine Daten vorhanden.

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Entsprechend der Ziele der Lissabon-Strategie ist die Wettbewerbsfähigkeit die wichtigste Vergleichsdimension für einen europäischen Städtevergleich. Diese lässt sich anhand von Indikatoren zu den Teilbereichen Wirtschaftskraft und wirtschaftliche Entwicklung, Wirtschaftsstruktur, Innovationsfähigkeit und Erreichbarkeit untersuchen. Der gebräuchlichste Indikator zur Messung regionaler Wohlstandsunterschiede ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. Dieser Indikator ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Region und drückt den in einem Gebiet erwirtschafteten Wohlstand je Einwohner aus. Um bestehende Kaufkraftunterschiede, die im europäischen Vergleich auftreten können, auszugleichen, wird das BIP je Einwohner in Kaufkraftstandards (KKS) ausgedrückt. Zwischen den Urban AuditStädten bestehen beim Brutto­ inlandsprodukt pro Kopf teilweise erhebliche Unterschiede. In der Gruppe der Wissenszentren reichen die Unterschiede

zwischen den neun Städten, für die zum Zeitpunkt der Untersuchung aktuelle BIPZahlen für 2004 vorlagen, von 31.840 (Barcelona) bis 66.485 (Frankfurt a.M.) KKS pro Kopf. An zweiter Stelle nach der deutschen Bankenmetropole Frankfurt a.M. steht Düsseldorf mit 57.354 KKS, an dritter Stelle folgt Stockholm mit einem Pro-Kopf-BIP von 49.618 KKS. Als wichtigste Bestimmungsfaktoren für die Höhe des ProKopf-BIP eines Gebietes gelten zum einen der Erwerbstätigenanteil an der arbeitsfähigen Bevölkerung (Beschäftigungsquote) und zum anderen die Produktivität, d.h. die von jedem Erwerbstätigen erbrachte Arbeitsleistung, gemessen in BIP pro Beschäftigtem. Beide Faktoren können zur Steigerung des Pro-Kopf-BIP beitragen, wobei der Produktivität ein stärkerer Einfluss zugesprochen wird (vgl. Europäische Kommission 2007). Wie aus Abbildung 2 hervorgeht sind Produktivität und Beschäftigungsquote in den Untersuchungsstädten in unterschiedlichem Ausmaß an der Höhe des Pro-Kopf-BIP beteiligt. Während in Barce-

lona und Köln das vergleichsweise niedrige Pro-Kopf-BIP mit geringer Produktivität und niedriger Beschäftigungsquote einhergeht, erwirtschaften Frankfurt a.M. und Düsseldorf das höchste Pro-Kopf-BIP bei unterdurchschnittlichen Beschäftigungsquoten und hoher Produktivität. Die Gruppe der Städte Amsterdam, Kopenhagen und Stockholm steht bei den Beschäftigungsquoten und zum Teil bei der Produktivität besser da als Frankfurt a.M. und Düsseldorf. Das von diesen Städten erwirtschaftete Pro-Kopf-BIP liegt allerdings darunter. Die höchste Beschäftigungsquote hat München (72,4%). Neben der Höhe des Pro-KopfBIP ist die BIP-Entwicklung ein wichtiger Anzeiger für wirtschaftlichen Auf- bzw. Abschwung. Der Großteil der Untersuchungsstädte konnte zwischen 2001 und 2004 einen Anstieg des Pro-Kopf-BIP verzeichnen. Von den neun Wissenszentren, für die die Vergleichszahlen vorlagen, konnten sieben ein Wachstum verzeichnen. Die auffälligste Entwicklung lässt sich für Amsterdam nachweisen. Dort stieg das Pro-Kopf-BIP von 37.009 auf 46.772 KKS, das entspricht einem prozentualen Zuwachs um über 26%. Hamburg und Frankfurt a.M. erreichen im Zeitraum 2001 bis 2004 ein Zuwachs um über 8%, gefolgt von Stockholm und München. In Barcelona, Kopenhagen und Düsseldorf war das Pro-KopfBIP in diesem Zeitraum geringfügig rückläufig, wobei die Abnahme in Düsseldorf um -0,4% auf hohem absolutem Niveau erfolgte. Bei der Bewertung und Interpretation des Pro-Kopf-BIP ist allerdings zu berücksichtigen, dass dieses nicht zwangsläufig

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Düsseldorf und die anderen euro­päischen Wissenszentren auf die innerhalb einer Stadt lebende Erwerbsbevölkerung zurückzuführen ist. Je nach administrativer Größe und Abgrenzung sind Städte in unterschiedlichem Maße von (Berufs-) Pendlerverkehr betroffen. Insbesondere die wirtschaftsstarken Städte mit ihren angespannten Wohnungsmärk­ten haben große Anteile an Einpendlern zu verzeichnen, wodurch es zu einer Überbewertung des Pro-Kopf-BIP kommen kann. Dieser Pendlereffekt betrifft alle Städte des Typs Wissenszentren. Zwischen 28% (Hamburg) und knapp 54% (Frankfurt) der Beschäftigten in diesen Städten pendeln von außerhalb ein. Düsseldorf gehört zu den Städten mit einem hohen Einpendleranteil an der Beschäftigtenzahl (46%).

Wirtschaftsstruktur Zwischen den Urban AuditStädten bestehen teils erhebliche Unterschiede hinsichtlich ihrer wirtschaftsstrukturellen Ausrichtung. Dies wird deutlich anhand der unterschiedlichen Anteile der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, als der wichtigsten Beschäftigungsquelle in europäischen Städten. Für die Städte des Typs Wissenszentren ist ein hoher Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungssektor (NACE G bis P)6 charakteristisch. Im Durchschnitt liegt dieser bei knapp 84%. In Amsterdam, Kopenhagen, London und Edinburgh sind über 90% der Beschäftigten im Dienstleistungssektor tätig. In der Landeshauptstadt Düsseldorf beträgt der Anteil an Dienstleistungsbeschäftigten 83,3%. Innerhalb des Dienstleistungssektors haben einzelne Bereiche aber sehr unterschiedliche Bedeutungen für die gesamtwirtschaftliche Ent-

wicklung, daher lohnt es sich den Dienstleistungssektor differenzierter zu betrachten. Insbesondere die Bereiche Verkehr und Nachrichtenübermittlung (NACE I), sowie Finanz-, Wohnungswesen und unternehmensbezogene Dienstleistungen (NACE J bis K) spielen eine zunehmend wichtige Rolle für die nationale wie internationale Wettbewerbsfähigkeit von Städten. Unter den Wissenszentren weist die Finanzmetropole Mailand mit über 42% den größten Beschäftigtenanteil im Bereich Finanzwesen, Vermietung und Unternehmensdienstleistungen auf, gefolgt von Frankfurt a.M. mit 38,3%. In Düsseldorf arbeiten 30,3% der Beschäftigten in diesem Wirtschaftssegment, während der niedrigste Anteil von 12,4% für Barcelona gemessen wird. Im Wirtschaftsbereich Verkehr und Nachrichtenübermittlung arbeiten in Düsseldorf nur 6,6% der Beschäftigten. Im Vergleich der Wissenszentren ist dies ein eher niedriger Anteilswert. Frankfurt a.M. hat in diesen Bereichen den größten Anteil an Beschäftigten mit 13,3%.

Sozialer Zusammen­halt Der soziale Zusammenhalt innerhalb der Städte ist nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung ein wichtiges Ziel europäischer Städtepolitik. Soziale Ungleichheiten können zu gesellschaftlichen Konflikten führen, die die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beeinflussen. Die Arbeitslosenquote beschreibt die Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt und bildet somit das Ausmaß einer Gefahr für den sozialen Zusammenhalt ab.7

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Abbildung 3: Einpendleranteil an der Beschäftigtenzahl 2004 Anmerkung: Dublin, Edinburgh, Helsinki, London, Lyon und Mailand keine Daten vorhanden.

Abbildung 4: Anteil an Beschäftigten im Dienstleistungssektor (NACE G bis P) in % an den Beschäftigten insg., 2004 Anmerkung: Lyon keine Angaben vorhanden.

Tendenziell sind die Arbeitslosenquoten in den Urban Audit-Städten höher als im nationalen Durchschnitt. Die Wissenszentren werden allerdings als Städte mit einer vergleichsweise geringen Arbeitslosenquote charakterisiert. Die deutschen Wissenszentren gehören, nach Barcelona (12%), zu jenen Städten mit den höchsten Arbeitslosenquoten: Köln (11,7%), Hamburg (10,7%), Düsseldorf (9,7%) und Frankfurt a.M. (9%). Die geringsten Arbeitslosenquoten verzeichnen Edinburgh und Kopenhagen mit 5,1% bzw. 5,2%. Erhebliche Unterschiede sind zudem bei der Jugendarbeitslosigkeit auffällig. In den Metropolen London und Edinburgh sowie in Dublin ist der Anteil der jungen Arbeitslosen an allen Arbeitslosen am größten. In London sind mehr als ein Drittel der Arbeitslosen im

Soziale Probleme verschärfen Konflikte

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Düsseldorf und die anderen euro­päischen Wissenszentren

Urban Audit ist positiv

Abbildung 5: Soziale innerstädtische Disparitäten auf der Basis von Stadtteilwerten (Spannweite der Arbeitslosenquoten) 2004 Anmerkung: Amsterdam, Edinburgh, Kopenhagen, Lyon, Mailand und Stockholm= Daten für 2001. Waagerechte Linie = Gesamtstädtische Arbeitslosenquote des jeweiligen Betrachtungsjahres 2004 bzw. 2001.

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Alter unter 25 Jahren (35,7%). Weitaus geringer ist dieser Anteil in den deutschen Wissenszentren. Köln, Frankfurt a.M., München und Hamburg weisen Anteile zwischen 10 und 13% auf. In Düsseldorf liegt der Anteil bei nur 6,6%, das ist in dieser Gruppe der zweitniedrigste Wert nach Kopenhagen.8 Um innerstädtische Disparitäten nachzuweisen wird die Streuung des Merkmals „Arbeitslosenquote“ auf der Ebene von Stadtteilen untersucht. Die Städte des Typs Wissenszentren sind in unterschiedlicher Weise von der Ungleichverteilung sozialer Benachteiligung über den städtischen Raum betroffen. Während einige Städte geringe gesamtstädtische Arbeitslosenquoten bei geringer Ungleichverteilung aufweisen, ist in anderen Städten eine größere Streuung von Stadtteilen hinsichtlich der Arbeitslosigkeit festzustellen. Von den Untersuchungsstädten weist Lyon die mit Abstand größte Ungleichheit hinsichtlich der innerstädtischen Verteilung von Arbeitslosigkeit auf. Die Arbeitslosenquoten liegen dort zwischen 6,4% und 31,8%. Weitere Städte mit großen innerstädtischen Disparitäten sind Hamburg (19 Prozentpunkte), Helsinki (13,4 pp) und Köln (13,3 pp). In Düsseldorf streuen die Arbeitslo-

senquoten in den Stadtteilen zwischen 5,6% und 13,7%. Nur Kopenhagen, München und Frankfurt a.M. weisen in diesem Vergleich geringere Disparitäten auf.

Fazit Grundsätzlich ist es positiv zu bewerten, dass mit den Urban Audit-Daten der zweiten und aktuellsten Erhebungsphase 2003 bis 2006 eine umfangreichere analytische Nutzung des statistischen Datenmaterials möglich ist. Diese Datensammlung ist ein unverzichtbares Instrument für zielgerichtete Analysen und Vergleiche europäischer Städte. Dabei ist neben dem breiten Themenspektrum an Daten insbesondere die Möglichkeit der Untersuchung von zeitlichen Entwicklungen hervorzuheben. Allerdings müssen derzeit noch Einschränkungen hinsichtlich der Datenbasis in Kauf genommen werden. Das auf der Internetseite von Eurostat abrufbare Datenangebot der Urban Audit-Datenbank unterscheidet sich stark von Land zu Land und von Themengebiet zu Themengebiet. Für die Gruppe der hier ausgewählten Untersuchungsstädte führte die lückenhafte Datenlage dazu, dass für nahezu jeden untersuchten

Sachverhalt eine oder mehrere Städte unberücksichtigt bleiben mussten. Für die weitere Arbeit mit Urban Audit-Daten ist eine kontinuierliche Verbesserung der Datenverfügbarkeit wünschenswert. Positiv ist zudem die Entwicklung der europäischen Städtetypologie zu bewerten. Hiermit ist eine notwendige Voraussetzung für die Beobachtung und den Vergleich stadtstruktureller Entwicklungen geschaffen worden. Allerdings muss auch auf die Beschränkungen solcher Klassifikationen hingewiesen werden, denn eine hundertprozentig eindeutige Abgrenzung mit trennscharf zu unterscheidenden Typen ist in der Regel nicht möglich. Vielmehr existieren Überschneidungen von Klassen und in der Folge können einzelne Städte zu „Grenzfällen“ werden, die sich am Rand eines Clusters befinden und sich daher an mehr als einer Vergleichsgruppe messen lassen könnten (vgl. Difu 2007). Hinzu kommt, dass städtische Strukturen einer zeitlichen Veränderung unterliegen, woraus sich die Notwendigkeit zu einer regelmäßigen Überprüfung und ggf. Aktualisierung der Städtetypologie ergibt. Das Difu ist derzeit im Rahmen der Erstellung eines zweiten „Berichts über den Zustand europäischer Städte“ mit einer Überarbeitung der Städtetypologie von der EU Kommission Generaldirektion Regionalpolitik beauftragt. Ungeachtet der methodischen Schwierigkeiten, konnte für Düsseldorf gezeigt werden, dass sich die Stadt im Rahmen des Vergleiches der europäischen Wachstumszentren gut positioniert hat. Die Gegenüberstellung von ausgewählten statistischen Kennziffern spiegelt die positiven Rahmenbe-

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Versuch mit der Unendlichkeit / Von LIebe in der Dunkelheit dingungen Düsseldorfs hinsichtlich der EU-Ziele „Wettbewerbsfähigkeit“ und „sozialer Zusammenhalt“ wider. Auffallend sind allerdings auch die Unterschiede in den demographischen Strukturen: Während Düsseldorf im deutschlandweiten Vergleich zu den wachsenden Großstädten mit vergleichsweise großen Anteilen junger Menschen zählt, treten im europäischen Vergleich andere Städte mit weitaus stärkerem Bevölkerungswachstum und jüngerer Bevölkerungsstruktur hervor.

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

2

Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.) im Auftrag des KOSIS-Verbundes Urban Audit, Antje Seidel-Schulze und Busso Grabow: Nutzung von Urban Audit-Daten – eine Arbeitshilfe für deutsche Städte. Berlin/Nürnberg 2007

ECOTEC Research and Consulting Ltd.: State of European Cities Report. Adding value to the European Urban Audit. Hrsg.: Europäische Kommission. Luxemburg 2007 Europäische Kommission (Hrsg.): Wachsende Regionen, wachsendes Europa – Vierter Bericht über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt. Luxemburg 2007 Eurostat (Hrsg.): Urban Audit Methodological Handbook, Luxemburg 2004

1

3

Angaben laut Dr. Berthold Feldmann, Eurostat, 09.01.2009. Die im vorliegenden Bericht verwendeten Daten basieren auf Eurostat-Tabellen zum Aktualisierungszeitpunkt 13.01.2009. Datenlücken wurden, dort wo es möglich und sinnvoll war, mit älteren Daten des Erhebungszeitraumes 1999-2002 aufgefüllt. Als Unterscheidungsmerkmale wurden Indikatoren aus den Bereichen Stadtgröße, Wirtschaftstruk-

4 5

6

7

8

tur, Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfähigkeit berücksichtigten. Zum genauen Verfahren der Typenbildung siehe den Bericht von ECOTEC, State Of European Cities Report, 2007 Diese sowie die folgenden Angaben beziehen sich auf das Jahr 2004. Die Abgrenzung der deutschen Stadtregionen erfolgte anhand von Pendlerverflechtungen und auf der Grundlage von Kreisen. Die Stadtregion von Düsseldorf umfasst neben der Stadt Düsseldorf die Kreise Mettmann und Neuss. NACE = Die Statistische Systematik der Wirtschaftszweige in der Europäischen Gemeinschaft (Nomenclature statistique des activités économiques) Die Arbeitslosenquoten im europäischen Vergleich beruhen auf den Ergebnissen des Labour Force Survey (LFS) und weichen daher von den nationalen Angaben ab. Dabei muss berücksichtigt werden, dass unterschiedlich lange Ausbildungszeiten und auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen den Eintritt ins Erwerbsleben, bzw. die Suche nach einem Arbeitsplatz verzögern können. Insbesondere in Städten mit großen Hochschulen kann es zu einem solchen Verzögerungseffekt kommen.

Versuch mit der Unendlichkeit

Von Liebe in der Dunkelheit

Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Der Sturz aus großer Höhe, aus dem Licht Bedeutet freien Fall in die Unendlichkeit. Denn überschaubar ist die Strecke nicht Steht außerhalb der eigen Messbarkeit.

Aus dunkler Nacht der Sinne hatt‘ seine Liebste er geweckt. Und in Erinnerung an frühe Minne ganz zart am Ohr geneckt.

Den Aufstieg in das Firmament dagegen, sieht mancher schon als Krönung an, das Leben hat ihm sicher Recht gegeben. Verkehrte Welt, denn Endlichkeit hängt dran.

Sie schaut von ihren Händen hoch, leer geht ihr Blick zu ihm hinauf, ein kleines Leuchten sieht es doch, nimmt ihre Hand, legt seine drauf.

So bleibt der schnelle Fall ins flache Land herab. Er zeigt dem Menschen klar den eignen Kern, der Blick auf seine Schweinereien reißt nicht ab. Und jeder lernt, beginnt von neuem, macht es gern.

Am Ärmel zieht sie ihn, sie will, sie muss. Und zitternd lässt sie alle Kraft ihn spüren, formt ihre Lippen noch verzerrt zum Kuss und konnte ihn zu heißen Tränen rühren.

Er fängt sich auf und segelt eine Weile, gewinnt an Kraft, doch bleibt in Bodennähe sieht sich im Wasser spiegeln, keine Eile, Unendlichkeit ist’s, sagt er, was er sähe.

Sie fällt zurück in Dunkelheit, verliert sich, ist sich selber unbekannt in einem Raum, frei jeder Zeit. Noch lange streichelt er die Hand.

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Der Weg vom verfügbaren Einkommen zur ungebundenen Kaufkraft

Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell Marco Scharmer, Düsseldorf

Primäreinkommen – Verfügbares Einkommen

Kleinräumige Kaufkraftangaben

Verfügbares Einkommen, Indikator für den Wohlstand

Mit der Entwicklung einer Berechnungsmethode für das Primäreinkommen und das verfügbare Einkommen von privaten Haushalten auf Gemeindeebene wurden vorhandene Datenlücken in den regionalen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) geschlossen und die Basis für die weiterführende kleinräumige Berechnung der Kaufkraft gelegt.1 Stellt das verfügbare Einkommen den monetären Betrag dar, der den privaten Haushalten für den Konsum und zur Ersparnisbildung zur Verfügung steht2, so zeigt die Kaufkraft den für Konsumzwecke frei zur Ver­fügung stehende Teil des Einkommens. Kleinräumige Kaufkraftangaben stehen daher im Mittelpunkt des Interesses vieler Akteure aus Wirtschaft und Politik, da sich an diese Angaben zahlreiche Entscheidungen zur Standortwahl, Absatz­planung und Preispolitik knüpfen. Ausgehend von den kleinräumigen VGR-Einkommensergebnissen erläutert der vorliegende Beitrag die Methode zur Berechnung der regionalisierten Kaufkraft und stellt erste Ergebnisse für die nordrhein-westfälischen Gemeinden vor.

Definition der Kaufkraft Für viele Unternehmen aus den Bereichen Handel und Dienstleistungen stellen kleinräumige 52

Angaben zum Einkommen privater Haushalte3 eine unverzichtbare Informationsquelle für die Standortwahl, die Umsatz- und Absatzplanung sowie für die Preispolitik dar. Dabei sind Einkommens- und Kaufkraftangaben umso wichtiger, je größer die Nähe zwischen dem unternehmerischen Vorhaben und der regional vorhandenen Kaufkraft ist. Aber nicht nur aus unternehmerischer Sicht sind Kaufkraftdaten interessant, auch die Wirtschafts-, Struktur- und Regionalpolitik benötigen kleinräumige Angaben, um die Standortqualität und den Wohlstand einer Region zu beschreiben und hieraus Planungen abzuleiten. Im Mittelpunkt der Kaufkraftbetrachtung steht nicht so sehr die absolute Menge an Geld, welches das einzelne Wirtschaftssubjekt frei zur Verfügung hat, sondern das Verhältnis der verfügbaren Geldmenge zum Preisniveau in einer Region im Vergleich mit einer anderen Region, also eine Aussage zum regionalen Kaufkraftpotenzial. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das verfügbare Einkommen häufig mit dem Begriff der Kaufkraft assoziiert, was i. S. der Terminologie ungenau ist. Das verfügbare Ein­ kommen stellt den monetären Betrag dar, der den pri­vaten Haushalten zugeflossen ist und darf somit nicht mit dem Begriff „Kaufkraft“ gleichgesetzt werden, da die Kaufkraft auf den

Konsum abstellt und damit nicht nur das Einkommen, sondern auch das Preisniveau, also den Tauschwert, berücksichtigt. Das verfügbare Einkommen stellt daher nur eine nominale Größe dar, die für Konsumzwecke und Sparen verwendet werden kann und in die Preisunterschiede keinen Eingang finden. Für Regionalvergleiche und die Beurteilung des Wohlstandes ist das absolute Einkommen aller­dings nicht die geeignetste Größe, da hier konzeptionell bedingt regionale Unterschiede in den Preisen für Güter und Dienstleistungen unberücksichtigt bleiben. Vergleichsweise geringe verfügbare Einkommen der privaten Haushalte müssen sich nicht zwingend nachteilig auf die Lebens­verhältnisse in den Regionen auswirken. Allein das verfügbare Einkommen als Indikator für die Beurteilung des Wohlstandsniveaus einer Region heranzuziehen kann zu falschen Schlüssen führen, da nicht nur bei den Einkommen, sondern auch bei den Preisen für Güter und Dienste der Lebenshaltung zwischen den Regionen große und nur teilweise wahrgenommene Unterschiede bestehen. Die „Kaufkraft“ ist hierfür ein treffenderer Indikator, der das regionale Preis­ niveau, z. B. bei Mieten, Energiekosten oder Lebensmitteln, einbezieht und darüber ausdrückt, wel­che Gütermenge je Geldeinheit getauscht werden kann.4

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell Der Begriff der „Kaufkraft“ besitzt daher sowohl unter wirtschaftstheoretischer als auch unter ver­teilungspolitischer bzw. konsumorientierter Sichtweise eine hohe Bedeutung. In den Wirt­schaftswissenschaften wird hierunter die Kaufkraft des Geldes verstanden, d. h. der Tauschwert eines monetären Betrages auf dem Gütermarkt. Dabei hängt der Tauschwert von der am Markt angebotenen Gütermenge und dem zur Verfügung stehenden Geldbetrag ab.5 Die Kaufkraft des Geldes ist somit ein Indikator für das relative Preis­niveau in einer Region und drückt aus, welche Gütermenge je Geldeinheit getauscht werden kann. Die Datenlage erlaubt jedoch nicht die Bestimmung eines lokalen Preisniveaus auf der Kreis- oder Gemeindeebene. In der weiteren Betrachtung steht daher nicht der Wohlstandsindikator „Kaufkraft des Geldes“ im Mittelpunkt, sondern der nominale Anteil des Einkommens, also die Geldmittel, die für Konsum und Sparen zur Verfügung stehen. Bei diesem Indikator handelt sich damit um eine einkommensbezogene Größe.

Kaufkraftmodell für NRW Im hier vorgestellten Kaufkraftmodell wird der private Konsum implizit mit dem Begriff Kaufkraft gleichgesetzt. Ziel der vorliegenden Studie ist es, für die Gemeinden Nordrhein-Westfalens den Konsum der privaten Haushalte in einen gebundenen und einen ungebundenen Teil zu zerlegen. Die Fokussierung auf den nominalen Anteil des Einkommens steht der Zielsetzung der Berechnungen nicht entgegen. Führt ein Wirtschaftsteilnehmer, wie z.B. der Einzelhändler,

seine Einnahmen bzw. Umsätze in der gleichen Region dem Wirtschaftskreislauf wieder zu, so ist das Preisniveau von Einnahmen und Ausgaben bzw. von Einkommen und Konsum identisch. Folglich ist hier eine Preisniveaubereinigung redundant. Für den weitaus häufigeren Fall, dass Einkommen und Konsum nicht in der gleichen Region getätigt werden, gilt für beide ein jeweils unterschiedliches Preisniveau. Theoretisch wäre die Preisniveaubereinigung für jeden Interessenten individuell zu berechnen, was auf Grund der Datenlage jedoch nicht umzusetzen ist.

Anknüpfung an die VGR Zahlreiche an die amtliche Statistik gerichtete Anfragen belegen, dass für Gemeindeergebnisse der Kaufkraft ein großes Interesse besteht. Nachdem ein Konzept zur Regionalisierung privater Einkommen auf die Gemeindeebene entwickelt und erste Ergebnisse veröffentlicht wurden, ist die Berechnung der Kaufkraft auf Basis dieser Daten der nächste konsequente Schritt.6 Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte auf Gemeindeebene wurden mittels zahlreicher eng mit den Ausgangskomponenten korrelierter Schlüsselgrößen berechnet. So wird für die weiterführende Kaufkraftberechnung ein solides Fundament gelegt. Das hier vorgestellte Kaufkraftmodell geht daher von den Gemeindeergebnissen zum verfügbaren Einkommen aus. Diese regional tief gegliederten Ergebnisse beziehen alle einkommensrelevanten Größen ein. Durch dieses Vorgehen ist eine hohe Qualität bei der Regionalisierung gewährleistet.

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Erst auf der tiefsten regionalen Ebene wird das verfügbare Einkommen in die Komponenten Konsum und Sparen zerlegt. Die privaten Konsumausgaben stellen einen festen Begriff in der VGR-Verwendungsrechnung dar, daher ist eine methodische Einbettung in die VGRSystematik voll gegeben. Mit Blick auf die Zielsetzungen von Kaufkraftindikatoren wird der Konsum in eine gebundene und eine ungebundene Komponente zerlegt. Der ungebundene Teil des Konsums der privaten Haushalte wird implizit mit dem Begriff „ungebundene Kaufkraft“ und der gebundene Teil des Konsums mit der „gebundenen Kaufkraft“ gleichgesetzt.

Kaufkraft aus wirtschaftstheoretischer und konsumorientierter Sicht

Vom verfügbaren Einkommen zur Kaufkraft Das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte ergibt sich im Konzept der VGR aus der Summe von empfangenem Arbeitnehmerentgelt, den übrigen Einkommen aus Erwerbstätigkeit sowie den Vermögenseinkommen (auch Pri­märeinkommen genannt) zuzüglich der empfangenen sowie abzüglich der geleisteten Transferleistun­gen. Als empfangene Transferleistungen gelten vor allem monetäre Leistungen der Sozialversicherungen, Pensionen und Beihilfen, Sozialhilfe, Kinder- und Erzie­hungsgeld sowie Leistungen aus privaten Sicherungssystemen. Als geleistete Transferleistungen gelten Sozialbeiträge, Einkommenund Vermögenssteuern sowie sonstige geleistete direkte Steuern und Abgaben. Im Kontensystem der VGR ergibt sich das verfügbare Einkommen als Saldo des sekundären Einkommensverteilungskontos und stellt somit das Einkommen nach der Umverteilung dar.

Kaufkraft auf Gemeindeebene

Transferleistungen

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell

Ausgaben für existenzielle Bedürfnisse

Definition der gebundenen Kaufkraft

Abbildung 1: Einkommensverwendung der privaten Haushalte 2004

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Zusammen mit den betrieblichen Versorgungsansprüchen im Rahmen der VGR-Verwendungsrechnung fließt es dem Sparen und dem Konsum zu.7 Allerdings sind die privaten Haushalte in ihren Konsumentscheidungen nicht völlig frei. Von dem für Konsumzwecke verfügbaren Teil des Einkommens sind zunächst die Geldbeträge für die existentiellen Bedürfnisse, wie Wohnen, Nahrungsmittel und Kleidung, herauszurechnen. Die Datenlage erlaubt es jedoch nicht, regional differenzierte Beträge für z. B. Nahrungsmittel oder Kleidung zu bestimmen. Würde hingegen hierfür ein als Minimum erachteter Betrag für alle Einwohner angesetzt, so würde sich dadurch lediglich das Niveau, nicht aber die Kaufkraftstruktur zwischen den Gemeinden verändern. Damit wäre die Aussage der Ergebnisse gegenüber einer Nichtberücksichtigung unverändert. Die Güter des täglichen Bedarfs unberücksichtigt zu lassen ist auch sinnvoll, weil aus Sicht des Einzelhandels der Kauf von z. B. Nahrungsmitteln und Kleidung gebundener Konsum darstellt. Vom verfügbaren Einkommen werden daher im hier vorgestellten Modell lediglich die Nettoersparnisbildung, die tatsächlichen und unterstellten Mieten, die Mietnebenkosten sowie Unterhaltszahlungen an Dritte abgezogen. Weiterhin könnten auch Aufwendungen für den Beruf zu den gebunde­

nen Ausgaben gezählt werden, was sich aber auf Grund der mangelnden Verfügbarkeit von statistischen Angaben als schwierig erweisen dürfte. Letztlich wird der private Konsum somit in eine gebundene und eine unge­bundene Komponente mit zuvor definierten Teilkomponenten zerlegt.

Die ungebundene Kaufkraft Im Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stehen die „ungebundenen Konsumausgaben“, also die „ungebun­dene Kauf­ kraft“. Vom Konsum der privaten Haushalte müssen daher deren gebundenen Konsumausgaben abgezogen werden. Als gebunden werden jene Ausgaben definiert, die kurzund mittelfristig festgelegt und somit nicht durch anderweitigen Konsum substituierbar sind. Hierzu gehören vor allem die Ausgaben für das Wohnen, im Einzelnen also Mieten, Ener­ giekosten und Ausgaben für die Wohnungsinstandhaltung. Mieten sind Entgelte für die Nutzung von Gebäuden und Wohnungen. Sie stellen den Kauf einer Dienstleistung dar – also das Überlassen der Räumlichkeiten. Hierzu zählen u. a. auch die Prämien für Gebäudeversicherungen, die Grundsteuer, Entgelte für Hausmeisterleistungen, Umlagen für Wasser, Abwasserbeseitigung, Müllabfuhr, Straßenreinigung und Schornsteinfegerleistungen.

Die Wohnungsmieten beinhalten ein unterstelltes Entgelt für eigen genutzte Wohnungen und Gebäude, welches sich an der Höhe der Mieten von vergleichbaren Mietobjekten orientiert. Die unterstellten Mieten umfassen auch unterstellte Mietzahlungen für Garagen und Stellplätze, die zur Wohnung gehören. Die so genannten Betriebskosten, also Kosten für Heizung, Strom und Warmwasserversorgung, sind nicht in den Mieten enthalten und müssen als eigene Position betrachtet werden. Die Ausgaben für Mieten und Mietnebenkosten sind im Rahmen der VGR-Systematik für die Mieter Konsumausgaben; um zur „ungebundenen Kaufkraft“ zu gelangen, müssen diese vom Konsum abgezogen werden.8 Auch Unterhaltszahlungen an nicht im Haushalt lebende Dritte zählen zu den gebundenen Ausgaben, da hierdurch die für den Konsum frei zur Verfügung stehende Kaufkraft geschmälert wird. Die Position Unterhaltszahlungen an Dritte stellt auf Grund der lückenhaften Datenlage eine problematische Komponente dar. Grundsätzlich verringern diese Unterhaltszahlungen die Kaufkraft der leistenden Haushalte und erhöhen gleichzeitig die Kaufkraft der empfangenen Haushalte. Hier handelt es sich also nicht um eine sektorale Umverteilung zwischen Arbeitgebern oder staatlichen Stellen an die privaten Haushalte, sondern um eine regionale Umverteilung innerhalb des privaten Haushaltssektors. Gleichwohl müssen diese Zahlungen möglichst vollständig in der Modellrechnung berücksichtigt werden, da diese die regionale Kaufkraft deutlich beeinflussen können. Neben den Unterhaltszahlungen an nicht im Haushalt lebende Studierende

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell sind weitere Zahlungen die Transfers an ältere hilfsbedürftige Familienmitglieder, Unterhaltszahlungen an Kinder und geschiedene Ehepartner. Im hier vorgestellten Modell werden aber nur die Unterhaltszahlungen Studierende berücksichtigt. Es wird implizit unterstellt, dass sich alle übrigen Zu- und Abflüsse gleichmäßig auf die Gemeinden verteilen und somit ausgleichen. Diese Annahme scheint mit der Realität vereinbar zu sein, während die gleiche Annahme bei den Zahlungen an Studenten wegen der begrenzten Anzahl an Gemeinden mit Hochschulorten die Ergebnisse verzerren würde. So stellen die Unterhaltszahlungen von Eltern an ihre studierenden Kinder Transaktionen über Gemeinde­ grenzen dar und es muss davon ausgegangen werden, dass ein Großteil dieser Unterstützung nicht am Heimatort, sondern am Semesterwohnort in Konsum umgewandelt wird. Es mag aus Sicht der Konsumenten sinnvoll erscheinen, die Konsumausgaben für die Deckung anderer existenzieller Bedürfnisse wie Kleidung und Lebensmittel ebenfalls als gebunden anzusehen. Im Hinblick auf die oben benannte Zielgruppe wird jedoch darauf verzichtet, da die Ausgaben für diese Positionen, zumindest aus Sicht der betreffenden Sparten, als kaufkraftrelevantes Einkommen angesehen werden. Nachdem die „ungebundene Kaufkraft“ nun sachlich eingegrenzt ist, bleibt die Frage, ob die Kaufkraftströme zwischen den Gemeinden ebenfalls in dem Modell berücksichtigt werden sollten. Unter diesem Gesichtspunkt stellt sich die Wahl zwischen einer Anrechnung am Wohnort und einer umsatzorientierten Ermittlung.

Über die VGRSys­te­matik hinaus Wie oben erläutert, wird die Systematik der VGR erst verlassen, nachdem das verfügbare Einkommen auf der tiefsten regionalen Ebene berechnet wurde. Das bedeutet, dass damit alle vorhandenen und geeigneten Datenquellen genutzt und ein höchst mögliches Maß an Genauigkeit bei der Regionalisierung der Ausgangsposition erreicht wird. Bei der Methodenausarbeitung stand das Ziel im Vordergrund, die Berechnungen auf aktuelle und regelmäßig erhobene Daten, vor allem die Einkommen und Verbrauchsstichprobe (EVS) sowie den Mikrozensus, zu stützen. Damit ist grundsätzlich eine fortwährende und über einen längeren Zeitraum methodisch vergleichbare Durchführung gewährleistet. Allerdings liegen nicht alle Datenquellen für jedes Jahr aktuell vor. Je weiter der Erhebungszeitpunkt hinter dem Berechnungsjahr zurückliegt, desto mehr nimmt die Datenqualität ab. Allein schon auf Grund der jährlichen Inflation war daher die Entwicklung von geeigneten Fortschreibungsmethoden unverzichtbar. Für einen Zeitraum von fünf Jahren, wie es bei der EVS der Fall ist, sollte eine Fortschreibung

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mit der durchschnittlichen Wachstumsrate der jeweiligen Merkmale in den vergangenen fünf Jahren noch zulässig sein. Bei einigen Schlüsseln erschien die Fortschreibung nicht notwendig, da sie allein auf die Relationen zwischen den Gemeinden Einfluss haben, und sich diese innerhalb eines vergleichbar kurzen Zeitraumes i. d. R. nur sehr träge verändern. Mit anderen Worten, hier kommt allenfalls eine Trendkomponente, nicht aber eine Strukturkomponente zum Tragen. Es ist also zwingend erforderlich, über die Systematik der VGR hinauszugehen, da eine Untergliederung der privaten Konsumausgaben auf Landesebene nicht vorliegt. Hier wird zunächst auf die EVS aus dem Jahr 2003 abgestellt. Diese ist zwar nicht mit der VGR direkt verknüpft, liefert aber als wichtigste Datenquelle über die Einnahmen und Ausgaben der privaten Haushalte – mit Ausnahme der Unterhaltszahlungen an nicht im Haushalt lebende Dritte – alle in Abbildung 2 aufgeführten Konsumpositionen für die Landesebene.9 Die Daten der EVS müssen dann mittels geeigneter Schlüssel auf die Gemeinden verteilt werden.

EVS 2003

Abbildung 2: Gebundene und ungebundene Konsumausgaben

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell

Abbildung 3: Kaufkraftkomponenten und Schlüsselgrößen

Abbildung 3 zeigt die im Rahmen des Kaufkraftmodells eingehenden Einkommens- und Konsumkomponenten sowie deren Schlüsselgrößen für die Regionalisierung.

Gemeinde­ ergebnisse Die Zielgröße des hier vorgestellten Modells ist die „ungebundene Kaufkraft“ auf Gemeindeebene, welche um Ausgaben bereinigt wurde, die kurz- und mittelfristig nicht durch anderweitigen Konsum substituierbar sind. Die „ungebundene Kaufkraft“ betrug im Jahr 2004 in NRW 220,5 Mrd. 56

Euro. Für Regionalvergleiche wird üblicherweise auf die Einwohnerzahl normiert. Danach standen rein rechnerisch jedem Einwohner 12 199 Euro „ungebundene Kaufkraft“ zur Verfügung. In den kreisfreien Städten des Landes lag die Kaufkraft je Einwohner mit 11 724 Euro etwas unter dem Landesdurchschnitt, wogegen in den kreisangehörigen Gemeinden mit 12 529 Euro ein leicht überdurchschnittlicher Wert gemessen wurde. Abbildung 4 zeigt wie sich nach dem Kaufkraftmodell im NRW-Landesdurchschnitt das verfügbare Einkommen auf

die Komponenten der „gebundenen“ und „ungebundenen Kaufkraft“ aufteilt. Die „ungebundenen“ Ausgaben für Nahrungsmittel, Getränke, Bekleidung, Gesundheitspflege, sonstige Gebrauchsgüter, die Teilnahme am (Straßen-) Verkehr, Bildung, Unterhaltung, Kultur sowie sonstige Freizeit­aktivitäten haben hiernach einen Anteil am verfügbaren Einkommen von zwei Dritteln. Dieser Teil des Einkommens steht also für den „ungebundenen Konsum“ zur Verfügung. Auch überrascht es nicht, dass knapp ein Viertel des verfügbaren Einkommens für „gebundene“ Ausgaben verwendet wird, die direkt oder indirekt mit den Kosten für Wohnen und Energie in Zusammenhang stehen. Werden die Pro-Kopf-Ergebnisse zur „ungebundnen Kaufkraft“ betrachtet, so fallen zunächst die deutlichen Disparitäten zwischen den einzelnen Gemeinden auf. Die Stadt Bad Honnef weist mit 35 754 Euro – wie auch beim verfügbaren Einkommen – den höchsten pro Kopf-Wert auf. Demgegenüber wurde in der Gemeinde Selfkant im Kreis Heinsberg mit 8 875 Euro die niedrigste „ungebundene Kaufkraft“ je Einwohner gemessen. Wie auch an dem großen Abstand zur zweitplatzierten Gemeinde Issum (27 914 Euro) zu sehen ist, handelt es sich bei den Ergebnissen am oberen und unteren Rand um statistische Ausreißer, deren extreme Ergebnisausprägungen vor allem durch die spezifischen Eingangsgrößen im „verfügbares Einkommen“ begründet sind. Wie Abbildung 5 „Methodische Aspekte und Bewertung kleinräumiger Ergebnisse der ungebundenen Kaufkraft“ erläutert, erklären sich die großen Unterschiede zwischen den Gemeinden in

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell den Pro-Kopf-Angaben zum einen durch regionale Besonderheiten sowie durch geringe verfügbare Einkommen, die den Rahmen für das Kaufkraftpotential von vornherein vorgeben. Als Beispiel sei hier die Gemeinde Schöppingen angeführt, dessen Bevölkerungszahl von 7 801 Einwohnern rund 500 Personen beinhaltet, die in einem Asylbewerberwohnheim gemeldet sind und auf Grund ihres Status eine sehr geringe Kaufkraft besitzen. Ein bloßer Vergleich der Einkommen pro Kopf wird damit durch die spezifischen örtlichen Gegebenheiten verzerrt. Aus diesen Gründen sollten „Überinterpretationen“ einzelner Gemeindeergebnisse ohne Einbeziehung von regionalen Besonderheiten vermieden werden. Ein bloßer Vergleich der Kaufkraft je Einwohner zwischen allen 396 Gemeinden in NRW verbietet sich aus den genannten methodischen Gründen. Hierfür sind die spezifischen

Besonderheiten vor Ort, wie die Bevölkerungs- und Einkommensstruktur, einfach zu unterschiedlich. Ein Gemeindevergleich i. S. einer Einordnung in das Gesamtgefüge der klein-

räumigen Kaufkraft in NRW ist nur sinnvoll, wenn zuvor die Gemeinden in möglichst homogene Gruppen eingeteilt werden und hernach ein Vergleich der Einzelergebnisse

Abb. 4: Verwendung des verfügbaren Einkommens in Nordrhein-Westfalen 2004

Abb. 5: Methodische Aspekte und Bewertung kleinräumiger Ergebnisse der ungebundenen Kaufkraft

Kleinräumige Angaben bedürfen immer einer Erklärung zum Konzept, den Datenquellen und den regionalen Besonderheiten. Dieses gilt vor allem für die höchsten und niedrigsten Werte, bei denen es sich nicht selten um sta-tistische Ausreißer handelt. Die Kaufkraftberechnung nutzt die Gemeindeergebnisse zum verfügbaren Einkom-men als Basis, in welche alle einkommensrelevanten Größen (Primäreinkommen und Transferzahlungen) einbezogen sind. Die regionalisierten Einkommensaggregate für Gemeinden werden ebenso wie die Ergebnisse für Deutschland, für die Bundesländer sowie die kreisfreien Städte und Kreise nach Maßgabe der laufenden und europaweit abgestimmten VGR-Methoden erstellt. Durch dieses Vorgehen ist eine hohe Qualität bei der Regionalisierung gewährleistet, da einheitliche Datenquellen zur Anwendung kommen. Die ungebundene Kaufkraft der privaten Haushalte entspricht dem Teil des verfügbaren Einkommens, der für den Konsum zur Verfü-gung steht. Allerdings ist der „private Haushalt“ eine sektorale Begriffsbezeichnung der VGR, die nicht den klassischen Privathaushalt bezeichnet, sondern auch alle Personengesellschaften und alle privaten Organisationen ohne Erwerbszweck umfasst. Das Problem von statistischen Ausreißern entsteht nicht erst bei der Kaufkraftberechnung, sondern tritt bereits bei der Berechnung des Primäreinkommens nach VGR-Methode auf. Datengrundlage für die Komponenten des Primäreinkommens ist u. a. die Einkommenssteuerstatistik nach Ge-meinden. Die Extremwerte am oberen und unteren Ende der Gemeinderangliste spiegeln i. d. R. ausgefal-lene Ergebnisse des Einkommensteueraufkommens wider. • Bei den Ausreißern nach oben liegen fast immer weit überdurchschnittliche Einkünfte aus Gewerbe, aus Vermietung und Verpachtung oder aus Kapitalvermögen vor, die in kleineren Gemeinden durch einzelne dort steuerlich erfasste Unternehmer geprägt sein können. • Bei Gemeinden am unteren Ende der Rangfolge handelt es sich häufig um grenznahe Gebietseinheiten mit einem Hohen Anteil von Einwohnern mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die ihren Arbeitsplatz im Ausland haben und auch im Ausland steuerlich veranlagt werden. Sie entrichten in Deutschland keine Einkommenssteuer. Damit sind diese Einkommen auch nicht in der inländischen Einkommenssteuerstatistik erfasst. • Daneben gibt es aber auch eine Reihe von Gemeinden, bei denen die Ergebnisse im Wesentlichen durch Besonderheiten in der Bevölkerungsstruktur bestimmt werden (z. B. hoher Anteil von Studenten oder Personen über 65 Jahren). Auf ein Gemeindeergebnis negativ durchschlagen kann auch ein überdurchschnittlicher Anteil von Bevölkerungsgrup-pen, die ausschließlich finanzielle Transferleistungen beziehen (z. B. Heimbewohner, Asylbewerber) und kein Primäreinkommen erhalten. Ein bloßer Vergleich der durchschnittlichen Einkommen pro Kopf wird also mitunter durch die spezifischen örtlichen Gege-benheiten verzerrte Ergebnisse liefern und kann dadurch die Aussagekraft der Ergebnisse vor allem von vergleichs-weise kleineren Gebietseinheiten beeinträchtigen. Aus diesen Gründen sollten „Überinterpretationen“ einzelner Gemeindeergebnisse ohne Einbeziehung von regionalen Besonderheiten vermieden wer-den. Bei der Analyse und der Ergebnisinterpretation sind immer die örtlichen Besonderheiten zu be-achten.

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell

Ober-, Mittel- und Grundzentren

Pendlerverflechtung

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vorgenommen wird. Für die Einteilung in möglichst homogene Gemeindegruppen sind – von den Einwohnerzahlen bis hin zur Clusteranalyse mit zahlreichen Merkmalen – viele Optionen der Gruppenbildung denkbar. Der Anwender von regionalökonomischen Analysen muss sich also entscheiden, auf welche regionalen Einheiten bzw. Einteilungen er Bezug nimmt. In der Fachdiskussion um unterschiedliche Abgrenzungsverfahren herrscht Unklarheit über eine adäquate Regionalisierung.10 Einerseits gibt es die von der amtlichen Statistik zur Verfügung gestellten administrativen Abgrenzungen nach Bundesländern, Regierungsbezirke, Kreisen und Gemeinden, anderseits lassen sich auch kreis- bzw. gemeindescharfe abgegrenzte Raumordnungs- und Arbeitsmarktregionen bilden. Die Abgrenzung wird also entweder nach administrativen oder funktionalen Gesichtspunkten vorgenommen. Verwaltungseinheiten sind historisch gewachsen. Aus historischen Gegebenheiten haben sich administrative Verwaltungsstrukturen für bestimmte Regionen entwickelt und spiegeln häufig politische Prämissen für die Verteilung von Fördermitteln wider. Mit diesen räumlichen Abgrenzungen, wie sie sich auch im Landesentwicklungsplan wieder finden, sollen die planerischen Voraussetzungen für die Verwirklichung von gleichwertigen Lebensverhältnissen in allen Teilen des Landes und für die Sicherstellung einer ausgewogenen Siedlungsstruktur geschaffen werden.11 Der fundamentale Unterschied zur funktionalen Abgrenzung ist hier, dass Verwaltungseinheiten häufig nicht (mehr) mit wirtschaftlichen Räumen übereinstimmen.

Dagegen basieren funktional abgegrenzte Regionen auf den wirtschaftlichen Aktivitäten im Raum. Sie stellen also relativ eigenständige ökonomische Einheiten dar, können sich im Zeitablauf wesentlich schneller ändern als Verwaltungseinheiten und beinhalten ein Zentrum mit dem darauf ausgerichteten Umland.12 Die Funktionsgebiete sind nach den Prinzipien der zentralörtlichen Gliederung in den folgenden Abstufungen geordnet, die den Kommunen – entsprechend ihrer Größe und Bedeutung für die Region – Funktionen zuerkennt. • Oberzentren (oberzentrale Funktionen, wie z.B. Universitäten) • Mittelzentren (mittelzentrale Funktionen, wie z.B. Krankenhäuser, Berufsschulen) • Grundzentren (Grundbedarf für die Versorgung der Bevölkerung) Solche funktionalen Räume werden i. d. R. unter Verwendung von (Pendler-)Verflechtungen zwischen Wohn- und Arbeitsort definiert. Dieser Ansatz basiert darauf, dass sich in den jeweiligen Zentren die ökonomischen Aktivitäten konzentrieren und die Arbeitskräfte aus dem Umland in diese Zentren einpendeln. Die Ergebnisse der Pendlerrechnung NRW belegen eindrucksvoll, dass der Trend zur Suburbanisierung mit einem Auseinanderfallen von Wohn- und Arbeitsort in den vergangenen Jahren weiter stark zugenommen hat.13 Durch wirtschaftliche Aktivitäten in den Zentren entstehen Leistungen, die als Gegenleistung den Einwohnern am Wohnort als Verdienste, Gewinne und Transferzahlungen zufließen. Die zum Teil deutlichen Differenzen

zwischen den Einkommen in den nordrhein-westfälischen Kommunen hat eine Reihe von Gründen. So führen die absolute Höhe und die unterschiedlichen Bedeutungen der einzelnen Einkommensarten im Primär­einkommen der privaten Haushalte zu regionalen Einkommensdifferenzen. Weiterhin führen insbesondere die über die Berufspendler aus den wirtschaftlichen Kernregionen abfließen­den Einkommen zu den teilweise beträchtlichen regionalen Einkommensunterschieden.14 Da die im vorliegenden Beitrag definierte kleinräumige Kaufkraft der bedeutendste Bestandteil des verfügbaren Einkommens ist, hat auch hier die Stadt-Umland-Beziehung einen entscheidenden Einfluss auf die Höhe der den Einwohnern in den Gemeinden grundsätzlich zur Verfügung stehenden Kaufkraft. Für regionalökonomische Analysen von kleinräumigen Kaufkraftergebnissen stellen daher die über Pendlerverflechtungen definierten Arbeitsmarktregionen die geeignetste Option dar homogene Gemeindegruppen zu bilden. Im Folgenden werden daher die Gemeindeergebnisse zur „ungebundenen Kaufkraft“ nach 18 nordrheinwestfälischen Arbeitsmarktregionen dargestellt.15 Sieht man von den statis­ tischen Ausreißern ab, so ist festzustellen, dass innerhalb der einzelnen Arbeitsmarkt­ regionen die Diskrepanzen der „ungebundenen Kaufkraft“ je Einwohner deutlich geringer sind, als bei der landesweiten Betrachtung. Die bestehenden Unterschiede resultieren aus den regionalen Spezifika und aus den siedlungsräumlichen Grundstrukturen in den Gemeinden. Je nach dem, ob es sich um eine zentrale oder um

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Ein kleinräumiges Kaufkraftmodell eine ländliche Gemeinde handelt, differieren natürlich die Kaufkraftergebnisse. Tendenziell wird eine geringe Kaufkraft für die eher ländlich geprägten und verkehrstechnisch weniger gut erschlossenen Regionen gemessen. Dagegen zeigen viele Kernstädte in den Arbeitsmarktregionen, wie z. B. Bielefeld, Düsseldorf, Köln und Bonn einen Gürtel von Umlandgemeinden, in denen häufig eine höhere Kaufkraft je Einwohner erreicht wird. In Aachen, Krefeld und Paderborn verfügt die Bevölkerung gegenüber dem Umland über unterdurchschnittliche Kaufkraftressourcen. Für Nordrhein-Westfalen kann somit nur bedingt davon ausgegangen werden, dass in Ballungszentren mit hoher Bevölkerungs- und Arbeitsplatzdichte auch eine hohe Kaufkraft vorhanden ist. Die Ursache liegt darin, dass viele Haushalte mit hohen Einkommen vom Ballungszentrum in das Umland ziehen. Im Ergebnis fallen somit der Ort der Einkommensentstehung sowie der Ort empfangenen Einkommen, und damit auch der Kaufkraft, auseinander. Die Berufseinpendler „transferieren“ in hohem Maß ihr in den Städten erzieltes Einkommen aus den Kerngemeinden in die benachbarten Wohngemeinden.16 Angaben über die „Ungebundene Kaufkraft“ in den Arbeitsmarktregionen NRW 2004 sind beim LDS NRW erhältlich.

Zusammenfassung und Bewertung In den Gemeinden NordrheinWestfalens ist die Kaufkraft sehr unterschiedlich verteilt. Die festgestellten regionalen Unterschiede haben verschiedene Ursachen und bedingen sich gegenseitig. Insbesondere das verfügbare Einkom-

men, die Erwerbsbeteiligung sowie die Branchenstruktur – die sich wie im Ruhrgebiet auch durch die Historie unterschiedlich entwickelt hat – und das damit verbundene Einkommensniveau vor Ort spielen eine Rolle. Zudem hat die Stadt-Umland-Beziehung einen prägenden Einfluss auf die regionale Kaufkraft. Mit steigender Siedlungsdichte erhöhen sich i. d. R. auch die Anteile der Mietwohnungen. Das Mietpreisniveau liegt in Ballungsräumen mit überdurchschnittlichem Einkommen häufig höher, was folglich die „ungebundene Kaufkraft“ reduziert. Hohe Einnahmen gehen damit häufig mit hohen Ausgaben einher. Somit muss ein vergleichsweise hohes verfügbares Einkommen bei gleichzeitig hohem örtlichem Preis­niveau in einer Region anders beurteilt werden als ein vergleichsweise gerin­ges verfüg­bares Einkommen bei niedrigen Preisen vor Ort. Grundsätzlich muss bei den Ergebnissen beachtet werden, dass es sich bei den Gemeindeangaben um fundierte Schätzungen handelt, denen ein mehr oder minder großer Schätzfehler innewohnen kann. Mit jeder regio­nalen Disaggregation verschlechtert sich naturgemäß die Datenbasis, wodurch den klein­räumigen Ergebnissen tendenziell eine geringere Genauigkeit zukommt als den Angaben der jeweils höheren Aggregationsebene. Vielfach erklären sich die großen Ausschläge einzelner Gemeindeergebnisse durch spezifische Besonderheiten vor Ort. Da die gebundenen Konsumausgaben und das Sparen tiefstmöglich in Komponenten zerlegt und unter besonderer Berücksichtigung jeder ein­ zelnen Teilgröße auf die Gemeinden geschlüsselt werden,

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ist aber ten­denziell ein Ausgleich möglicher Schätzfehler der einzelnen Ausgabenpositionen zu erwarten. Zudem wurde mit dem verfügbaren Einkommen auf Gemeindeebene ein solides Fundament für die Kaufkraftberechnungen gelegt. Hinsichtlich der Zielsetzung des hier vorgestellten Kaufkraftmodells und der Verwendung durch die Statistiknutzer sollten die theoretischen Einschränkungen nicht überbewertet werden. Über die Darstellung der Schätzmethoden wird auf vorliegende Schwachstellen hingewiesen, was die Datennutzer ebenso vor einer „Überinterpretation“ einzelner Gemeindeergebnisse bewahren sollte.

Anmerkungen 1

Vgl. Scharmer, Marco, Zur Möglichkeit der Regionalisierung privater Einkommen auf die Gemeinden NRWs, in: Statistische Analysen und Studien NRW, hrsg. vom LDS NRW, Band 35, 2006, S. 3ff. 2 Vgl. Scharmer, Marco, Die Einkommenssituation der privaten Haushalte in den Gemeinden NRWs, in: Statistische Analysen und Studien NRW, hrsg. vom LDS NRW, Band 43, 2007, S. 3ff. 3 Da statistische Angaben für einen getrennten Nachweis unterhalb der nationalen Ebene fehlen, schließt der Begriff private Haushalte in den regionalen VGR die privaten Organisatio­nen ohne Erwerbszweck ein. 4 Vgl. Scharmer, Marco, a. a. O., Band 43, 2007, S. 15. 5 Dieser Zusammenhang trifft jedoch in monopol- oder oligopolartigen Marktverhältnissen nicht bzw. nicht vollständig zu. 6 Vgl. Scharmer, Marco, a. a. O., Band 35, 2006, S. 3 ff und Band 43, 2007, S 3ff 7 Vgl. Brümmerhof, Dieter, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, 7. Auflage, 2002, S. 45 ff. 8 Vgl. Brümmerhof, Dieter, a. a. O., S. 82 und Brümmerhof, Dieter, Lexikon der VGR, 3. Auflage, 2002, S. 264 f. 9 Vgl. Brümmerhof, Dieter, a. a. O., 2002, S. 219. 10 Vgl. u.a Lange, K., Zischeck, C., Zur Messung und Aussagekraft regionalstatistischer Daten. In: Jahrbücher für Nationalökonomie

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und Statistik 224, 2004, S. 103114; Eckey, H.-Fr., Kosfeld, R., Türck, M., Abgrenzung deutscher Arbeitsmarktregionen, in: Raumforschung und Raumordnung 64, 2006, S. 299-309. Die Grundsätze und Ziele zur Siedlungsentwicklung des Landes NRW sind im Gesetz zur Landesentwicklung (LEPro) und der Landesentwicklungsplan (LEP) enthalten. Vgl. Eckey, H.-F., Schwengler, B., Türck, M., Vergleich von deutschen Arbeitsmarktregionen, Discussion Paper No. 3/2007, hrsg. vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, S. 5 ff. Vgl. Scharmer, Marco, Pendlerverflechtungen in NRW – Analyse der revidierten Ergebnisse, in: Statistische Analysen und Studien, hrsg. vom LDS NRW, Band 22, 2005, insbesondere S. 33 ff. Vgl. Scharmer, Marco, Die Einkommenssituation der privaten Haushalte in den Gemeinden NRWs, in: Statistische Analysen und Studien, hrsg. vom LDS NRW, Band 43, 2007, S. 7 ff. Die Abgrenzung wurde von Eckey, H.-Fr., Kosfeld, R., Türck, M., a. a. O., 2006 vorgenommen und wird auch vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit verwendet. Scharmer, Marco, a. a. O., 2007, Band 43, S. 7 ff.

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Deutschlands Abschneiden bei den Olympischen Spielen 2008

Die süß-saure Peking-Ente Luca Rebeggian, Hannover

Der Erstabdruck dieses Artikels erfolgte in Heft 9/ 2008 der Statistischen Monatshefte Nieder­ sachsen

Wie soll das Abschneiden der deutschen Olympia-Mannschaft in Peking bewertet werden? In den Medien überwiegt eine moderate Zufriedenheit, wenngleich kritische Stimmen vor allem die dürftigen Ergebnisse in den sogenannten „Kernsportarten“ Leichtathletik, Schwimmen und Boxen bemängeln. Tatsache ist: Von den Tagen einstiger DDR-Vorherrschaft ist man weit weg und der Abstand zu den Dominatoren aus China und den Vereinigten Staaten ist mittlerweile gewaltig. Allerdings befindet man sich weiterhin im gesicherten Mittelfeld der Top

Tabelle 1: Erfolg bei Olympia gestern und heute

Ten, auf Augenhöhe mit anderen großen Sportnationen und weit vor den ehemaligen Konkurrenten aus dem Ostblock. Die Frage nach dem Erfolg bei Olympia ist nicht nur für die Sportwissenschaft interessant: Wie gerade in Peking deutlich wurde, hat der Sport eine beträchtliche politische und soziale Dimension, und das Abschneiden bei dem größten Sportfest der Welt, den Olympischen Sommerspielen, wird mit Vorliebe als Spiegelbild der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit eine Landes genutzt (und nicht selten missbraucht).

Untersuchungen der Determinanten von olympischem Erfolg haben daher eine lange Tradition in den Sozialwissenschaften.1 Dabei wird analysiert, inwieweit bestimmte wirtschaftliche oder soziale Faktoren das Abschneiden bei olympischen Spielen beeinflussen können. Das Spektrum der verwendeten statistischen Techniken reicht dabei von einfachen Korrelationsanalysen über multiple lineare Regressionen, neuronale Netze bis hin zu Tobit-Modellen. Die Ergebnisse sind insgesamt recht eindeutig. Bereits ein kurzer Blick auf die „ewige Bestenliste“ (Tabelle 1) offenbart, dass bevölkerungsreiche und wohlhabende Staaten bessere Erfolgschancen besitzen: Die sportlichen G8 sind den wirtschaftlichen ziemlich ähnlich. In der Tat werden das Bruttoinlandsprodukt und die Einwohnerzahl in praktisch allen statistischen Studien als Erfolgsfaktoren ausgemacht. Dies überrascht nicht: Wenngleich der Zusammenhang nichtlinear ist, ist ohne eine gute Infrastruktur und genügend Freizeitmöglichkeiten für die Bevölkerung Leistungssport auf breiter Basis kaum denkbar.2 Ebenso gelten die Medaillengewinne vergangener Olympiaden als guter Indikator für künftigen Erfolg: Große Sportnationen besitzen ein gewachsenes Know-how, das über längere Zeiträume eine Basis für Erfolge bildet.

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Die süSS-saure Peking-Ente Weniger trivial sind andere Faktoren, die relativ konstant aus den Ergebnissen der Studien hervorstechen: So schneiden kommunistische Länder stets besser ab, was erneut auf die politische Dimension des Sportes hinweist: Seit den fünfziger Jahren nutzen kommunistische Regierungen Olympia gezielt als Präsentationsplattform für die angebliche Überlegenheit des eigenen gesellschaftlichen Systems. Dies zeigt sich heute noch im Falle Kubas und Nordkoreas und am deutlichsten beim Gastgeberland China. Ebenso profitieren viele Ex-Sowjet-Republiken immer noch von diesem Erbe. Interessant ist die Tatsache, dass die jetzige Sport-Großmacht China erst 1984 die ersten Medaillen holte und Länder wie Jugoslawien oder Albanien nur marginal vom kommunistischen Sonderstatus betroffen waren. Es waren also v.a. Staatsformen sowjetischer Prägung, die herausragten, in denen beträchtliche organisatorische und finanzielle Ressourcen dem olympischen Sport zugute kamen.3 Andere kultursoziologische Auffälligkeiten sind statistisch schwieriger zu belegen. Es ist aber auch in Peking eine gewisse Prädominanz westlicher, v.a. angelsächsischer Staaten erkennbar, die sich nicht nur am Abschneiden der ohnehin reichen europäischen Länder zeigt, sondern auch an dem überraschenden Resultaten ehemaliger britischer Kolonien (Australien, Jamaika, Bahamas). Zweifellos ist der moderne Sport als Freizeitvergnügen eine ursprünglich sehr britische Gepflogenheit gewesen, ebenso Leistungssport als „individueller, aber fairer Wettkampf unter Männern“, während gerade der individualistische Ansatz und der Leistungsgedanke in an-

Abb. 1: Zusammenhang zwischen Einkommen und Erfolg bei der XXIX. Olympiade

Daten: Eigene Berechnungen auf IOC-Basis (Medaillen); Weltbank und IWF (Einkommen)

Abb. 2: Wirtschaftliche Entwicklung und sportlicher Erfolg bei der XXIX. Olympiade

Daten: Siehe Abb. 1. Nur Länder mit mind. einem Medaillenerfolg.

deren Kulturkreisen (indischer Subkontinent, weite Teile der muslimischen Welt) weniger verbreitet waren und sind. Weiterhin beobachtet man gerade in den letzten Jahrzehnten, dass die Aussicht, in naher Zukunft olympische Spiele auszurichten, einen spürbaren Einfluss auf die Medaillenbilanz hat. Künftige Ausrichterstaaten bringen Jahre im Voraus ehrgeizige sportpolitische Programme auf den Weg, um beim groß-

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en Heimevent gut dazustehen. Dies zeigte sich im Falle der letzten vier Ausrichternatio­ nen überdeutlich, zuletzt in Peking bei Großbritannien. Weniger überraschend ist schließlich die Tatsache, dass sich der Heimvorteil in der Medaillenbilanz niederschlägt: Heimische Bedingungen, Publikumsunterstützung und tendenziell „freundliche“ Kampf­richter machen häufig den kleinen Unterschied aus, der über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.4 61


Die süSS-saure Peking-Ente Wie lautet also das Fazit der deutschen Expedition nach Peking? Analysiert man im einfachsten Fall den Zusammenhang zwischen BIP und Medaillenerfolg für alle teilnehmenden Staaten,5 so ergibt sich der erwartete positive Zusammenhang (Abbildung 1). Eine einfache lineare Regression liefert mit 0,71 ein bemerkenswert gutes Bestimmtheitsmaß, was einen Korrelationskoeffizienten von 0,84 zwischen beiden Größen impliziert. Die Regressions­gerade können wir, dem Beispiel von Maennig/ Wellbrock (2008) folgend, auch als „Normallinie“ des sportlichen Erfolgs sehen: Staaten, die darüber liegen, sind gemessen an ihrer wirtschaftlichen Leistung überdurchschnittlich erfolgreich; darunterliegenden Staaten unterdurchschnittlich erfolgreich. Deutschland gehörte in Peking demnach zu den sportlich erfolgreichen Ländern, die meisten anderen europäischen Staaten auch. Schlecht abschneiden tun v.a. bevölkerungsreiche Länder wie Indien oder Japan, aber auch die USA, die gleichzeitig viele Einwohner und das mit Abstand größte BIP aufweisen. Die Verwendung des BIPs als Gesamtgröße erlaubt es, die Größe der Bevölkerung indirekt mit einzubeziehen. Möchte man dagegen ausschließlich den Wohlstand eines Landes als Faktor untersuchen, so empfiehlt es sich, das BIP pro Kopf als erklärende Variable zu verwenden und in Beziehung zu den Medaillenpunkten pro Kopf setzen (Abbildung 2). Auch hier tritt der vermutete positive Zusammenhang hervor, allerdings weit schwächer als im ersten Fall (Korrelationskoeffizient von ca. 0,27). Mehrere Faktoren sind für die größere Streuung verantwortlich: 62

Kleine, wohlhabende Staaten ohne große Sporttradition (z.B. die Golfstaaten), viele ärmere und gleichzeitig bevölkerungsarme Länder, die pro Kopf gerechnet in Peking hervorragend abgeschnitten haben (z.B. Jamaika, Bahamas). In dieser Betrachtung schneiden zudem die USA und die großen europäischen Nationen als bevölkerungs- und einkommensstarke Länder allesamt unterdurchschnittlich ab. Was den Beitrag Niedersachsens angeht, müsste nach der beschriebenen Logik zunächst von einem leicht überdurchschnittlichen Anteil an der deutschen Medaillenbilanz ausgegangen werden, da Niedersachsen das Bundesland mit der viertgrößten Bevölkerung und dem fünftgrößten BIP darstellt. Allerdings ziehen zwei der oben beschriebenen Faktoren – das sozialistische Erbe und die Tradition der Sportförderung – eher in die andere Richtung: Die einkommensschwachen und bevölkerungsarmen neuen Bundesländer profitieren vielfach noch von der intensiven Sportförderung der ehemaligen DDR und haben seit der Wende häufig überdurchschnittliche Ergebnisse bei Olympia erzielt.6 In Peking waren 23 niedersächsische Athleten am Start; dies entsprach einem Anteil von 5,3 % an allen 437 deutschen Olympiateilnehmern. Niedersachsens Vertreter konnten ausschließlich in der traditionellsten niedersächsischen Disziplin punkten, dem Reiten. Hier wurden zwei Gold- und eine Bronzemedaillen geholt7; Niedersachsen ist eben ein „Pferdeland“. Mit sieben Medaillenpunkten lag man damit knapp unter den acht, die das Modell vorhergesagt hätte.

Literatur

Bernard, A. B./Busse, M. R. (2004): Who Wins the Olympic Games: Economic Resources and Medal Totals, in: Review of Economics and Statistics, 86 (1), S. 413-417. Jokl, E./ Karvonen, M. J./ Kihlberg, J./ Koskela, A., / Noro, L. (1956): Sports in the Cultural Pattern of the World: A Study of the Olympic Games 1952 at Helsinki, Helsinki, Institute of Occupational Health. Maennig, W./Wellbrock, C.-M. (2008): Sozio-ökonomische Schätzungen olympischer Medaillengewinne: Analyse-, Prognose- und Benchmarkmöglichkeiten, Hamburg Contemporary Economic Discussions Nr. 20. Szymanski, S. (2000): The Market for Olympic Gold Medals, in: World Economics, 1 (4), S. 207-214.

Anmerkungen 1

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3

Als erste veröffentlichten Jokl et al. (1956) eine soziologische Studie über die Spiele in Helsinki 1952. Einen Überblick über die wichtigsten Studien und ihre Ergebnisse liefern Maennig/ Wellbrock (2008). Nichtlinear bedeutet, dass es keinen einfachen, konstanten Zusammenhang zwischen den beiden Größen gibt. Z.B. sorgen die begrenzten Startplätze pro Land bei großen Sportereignissen dafür, dass bevölkerungsreiche Staaten ihre Breitenvorteile nicht voll ausspielen können. Ebenso kann es hinsichtlich des Einkommens auch abnehmende Grenzerträge geben: In sehr wohlhabenden Gesellschaften gibt es vielfältige alternative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, die im Konkurrenz zum Sport stehen. Außerdem fällt der Anreiz des Leistungssports als Aufstiegschance weg, gerade bei den meisten (nicht medienwirksamen) olympischen Sportarten. Gerade die Erfolge des staatsgelenkten Sports waren und sind allerdings immer besonders stark von Doping-Manipulationen betroffen. Diese besondere und hochgradig wirksame Determinante olympischen Erfolges bedarf aber einer gesonderten Untersuchung, die hier nicht erfolgen kann. Siehe dazu ausführlich Szymanski (2000).

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Die süSS-saure Peking-Ente 4

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Andere Faktoren liefern widersprüchliche Ergebnisse (z.B. Anteil der Jugend an der Gesamtbevölkerung, Gesundheitsausgaben) oder liefern nach Meinung des Autors Scheinkorrelationen (v.a. die Variable „kaltes Klima“, die stark mit dem BIP korreliert ist). Als gesamtwirtschaftliches Einkommen wird hier das BIP in PPP

(Purchasing Power Parities/Kaufkraftparitäten) - Dollar verwendet. Für den olympischen Erfolg wurde ein Indikator konstruiert, in den Goldmedaillen 3 Punkte, Silber- 2 und Bronzemedaillen einen Punkt einbringen. Andere Studien zählen dagegen nur die Goldmedaillen, alle Medaillen gleich oder den Anteil den ge-

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wonnen Medaillen an ihrer Gesamtsumme (z.B. Bernard/Busse 2004). So hätte Thüringen bei den Winterspielen 2002 in Salt Lake City als Einzelnation den vierten Platz in der Gesamtwertung belegt. Der wichtige Beitrag der Hannoveraner Pferde muss hier leider außen vor bleiben.

Urlaub mit der Lizenz zum Lesen

Österreichs Bibliotels Martin Schlegel, Hagen

Reisende und Lesende verbindet vor allem eines: der Wunsch, neue Welten zu entdecken. So gesehen war es nur eine Frage der Zeit, bis die „Bibliotels“ erfunden wurden: Unterkünfte mit speziellem Literaturangebot. Viele Menschen greifen vor allem im Urlaub gerne zu einem Buch. Jetzt gibt es eine neue Art von Unterkünften, die sich auf dieses Publikum spezialisiert haben: die Bibliotels. Mit diesem Angebot reagieren Hotels in Österreich nicht nur auf den steigenden Literaturkonsum.Es steckt vor allem der Wunsch dahinter, den Gästen im Urlaub mehr zu bieten als die Schönheit der Natur, das ausgezeichnete Essen sowie einen charmanten Service und ihr Reiseerlebnis auf diese Art zu vertiefen und zu bereichern. Dabei kooperieren Tourismusbetriebe mit Verlagen, Buchhändlern und Bibliotheken,

um dem Gast ein anspruchsvolles und vielfältiges Lesevergnügen zu bieten. Dank der Zusammenarbeit spannt sich der Bogen der in den Bibliotels ausliegenden Bücher von brandaktuellen Neuerscheinungen bis hin zu Klassikern der Weltliteratur, von internationalen Bestsellern bis hin zum beachtlichen Repertoire unterschiedlicher Autoren. Wer ein Land im Urlaub richtig kennen lernen will, sollte sich eben auch mit seiner Literatur befassen. Auch die Ausstattung ist auf die lesende Klientel ausgerichtet: Von gemütlichen Hängematten, kuscheligen Sofas und Lesestühlen bis hin zu Leihbrillen für Vergessliche und einem Langschläferfrühstück für alle, die wieder einmal bis in die späten Nachtstunden hinein gelesen haben. Für den literarischen Tagesausklang sorgen bibliophile „Betthupferln“.

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Viele Bibliotels widmen sich ganz bestimmten Themen: So gibt es Romantik-Bibliotels, Alpen-Bibliotels oder KrimiBibliotels wie das Ferienhotel „Haus am See“ am Kärntner Weissensee. Die „Krimi-Lichtung“ in der Nähe dieses Bibliotels ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Gastgeber mit speziell gestalteten „LeseThemenräumen“ die Phantasie des Lesers anregen und das jeweilige Genre inszenieren. Ein anderes Beispiel ist das Tiroler „Bergwell-Hotel Dorfschmiede“, in dem man sich auf „Wilderer-Literatur“ spezialisiert hat. Die österreichischen Heimatromane können auf Wunsch direkt am Schauplatz der Handlung gelesen werden: auf dem gemütlich ausgestatteten Jägerhochstand. Weitere Informationen unter: www.bibliotels.com

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Ex–AG bei der Frühjahrstagung in Rostock

Simulation, Zisterzienser und Molli Erika Schlegel, Hagen

Samstag, 14. März

Fester Boden?

Abb. 1: Kurhaus Warnemünde, Foto: Maria Kröger, Köln

Wir stehen auf festem Boden, nichts bewegt sich wirklich. Und trotzdem haben wir das Gefühl, auf einem Schiff zu sein bei hohem Wellengang. Der Bug des Schiffes hebt und senkt sich aus der schäumenden Gischt und hinein in dieselbe. Neben uns tauchen Schiffe auf aus Wellentälern und versinken wieder darin. Ich schließe die Augen um die Magennerven zu beruhigen. Der Seegang wird gemächlicher, und wir fahren ein in den Hafen von Warnemünde. Charakteristische Gebäude wie Leuchtturm und Hotel Neptun tauchen auf…

All das erlebte die Ex-AG der Statistiker im maritimen simulations-centrum warnemünde. Das Simulationszentrum ist Teil der Hochschule Wismar; angehende Kapitäne werden hier ausgebildet, und gestandene Kapitäne können sich weiterbilden. Natürlich beschränkte sich der Besuch nicht nur auf die eindrucksvolle Pseudoschifffahrt, wir erfuhren auch eine Menge technischer Details, doch hierzu lasse ich die Werbeabteilung des Zentrums selbst zu Wort kommen: „Norddeutsches Know-how für die Hochschule Wismar: Die STN ATLAS Elektronik GmbH, Bremen, und Unternehmen

aus Mecklenburg-Vorpommern realisierten das technisch anspruchsvolle Vorhaben „Maritimes Simulationszentrum Warnemünde“. Das modulare Gesamtsystem besteht aus folgenden Einzelkomponenten: • Schiffsführungs simulator mit insgesamt 4 nachgebildeten Schiffsbrücken einschließlich Sichtsimulation • VTS (vessel traffic services) – Simulator zur praktischen Simulation von Verkehrssituationen in Originalrevieren und Übungsrevieren • Schiffsmaschinen simulator mit der Simulation der Haupt­antriebsanlage und aller Versorgungssysteme In dem Maritimen Simulationszentrum ist es erstmalig möglich, eine gemeinsame Simulation des nautischen und technischen Schiffsbetriebes unter gleichzeitiger Einbeziehung der landseitigen Unterstützung durch die VTS-Systeme durchzuführen. Diese einzigartige Kombination entspricht den gestiegenen Erfordernissen zur Erhöhung der Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs durch bessere Ausbildungsund Forschungsmöglichkeiten zur Vorbeugung und Bekämpfung von Seeunfällen und daraus resultierenden Umweltschäden.“1

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Simulation, Zisterzienser und Molli Nach soviel Technik erfreuten wir uns anschließend an der Ostseeküstenlandschaft. Vom Restaurant „Wilhelmshöhe“, oberhalb einer kleinen Steilküste, haben wir einen schönen Ausblick auf die Ostsee. Dann führt der Weg durch Buchenwälder und Heckenrosengebüsch am Strand entlang bis zur Strandpromenade von Warnemünde. Häuser im Jugend- und Bauhausstil zeugen von Warnemündes Vergangenheit als Seebad und Sommerfrische zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die modern ausgefüllten Baulücken erscheinen mal mehr mal weniger gelungen. Beim Kaffeetrinken im Kurhaus sitzen wir in einem Gebäude, das schon zu Beginn des 20.Jahrhunderts geplant und dessen Fundamente schließlich 1914 gelegt wurden. Der 1. Weltkrieg stoppte den Bau, aber 1926 wurde er dann im Bauhausstil ausgeführt. Die heutige Glasfront im Obergeschoss ist zwar nicht ganz stilecht, aber man hat einen herrlichen Blick über die Ostsee.

das Kloster ist schon recht weit gediehen – wird das „hulzerne Münster“ abgerissen, um es „schön und steinern wieder aufzurichten“2. Das heutige Münster entsteht im Stil der Backsteingotik. „Die Proportion 1:2 von Haupt und Glied lässt die Größe ausgewogen sein. Der Mensch, als Ebenbild Gottes, gibt das Grundmaß (Elle und Fuß) an. Das ist das Geheimnis von Schönheit und Sakralität dieser Klosterkirche. Bis zum 4. Juni 1368 ist alles wie aus einem Guss aufgeführt. Mehrere Mönchsgenerationen haben diesen Bau wachsen sehen, der auf Grund seiner Proportionen eher ruhend wirkt. Die Kirche ist 78m lang, im Kreuzschiff 39m breit. Das Hauptschiff ist 26m, ein Seitenschiff etwa 12,50m hoch. Bis 1552 haben Mönche in ihr das Lob Gottes gesungen, seitdem tut es nun die Lutherische Kirchgemeinde.“3 Zisterzienser Kirchen sind normalerweise schlichte Gebäude, wie es auch der Verzicht auf einen Turm ausdrückt, sie begnü-

gen sich mit einem Dachreiter. Hinsichtlich der Schlichtheit ist das Doberaner Münster nicht ganz typisch, nicht nur dass der Dachreiter 2m höher ist, als die Ordensstatuten erlaubten; die Nähe zu den Herrschern von Mecklenburg führte dazu, dass der Dom sich recht prächtigen Mobiliars erfreut: Zwei reich geschnitzte gotische Altäre, ein Sakramentshaus aus dem frühen 14. Jahrhundert, sowie ein Leuchter „als apokalyptische Madonna mit Krone, Strahlenkranz und Mondsichel“4 zeugen von beträchtlichem Reichtum. Ein Reichtum, der dem Kloster während des 30-jährigen Krieges zum Verhängnis wurde, denn bei Plünderungen wurden erhebliche Schäden angerichtet und z.B. Figuren aus Edelmetall aus den Altären geraubt. Nach dem 30-jährigen Krieg dienten die Klostergebäude außerhalb des Münsters als Steinbruch für andere Gebäude z.B. für das Schweriner Schloss. So ist auch von dem ursprünglichen Kloster nicht mehr viel vorhan-

Abb. 2: Die Molli, Bad Doberan. Foto: Bernhard Schletz, Gera

Sonntag, 15. März Regenprogramm oder kein Regenprogramm -– das ist heute die Frage. Leicht neblig ist es und nieselt unfreundlich. Aber wir entscheiden uns doch für das Gut-Wetter-Programm. Das Münster zu Bad Doberan sieht düster drohend aus bei diesem Wetter. Was für eine Riesenkirche in solch einem kleinen Ort! Mehr als 700 Jahre lassen sich ihre Ursprünge zurückverfolgen. Am 25. Juni 1186 entschieden sich Zisterzienser Mönche in der damals sumpfigen Einöde ein Kloster zu gründen. 1232 war dann zunächst eine kleinere romanische Kirche mit Holzdecke und Staffelgiebel fertig. 1294 –

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Simulation, Zisterzienser und Molli den, ein Modell innerhalb des Münsters zeigt uns heute, wie eindrucksvoll es einmal war. Noch vorhanden sind aber in den Chorumgangskapellen zahlreiche prächtige Grablegen des mecklenburgischen Fürstenhauses. Vom Beginn des 13. Jahrhunderts bis 1910 wurde hier beigesetzt. Die Bülowkapelle erinnert an den Bischof von Bülow, der einst die Kirche geweiht hat, es ist ein früher Vorfahr Victors von Bülow, den wir heute alle unter dem Pseudonym Loriot kennen. Das Betrachten der vielen überaus interessanten Details dieses Münsters lässt die Zeit wie im Fluge vergehen. Nur an den langsam kälter werdenden Füßen merke ich, dass mehr als eine Stunde vergangen ist.

Die gotischen Kirchen werden in Mecklenburg nicht geheizt – erfahren wir – das sei den Kunstschätzen zuträglicher. So habe der Kirchenraum keine abrupten Temperaturschwankungen, die Raumtemperatur entspreche meistens in etwa der der Ostsee, z.Z. seien es 7 Grad. Da hab ich doch Ehrfurcht vor den Menschen, die sich zum Gottesdienst hier versammeln. Als wir das Münster verlassen, hat es aufgehört zu regnen. Wir unternehmen eine Fahrt mit der s.g. Molli, einer historischen Dampfeisenbahn, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sommerfrischler von Bad Doberan nach Kühlungsborn befördert hat. Vorbei geht es an Heiligendamm, dem ersten

Seebad an der Ostssee, neuerdings bekannter durch den G8-Gipfel von 2007. In Kühlungsborn erfreut uns wieder ein Spaziergang an der Ostsee, und im „schönsten Café der Welt“ (Werbespruch des Café Röntgen) beendet die Ex–AG bei ausgezeichneten Torten das diesjährige Programm. Es war wieder so gut wie die Torten im Café Röntgen.

Anmerkungen: 1

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maritimes simulations-centrum warnemünde, Fachbereich Seefahrt der Hochschule Wismar, Richard Wagner Str.31, 18119 Warnemünde, S.3 Das Münster zu Bad Doberan, DKV- Kunstführer Nr. 408 / 5, München , Berlin, S.6 ebd. S. 8 ebd. S.23

Abb. 3: Molli-Datern, Foto: Bernhard Schletz, Gera

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Statistische Frühjahrstagung 2009

Rostocker Splitter Martin Schlegel, Hagen

Über die diesjährige Frühjahrstagung ließe sich wieder viel erzählen, beispielsweise, dass Rostock in der Erreichbarkeit nicht gerade ein optimales Ergebnis erzielt. Um genau zu sein: Es hat bei der Untersuchung von Eichhorn, Huter, Lange nur Platz 44 eingenommen, also die rote Laterne bekommen. Auf den entsprechenden Artikel in der vergangenen Ausgabe dieser Zeitschrift – „Erreichbarkeit von Großstädten“ – wurde ich mehrfach angesprochen: „Nur 44 Städte, das ist zu wenig. 100.000 Einwohner müsste die Grenze sein.“ „44 reicht, sonst wird der Aufwand zu hoch. Es geht doch um Tagungen und Firmenbesprechungen, eine Sache für Großstädte.“ „Eine Gewichtung fehlt. Soll man mit Einwohnern oder dem BIP gewichten?“ „Der Ballungsraum hat einen Vorteil.“ „Eine Methode mit kleinen Fragezeichen. Aber leicht verstehbar. Auch für Politiker.“ Doch waren auch in Rostock die Pausengespräche wichtig, hatten aber keineswegs die höchste Priorität. Die kam natürlich der Tagung selbst zu. Und sie bot wieder reichhaltigen Stoff.

Statistik à la carte Da konnte man wieder erfahren, was andere so machen. Ein paar Städte und Institutionen präsentierten an einige Ständen, woran sie gerade arbeiten. Sie gaben Einblicke, Blicke über die Schultern waren möglich, Fragen konnten gestellt und unmittelbar beantwortet werden. Die Teilnehmer nahmen die Angebote gerne an.

genehmigt ist – und da gibt es schon mal Behörden, die es damit nicht so eilig haben.

Zukunft Die Statistische Woche ist wegen des hohen Raumbedarfs verstärkt auf Unis angewiesen. Die aber verändern demnächst den Semesterbeginn, ziehen ihn nach vorne. Dann gibt es Raumprobleme.

Darstellung

Barrierefreiheit

Die agile AG Methodik hatte einen bemerkenswerten Auftritt. In einer Serie von Kurzvorträgen erhielten wir plastische Tipps mit eingängigen Beispielen zur Gestaltung von Tabellen und Grafiken. Ich kenne viele, die sich diese Vorträge anhören und danach handeln sollten. Doch wer nicht da war, hat nicht unbedingt etwas verpasst: Die AG Methoden erstellt einen Leitfaden und setzt ihn ins Internet.

Barrierefreie Tabellen zu gestalten, ist schon ein Problem. Ein paar Anmerkungen: „Um 1% zu helfen, verschlechtert man die Tabellen für die anderen 99%.“ „Ich erreiche doch ohnehin nie alle.“ „Immer muss alles bis ins Kleinste geregelt werden.“

Anmeldung Hans Teschner, der Tagungsbeauftragte, appelliert an die Verbandsmitglieder, sich rechtzeitig anzumelden. Er meint natürlich: „Möglichst sofort!“ Verständlich ist das schon, schließlich kann er so besser planen, wovon wir ja auch profitieren. Er weiß aber auch, dass man sich erst anmelden kann, wenn die Dienstreise

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Rostock Rostock sieht sich als „Eine Stadt wie aus dem Geschichtsbuch“ und verkündet selbstbewusst: Dem Rest des Landes war man stets eine Schiffslänge voraus. Die Stadt ist mehr als nur eine Reise zur Frühjahrstagung wert. Dabei dann müssen Warnemünde und die weitere Umgebung wie Bad Doberan, Heiligendamm und Kühlungsborn unbedingt mitbesucht werden. Beispielsweise mit dem Fahrrad, denn ein hervorragender Radweg führt die Küste entlang.

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Wuppertaler Stadtportrait

Symbiose aus Stadt und Land Presseamt der Stadt Wuppertal

Wuppertal ist eine lebendige Großstadt mitten im grünen Bergischen Land. 353.000 Einwohner und die Besucher der Stadt genießen ein reichhaltiges kulturelles Angebot, gute Einkaufsmöglichkeiten und einen Freizeitwert, der seinesgleichen sucht. Wälder, Wiesen, Grünanlagen und der Lauf der Wupper bestimmen das landschaftliche Bild. Gründerzeit und Jugendstil setzen markante architektonische Akzente. Malerische Altstadtquartiere, liebevoll restaurierte Fachwerkhäuser, prächtige Villen und moderne Bauten, Stuckfassaden und neue Sachlichkeit finden sich in harmonischem Miteinander. Wer gern Treppen steigt, findet hier seine Erfüllung: Man zählt in Wuppertal 469 öffentliche Treppen mit zusammen über 12.000 Stufen. Entspannung lässt sich in stadtnah erhaltener Natur finden oder beim Eintauchen in das bunte Leben einer modernen City. Von jedem Punkt der Stadt sind Wald und ausgedehnte Parkanlagen in wenigen Minuten erreichbar. Umgeben von bewaldeten Bergen liegt die Stadt langgestreckt im engen Tal der Wupper und verliert sich am Stadtrand in hügeligen Wiesen und weiten Wäldern des Bergischen Landes. Zwei Drittel der gesamten Stadtfläche sind nach wie vor grün. Abb. 1: Die einzigartige Schwebebahn

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Symbiose aus Stadt und Land Der Intercity-Hauptbahnhof, weitere 21 Bahnhöfe und elf Autobahnanschlüsse binden die Stadt an das nationale und internationale Verkehrsnetz an. Die Flughäfen Düsseldorf und Köln liegen mit rund einer Stunde Fahrzeit vor der Tür. Ein breites Hotelangebot macht Wuppertal auch für Geschäftsbesucher der benachbarten Messestädte zu einer attraktiven Alternative. Im Stadtverkehr bewährt sich seit 1901 die Wuppertaler Schwebebahn, Wahrzeichen der Stadt und Symbol für unternehmerischen Pioniergeist und Zuverlässigkeit. Täglich schweben über 70.000 Fahrgäste auf der 13,3 Kilometer langen Strecke – ohne Stau von morgens bis abends. Mit ihrem eigenen Verkehrsweg, der überwiegend über der Flussmitte der Wupper verläuft, bildet die Schwebebahn die Hauptschlagader des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Stadt und ihre Bedeutung wird künftig noch zunehmen. Da die 100-jährige Betriebszeit nicht spurlos an der einmaligen Konstruktion vorüber gegangen ist, werden Gerüst und Bahnhöfe seit 1995 Stück für Stück erneuert. Dabei bleibt der Wahrzeichen-Charakter der Bahn erhalten, denn die neuen Teile sind optisch dem historischen Erscheinungsbild angeglichen. Die größere Tragfähigkeit der neuen Brücken und Stützen wird nach der Fertigstellung des JahrhundertProjektes den Einsatz von mehr und schnelleren Schwebebahnwagen in kürzeren Taktzeiten ermöglichen. Der historische Kaiserwagen, mit dem schon Kaiser Wilhelm

Abb. 2: Historische Stadthalle

II. im Jahr 1900 zur Premierenfahrt schwebte, lässt sich für Sektempfänge, Pressekonferenzen oder Frühschoppen in luftiger Höhe mieten - ein einmaliger Höhepunkt von Betriebs- und Vereinsausflügen oder ein ausgefallener Rahmen für Gästeprogramme und Präsentationen, einschließlich Bewirtung nach Wunsch und charmanter „Reisebegleitung“ durch ortskundige Stadtführerinnen in historischen Kostümen. Weitläufige Citybereiche locken zum ausgiebigen Bummel – mit modernen Einkaufszentren, Läden, Galerien und Boutiquen für jeden Geschmack. Die Vorzüge der bergischen Küche lassen sich in der gehobenen Gastronomie ebenso entdecken, wie in originellen und gemütlichen Kneipen, die es hier an jeder Ecke gibt. Wer abends ausgehen will, hat viel Auswahl – von Kleinkunst, Kabarett und Klassik bis Jazz und Disco reicht ein täglich wechselndes Angebot. Sportfreunde finden hier unter

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anderem eines der modernsten Sportzentren Europas mit zwei Dreifachsporthallen und einem Schwimmsportleistungszentrum. Die Wuppertaler Bühnen mit Oper, Schauspiel und dem weltberühmten Tanztheater der kürzlich verstorbenen Pina Bausch sind in jeder Spielzeit viel beachtetes Thema der großen deutschen und internationalen Feuilletons. Das städtische Sinfonie-Orchester hat einen klangvollen Namen weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die Historische Stadthalle auf dem Johannisberg ist eins der schönsten deutschen Konzertund Kongresshäuser mit einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm.

Pina Bausch

Ein Magnet für Kunstfreunde sind die Kostbarkeiten, Schätze und Meisterwerke des Von der Heydt-Museums. Eine bereits im Vorfeld international beachtete Ausstellung mit vielen Werken des großen Impressionisten Claude Monet wird von Oktober 2009 an

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Symbiose aus Stadt und Land mittelständische Unternehmen beim optimalen Einsatz und bei der sparsamen Verwendung von Energie. Ein Technologiezentrum bietet vor allem Klein- und Mittelbetrieben ohne eigene Forschungs- und Entwicklungsabteilung die Möglichkeit, innovative Erkenntnisse in neue Produkte und Verfahren umzusetzen.

Abb. 3: Stadt und Land ganz nah im Stadtteil Ronsdorf

viele zehntausend Besucher anlocken. Zu den landschaftlich schönsten Tiergärten der Welt gehört der Wuppertaler Zoo. In dem 24 Hektar großen Parkgelände finden über 4000 Tiere aus 500 Arten ein Zuhause. Die Tierbereiche, Häuser und Freianlagen sind gefällig in die von altem Baumbestand geprägte Landschaft eingefügt und geben dem Zoo seine eigene Note. Gesamthochschule

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Die 1972 als Gesamthochschule gegründete Bergische Universität ist nicht nur von den traditionellen Ingenieur-

studiengängen Maschinenbau, Elektrotechnik und Bauwesen, sondern auch durch vielbeachtete neue Forschungsprojekte und durch ausgeprägten Praxisbezug renommiert. Seit 1991 ist Wuppertal Sitz des weltweit renommierten Wuppertal-Institutes für Klima, Umwelt und Energie. Erstmals in Deutschland beschäftigt sich hier eine wissenschaftliche Einrichtung systematisch mit den ökologischen Herausforderungen und dem dadurch erforderlichen Strukturwandel. Von Wuppertal aus berät die Energieagentur NRW vor allem

Die Hauptsäule der Wuppertaler Wirtschaft waren lange Zeit textile Erzeugnisse. Heute prägt eine gesunde Branchenvielfalt die wirtschaftliche Basis. Schwerpunkte bilden u.a. die Elektrotechnik, der Maschinenbau, die Produktion von Werkzeugen und Autozubehör, die chemische Industrie sowie spezialisierte Textilbetriebe. Bundesweit hat sich die Stadt in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum des Event-Marketings entwickelt. Eine große Zahl von kleinen und mittelständischen Unternehmen konkurriert erfolgreich durch Flexibilität, Zuverlässigkeit und Kundennähe. Aber auch renommierte Großunternehmen haben ihren Standort in Wuppertal. Nicht wenige Wuppertaler Konzerne gelten als Marktführer ihrer Branche.

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Stadt in Zahlen / Köln

Einfach mal Mut haben Martin Schlegel, Hagen

Ich habe schon viele Zahlenwerke in der Hand gehalten. Bei einigen meint man wirklich, sie füllten hauptsächlich die Regale, andere dagegen sind wohltuend informativ und es reizt, einen Blick hinein zu werfen – oder auch mehrere. So etwas kam mir jetzt von Köln in die Finger. Die Kölner Grafikdesignerin Antje Julius stand vor der Aufgabe, ihre Diplom-Arbeit zu schreiben. Nun gibt es dazu ein breites Spektrum, sie wählte ein sprödes Thema: Zahlen. Sie visualisierte Zahlen der Kölner Statistik. Herausgekommen ist kein Statistisches Jahrbuch, enthält ihr Werk trotz seiner 150 Seiten doch relativ wenig Zahlen. Entstanden ist ein Werk, das eine große Fülle an Möglichkeiten enthält, wie man Daten präsentieren kann. Zum Teil sind es einfache Ideen, aber immer anschaulich und optisch gelungen. Wirklich schöne Lösungen für die Präsentation von Daten. So hat sie die Namen der 90 Mitglieder des Rates im Kreis angeordnet, die CDU-Leute in Schwarz, …, wobei im leeren Inneren Fraktion und Fraktionsstärke stehen. Oder: Für die Darstellung von Einnahmen und Ausgaben verwendet sie zwei konzentrische Kreise, wobei der innere Kreis – die Einnahmen – tiefschwarz ist. Auf anderen Seiten sehen Sie nur viele Zahlen, von riesig bis klein, und daneben steht in ganz kleiner Schrift, was sie

darstellen. Und umgekehrt: Bei „Ärzte in Köln“ dokumentiert die Schriftgröße die Zahl der Ärzte, wer Genaueres wissen will, muss die kleine Zahl lesen. Bei den Gästen der Rheinseilbahn hängen die Daten natürlich an imaginären Drähten, beim Sport kommen Pictogramme zum Zug und bei den Gebäudehöhen Silhouetten. Natürlich gibt es auch das bekannte Säulendiagramm. Mutig und vorbildlich werden Zahlen visualisiert, wird mit Farben und Formen gespielt. Leider wird bei der Darstellung die Flächenproportionalität nicht eingehalten. Aber wir sollten diese Diplomarbeit als Steinbruch auffassen, in dem sich jeder ein Stündchen aufhält, um sich anregen, inspirieren zu lassen, oder einfach: um abzukupfern. Letzteres ist

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vielleicht nicht ganz edel, aber sicher ist es im Sinne von Frau Julius, wenn ihre Ideen auf breite Resonanz stoßen. Und Übernehmen – das ist ja auch eine gängige Art von Lob. Auch die gewohnt kritische Kölner Presse hat sich auf das Werk gestürzt. Heraus kam ein großes Lob. So sprachen sie von einer „Statistik im bunten Zahlentrubel“ und nannten das Werk eine „Bunte Statistik zum Schmökern“. Wenn ansonsten kritische Blätter voller Lob sind, sollte es allen ein Hinweis sein, dieses Buch ein Weilchen in die Hand zu nehmen. Wer es nicht besitzt, wende sich einfach an die Kölner Statistik, die von dem Ergebnis der Diplomarbeit so angetan war, dass sie mit diesem Jahrbuch der anderen Art im übrigen ihr 125-jähriges Bestehen geadelt hat.

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Auf Wiedersehen und Herzlich Willkommen

Wechsel in der Redaktionsarbeit Martin Schlegel, Hagen

Es war 1983 im Essener Rathaus. Ganz oben saßen etwa 10 Leute in einem kleinen Konferenzraum. Draußen war es so neblig, dass man meinen konnte, die Fenster hätten Milchglas. Worüber wir geredet haben, weiß ich nicht mehr. Aber an eines kann ich mich erinnern. Immer wenn ein Punkt so gut wie beendet war, meldete sich ein Herr im Nadelstreifenanzug zu Wort: Bei genauerem Hinsehen wäre doch noch eine Lücke in der Lösung. Manch einer in der Runde – z. B. ich – verstand das erst im zweiten Anlauf. Hatten alle das Problem erkannt, erklärte der Nadelstreifenträger, er wolle ja nur darauf aufmerksam gemacht haben. Man könne ruhig so verfahren, wie die Mehrheit es für richtig halte. In seinem Bochum würde er sicher auch so wie wir handeln. Im Vorfeld der 1984er Kommunalwahl haben wir beide viel miteinander telefoniert.

Er hatte Ahnung von der Sache und ich war der Wahlneuling. Die Telefonate waren so ausführlich, dass er manchmal anmerkte: „Mein lieber Herr Schlegel, nun ist die zweite Straßenbahn weg.“ Ein weiteres wichtiges Telefonat fand Anfang dieses Jahrhunderts statt. Nach 11 Jahren als Redaktionsleiter von „Stadtforschung und Statistik“ suchte Herr Wienen einen Nachfolger. Er brachte mich an den Start. Dankenswerter Weise blieb Herr Wienen in der Redaktion und hat uns dort mit seiner geballten Erfahrung über manch eine Klippe geholfen. Nun ist er 70 geworden und sagt sich und uns: Ende. Schade. Einfach schade. Gleichzeitig verliert die Redaktion Frau Kreft-Kettermann aus Münster. Wegen anderer Verpflichtungen muss sie zu unser aller Bedauern auf die

Mitarbeit in der Redaktion verzichten. Das ist für uns in der Redaktion und für die Zeitschrift ein Verlust. Doch bleibt Frau Kreft-Kettermann glücklicherweise dem VDSt erhalten und in vorderster Front höchst aktiv – z.B. als Vorsitzende der AG Nord-West. Aber was wären Probleme ohne ihre Lösungen? In Ros­ tock haben sich zwei VDSt-ler bereit erklärt, die Lücken zu schließen, und Ansprechpartner für Ihre Artikel zu sein. Da ist zum einen Frau Christa Ruten, Diplom-Geographin aus Münster. Vielen wird sie bereits bekannt sein. Neben Frau Ruten kommt Herr Udo Hötger in die Redaktion. Herr Hötger ist Diplom-Sozialwissenschaftler und arbeitet für den Kreis Lippe. Endlich mal einer, der nicht aus einer Großstadt kommt. Herzlich Willkommen.

tistik: Über Stae nur der

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Potenzierte Kunst – VZ als Vollerhebung – Volle Regale – Vanilleeis mit Senf

Statistik stirbt zuletzt

Ulrich Stein analysiert gerne die Bundesligatabelle – möglichst nach einem Stuttgarter Sieg. Offensichtlich ist er nicht der frühere HSV-Torwart. Dies und vieles anderes lernen Sie über unsere in der jüngsten Zeit eingetretenen Mitglieder – Unwichtiges und Wichtiges. Jeder von ihnen erhielt – quasi zur Begrüßung – eine Reihe

von Halbsätzen, verbunden mit der Bitte, einige davon zu ergänzen. Sie, die Leser dieser Zeitschrift, erfahren etwas über ihre Schwerpunkte in der Statistik, über das Verhältnis von Politik und Statistik (kein Liebespaar), über den Datenschutz (hohes Gut) oder über Tage ohne Statistik (auch ein schöner Tag). Spannend finde

ich immer wieder die Ergänzungen zu „Wer ohne Zahlen argumentiert“. Aber das, was Sie hier über die Neuen erfahren, ist nur ein minimaler Einblick. Besser lernen Sie die Leute auf der Statistischen Woche in Wuppertal kennen. Nutzen Sie die Chance.

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie die wichtigen Unterscheidungen mit den geeigneten Kennzahlen abstützt. Eine gute Tabelle sollte das richtige Gleichgewicht zwischen Informationsgehalt und Differenzierung auf der einen, Vereinfachung und Hervorhebung der wesentlichen Elemente auf der anderen Seite finden. Der zu einer Statistik gehörende Text sollte dem Leser auf jeden Fall die Quelle und die Definition der Daten in klarer Form zur Verfügung stellen. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist die Korrelations-/Kausalanalyse. Die beste Umfrage ist die, die sich vor der Entwicklung eines standardisierten Fragebogens intensiv qualitativ mit dem Forschungsgebiet befasst und daraus ihren Fragebogen entwickelt. Die Stadt, in der ich arbeite (und lebe), ist nicht schön, aber spannend. Statistik und Politik, das sind schon ziemlich verschiedene Welten, und die ‚Übersetzung’ zwischen Beiden ist nicht immer so einfach. Wer ohne Zahlen argumentiert, kann zwar zu interessanten Ergebnissen kommen – wie diese aber mit anderen Ergebnissen vergleichbar sind und ob sie auch für größere Gruppen gelten, kann er nicht beurteilen/begründen. Die nächste Volkszählung wird ein ziemliches Chaos werden – die registergestützten Daten werden kaum sinnvoll zusammen geführt werden können. Die übernächs­ te sollte deshalb wieder eine Vollerhebung werden. Der Aussagewert von Statistiken hängt wesentlich davon ab, was man am Anfang an sie an sachlichen Entscheidungen rein gesteckt hat und welche sachlichen Annahmen man beim ‚Lesen der Statistik’ verwendet. Vor allem zwei Dinge sollte die Städtestatistik leisten: möglichst kleinräumige Daten beschaffen und die Kombination von registergestützten/strukturellen und Befragungs-/subjektiven Daten vorantreiben.

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Dr. Stefan Böckler, Diplom-Sozialwissenschaftler, Stadt Duisburg, Amt für Statis­ tik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten, Telefon: 0203 2832633, s.boeckler@stadt-duisburg.de

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Statistik stirbt zuletzt Ricarda Etz, Diplom-Geographin, Landeshauptstadt Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, Tel. 0611 31-2837, ricarda.etz@wiesbaden.de

Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist für mich als Geographin alles, was räumliche und stadträumliche Entwicklung beeinflusst bzw. begreifbar werden lässt – also eigentlich jedes. Im nächsten Jahr möchte ich so gerne mal wieder einen Urlaub in der Bretagne verbringen. Wichtig bei einer Grafik ist, dass sie eindeutig und übersichtlich ist, das Interesse des Betrachters weckt und nicht erst durch so lange Sätze wie diesen hier erklärt werden muss, so dass dem Betrachter das Interesse gleich wieder abhanden kommt und der Informationswert der Grafik in der Schublade verschwindet. Ein Tag ohne Statistik bedeutet, dass Wochenende, Feiertag oder Urlaubszeit sein muss. Ein Computer ist für mich bei der Arbeit unersetzlich, privat zum Glück nicht besonders wichtig. Wer ohne Zahlen argumentiert, kann aber auch Recht haben. Der Datenschutz ist für mich der Rahmen, innerhalb dem Statistiker das mögliche Maximum an Information erarbeiten. Die Stadt, in der ich arbeite, ist seit Jahren meine zweite Heimat und durch meine Diplomarbeit habe ich sie noch besser kennen gelernt. Die alljährliche Statistische Woche würde ich auch gerne mal besuchen.

Barbara Kocker, Diplom-Ingenieurin, Kreis Unna – Der Landrat, Steuerungsdienst – Statistik und Wahlen, Telefon: 02303272410, barbara.kocker@kreis-unna.de

Statistiken liefern wichtige Informationen – aber sie rechnen damit, dass der Anwender denkt. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist die Demographie. Ich hasse Untersuchungen, bei denen erst nach der Datensammlung an die statistische Auswertung gedacht wird. Im nächsten Jahr möchte ich drei Wahlen erfolgreich durchgeführt haben. Ein Computer ist für mich ein wichtiges Arbeitsmittel. Wer ohne Zahlen argumentiert, macht es sich manchmal unnötig schwer. Der Datenschutz ist für mich wichtig. Vor allem eins sollte Städtestatistik leisten: Zusammenhänge aufzeigen und Entscheidungsgrundlagen erarbeiten.

Cathrin Knop, Diplomingenieurökonomin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrale Steuerung und Kommunalstatistik – Stadtverwaltung Frankfurt (Oder), cathrin.knop@frankfurt-oder.de

Statistiken liefern wichtige Informationen, aber erst die psychologisch-professionellen Vermittlungen führen zum Erfolg. Der zu einer Statistik gehörende Text sollte die Glaubwürdigkeit der aufbereiteten Informationen unterstreichen Meine Hoffnung heißt, den Glauben an sich selbst nie zu verlieren und negativen Informationen/Statistiken mit positiven Gefühlen entgegentreten zu können. Die Statistik steht vor dem Problem der Unendlichkeit der Quantität und Qualität der Informationsverarbeitung. Wer ohne Zahlen argumentiert, verpasst unter Umständen eine offene und ehrliche Kommunikationskultur. Statistik und Politik, das ist potenzierte Kunst und /oder Können von Wissen und Interpretation. Der Aussagewert von Statistiken ist relativ. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten, sich als Unternehmung seiner selbst zu begreifen.

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Statistik stirbt zuletzt Hans-Jürgen Leppla, Kaiserslautern, Gruppe Statistik und Wahlen, Referat 10, Telefon: 0631 3651104, h-j.leppla@kaiserslautern.de

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie sich selbst erklärt. Wichtig bei einer Grafik ist, dass sie ein „Hingucker“ ist. Der zu einer Statistik gehörende Text sollte eigentlich überflüssig sein. Ich hasse Untersuchungen, insbesondere beim Urologen. Umfragen nützen dem, der das Honorar dafür erhält. Ohne Statistik ist die Welt vermutlich auch nicht ärmer. Ein Tag ohne Statistik ist ein guter Tag. Wer ohne Zahlen argumentiert, argumentiert am Besten. Der Datenschutz ist für mich ein hohes Gut. Die Stadt, in der ich arbeite, heißt Kaiserslautern. Statistische Jahrbücher haben einen Sinn, sie füllen Regale. Der Aussagewert von Statistiken ist groß. So ist es z.B. 5 x wahrscheinlicher von einem Stuhl getötet zu werden als von einem Hai.

Burkhard Marienfeld, Diplom-Sozialwissenschaftler, Stadt Dortmund, Fachbereich Statistik, Telefon: 0231 5026709, bmarienfeld@stadtdo.de

Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, hinter die Kulissen zu schauen. Statistiken liefern wichtige Informationen, müssen aber auch im besten Fall interdisziplinär bewertet werden. Eine gute Tabelle bringt Erleuchtung. An der Statistik gefällt mir, dass sie immer auch den eigenen Blickwinkel verändert. Meine größte Angst liegt darin, dass Statistiken benutzt anstatt genutzt werden. Meine Hoffnung heißt: Statistik stirbt zuletzt. Statistik ist für mich Erkenntnisgewinn. Ohne Statistik ist die Welt nicht zu begreifen. Statistische Jahrbücher haben einen Sinn. Statistik und Politik, das ist oft nicht zu vereinbaren. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: Leben, Wohnen und Arbeit zu befördern.

Laura Martschink, Diplom-Geografin, Fachbereich Städtebau, Statistikstelle der Stadt Mannheim, Telefon: 0621 2937489, laura.martschink@mannheim.de

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie leicht zu verstehen und aussagekräftig ist. Der zu einer Statistik gehörende Text sollte nicht vernachlässigt werden. Wenn ich in einer eigenen Tabelle einen Fehler entdecke, bin ich froh, wenn ich die Erste bin, die ihn sieht. Ein Tag ohne Statistik ist auch ein schöner Tag. Der größte denkbare Fehler eines Statistikers liegt darin, die Zahlen nicht zu hinterfragen.

Dr. Tanja Nieder, Diplom-Psychologin, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden, Empirische Fundierung der Schulentwicklung, Telefon: 0611 5827151, t.nieder@iq.hessen.de

Eine gute Tabelle sagt mehr als tausend Worte, kommt aber dennoch nicht ohne solche aus. Die liebste Statistik ist mir die, der ich traue, weil ich weiß, dass sie niemand gefälscht hat. Wer ohne Zahlen argumentiert, hat Angst davor, sich festlegen zu müssen. Korrelations-, Cluster- und Diskriminanzanalyse sind für mich wie Hammer, Schraubenzieher und Bohrmaschine: Werkzeuge, die nicht zum Selbstzweck eingesetzt werden sollten. Wichtig bei einer Grafik ist, dass Sie so einfach ist wie möglich, dabei aber soviel Komplexität veranschaulicht wie nötig. Ich hasse Untersuchungen, die sich in den Mantel statistischer Seriösität hüllen, dabei aber doch in „zu großen Schuhen“ unterwegs sind.

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Statistik stirbt zuletzt Ulrich Stein, Diplom-Ökonom, Statistisches Amt Stuttgart, Sachgebiete Wirtschaft und Kultur, Telefon: 0711 2166342, ulrich.stein@stuttgart.de

Statistik ist für mich die demokratischste Wissenschaft. Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie die Dinge tatsächlich beschreibt, die sie vorgibt zu messen. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist die Analyse der Bundesligatabelle, wenn der VfB gewonnen hat. Ohne Statistik ist die Welt kurz vor der Einführung von Statistiken. Wer ohne Zahlen argumentiert, sollte lieber auf Partys gehen. Die Stadt, in der ich arbeite, kann sich über ihr Statistisches Amt nicht beklagen. Statistik und Politik, das ist manchmal wie Vanilleeis mit Senf. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: dass der Politik nichts übrig bleibt, als erste Sahne zu sein. Die alljährliche Statistische Woche ist einer der besten Gründe für die Verausgabung des Dienstreisebudgets.

Jürgen Wittig, Diplom-Verwaltungswirt, Stadt Kassel, Sachgebietsleiter für Statistik und Haushalt im Personal- und Organisationsamt, Telefon: 0561 7877023, juergen.wittig@stadt-kassel.de

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass das Wesentliche sofort ins Auge fällt. Statistiken liefern wichtige Informationen, aber sie haben keinen Nutzen, wenn sie falsch interpretiert werden. Wenn ich in einer eigenen Tabelle einen Fehler entdecke, ärgere ich mich, korrigiere und versuche den Fehler künftig auszuschließen. Ich hasse Untersuchungen, bei denen der Auftraggeber schon von vornherein meint, das Ergebnis zu kennen. Ein Tag ohne Statistik kann trotzdem ein schöner Tag sein! Ein Computer ist für mich Arbeitsmittel, Informationsmedium, Spielgerät ... kurz: nicht mehr wegzudenken! Wer ohne Zahlen argumentiert kann zwar recht haben, aber schwerer überzeugen. Der Datenschutz ist für mich Ehrensache. Die Stadt, in der ich arbeite, ist sehenswert und liegt so zentral, dass niemand mit der Ausrede kommen kann, es wäre für einen Besuch zu weit! Statistik und Politik, das ist nicht immer ein Liebespaar. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: Entscheidern in Verwaltung und Politik verlässliche Grundlagen liefern.

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Volkszählungen, Wahlen, Wohnen, Preise, Gesundheit

Themen in der Statistik 1909, 1933 und 1959 Martin Schlegel, Hagen

Vor 130 Jahren trafen sich die Kommunalstatistiker zum ersten Erfahrungstausch. „Conferenz der Direktoren der statistischen Bureaux deutscher Städte“ nannte sich die Versammlung, die im Oktober 1879 in Berlin zusammen-

kam. Das war der Beginn der „Statistischen Woche“. Beim Rückblick stellt man fest: Einige Themen haben sich gehalten, andere kamen für einige Zeit hinzu, verschwanden aber wieder. Die folgenden Zeilen geben eine Übersicht über das,

was damals auf den herbstlichen Treffen auf der Tagesordnung stand (Quelle: Verband Deutscher Städtestatistik: Die Städtestatistik im Wandel der Zeit, herausgegeben vom Statistischen Amt der Stadt Köln, 1975).

23. Konferenz der Vorstände Statis­tischer Ämter Deutscher Städte Dieses Treffen fand am 11., 13. und 14. September 1909 in Frankfurt am Main statt. Auf der Tagesordnung stand: • Finanzielle Hauptübersicht für das Jahrbuch • Vermögensverzeichnis der Städte • Rentabilitätsberechnungen städtischer gewerblicher Unternehmen • Beteiligung der Städte-Statistik an der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden 1911 • Lohnstatistik nach dem Material der Krankenkassen • Volkszählung 1910; Wohnungs-, Haushalts-, Grundstücks- und Gebäudezählung sowie Zählung der Geschäftslokale • Herausgabe des Statistischen Jahrbuchs • Statistik der Fleischpreise • Todesursachenstatistik • Statistik der Baumaterialienpreise • Statistik der städtischen Säuglingsfürsorge • Ermittlung des Milchverbrauchs in den Städten • Methoden der Arbeitslosenzählung

41. Tagung des Verbandes der deutschen Städtestatistiker Schon zum fünften Mal fuhren die Statistiker nach Dresden, diesmal vom 9. bis zum 10. Oktober 1934. Die Themen waren: • Die Erfahrungen der Gemeinden bei der Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1933 und Vorschläge für kommende Zählungen. • Die Ergebnisse der Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1933 in ihrer Bedeutung für die kommunale Arbeit • Bevölkerungsfortschreibung • Das Einwohnermeldewesen in seiner Bedeutung für die Bevölkerungsfortschreibung • Entstehung des Wohnungsfehlbedarfs und Entwicklung des zukünftigen Bedarfs • Die Statistik im Dienst der Rassen- und Familienkunde • Vergleichbarkeit und Ausbau der Fürsorgestatistik • Der Baukostenindex in seiner Bedeutung für die gemeindliche Praxis Stadtforschung und Statistik 2/ 09

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Wuppertal und Weihnachten

59. Tagung des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Erstmals war Darmstadt Gastgeber für die Städtestatistiker. Zwei Tage (29. und 30. September 1959) traf man sich hier und trotz der kurzem Dauer quoll die Tagesordnung über: 62 Referaten konnten man lauschen, viele befassten sich mit der VZ und Wahlen. Hier eine kleine Auswahl der übrigen Themen: • Zur statistischen Erfassung der Bau- und Wohnungsmarktlage in den Städten • Die Einwohnerplatteien der Städte als statistische Grundlage zwischen den Großzählungen • Wohnwünsche der Pendler • Die Bedeutung der Statistik für wirtschaftsfördernde Maßnahmen der Städte • Statistische Erfassung des örtlichen Bestandes an Mopeds • Stadtteil- und Stadtbezirksgliederung • Richtlinien für die Bevölkerungsfortschreibung • Statistik der Krankenanstalten • Fragebogen zur Verweildauer in Krankenanstalten • Vergleichende Tuberkulose-Statistik • Theaterstatistik • Museumsstatistik • Statistik der Grundsteuerausfälle • Statistik der innerstädtischen Wanderung • Fremdenverkehrsstatistik nach Übernachtungspreisen

Wuppertal und Weihnachten Martin Schlegel, Hagen

Niemand wird auf die Idee kommen, diese beiden Begriffe seien eine geläufige Symbiose. Niemand? Wirklich niemand? Einsehbar ist, dass die Statistische Woche damit nichts zu tun hat. Sie findet zwar in Wuppertal statt, aber im Oktober. Der Bezug zwischen Weihnachten und Wuppertal ist ein völlig anderer: Dort an der Wupper arbeitet ein kleiner Verlag, der Spiele verlegt: LudoArt (www. ludoart.de). Sein Name ist auch Programm. Die Spiele müssen nicht nur ausgezeichnet funktionieren und spannend ablaufen, sie müssen auch eine optische Delikatesse sein. Und nun erscheint in diesem Herbst ein Spiel von – Sie denken es sich schon – mir.

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DARWINCI, eine augenzwinkernde Hommage an zwei bedeutende Personen: Charles Darwin und Leonardo da Vinci. Der italienische Maler, Bildhauer und Naturforscher Leonardo da Vinci (1452–1519) widmete sich sein Leben lang der Anatomie. Ein bedeutsamer Teil seiner Studien sind seine Aufzeichnungen über den Aufbau des menschlichen Körpers. Der britische Biologe Charles Darwin (1809–1882) ist der Begründer der Evolutionstheorie, die er 1859, also vor genau 150 Jahren, in seinem Werk „Von der Entstehung der Arten“ niederlegte. Vor diesem Hintergrund stürzen sich 3–5 Experten auf die jüngsten Knochenfunde. Ganz im Zeichen Da Vincis wird hier anatomischer und blühender

Forschergeist belohnt. Dabei entstehen immer wieder Geschöpfe, bei denen Darwin seine liebe Not gehabt hätte, sie in seine Theorie einzuordnen. Aber den Forschern ist jedes Mittel recht, um so viele „Darwin“ (so heißt die in dem Spiel benutzte Währung) wie möglich zu scheffeln. Gefundene Schmuckstücke sind dabei ebenso willkommen. Im Zentrum des Geschehens steht die Versteigerung von Karten. Dabei können Sie nicht nur für sich Karten ersteigern, sondern auch für Mitspieler. Das machen Sie natürlich vor allem dann, wenn es um Ärgerkarten geht. Doch sind Sie nicht alleine und Ihr Einfluss ist begrenzt. Vielleicht wäre das ein gelungenes Weihnachtsgeschenk.

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Präsentation von Daten – PowerPoint und Excel

Grafik und Sprache Hans Menge, Bonn

Ein Vortrag der Rostocker Frühjahrstagung liegt mir noch besonders im Ohr und auch im Auge – der der AG Methoden: „Visualisierung von statis­ tischen Informationen“, auch mein Thema. Sehr treffende Ausführungen waren das. Darauf nehme ich gern Bezug in dem Modul „Diagramme richtig und schnell gestalten“ im Rahmen eines Excel-Kurses für Städtestatistiker. Hieraus einige Anmerkungen: Zwei Sprachen kann der Statis­tiker: 1. seine Muttersprache und 2. die Sprache der Zahlen und Tabellen. Was nicht jeder gleichermaßen beherrscht, ist 3. die „Sprache des Volkes“, und 4. die Sprache der grafischen Formen, die „Formensprache“. Muss man aber, wenigstens leidlich, wenn man statistische Informationen mit Grafiken in gleicher Qualität weiter geben will wie mit den vertrauten Tabellen. 5. Die Exceldiagramm-Sprache zu erlernen ist dagegen leicht, im Vergleich zu 3 und 4. Was kann der tun, dem die grafische Formensprache noch nicht so geläufig ist? a) Sich zunächst einmal bewusst machen, dass man mit Grafiken in einen anderen medialen Bereich eintritt – und b) Beispiele studieren, vor allem schlechte, aber auch gute.

Aber: Es gilt auch zu unterscheiden zwischen • Präsentationsgrafiken und • internen Arbeitsgrafiken – mit jeweils unterschiedli­ chen Anforderungen. Was ist der Unterschied? • Präsentationsgrafiken richten sich an ferne und eilige Leser/ Nutzer, denen der statistische Hintergrund fehlt bzw. ziemlich Schnuppe ist. Aber sie sind das Massenpublikum, das indirekt auch für die Ressourcenausstattung der Statistik gewonnen werden muss. Nur wer seine „Botschaft“ klar und eingängig präsentiert, "kommt an" bei denen. • Arbeitsgrafiken für den internen Gebrauch dagegen dürfen auch komplex sein, sollten die grafische „Botschaft“ zudem hinreichend erläutern – und sei es nur dazu, dass der Produzent selbst später noch nachvollziehen kann, was er damals gedacht und gemeint hat. PowerPoint-Präsentationen mit Excel-Diagrammen – das ist „BILD-Zeitung“ pur, als Aufgabe, sein Publikum auch wirklich zu erreichen. Wer hat nicht schon mal einem der vielen schneidigen ppt-Vorträge beigewohnt, wo tolle ExcelDiagramme die weiße Wand animierten – und keiner hat erkannt, was genau da präsentiert wurde! Alles kleinklein, Schreibtischperspektive im Vor­tragssaal. Auf der Leinwand

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wirkt alles wie Fliegenkleckse, unbedeutend. Vor allem leider: unlesbar aus der Ferne. Schade ... Der nächste Vortrag bitte, hoffentlich besser!? Als Konkurrent in der medialen Welt kommt nur der mit seiner Botschaft an, der seine Präsentation • verständlich bringt (zumindest lesbar!), • sich auf das Wesentliche konzentriert – wer also • überflüssiges Beiwerk aus seinem (ach so bedeutsamem) Werk ausknipst, auf liebgewonnene Details verzichtet! Seufz... Es muss sein! Weniger ist oftmals mehr für den Erfolg in eigener Sache!

Visualisierung

Wie steht es mit Excel, etwa als Wunderwaffe für gute Grafiken? Spruch des Monats: „EXCEL allein macht noch keine gute Grafik, ebenso wenig, wie der sichere Umgang mit MS-WORD noch niemanden zum Dichter gemacht hat“. Der Unterschied ist: Die Kunst des Dichtens kann man nicht mal eben erlernen – das Handwerk zur Erstellung guter Gebrauchs­grafiken dagegen schon. Es lässt sich an Jedermann vermitteln. Mit sichtbarem Erfolg. Auch etliche Grenzen von EXCEL kann man trickreich überspringen und vor allem lernen, viel Aufwand zu sparen, wenn man es klug anpackt.

Grafik-Handwerk

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Autorenverzeichnis Bergmann, Nicole, Verwaltungsfachwirtin, Hannover, Fachbereich Steuerung, Personal und Zentrale Dienste, Bereich Wahlen und Statistik, nicole.bergmann@hannover-stadt.de Böckler, Dr. Stefan, Diplom-Sozialwissenschaftler, Duisburg, Amt für Statistik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten, s.boeckler@stadt-duisburg.de Bömermann, Hartmut, Dipl.-Soz., Referatsleiter, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Berlin, hartmut.boemermann@statistik-berlin.de Etz, Ricarda, Diplom-Geographin, Wiesbaden, Amt für Statistik und Stadtforschung, ricarda.etz@wiesbaden.de Harfst, Hubert, Dipl.-Sozialwirt, Städt. Direktor, Fachbereich Zentrale Dienste – Bereich Wahlen und Statistik der Stadt Hannover, hubert.harfst@hannover-stadt.de Heidbrink, Ingo, Diplom-Geograph, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Amt für Statistik und Wahlen, Abteilung Statistik und Stadtforschung, Düsseldorf, ingo.heidbrink@stadt.duesseldorf.de Knop, Cathrin, Diplomingenieurökonomin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrale Steuerung und Kommunalstatistik, Frankfurt (Oder), cathrin.knop@frankfurt-oder.de Kocker, Barbara, Diplom-Ingenieurin, Kreis Unna, Steuerungsdienst - Statistik und Wahlen, barbara. kocker@kreis-unna.de Leppla, Hans-Jürgen, Kaiserslautern, Gruppe Statistik und Wahlen, h-j.leppla@kaiserslautern.de Leutgäb, Peter, Augsburg, Diplom-Mathematiker, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Stochastik und ihre Anwendungen am Institut für Mathematik der Universität Augsburg, peter.leutgaeb@gmx.net Marienfeld, Burkhard, Diplom-Sozialwissenschaftler, Dortmund, Fachbereich Statistik, bmarienfeld@stadtdo.de Martin, Andreas, Diplom-Geograph, Referent im FB Zentrale Dienste, Hannover, andreas.martin@hannover-stadt.de Martschink, Laura, Diplom-Geografin, Fachbereich Städtebau, Statistikstelle der Stadt Mannheim, laura.martschink@mannheim.de Menge, Hans, Diplom-Ingenieur, Bonn, hdmenge@yahoo.de Nieder, Dr. Tanja, Diplom-Psychologin, Institut für Qualitätsentwicklung, Wiesbaden, Empirische Fundierung der Schulentwicklung, t.nieder@iq.hessen.de Pukelsheim, Prof. Dr. Friedrich, Augsburg, Ordinarius am Lehrstuhl für Stochastik und ihre Anwendungen am Institut für Mathematik der Universität Augsburg, pukelsheim@math.uni-augsburg.de Rebeggiani, Dr. Luca, Statistisches Landesamt Niedersachsen Scharmer, Dr. Marco, Düsseldorf, Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik, marco.scharmer@lds.nrw.de Schlegel, Erika, Realschullehrein, Hagen, e.schlegel@t-online.de Schlegel, Martin, Diplom-Kaufmann, Amtsleiter a.D., Hagen, me.schlegel@t-online.de Sommerer, Ernst-Otto, Dortmund, Diplom-Sozialwissenschaftler, Leiter des Amtes für Statistik und Wahlen, sommerer@stadtdo.de Stein, Ulrich, Diplom-Ökonom, Statistisches Amt Stuttgart, Sachgebiete Wirtschaft und Kultur, ulrich.stein@stuttgart.de Steinberg, Juliane, Diplom-Volkswirtin, Wissenschaftliche Redakteurin, Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, steinberg@demogr.mpg.de Talkenberg, Dietmar Dr., Saarbrücken, talkenberg.nueesch@t-online.de Westphal, Christina, M.A. Soziologie, Koordinatorin und Doktorandin, Rostocker Zentrum zur Erforschung des Demografischen Wandels, westphal@rostockerzentrum.de Wittig, Jürgen, Diplom-Verwaltungswirt, Kassel, Sachgebietsleiter für Statistik und Haushalt im Personal- und Organisationsamt, juergen.wittig@stadt-kassel.de Wixforth, Dr. Jürgen, Dipl.-Ing., Referent bei der Zentralen Datenstelle der Landesfinanzminister in Berlin, wixforth@gmx.de

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