Stadtforschung Statistik – Ausgabe 2/2010

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Editorial

IDAS-Statistik

Stellen Sie sich einfach mal vor, Sie möchten in Neuenstein in Baden Württemberg Urlaub machen. Im Reisebüro buchen Sie ein schönes Hotel und von zu Hause aus planen Sie bereits einzelne Wandertouren und einen Besuch im imposanten Schloss Neuenstein der Fürsten von Hohenlohe. Eine Woche vor Urlaubsbeginn stellen Sie fest, dass Ihr Hotel zwar in Neuenstein liegt, aber nicht in BadenWürttemberg, sondern in Hessen. Da kommt Freude auf. Heike Püttmann und Hans Menge schreiben über die mit den Gemeindenamen verbundenen Problemen – beide auf ihre Art. Martin Bleja, Michael Haußmann, Udo Maack und Michael Wolfsteiner steuern weitere Beiträge zu GIS bei, dem Wachstumsmotor der Statistik. Stichworte sind nicht nur INSPIRE und GDI. Wahlen sind, wie sollte es bei uns anders sein, selbstredend Anlass zur Berichterstattung. Als ich den RCS-Artikel in die Hand bekam, habe ich mir gesagt: Zu lang, viel zu lang. Aber diese Universitären wollen oder können es nicht kürzer. Mein Tipp: Fangen Sie einfach an, Sie lesen von alleine weiter. Die Artikel über das Frauenwahlrecht halten uns einen Spiegel vor: Vor 100 Jahren waren wir noch ziemlich rückständig. Klaus Kosack schreibt uns etwas über „Grüne Frauen und Linke Männer“ und Ernst-Otto Sommerer blickt auf die Dortmunder Wahlwiederholung. Mit der Frage nach einer „Unteren Statistikbehörde“ wirft unser Dortmunder Kollege gleich einen weiteren Stein ins Wasser, der für Wellen sorgen kann, und hofft auf Reaktion aus dem Kollegenkreis. Für Regionen mit eher schwacher Statistik denkt er über andere Organisationsformen nach – knapp und durchaus provokant. Einen guten Überblick über den Zensus 2011 verschafft der Artikel von Josef Schäfer, in dem er über eine gemeinsame Sitzung von VDSt und DStatG berichtet. Nebenbei bemerkt: Dieser Beitrag ist eine schöne Grundlage für den, der für Rat oder Verwaltung seiner Gemeinde einen kleinen Zensuseinstieg machen muss. Hartz IV, Wanderungsmotive und Migrationshintergrund sind weitere Themen, die in diese Ausgabe Eingang gefunden haben. Viele Statistiken – und doch fehlt eine Gattung. Früher, als noch mehr Kapazitäten vorhanden waren, war sie häufiger anzutreffen, mittlerweile aber ist sie so gut wie ausgestorben: Die IDAS-Statistisk, wobei IDAS für „Ist doch auch schön“ steht. Übrigens: In dem hessischen Neuenstein gibt es auch ein Schloss Neuenstein, das muss aber nicht unbedingt ein Trost sein. Martin Schlegel, Hagen

Stadtforschung und Statistik 2/2010

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Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 2 • 2010

Inhalt

Wahlen

Schwerpunkt: GIS

Seite

Martin Bleja, Kamen

Macht aus Zahlen Karten – ein Plädoyer GIS in der Planungspraxis

Udo Maack, Berlin, Michael Haußmann, Stuttgart

Geht das die Kommunalstatistiker überhaupt was an? INSPIRE und GDI im e-Government-Rahmen

Heike Püttmann, München

Der lange Weg zur guten Geo-Information Datenbankgestützte Geokodierung von Ortsnamen

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Hans Menge, Bonn

Sich wundern, lernen ... und schließlich lächeln Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal?

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Michael Wolfsteiner, Frankfurt

Die Gliederung des Frankfurter Stadtgebiets Von der Adresse bis zur Stadtgrenze

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Klaus Kosack, Bonn

NRW-Wahl 2010: Zum ersten Mal mit zwei Stimmen Grüne Frauen und Linke Männer

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Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Landtagswahl und Teil-Wiederholung der Kommunalwahl „Wahlbetrug“ in Dortmund?

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Rubriken

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Thorsten Faas, Dynamische Analyse von Wahlkampfprozessen Rüdiger Schmitt-Beck, Rolling Cross-Section Survey Ansgar Wolsing, Mannheim

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Gisela Notz, Berlin

Frauenwahlrecht in Europa Von Finnland bis Liechtenstein

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Martin Schlegel, Hagen

Verwirrende Vielfalt – Offene Stimmabgabe – Kein Wahlrecht für Frauen Wahlrecht im Deutschen Reich

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Wie Frauen wählen

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Martin Schlegel, Hagen

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Editorial: IDAS-Statistik

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Bevor der Ernst beginnt: Meer-Bayern

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Impressum

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Autorenverzeichnis

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Streiflichter

Internes

Methodik

Inhalt Seite

Josef Schäfer, Düsseldorf

Gemeinsame Sitzung von VDSt und DStatG Zensus 2011

Peter Höfflin, Ludwigsburg

Informationsbedarf und Datenlage zu SGB II Hartz IV und die Folgen für die kommunale Berichterstattung

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Holger Cischinsky, Darmstadt

Praxiserprobte Empfehlungen für die Abfrage von Wanderungsmotiven Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommuna­ len Befragungen

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Stefan Böckler, Düsseldorf

Was macht die Statistik mit den 2+i-ten Zuwanderergenerationen? Zukunft der Statistik von Personen mit Migrations­ hintergrund

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Ernst-Otto Sommerer, Dortmund

Nicht klagen hilft, sondern Neues denken – und umsetzen Zukunftsmodell „Untere Statistikbehörde“?

Bettina Falkenburg, Moers; Blick für das Wesentliche, Daten sammeln, Fahrradcomputer, Alois Kopp, Weiden; 32 Ecken Guido Menn, Siegen; Statistiker über sich Petra Scharrer, Weiden; Stefan Zöllner, Heidelberg

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Udo Maack, Berlin

Die Ex-AG vor der Frühjahrstagung Bericht aus Bonn

Uta Thien-Seitz, München

„Weltstadt mit Herz“, „Nördlichste Stadt Italiens“ oder „Heimliche Hauptstadt Deutschlands“? Willkommen in München

Martin Schlegel, Hagen

Von der Dienstbotenstatistik bis zum Zensus Rückblick auf die Statistikertreffen

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Martin Schlegel, Hagen

Was kommt nach 40 + 20? Zahl des Jahres 2010

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Martin Schlegel, Hagen

Mehr als nur Statistik 90:10

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Martin Schlegel, Hagen

Es geht auch anders Statistik und Politik

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Andreas Hämer, Großrosseln

Seattle

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Martin Schlegel, Hagen

Gemeinsamkeiten von Key West und Bangkok Klongs

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Barbara Brokate, Coppenbrügge

Buchbesprechung Tabellen gestalten – aber mit Verstand

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Bevor der Ernst beginnt

Meer-Bayern

Hamburg und Schleswig-Holstein sind zu einer Einheit geworden, statistisch. Berlin und Brandenburg sind gefolgt. Doch das ist nicht das Ende der Fusionitis. Nun ist Bremen an der Reihe. Naheliegend ist ein Zusammenschluss mit Niedersachsen. Doch die Bremer vermuteten, dass die Niedersachsen das als Einstieg in die Vereinigung beider Länder sehen – die Statistik als Trojanisches Pferd. Anfangs war NRW, das Land mit starker Statistik, ein heißer Kandidat. Bayerns Wunsch, endlich einen Zugang zum Meer zu bekommen, und Bremens Drang, die Alpen zu erhalten, überwogen alle Fachargumente. Mit dem Sauerland und dem Kölner Karneval konnte NRW nicht gegenhalten. Ein paar Details aus der Vereinbarung, die am 1. Januar 2011 in Kraft tritt: Das Wahlsystem wird in beiden Ländern auf ein Niveau angehoben. Es existiert nur ein Wahlteam, das sich jeweils vor Ort begibt. Zwischen den Landtagswahlen in Bayern und Bremen liegen vier Wochen, also die Vorbereitungszeit für eine Wahl. Bayern bereitet eine Bundesratsinitiative vor, in beiden Ländern auch die Bundestags- und Europawahlen vier Wochen zeitversetzt ablaufen zu lassen. Macht ein Bremer in Bayern Urlaub – und umgekehrt –, wird ein Drittel des Urlaubs als Arbeitszeit gewertet. Den Bremern ist es erlaubt, sich zu beschweren, wenn bei einem Treffen ein Bayer in der Frühstücks­ pause mehr als eine Maß Bier konsumiert. Den Bayern ist es erlaubt, weiter zu trinken. Politische Parteien dürfen keinen Einfluss auf Statistiken haben. Im Anhang der Vereinbarung ist festgestellt, dass die CSU im statistischen Sinn keine Partei, sondern eine regionale Landsmannschaft ist. Dienstbesprechungen finden zentral statt, in geraden Jahren in Frankfurt, in ungeraden in Hagen. Ansonsten in München. Das Amt trägt den Namen: Nord-Süd-Statistik. Die Bayern haben das Recht, in Bayern den Namen „Statistisches Landesamt für Bayern – einschließlich Bremen (SLfB-eB)“ zu tragen. Intern hat sich in München für Bremen der Begriff „Meer-Bayern“ gebildet. Martin Schlegel, Hagen 4

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Gemeinsame Sitzung von VDSt und DStatG

Zensus 2011 Josef Schäfer, Düsseldorf

In Deutschland erfolgt mit Stichtag 9. Mai 2011 erstmals seit 1987 in den alten Bundesländern und erstmals seit 1981 in den neuen eine Bestandsaufnahme von Personen, Haushalten, Gebäuden und Wohnungen. Eine Verordnung der Europäischen Union – Verordnung (EG) Nr. 763/2008 vom 09.Juli 2008 über Volks- und Wohnungszählungen – schreibt künftig im Abstand von zehn Jahren für alle Mitgliedstaaten verbindlich einen Zensus vor. Im Jahr 2001 fand der letzte EU-weite Zensus ohne Deutschland statt. An die Stelle des fehlenden Zensus für Deutschland wurden der Europäischen Union ersatzweise Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung und des Mikrozensus übermittelt. Gleichzeitig wurde im Rahmen des sogenannten Zensustest 2001 ein von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder neu entwickeltes Verfahren für einen registergestützten Zensus getestet.

Zensus­ notwendigkeit In Deutschland ist ein neuer Zensus dringend erforderlich. Gründe hierfür sind vor allem, dass • eine neue gerichtsfeste amtliche Einwohnerzahl festgestellt werden muss, • wichtige Strukturmerkmerkmale über die Bevölkerung sowie über Gebäude und Wohnungen erhoben werden müssen, • das statistische System neu justiert werden muss.

Der Zensus 2011 war und ist inzwischen auch Schwerpunktthema unterschiedlicher Fachtagungen. So fand im Januar 2010 beim Landesbetrieb Information und Technik Nord­ rhein-Westfalen (IT.NRW) eine gemeinsame Sitzung von VDSt und DstatG statt, die Grundlage dieses Berichts ist.

Erhebungs­ verfahren Anders als bei der Volkszählung 1987 werden im Rahmen des Zensus 2011 nicht mehr alle Haushalte und Personen befragt, vielmehr werden vorhandene Verwaltungsdaten aus Einwohnermelderegis­ tern­ sowie aus erwerbsstatis­ tischen Registern der Bundesagentur für Arbeit und den Gebietskörperschaften genutzt. Die Gebäude- und Wohnungseigentümer/-innen hingegen werden flächendeckend und postalisch zu Gebäuden und Wohnungen befragt. Die Bewohnerinnen und Bewohner von sogenannten Sonderanschriften (Wohnheime, Anstalten, Kasernen, Klöster, Meldeanschriften von Seeleuten und Binnenschiffern, fiktive Anschriften zur Meldung von Obdachlosen und anderen „Sonderbereichen“) werden je nach Art und Sensibilität des Bereichs mit jeweils spezifischen Erhebungsformen ermittelt. Die fehlende flächendeckende Begehung aller Gebäude und Wohnungen zur Befragung von Haushalten und Personen führt zwar zu einem wesent-

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lich geringeren Gesamtaufwand, erfordert aber bereits im Vorfeld den Aufbau einer Auswahlgrundlage, dem sogenannten Anschriften- und Gebäuderegister, das im Zensusvorbereitungsgesetz vom 13. Dezember 2007 geregelt ist. Vorgestellt wurde dieses Konzept von Herrn Szenzenstein vom Statistischen Bundesamt. Auch die Feststellung der zu befragenden Gebäude- und Wohnungseigentümer/-innen erfolgt im Vorfeld des eigentlichen Zensus. Rechtsgrundlage des Zensus 2011 selbst ist das Zensusgesetz 2011 vom 9. Juli 2009. Einzelheiten zur Haushaltsstichprobe regelt eine noch zu verabschiedende bundesweit geltende Stichprobenverordnung. Zur Ausführung des Zensusgesetzes 2011 in den Bundesländern sind noch eigene Landesgesetze erforderlich. Das Zensus-Design, das eine Datenerhebung aus unterschiedlichen Quellen und mit diversen Bestandteilen beinhaltet, benötigt komplexe und vielfältige Verfahren, Daten zu verknüpfen. So werden z. B. Melderegister und Angaben der Gebäude- und Wohnungszählung anschriftenweise zum Zwecke einer Haushaltegenerierung nach unterschiedlichen Kriterien zu Haushalten zusammengeführt. Die Erhebung von Personen in Form einer möglichst kleinen Haushaltsstichprobe, die aber dennoch die Neuermittlung einer gerichtsfesten Einwohnerzahl sicherstellt und belastbare Er-

9. Mai 2011

Nutzung vorhandener Verwaltungsdaten

Haushaltegenerierung

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ZENSUS 2011

Zwei Zwecke der Stichprobe

Erhebungsstellen und Erhebungsbeauftragte

tistik: Über Stalitiker:

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gebnisse liefert, stellt hohe anforderungen an die optimierung des Stichproben-designs. Hierzu wurde ein Stichprobenforschungsprojekt vergeben. Prof. dr. Münnich von der Universität trier hat das Verfahren zur optimierung der aufteilung des Stichprobenumfangs zwischen Gemeinden und das daraus resultierende Stichproben-design vorgestellt. die Stichprobe im Umfang von bundesweit rund 10 % der Bevölkerung dient dabei zwei Zwecken: der Kontrolle von Über- und Untererfassungen der Melderegister sowie der Ermittlung von Merkmalen, die nicht aus den vorhandenen Verwaltungsdaten entnommen werden können, wie z. B. im Bereich der Bildung, der Migration, der Selbstständigen oder zur abgrenzung der Erwerbstätigkeit gemäß der definition der internationalen arbeitsorganisation (ilo). Bei kleinen Gemeinden stoßen die Möglichkeiten einer Zufallsstichprobe an Grenzen. die Haushaltsstichprobe erfüllt die Funktion der Kontrolle der Melderegister nur in den Gemeinden mit 10.000 oder mehr Einwohnern. in den kleineren Gemeinden hingegen, deren Melderegister, wie die Ergebnisse des Zensustests 2001 zeigten, in qualitativer Hinsicht besser sind als diejenigen großer Gemeinden, greifen andere Kontrollmechanismen. Hierzu zählen die primärstatistische Klärung von auffälligkeiten aus einem Vergleich der angaben der Melderegister mit denen der Gebäude- und Wohnungszählung (Mini-Haushaltegenerierung) sowie eine Klärung des tatsächlichen Wohnsitzes bei allen sogenannten „Mehrfachfällen“, konkret den Personen, die in mehr als einer Gemeinde mit Hauptwohnung oder bundesweit ausschließ-

lich mit einer oder mehrerer Nebenwohnungen gemeldet sind.

Aufgaben der Erhebungsstellen Ein weiteres zentrales thema der tagung waren die aufgaben der kommunalen oder auf Kreisebene angesiedelten Erhebungsstellen. Herr Kosack (Stadt Bonn) und Frau rosemeier (Stadt Karlsruhe) präsentierten ihre Planungen zur Einrichtung und ausstattung der Erhebungsstellen. die aufgaben der örtlichen Erhebungsstellen bestehen in der • Durchführung der Haushal­ testichprobe durch Erhebungsbeauftragte, • Durchführung der Erhebung in Sonderbereichen durch speziell geschulte Erhebungsbeauftragte, • Einschätzung von Wohn­ gebäuden mit fehlenden angaben aus der Gebäudeund Wohnungszählung vor ort, • Sicherung der Erhebungs­ unterlagen, • Durchführung des Mahnwe­ sens bei der Haushaltsstichprobe und den Erhebungen in Sonderbereichen. die Erhebungsstellen sind dabei vor allem auch anlaufstellen und ansprechpartner der Erhebungsbeauftragten. Sie sind räumlich, organisatorisch und personell von den anderen Verwaltungsstellen zu trennen (§10 abs. 2 Satz 1 ZensG 2011). die statistischen landesämter unterstützen die Erhebungsstellen durch • die Bereitstellung von Ar­ beitsanleitungen, • den Druck und die Bereit­ stellung von organisationsunterlagen, • die Bereitstellung von Spe­ zialsoftware,

• die Schulung von Multipli­ kator(inn)en in Erhebungsabläufe und bereitgestellte Software, • der Schulung der Erhebungs­ beauftragten. die Zensus-Erhebungen werden spätestens im april 2012 abgeschlossen sein. danach können die Erhebungsstellen wieder aufgelöst werden.

VZ-Ergebnisse die auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011 nach 18 Monaten (vorläufiges Ergebnis) bzw. 24 Monaten (endgültiges Ergebnis) nach dem Stichtag am 9. Mai 2011 wird derzeit ebenfalls vorbereitet. Herr dr. Bubik vom Statistischen landesamt Baden-Württemberg stellte hierzu das Konzept der auswertungen aus der Haushaltsstichprobe vor. Herr dr. Schulmeyer (Stadt Frankfurt) formulierte die Erwartungen der Städtestatistik an kleinräumige auswertungen, Frau Wörner (Stadt Frankfurt) den datenbedarf der Städte. Herr Schwarz (Stadt Stuttgart) wies auf Probleme der künftigen Fortschreibung der amtlichen Einwohnerzahlen auf Basis des Zensus 2011 hin. Vorträge zu den Zensusmodellen Österreichs und der Niederlande erlaubten einen Blick über die Grenzen deutschlands. Frau Hallwirth von der Firma MHE & Partner GmbH stellte Ergebnisse einer Probezählung zum Österreichischen Zensus vor. Herr dr. Schulte-Nordholt von Statistics Netherlands präsentierte das Konzept des virtuellen Zensus der Niederlande, bei denen unterschiedliche register, die sich gegenseitig prüfen, miteinander verknüpft werden.

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Macht aus Zahlen Karten – ein Plädoyer

GIS in der Planungspraxis Martin Bleja, Kamen

Es ist 16.50 Uhr, kurz vor Feierabend, mein Telefon schrillt und mein Baudezernent ist dran: er braucht für morgen früh eine Planunterlage für den Verwaltungsvorstand. Diesen Plan gibt es noch nicht und trotzdem gehe ich pünktlich nach Hause, denn ich weiß: in meinem GIS gibt es genügend Material, aus dem ich am nächsten Morgen bis 9.00 Uhr problemlos einen Plan basteln kann – nicht besonders aufwendig gestaltet, aber brauchbar. Gut, zugegeben eine relativ simple Aufgabe, aber es ist noch gar nicht so lange her, da hätte man für einen solchen Plan ein paar Tage einen technischen Zeichner beschäftigen können. Das ist ein Vorteil von GISund CAD-Programmen und vielleicht der zurzeit noch am stärksten genutzte: man verfügt damit über eine enorm leistungsfähige Kartenproduktionsmaschine und aus dem Plotter nebenan quellen pro Woche einige Quadratmeter bunt bedruckten Papiers. Mit diesem Papier werden Bürowände tapeziert, Ausschüsse und Räte bedient, Träger öffentlicher Belange versorgt und vieles mehr.

Der Plan – das Medium Nach wie vor ist die Karte, ist der Plan das Kommunikationsmedium zwischen uns Planern und Politikern oder Planern und Bürgern. Die Technik hat den

Herstellungsprozess solcher Karten in den vergangenen zwei Jahrzehnten aber grundlegend verändert. Schon vor der Verbreitung der PCs gab es Bemühungen, die Produktion von Karten auf den Computer zu übertragen. Während meines Planer-Studiums in den 80er-Jahren saßen wir an Großrechner-Terminals und stanzten Lochkarten. Seit der Verbreitung der PCs wurden die verschiedenen CAD-Programme und GIS-Anwendungen leistungsfähiger und anwendungsfreundlicher und seit Google mit seinen Karten jeden Rechner versorgt, ist auch bei Menschen, die sonst selten mit Karten zu tun haben die Erwartung da, die ganze Welt als Karte mit einem Mausklick auf den heimischen Rechner zu beamen. Trotzdem gibt es noch Bereiche, in denen das Kommunikationsmedium Karte nur eine untergeordnete Rolle spielt. Ich greife zum Statistischen Jahrbuch meines Arbeitgebers der Stadt Hagen und finde in diesem knapp 200 Seiten starken Werk jede Menge Tabellen und Grafiken aber nur etwas mehr als eine Hand voll Karten. Karten scheinen offenbar als Kommunikationsmedium bei Statistikern nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Die Vorteile der Zahlen gegenüber der Karte liegen wohl darin, dass die Zahl eine definierte Größe ist, mit der ich rechnen kann, z.B. statistische Mittelwerte bilden kann, die mir Vergleiche mit anderen Städten etc. ermöglichen.

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Andererseits haben viele, wenn nicht fast alle statistischen Daten eine räumliche Komponente: • der Einwohner hat einen Wohnsitz mit einer Adresse, • die leerstehende Wohnung eine Anschrift, • die zugelassenen Kraftfahrzeuge einen Standort, • der Beschäftigte einen Arbeitsplatz. Diese räumliche Komponente muss also nicht extra erhoben werden. Sie ist regelmäßig Bestandteil der Daten, kann aber für mich als Stadtplaner nicht unmittelbar genutzt werden. denn mein Statistisches Jahrbuch enthält diese Daten nicht mehr. Das ist bedauerlich, denn GIS ist weit mehr als eine Kartenproduktionsmaschine. Dank GIS hat meine Karte schon seit langem einen ungeheuren Mehrwert. Sie „weiß“: • wie groß die Fläche ist, die ich gerade betrachte, • wer der Eigentümer ist (Verknüpfung mit ALB), • wie sie aktuell genutzt wird (Realnutzungskartierung), • welche Planungsvorstellun­ gen bestehen (Planung, Umwelt, Liegenschaften etc.) und vieles mehr. GIS ist also auch ein gigantischer Datenspeicher, mit dem ich mein Kommunikationsmittel „Karte“ füllen kann.

Der Raumbezug ist vorhanden

Mögen Statistiker keine Karten?

Aufgabe der Statistiker Planung benötigt eine Vielzahl raumbezogener Informationen: Informationen, die innerhalb 7


Zahl des Jahres 2011

Statistiker tragen Verantwortung

Bleibt das kartenreiche Jahrbuch ein Traum?

und außerhalb der Verwaltung an vielen Stellen produziert, gesammelt und verteilt werden, ohne dass ich als Planer darauf zugreifen könnte. Dabei könnte die Qualität und Aktualität der Planung (und damit der Entscheidungen) entscheidend verbessert werden, wenn es uns gelänge, die vorhandenen raumbezogenen Informationen besser zu nutzen. Einen entscheidenden Beitrag könnten dazu die Städtestatistiker leisten, die mit einer Vielzahl von raumbezogenen Informationen umgehen. Statistiker sind Experten in der Erhebung, Verwaltung und Interpretation von Daten. Dieses Wissen könnte einen Beitrag dazu leisten, auch das Erheben, Verwalten und Interpretieren von raumbezogenen Informationen zu verbessern. Während die Technik der Geoinformationssysteme in den letzten Jahren immer leistungsfähiger und komplexer wurde, scheinen nunmehr die Bedarfe in der Strukturierung der enormen Datenmengen zu liegen. Das

intelligente Management von raumbezogenen Informationen ist eine Zukunftsaufgabe, die jeder erkennt, der schon mal die verwaltungsinternen Datenserver durchforstet hat, und auf terrabytes von Informationen gestoßen ist, bei denen keinerlei Informationen zur Herkunft, Aktualität und Struktur der Daten hinterlegt sind. Kurz und gut: hier bestünde ein lohnendes Aufgabenfeld für die Zukunft. Bislang scheint die Technik noch eine Barriere zu bilden, die verhindert, dass sich weitere Fachbereiche außerhalb der Planungs-, Umwelt- und Vermessungsverwaltung mit Geoinformationen befassen. Es sind jedoch mittlerweile schon bedienungsfreundliche Systeme am Markt, so dass zukünftig auch die Erfassung räumlicher Daten jedem PC-Nutzer geläufig sein wird und damit das Potential an raumbezogenen Informationen immer weiter zunimmt. Daher wird GIS in den nächsten Jahren zunehmend aus den klassischen

technischen Arbeitsbereichen in weitere Gebiete vordringen: Immobilienverwaltung, Sozialverwaltung, Gesundheitswesen, öffentliche Sicherheit und, wie in einigen Städten bereits seit Jahren praktiziert, in die Statistischen Ämter. Das bietet auch für uns Planer neue Perspektiven, macht aber zugleich die Notwendigkeit einer durchdachten Geodateninfrastruktur und eines Geodatenmanagements umso dringender.

Noch ein Telefonat Es ist 11.30 Uhr; das Telefon schrillt und der Kollege aus der Statistik ist dran. Er weist mich darauf hin, dass das neue Statistische Jahrbuch jetzt online verfügbar und mit vielen Karten ausgestattet ist. Ich solle mal schauen, was ich daraus für meinen Arbeitsbereich verwenden kann. Bei Bedarf könne ich mir die Daten aus der Datenbank in mein GIS einladen und so nutzbar machen. Leider war das nur ein Traum.

Was kommt nach 40 + 20?

Zahl des Jahres 2010 Martin Schlegel, Hagen

Ihre Vorschläge, bitte.

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Für 2009 hatte die Redaktion von „Stadtforschung und Sta­tis­tik“ einen Vorschlag aus Leipzig aufgegriffen und 40+20 als Zahl des Jahres bestimmt. Passend, denn die 60 Jahre Bundesrepublik teilen sich nun mal in 40 getrennte und 20 gemeinsame Jahre.

Welche Zahlen kommen nun aus der Leserschaft, denn die ist ja jeweils Quelle der Vorschläge? Vielleicht etwas aus der Fußballwelt, schließlich hatten wir 2006 die 3 als Zahl des Jahres (3. Platz bei der WM). Aber damit dürfte die 3 besetzt sein. Vielleicht schweift

der Blick wieder in die Politik, die mehr als einmal für die herausgehobene Zahl gesorgt hat? Aber es gibt so viele Möglichkeiten für eine würdige Zahl des Jahres. Welche empfehlen Sie? Wir werden es sehen. Die Redaktion ist auf jeden Fall schon auf Ihre Vorschläge gespannt.

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Geht das die Kommunalstatistiker überhaupt was an?

INSPIRE und GDI im e-Government-Rahmen Michael Haußmann, Stuttgart; Udo Maack, Berlin

Macht man sich heute Gedanken um die Zukunft der öffentlichen Verwaltung, kommt man am Thema e-Government nicht vorbei. Verwaltungsdienstleis­ tungen sollen künftig in einem „One-Stop-Shop“ schnell, einfach und möglichst rund um die Uhr erreichbar sein. Dies soll über neue Online-Verfahren realisiert werden. Neben elektronischen Auskunfts- und Antragsportalen stehen dabei auch Dienste zum Austausch von Informationen im Zentrum der Überlegungen. Die in der heterogenen IuK-Landschaft existierenden Medienbrüche sollen durch Standardisierung überwunden werden, so dass die Informationen leicht zugänglich und interoperabel vorliegen. Damit wird nicht nur den europäischen Pflichten nachgekommen, sondern auch ein wesentlicher Impuls in der Entwicklung der e-Government-Prozesse ausgelöst.

Geodaten­ infrastruktur Die Initiative der Europäischen Kommission zur Schaffung einer Europäischen GeodatenBasis mit integrierten raumbezogenen Informationsdiens­ ten beschleunigt das Thema e-Government erheblich. Die INSPIRE-Richtlinie (Infrastructure for Spatial Information in the European Community) vom 14. März 2007 verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, bereits vor-

handene und in digitaler Form vorliegende Geobasisdaten und Geofachdaten interoperabel bereitzustellen. In Deutschland ist das Geodatenzugangsgesetz (GeoZG) als nationale Umsetzung des europäischen Rechts am 14. Februar 2009 in Kraft getreten, in den meisten Bundesländern wurden bereits entsprechende Ländergesetze geschaffen. Die damit entstehende Geodateninfrastruktur (GDI) wird den fachübergreifenden Zugang zu allen verfügbaren Geodaten, welche ansonsten getrennt bei den einzelnen Institutionen vorliegen, ermöglichen. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Daten an einen zentralen Geodatenserver überspielt werden, sondern dass standardisierte Benutzerschnittstellen und Dienste zur Verfügung gestellt werden. Es entsteht ein Netz aus dezentralen Systemen, die hersteller- und produktneutral sind. Oft wird die Situation mit dem der Elektrizitätsnetze verglichen, in denen der Strom vom Kraftwerk bis zur häuslichen Steckdose über standardisierte Schnittstellen eingespeist, gewandelt und dem Verbraucher zugestellt wird. Bei der Standardisierung spielen die ISO Reihe 19100 sowie die vom Open Geospatial Consortium veröffentlichten Implementierungsspezifikationen eine tragende Rolle.

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Der Verzicht auf Zentralisierungsbestrebungen beruht auf der Erkenntnis, dass sich Geschäftsprozesse nicht zentralisieren lassen und dass verteilte Systeme ausfallsicherer sind als zentrale Systeme. Das Projekt besteht aus organisatorisch getrennten, inhaltlich aber eng verzahnten Teilen: Auf europäischer Ebene wird die Europäische Geodateninfrastruktur ESDI (European Spatial Data Infrastructure) aufgebaut, in Deutschland auf der Bundesebene die GDIDE und auf der Ebene der 17 Bundesländer die jeweilige GDI-Bundesland. In den Kommunen können kommunale GDIs entstehen. Alle GDIs zusammen sollen ein integriertes System ergeben. Um dieses Vorhaben umzusetzen sind nicht geringe Investitionen zu tätigen. So müssen die Metadaten erstellt, Geobasis- und Geofachdaten in ein Standardformat gebracht werden, sowie die entsprechenden Dienste auf Geodatenservern eingerichtet und verfügbar gemacht werden. Dafür sieht die INSPIRE-Richtlinie eine stufenweise Umsetzung bis 2019 vor. In den Mitgliedsstaaten sind parallel dazu die nationalen, regionalen und lokalen Voraussetzungen zu schaffen. Dies kann nicht neben der eGovernment Entwicklung geschehen, sondern muss in diese integriert werden.

Keine Zentralisierung

Ein integriertes System

ISO Reihe 19100

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INSPIRE und GDI im e-Government-Rahmen

Verpflichtung zur Datenbereit­ stellung?

Was wird gespeichert?

An der Konkretisierung wird gearbeitet.

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Welche Daten in der GDI für e-Government (von der kommunalen bis zur europäischen Ebene) verfügbar gemacht werden sollen, ist zumindest schlagwortartig der INSPIRERichtline sowie den Geodatenzugangsgesetzen des Bundes und der Länder zu entnehmen. Für die Statistik sind dabei folgende Themen von besonderem Interesse: • „Verwaltungseinheiten“, „Adressen“, „Statistische Einheiten“ und „Gebäude“ als Geobasisdaten mit direktem Bezug zur Statistik; • „Gebäude“, „Produktionsund Industrieanlagen“ und „Landwirtschaftliche Anlagen“ als Geofachdaten mit Gebäude / Adressbezug; • „Demografie“ als Geofachdaten auf Aggregatebene, zusammengefasst nach Gitter, Region, Verwaltungseinheit oder sonstigen analytischen Einheiten. Die Konkretisierung der grob definierten Themen erfolgt in den jeweiligen Durchführungsbestimmungen, und solche liegen heute nur zu den Themen des Anhangs I der INSPIRERichtlinie zur Verabschiedung im europäischen Parlament vor. Die Bestimmungen für die Themen der Anhänge II und III werden seit Frühjahr 2010 ausgearbeitet und voraussichtlich 2012 verabschiedet. Für INSPIRE gilt aber, dass Geodatensätze und -dienste der lokalen Ebene nur dann bereitgestellt werden müssen, wenn ihre Sammlung oder Verbreitung rechtlich vorgeschrieben ist. Damit könnte man es sich auf kommunalstatistischer Seite einfach machen und sich darauf berufen, dass beispielsweise die Ausweisung von fein-

granularen Bevölkerungsdaten in tiefer Merkmalskombination sowie die Sammlung von qualitätsgesicherten Adressen, keinen direkten Bezug zu einer gesetzlichen Verpflichtung besitzen. Man könnte sich also zurücklehnen. Doch mit einer solchen Position würde man die Chancen, die eine moderne Geodateninfrastruktur bietet, außer Acht lassen und sich von zukünftiger Zusammenarbeit im Rahmen der Verwaltungsprozesse ausschließen, eine Entwicklung die kein Kommunalstatistiker anstreben sollte.

Chancen für kommunale Daten Statistische Informationen werden von einer sehr breiten Zielgruppe nachgefragt. Deshalb ist es wichtig, die Daten leicht auffindbar anzubieten. Stellt man das Statistikdatenangebot auf die Statistik-Webseiten der jeweiligen Städte, setzt man voraus, dass potenzielle Interessenten auch wissen, dass diese Informationen in der Rubrik „Statistik“ zu finden sind. Der GDI-Ansatz geht darüber hinaus von zentralen Verzeichnissen / Katalogen aus, in denen die Daten in Form von Metadaten beschrieben sind. In diesen GDI-Katalogen kann ein Interessent – oder sein Programm – suchen und erhält jeweils die Metadaten und ggf. eine Vorschau. Findet er das Gewünschte, kann er oder sein Programm den dazugehörigen Link (URL) abrufen und in seine Anwendung einbinden. Die­ se wiederum nutzt die abgerufenen Inhalte zur Darstellung oder zur Weiterverarbeitung. Was liegt also näher, als die Metadaten zu den kommunalstatistischen Informationen zu standardisieren und in die GDI-Landschaft einzubinden?

Dies gilt es zu prüfen, und auch, ob das bestehende GDIkonforme Metadatenprofil für die räumlich skalierbaren statistischen Geofachdaten geeignet ist oder gegebenenfalls erweitert werden muss. Eine Chance dies zu erreichen, gibt der gerade angelaufene Spezifikationsprozess in INSPIRE. Dass die Informationsschätze der Kommunalstatistik im GDIRahmen auffindbar sind, ist für eine langfristige Existenzsicherung notwendig. Noch besser wäre es, wenn diese auch gleich in einer Vorschau angezeigt, heruntergeladen und in eigene Anwendungen eingebunden werden könnten. Dies erfordert einen sog. Geo­ datenserver, der i.d.R. im Rahmen einer kommunalen GDI zentral bereitgestellt wird und auch seitens der Statistik genutzt werden kann. Sofern Gebühren dabei anfallen, können sie über ein Shopsystem verrechnet werden. Gerade die Bereitstellung der Daten erfordert aber erhebliche Investitionen, die nur durch deutliche Vorteile wie die bessere Auffindbarkeit der Daten und eine Entlastung von Routineauskünften durch den Online-Abruf zu rechtfertigen sind.

Aufgabe der Kommunalstatistik? Wie soll nun die Kommunalstatistik mit diesem Thema umgehen? Die Mitgliederversammlung des VDSt hat 1998 in Lübeck ein „Kommunalstatistisches Leitbild“ verabschiedet, in dem ein klares Bekenntnis abgegeben wird, dass die Kommunalstatistik die Entwicklungen in der Informationstechnologie nicht nur umfassend nutzen, sondern sie auch aktiv mitgestalten und ihren Beitrag zur Entwicklung

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iNSPirE UNd Gdi iM E-GoVErNMENt-raHMEN eines informationsmanagementsystems leisten muss. Wenn dieser Beschluss auch heute noch gültig ist, erscheint ein aktives Mitgestalten an einer ineinander verzahnten europäischen / nationalen / föderalen / kommunalen Geodateninfrastruktur als die adäquate Herangehensweise.

Aktive Begleitung des GDI Wie kann man das thema nun also aktiv angehen, ohne gleichzeitig die knappen ressourcen außer acht zu lassen? Zunächst kann man auf das Netzwerk in der eigenen Stadt zurückgreifen bzw. ein solches Netzwerk initiieren. aber auch regionale Gdi-initiativen sind hier ansprechpartner. in Stuttgart existiert beispielsweise eine „GiS-aG“ als ämterübergreifende arbeitsgruppe, die sich mit allen Querschnitts-GiS-themen befasst und gemeinsame Projekte koordiniert. Ein wichtiges Gemeinschaftsprojekt ist der „GeoKatalog Stuttgart“, ein Gdi-konformes Metadateninformationssystem zu den in der Stadtverwaltung vorhandenen Geodaten. Für die übergemeindliche abstimmung ist das dach des Städtetags prädestiniert. Fachressortübergreifend hat sich in Baden-Württemberg bereits ein „aK GiS“ gebildet, in dem die Vertreter der einzelnen Fachbereiche über aktuelle Gdi-Entwicklungen informiert werden und gemeinsame Stellungnahmen zu Gdi-themen abstimmen können. auf der Ebene des deutschen Städtetags wird derzeit ebenfalls an der Einführung eines Fachnetzwerks zum thema Gdi/iNSPirE gearbeitet. Hier sollen die Positionen der einzelnen Fachbereiche zur Gdi

Umsetzung erarbeitet werden und z.B. den Vertretern des Städtetags im Koordinierungsgremium Gdi-dE als abgestimmte Haltung an die Hand gegeben werden. auf der Statistik-Fachebene wurde von der amtsleiterkonferenz des Statistischen Bundesamts und der landesämter ein Koordinierungsgremium gebildet. Hier sollen Vertreter des Bundesamts sowie der landesämter gemeinsam mit einem Vertreter der Kommunalstatistik erarbeiten, wie statistische daten mit unterschiedlichen raumbezügen in die Geodateninfrastruktur integriert werden können und welche auswirkungen dies für die künftige arbeitsteilung zwischen Bund, ländern und Kommunen hat. informationen zu den GdiEntwicklungen werden auch auf der Ebene der Gdi-dE, beispielsweise im rahmen der Fachnetzwerke diskutiert und von den deutschen Vertretern in den thematischen arbeitsgruppen (tWGs) zur ausarbeitung der datenspezifikationen genutzt. Mehr oder weniger abgeschlossen sind dabei die abstimmungen zu den themen des annex i der iNSPirE-richtlinie (u.a. adressen), notwendig ist es noch Ergänzungen in der nationalen Umsetzung zu erarbeiten. die Fachnetzwerke zu den themen der annexe ii und iii (u.a. Statistische Einheiten und Bevölkerungsverteilung – demografie) sollen z.B. gegen Ende dieses Jahres die zur diskussion gestellten Entwürfe zu den datenspezifikationen der tWGs kommentieren. interessenten mit weitergehenden interessen können bereits jetzt auf den Entwicklungsprozess über die „German iNSPirE interest Group“ im „iNSPirE-Forum“ Einfluss nehmen. diese diskussions-

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plattform ist für jedermann über das internet offen. Hier gilt es, das thema wachsam zu beobachten und gegebenenfalls wichtige Positionen der Kommunalstatistik einzubringen. Von der Koordinierungsstelle Gdi-dE ist geplant, in diesem Sommer den deutschen Experten für ihre Mitarbeit ebenfalls eine internetplattform bereitzustellen1.

Aufruf zum aktiven Mitmachen als Kommunalstatistiker standen wir in der Vergangenheit, was technische Entwicklungen angeht, stets in der ersten reihe. Nicht zuletzt aufgrund von finanziellen restriktionen besteht gerade in der heutigen Zeit eines schnellen technologischen Wandels die Gefahr, dass die Kommunalstatistik von den allgemeinen Entwicklungen abgekoppelt wird. deshalb sollten wir die Synergien nutzen und unsere daten in der europäischen Gdi-landschaft sichtbar machen. Eine gute Möglichkeit, sich mit dem thema detailliert auseinander zu setzen, bietet die Statistische Woche 2010 in München, bei der unter dem titel „information greift raum“ auch das Gdi-thema im Vordergrund steht. die diskussion geht also weiter…

GeoKatalog Stuttgart

Baden-Württemberg: AK GIS

Anmerkung 1

anmelden zum derzeitigen Fachnetzwerk im rahmen des iNSPirE Forums kann erfolgen über http:// www.gdi-de.org/de_neu/inspire/ navl_fn.html

Über Statistik

:

Statistiken, di e nur Statistiker vers tehen, sind – auch au s Sicht der Statistik – Unfug.

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Der lange Weg zur guten Geo-Information

Datenbankgestützte Geo­ kodierung von Ortsnamen Heike Püttmann, München

Probleme der Datenqualität

Chemnitz oder Karl-Marx-Stadt

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In vielen Fällen werden Angaben zu Orten immer noch ausschließlich über den Ortsnamen erfasst und gespeichert (z.B. Geburts- oder Wohnorte bei Befragungen oder in der amtlichen Statistik). Für eine räumliche Auswertung müssen also alle Ortsnamen um geografische Informationen (Koordinaten) ergänzt bzw. georeferenziert werden. Koordinaten lassen sich von einem in ein anderes Koordinatensystem transformieren und fast beliebig projizieren. Wenn Größe und Form der jeweiligen Gemeindegebiete nicht relevant sind, reicht bei vielen mittleren und kleinmaßstäbigen Auswertungen die Geokodierung eines Ortes als dimensionsloser Punkt aus. Hierbei werden nur dem Ortsmittelpunkt (Zentroide) Koordinaten zugewiesen. Auf Grundlage dieser Punktkoordinaten können einfache räumliche Analysen gemacht werden, wie Punkt-in-Polygon, buffer oder nearest neighbour. Damit lassen sich Fragen wie „In welchem Bundesland liegt der Ort x?“ oder „welche Orte liegen im Umkreise von y km um Ort z?“ beantworten. Für einige Fragestellungen in der amtlichen Statistik reichen aber auch schon sehr einfache räumliche Zuordnungen, d.h. eine „koordinatenfreie“ Geokodierung in Form von „ Ort A liegt in Land B“ aus, um damit z.B. den Migrationshintergrund einer Person abzuleiten – auch

wenn nur Angaben zum Ortsnamen des Geburtsortes vorliegen.

Charakteristika von Ortsangaben und -namen Die zu erwartende Datenqualität des Merkmals Ortsname wird bestimmt durch die Art und Weise der Erfassung. Diese kann in einem Freitextfeld ohne Rechtschreibprüfung erfolgen und / oder ohne sachliche Plausibilisierung (Gibt es den Ort überhaupt? Mit oder ohne Umlaute? Entspricht die Schreibweise z.B. dem amtlichen Gemeindeschlüsselverzeichnis?). Der Ortsname wird vielleicht im Freitextfeld um weitere Angaben ergänzt, wie z.B. „x jetzt y“, um eine „Historisierung“ bzw. den aktuellen Kenntnisstand darzustellen... Die Ortsnamen selber sind nicht so statisch wie man vielleicht erst einmal denkt. Umbenennungen (Karl-Marx-Stadt => Chemnitz), Ergänzungen (Haltern => Haltern am See) oder Eingemeindungen (Trudering => München) lassen eine Historisierung von Ortsnamen wünschenswert erscheinen. Die Aufgabe der Vermessungsämter ist jedoch aktuell gültige Informationen bereitzustellen. Wer historisiert dann? Für eine automatische Datenverarbeitung müssen die Ortsnamen digital vorliegen bzw. aus analogen Listen erfasst werden.

Der Ortsname sagt nichts über seine Lage auf der Erdkugel aus. Dabei kommen gleiche Ortsnamen in ein und demselben Land bzw. verschiedenen Ländern weltweit mehrfach vor. Viele ausländische Städte haben auch deutsche Eigennamen (Exonyme). So heißt „Wrocwław“ im Deutschen gemeinhin Breslau. Schließlich schränkt gerade in älteren EDV-Systemen der verwendete Zeichensatz die mögliche Schreibweise im Erfassungssystem ein. Nicht die ganze Welt schreibt in lateinischen Buchstaben, so dass die Ortsnamen ggf. transkribiert (z.B. kyrillisch => lateinisch) worden sein können. Auch kann durch einen eingeschränkten Zeichensatz eine Entfernung diakritischer Zeichen erforderlich sein (À => A). Für bundesdeutsche Orte liegt das oben schon erwähnte amtliche Gemeindeschlüsselverzeichnis vor. Dieses Schlüsselverzeichnis wird laufend durch das Statistische Bundesamt fortgeschrieben. So gilt auch hier, dass jeder Gemeindeschlüssel einen Gültigkeitszeitraum besitzt und eine Historisierung erforderlich ist.

Konzept zur Geo­ kodierung von Ortsnamen Die KOSIS-Gemeinschaft hat im Rahmen des Programms MigraPro ein Geokodierungs-

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Datenbankgestützte Geo­kodierung von Ortsnamen verfahren für Ortsnamen bereitgestellt. Damit wird der Migrationshintergrund unter Verwendung des Zuzugsherkunfts-Gebietes genauer bestimmt. Dieses Verfahren hat aber einige gravierende Einschränkungen: • Es ist speziell auf den Sta­ tis­tikdatensatz Einwohner­ bestand des Deutschen Städte­tages abgestimmt. • Es beantwortet deshalb nur die Fragestellung Geburtsland anhand des Geburtsortes einer Person aus der zuvor genannten Datei. • Die Datenhaltung und ‑verarbeitung erfolgt lokal oder in Netzwerklaufwerken in Dateien. • Es ist neben dem eigentlichen Programm immer noch ein möglichst guter Editor erforderlich, um z.B. die Ergebnisse einzusehen und ggf. SPSS, um neue Ortsnamen aufzubereiten. • Die eigentliche Auswertung der Ergebnisse erfolgt in einem anderen Programm. • Es sind z.T. Zeichensatzkonvertierungen der Dateien erforderlich. • Es wird als einzige Ortsnamensquelle ein veraltetes Gemeindeschlüsselverzeichnis verwendet, welches um Ergänzungen aus den Stuttgarter Einwohnerdaten erweitert worden ist. • Das Programm ist eine Einzelplatzinstallation mit hoher Speicherplatzanforderung. • Das Programm ist eine Windows-spezifische Lösung. Der hier vorgestellte neu entwickelte Verfahrensprototyp hat einen komplett neuen Ansatz: • Die Datenhaltung erfolgt in einer relationalen OracleDatenbank. • Die Datenbank kann lokal – besser aber zentral auf

einem Server – installiert sein. Der Datenbankzugriff ist durch entsprechende SQLClients plattformunabhängig. Es könnten jedwede Ortsangaben georeferenziert werden. Die Datenquellen für die Georeferenzierung sind frei im Internet verfügbar und umfassen alle Ortsnamen der Welt; unterschiedliche Zeichensätze der Quelldaten werden beim Import in einen gleichen globalen Datenbankzeichensatz konvertiert. Der Datenbankeinsatz ermöglicht eine optimierte und effiziente Datenaufbereitung und -verarbeitung (z.B. reguläre Ausdrücke, Spatial-Funktionen). Die Datenbank bildet zugleich ein Data Warehouse für die statistischen Auswertungen. Das Geokodierungsergebnis kann sofort weiterverarbeitet bzw. ausgewertet werden. Durch die direkte Anbindung der Datenbank an ein GIS könnten die Ergebnisse kartographisch dargestellt werden.

In der praktischen Anwendung soll eine offline-Geokodierung erfolgen. Öffentliche Schnittstellen (APIs) für die Online-Geokodierung über das Internet sind meist mengenbegrenzt oder aus sicherheitstechnischen Gründen nicht nutzbar.

Geokodierungs­ ablauf Die Charakteristika der Quelldaten bzw. die darin enthaltenen Ortsangaben sowie die verwendeten Geodaten bestimmen den Geokodierungs-

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ablauf. Für die Aufgabenstellung „Ableitung des Geburtslandes aus dem Geburtsort (zur Bestimmung des Migrationshintergrundes – nicht Teil des hier beschriebenen Verfahrens)“: • Liegt neben dem Namen des Geburtsorts (Feld P10) auch eine Angabe zum jeweiligen Geburtsland (Feld P10) vor, kann dieser – sofern gültig – übernommen werden (1). • Allen Ortsnamen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands vorkommen, wird pauschal „Deutschland“ zugewiesen. Dieser vereinfachten Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass bei der Auswertung von deutschen Einwohnerregistern die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Ort außerhalb Deutschlands handelt, sehr gering ist. Hierbei kann unterschieden werden in deutschlandweit eindeutige Ortsnamen (2) und nicht eindeutige Ortsnamen (3). • Ortsnamen einer Hauptstadt sind wahrscheinlich dieser Hauptstadt zugehörig und nicht einer der vielen Neugründungen (mit selben Namen und / oder in anderen Ländern (4). • Eine Zuordnung zu weltweit einmaligen Ortsnamen hat Vorrang (5) vor länderweit nicht einmaligen Ortsnamen (6). • Die noch verbliebenen Orte könnten hauptsächlich osteuropäische Exonyme sein (7).

SQL-Clients

offline-Geokodierung

Die in Rundklammern gefassten Zahlen entsprechen den Verarbeitungsschritten, welche in der Datenbank in einer Prozedur zusammengefasst wurden. Der Prozeduraufruf benennt die zu geokodie13


Datenbankgestützte Geo­kodierung von Ortsnamen rende Datenbanktabelle, sowie deren Quell- und Zielspalten (hier: Geburtsland/alt, Geburtsort, Verarbeitungsschritt, Geburtsland/neu). Ergänzend wurden für die optimale Datenverarbeitung innerhalb der Prozedur einige Indexierungen implementiert sowie benutzerdefinierte Funktionen erstellt.

Zusammenstellung und Aufbereitung der Geodaten Als Datengrundlage des weltumfassenden Ortsnamensregisters mit Geoinformationen dienen Auszüge zweier Datenquellen: a) eine außer US-Daten umfassende Gesamt-Geo-Objektliste der NGA, b) eine je US-Bundesstaat nur US-Geo-Objekte beinhaltende Liste des USGS. Für die Geokodierung müssen die Datenquellen in mehreren Schritten aufbereitet und zusammengeführt werden: • Zusammenfassung der beiden Datenquellen und Filterung der Datensätze auf Datentyp „bewohnter Ort“ (vgl. Tabelle 1). • Da aufgrund des gesetzlich vorgegebenen Zeichenumfanges (DSMeld auf Basis BMeldDÜV) der Sachdaten Tab. 1: Kennzahlen der Geodatenquellen

Tab. 2: Kennzahlen der abgeleiteten Ortsnamenslisten für die einzelnen Verarbeitungsschritte

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aus dem Melderegister keine diakritischen Zeichen enthalten sind, müssen die Ortsangaben aus den Geodaten entsprechend gewählt bzw. angepasst werden. Die Ortsnamen werden also in Großschreibung transformiert und eine Expansion der in QWERTY-Schreibweise (sichtbare US-Englische Tastatur) vorliegenden Ortsnamen um dt. Umlaute (Bsp. Köln: QWERTY=KOLN, Überarbeitet: KOELN) wird durchgeführt. • Übersetzung Staatenkodierung FIPS10-4 nach ISOStaats-/Gebietsschlüssel wie er u.a. im Meldewesen verwendet wird (s.u.). • Ableitung mehrerer Zusammenfassungen, analog der Annahmen/ Wahrscheinlichkeiten aus dem vorherigen Abschnitt (nicht überschneidende Listen: aller eindeutigen/ nicht eindeutigen deutschen Ortsnamen, alle Hautstädte der Welt, aller weltweit einmaligen/ nicht einmaligen Ortsnamen) und ohne Koordinaten, vgl. Tabelle 2. Benutzerdefinierte Datenbankfunktionen stellen die vorgenannte Datenverarbeitung in der Datenbank bereit. Ergänzend zu den vorgenannten Datenquellen werden die europäischen Exonyme aus Wikipedia-Seiten zusammengestellt und ebenfalls umgewandelt in Großschreibung, ohne Umlaute. In diesen reinen Namenslisten sind keine Koordinaten enthalten. Unter Verwendung einer Staatsangehörigkeits-/GebietsschlüsselListe von DESTATIS sowie einer Schlüsselliste der CIA wird die Übersetzung der Staatenkodierung von FIPS10 der Geodaten nach ISO-Schlüssel-Gebiets-

schlüssel des deutschen Meldewesens realisiert.

Analyse und Aufbereitung der Ortsnamen Die Daten für diesen Artikel stammen aus dem Münchener Einwohnerregister – rund 1,4 Millionen Datensätze zum Stand 31.7.2008. Darin enthalten sind lediglich die Felder Geburtsort (P12) und -land (P10). Ab dem Stichtag 20.3.1994 wurde im Einwohnermeldeverfahren der Geburtsort mit erfasst. So liegt der Geburtsort für 20 % der Personen bzw. 50 % der Geburtsorte als ISOGebietsschlüssel vor, für die restlichen Personen (79 %) bzw. Orte (44 %) nicht. Es ist zu beachten, dass der Gebietsschlüssel des Geburtslandes nicht gepflegt wird, wenn es zu Änderungen kommt (Jugoslawien/ 120 => Slowenien/ 131 , Bosnien/ 122, …). So sind bei dem vorliegenden Gebietsschlüssel 2 % bei Personen bzw. 6 % bei den Orten veraltet (vgl. Abbildung 1). Eine Voranalyse – auch unter Berücksichtigung der verwendeten Geodaten – zeigt, wie die Daten optimal aufbereitet werden müssen. Für die Inhalte des Freitextfeldes „Geburtsort“ wird eine weitestgehende „Normierung“ von Schreibweisen angestrebt bzw. die Extraktion einer / der eigentlichen Ortsangabe. Für die Geburtsorte der Beispieldaten wurde deshalb folgende Überarbeitung vorgenommen: • Umwandlung in Großbuchstaben sowie Ersetzen von Umlauten (Ä/Ü/Ö/ß => AE/ UE/OE/SS) • Leerzeichen am Anfang/ Ende bzw. Mehrfachleerzeichen innerhalb des Feldes entfernen

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Datenbankgestützte Geo­kodierung von Ortsnamen • Sonderzeichen (,;() entfernen • Expansion von Abkürzungen (B. => BEI, A.D. => AN DER, …) • Ausschneiden von Ortsnamen vor BEI, NUN und JETZT • Löschen von Spezifizierungen wie „KREIS ...“ Die vorgenannten Überarbeitungen wurden innerhalb einer einzigen benutzerdefinierten Datenbankfunktion realisiert. Die Auswirkungen der Überarbeitung zeigt Tabelle 3, wonach sich die Anzahl eindeutiger Nennungen von Ortsnamen um 18 % reduziert.

ne Geokodierung durchgeführt werden (vgl. Abbildung 1). Die Anteile der verschiedenen Zuordnungsschritte am Geoko­ die­rungsverlauf veranschau­ licht Abbildung 2. Eine Top-20-Liste mit absteigenden Häufigkeiten der nicht geokodierten Geburtsorte zeigt Tabelle 4. Hierbei handelt es sich meist um Ortsnamen, • die in der Geodatenquelle in einer anderen Schreibweise vorliegen, • weltweit nicht einmalig sind oder • falsch geschrieben worden sind.

Ergebnisse der Geokodierung

Entwicklungsmöglichkeiten des Verfahrens

In mehreren Verarbeitungsschritten – entsprechend den getroffenen Annahmen – wird eine Geokodierung, i.e. Zuordnung der Geburtsorte zu einem Land, vorgenommen. Erfüllt sein muss dazu die Bedingung „überarbeiteter Geburtsort der Sachdaten = überarbeiteter Geburtsort der Geodaten“. Sobald dabei ein Ort einem Land zugeordnet worden ist, entfällt er aus dem Verarbeitungsprozess. Am Ende können 96 % der Personen bzw. 81 % der Orte einem Land zugeordnet werden. Für 4 % der Personen bzw. 19 % der Orte kann kei-

In den hier aufgezeigten Verfahren wurde nicht das Feld Amtlicher Gemeindeschlüssel (AGS) der ZuzugsherkunftsGemeinde (W41) verwendet. Dies sollte in einem verbesserten Verfahren auf jeden Fall berücksichtigt werden (wenn gefüllt, dann Geburtsort in Deutschland). Datengrundlage für die Herleitung ist das amtliche Gemeindeschlüsselverzeichnis, wie es auch im KOSISVerfahren verwendet wird. Die Ergebnisse dieses prototypischen Verfahrens können aber noch weiter verbessert werden. So sollten die bisher

Abb. 1

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Tab. 3: Kennzahlen der Sachdatenquelle

nicht geokodierten Orte in einer weiteren Datenbanktabelle zusammengefasst werden und zunächst in einer einmaligen, etwas aufwändigeren Aktion, manuell geokodiert werden – soweit dies möglich ist. Hilfestellung könnten dazu auch weitere Angaben des Statistikdatensatzes geben, wie 1./2. Staatsbürgerschaft (P05/P07), amtlicher Gemeindeschlüssel des Geburtsortes (P11) oder das Zuzugsland (W40). Das dargestellte Verfahren kann dann um diese Zuordnungstabelle als Schritt 8 erweitert werden bzw. mit neuen Daten fortgeschrieben werden. Es besteht dann weiterhin ein – jedoch wesentlich geringerer – Fortschreibungsaufwand dieser Datenquelle. Weiter sollte geprüft werden, ob das Verfahren im Hinblick auf die verbliebenen, nicht zugeordneten Ortsnamen noch durch den Einsatz anderer Techniken verbessert werden könnte. Hier wäre die Oracle Text-Funktionalität CONTAINS

Tab. 4: Top-20-Listen der nicht geokodierten Orte

Abb. 2

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Datenbankgestützte Geo­kodierung von Ortsnamen

Wahrscheinlichkeiten schaffen Unschärfen

mit Fuzzy-Operator zu nennen, die eine Zuordnung statt auf der strikten Bedingung a = b nach einem Ranking des Zuordnungsergebnisses ermöglicht. Vielleicht wäre hier Rang 1 oberhalb eines noch zu bestimmenden Schwellenwertes vertrauenswürdig. Als weitere Methode könnte die Funktion UTL_MATCH ebenfalls in Kombination mit einem Schwellenwert getestet werden. Die beiden vorgenannten Verfahren können insbesondere auf die Fälle angewendet werden, bei denen Schreibfehler im Geburtsort vorliegen. Wird eine Oracle Enterprise Edition Datenbank mit Spatial Option verwendet, kann auch eine Geokodierung (zur Ermittlung der Ortskoordinaten) mit der Geocoding Engine realisiert werden. Die Geodaten müssen jedoch zusätzlich zur Datenbanklizenz erworben werden.

Fazit

Durchschnittliche Laufzeit: 105 Minuten

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Es ist eine genaue Kenntnis des sachlichen und fachlichen Hintergrundes der Ortsangaben (Annahmen 2 und 3 wäre für Ortsangaben aus dem Ausländerregister wohl falsch!) erforderlich: sowohl für die Datenaufbereitung als auch für das Zuordnungsverfahren. Die Datenaufbereitung und -verarbeitung für Sach- und Geodaten richtet sich nach der Aufgabenstellung aus. Es hat sich gezeigt, dass etliche Datenquellen erforderlich sind, um Ortsnamen / Geburtsorte aus dem Einwohnerwesen geokodieren zu können. Obwohl in dem vorgestellten Verfahren die sehr strikte Zuordnungsbedingung „überarbeiteter Geburtsort der Sachdaten = überarbeiteter Geburtsort der Geodaten“ verwendet worden ist, kann die

Datenqualität, i.e. der Anteil von Datensätzen (= Personen) mit Geburtsland wesentlich erhöht werden. Die getroffenen Annahmen (= Wahrscheinlichkeiten!) bedeuten immer Unschärfen. Deshalb bestimmten diese die Reihenfolge der Zuordnungsschritte. Je großmaßstäbiger und damit lagegenauer die Geokodierung erfolgen soll, desto größer wird die Unschärfe. Dies gilt inbesondere für Ortsnamen, die je Land mehrfach existieren. Bei einer Punktkodierung – statt der hier vorgestellten Flächenkodierung – entfallen dadurch etliche Ortsnamen. Hier könnte nur die Hinzuziehung weiterer Merkmale – wenn vorhanden – helfen, z.B. Ortsnamens­ergänzungen. Sofern keine anderen Merkmale vorliegen, besteht in solchem Falle keine Möglichkeit der Zuordnung von Ortsnamen. Besser wäre deshalb immer, statt Ortsnamen Koordinaten zu erfassen. Wegen der erläuterten Vergänglich- und Wandelbarkeit der Ortsnamen sollten diese laufend historisiert (Ortsname, Gebietsschlüssel und Gültigkeitszeitraum) werden. Gleiches gilt für die Staaten/ Gebietsschlüssel, für die in diesem Verfahren nur die aktuellen verwendet worden sind. Das dargestellte Verfahren wurde auf einem Laptop (Dualcore-CPU mit 2,93 Mhz und 4 GB RAM) mit Oracle XE entwickelt. Die Laufzeit für die Aufbereitung der Geburtsorte der Sachdaten mit anschließender Geokodierung betrug im Schnitt 1,75 Stunden, wobei alleine 1,5 Stunden auf den ersten Schritt entfallen. Mit weiteren Tuning-Maßnahmen bzw. auf einem Datenbankserver mit Mehrkern-CPU und hö-

herwertiger Datenbanklizenz würde sich die Rechenzeit um ein Vielfaches verkürzen.

Dank Ich danke dem Statistischen Amt der Landeshauptstadt München, welches mir den Auszug des Statistikdatensatzes für die Entwicklung dieses Verfahrens zur Verfügung gestellt hat.

Datenquellen

NGA: http://earth-info.nga.mil/ gns/html/cntry_files.html USGS: http://geonames.usgs. gov/domestic/index.html DESTATIS: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ Sites/destatis/Internet/DE/ Content/Klassifikationen/Bevoelkerung/Staatsangehoerigkeitsgebietsschluessel. psml CIA: https://www.cia.gov/library/publications/the-worldfactbook/appendix/appendix-d.html Wikipedia: http://de.wikipedia. org/wiki/Liste_der_Listen_ deutscher_Bezeichnungen_ ausländischer_Orte

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Sich wundern, lernen … und schließlich lächeln

Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal? Hans Menge, Bonn

Mal wieder Wut im Bauch bekam der Verfasser dieser Zeilen, als abermals ein nicht eingeplanter Aufwand aus den amtlichen Gemeindenamen anstand. Was sich die Amtlichen so einfallen lassen, oder besser: deren Souffleure, die Kommunalpolitiker! Die Statistiker müssen es ausbaden. Zum Beispiel, wenn es darum geht, einer hübschen Tabelle mit Mietangaben für sehr viele Gemeinden den amtlichen Schlüssel hinzuzufügen. Um damit rechnen zu können. Eigentlich eine normale Match-Prozedur. Die aber in ganz vielen Fällen nicht klappt, weil die Namen nicht übereinstimmen.

Was ist das Problem? Es sind gleich mehrere Probleme: • In einigen Bundesländern gibt es unheimlich viele Gemeinden! In NRW zwar nur 396, aber in Deutschland insgesamt rund 12.500. Also kein Fall für ein Arbeiten auf Sicht in der Tabelle1. • Viele Gemeindenamen reagieren in der Match-Prozedur auf einen gleichlautenden Kreisnamen (insgesamt 149). – Ärgerlicher ist: • Viele Gemeindenamen sind absolut gleich (548), also auch nicht durch einen Namenszusatz unterschieden. Was passiert beim automa-

tischen Abgleich? Die Prozedur ordnet den ersten namensgleichen Fall zu. Purer Zufall, wenn das stimmt! • Am tückischsten sind aber die wohlfeilen Namenszusätze (z.B. „am Rhein“ oder „Universitätsstadt“), die immer mehr in Mode kommen und amtlich besiegelt werden. Aber in manchen (hoffentlich nur) nichtamtlichen Tabellen vergessen werden.

Da kann man wohl nix machen. Städte und Kreise finden, dass sie im globalen Wettbewerb in ihrer einzigartigen Lage und Qualität nicht erkannt werden. Also wird z. B. aus dem vormaligen „Kreis Neuss“ und dem „Erftkreis“ in NRW der „Rhein-Kreis Neuss“ bzw. der „Rhein-Erft-Kreis“. Der „Rhein“ soll es richten... „Nun wird hoffentlich The Big Boss von Übersee meinen Kreis finden und richtig würdigen können...“ Es gibt aber auch „Blüten“, siehe weiter unten. Und die Statistiker, wie auch die Nutzer der regionalstatistischen Tabellen, die tragen die Folgen. Zunächst sind alle Veröffentlichungstabellen umzustellen, dann alle Folgefehler zu erkennen und zu beseitigen, die bei der Nutzung der Regionaldaten zwangsläufig auftreten.

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Bescheidener Wunsch eines Regionalstatistikers an die Herrscher über die amtliche Gebietssystematik: Bitte, bitte, beseitigt die absolute Namensgleichheit von Gemeinden, vor allem, wenn sie in demselben Land auftreten, was oft der Fall ist. Das müsste doch möglich sein, da kann keine andere Ins­ titution reinreden, da seid Ihr souverän.

Gleiche Namen = große Gefahr

Gemeindenamen, die es mehrfach gibt 12-mal: Hausen 11-mal: Neuenkirchen 10-mal: Neukirchen 9-mal: Neunkirchen und Buchholz 8-mal: Kirchdorf, Neuendorf und Reichenbach 7-mal: Bergen, Buch, Oberhausen, Roth, Schönberg und Steinbach 6-mal: Forst, Rohrbach, Steinfeld, Sulzbach und Tiefenbach 5-mal: Altdorf, Berg, Eberbach, Falkenberg, Friedersdorf, Gemünden, Grabau, Königsfeld, Mühlhausen, Neuhausen, Urbach und Weißenborn

Reparatur der Referenzen per Hand – eine ganz ungewohnte Arbeit, die dem Statis­ 17


Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal?

Raum für Sarkasmus

Arbeitshypothesen

tiker neue Einblicke gewährt. Sie sollen hier genutzt werden, um auf dem zweiten Bildungsweg Erkenntnisse zur Namensgebung, Heimatkunde und Stadtgeschichte weiter zu geben und außerdem einem bisschen Sarkasmus Raum zu geben ob einiger gar verwunderlicher Neunamensschöpfungsakrobatiken. Das muss sein – siehe oben: „Wut im Bauch“. Zur Strafe des amtlichen und davon abgeleiteten Wirrwarrs werde ich die chaotischen Gemeinde­namen einer statistischen Analyse unterziehen. Man kann ja nicht nur Zahlen auf Häufigkeiten und Strukturen untersuchen, sondern auch Wörter und Wortbestandteile. Fragen und Arbeitshypothesen: • Gibt es Ordnung und Gleichmaß bei der amtlichen Namensgebung? • Was sagen uns die Namen über die Orte und ihre Namensgeber? • Gibt es Bedeutungsvolles? Ja, aber auch Skurriles: Einige Eitelkeiten und Druck für die Standortwerbung – so sehr, dass der richtige Maßstab dabei manchmal außer Acht geraten scheint. Erst mal das Gute: 490 Namenszusätze erfüllen auch für den Statistiknutzer einen guten Zweck – sie dienen der Unterscheidung von namensgleichen Orten. Am einfachsten ist die Unterscheidung nach Status: 06632014 Neuenstein 08126058 Neuenstein, Stadt Gut, wenn zusätzliche Lagebegriffe eine Unterscheidung ermöglichen: 07138007 Hausen (Wied) 08425055 Hausen am Bussen 08417029 Hausen am Tann

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09679143 08336036 08327023

Hausen bei Würz- burg Hausen im Wiesental Hausen ob Verena

Pech nur, wenn es 6 weitere Hausen gibt ohne Unterscheidung: 07134035 Hausen 09273125 Hausen 09474134 Hausen 09673129 Hausen 09676128 Hausen 16061043 Hausen Zumindest die Bayern (Schlüssel „09“) sollten ihre 4 netto„Hausen“ doch irgendwie einzig machen können! Das dient auch dem Tourismus. Man stelle sich vor, die Urlauber vertrauen ihrem Navi und landen, voll bepackt, in der Oberpfalz statt in Oberbayern. Ebenfalls zugunsten des Tourismus in Bayern: Die zwei Oberhausen könnte man vielleicht durchaus von der allgemein bekannteren Großstadt Oberhausen in NRW unterscheiden. Die absolute Namensgleichheit ist aber ein Problem in fast allen Bundesländern. Beispiele: „Neuenkirchen“: 5-mal vertreten in Niedersachsen „Roth“: 4-mal in RheinlandPfalz. Und so weiter…

Namenszusätze… • …können für normale Geo­ grafie-Kenntnisse Klarheit bringen. z. B. - Bernau bei Berlin, oder - Rott a.Inn. • Sie können aber auch weitere Fragen aufwerfen: - Becherbach bei Kirn? oder - Graitschen b. Bürgel??? Wer kennt Bürgel im Saale-Holzland-Kreis (3.200 Einwohner)?

Handaufsherz! Wer auf der Suche nach einer genauen Ortung ist für - Furth im Wald, kann dortselbst („im Wald“) lange suchen. Dieser Namenszusatz ist allerdings historisch, jedenfalls nicht die Idee einer aktuellen Kommunalspitze. Eben „im Wald“. Natürlich im Bayerischen. Da gibt’s nix (anderes).

Weitere Blüten sind angesagt, kommen aber erst im Abspann dieser Glosse – als i-Tüpferl. Vorerst ein Ausflug in die Heimatkunde. Das ist angesagt beim Versuch, die richtigen Namen zuzuordnen. Da kommt man eben leicht auf Abwege. Und die sollen hier beschritten werden.

Amtliche Orts­ namen mit Zusatz Mal im Ernst: Wer hätte nicht gern einen Zuschlag zum schlichten, überlieferten Namen, der einiges mehr verspricht, was andere nicht haben: „Alleinstellungsmerkmal“ – oder wenigstens Hervorhebung aus der Masse der konkurrierenden Städte! Zum Beispiel die Lage - „am Rhein“ (den kennt jeder, also wird man uns besser finden) - „im Taunus“ (= Wohlstand) - „im Schwarzwald“ (da ist die Luft so rein und alles ist noch gut) - „an der Berg-/ Weinstraße“ (die kennt man bzw. ist verführerisch für gehobene Alkoholiker) - „Landeshauptstadt“ (WIR sind Spitze … wenigstens regional),

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Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal? - „Bundesstadt Bonn“, Trostpflaster, nachdem man das „haupt“ nach Berlin entführt hat. Ist aber nicht amtlich besiegelt, - „Universitätsstadt“ (bei uns wird man so richtig SCHLAU), leider nur in 6 Uni-Städten von Hessen und Baden-Württemberg. Andere gibt es nicht, im Namen. Wem das nicht reicht, der kann es toppen: - Darmstadt, „Wissenschaftsstadt“ (wer könn­ te da schon mithalten!) - „Bad xyz“ (schaut her, wie GESUND man bei uns werden kann) – und wenn es mit den Kriterien dafür nicht geklappt hat – sind wir immerhin ein - „Kurort“, oder wenigstens ein „Luftkurort“. Oder wir sind clever und nennen uns - „Heilbad Heiligenstadt“, da kann nichts mehr schief gehen: Außer Äskulap wirken auch noch die Heiligen in unseren Mauern. Das kann man weiter toppen: - „Grünbach, Höhenluftkurort“ – wer kann höher? Und noch bessere Luft und Kur versprechen? Und Grün bieten, am Bach? Die Heilung kommt dann von selbst, eben von oben und aus der Luft.

Historische Orts­ namen und Namenszusätze Sie können uns was erzählen und unsere schütteren Geografie- und Sprach-Kenntnisse bereichern. Ein weites Feld, das den Statistiker (und eben nicht einschlägig Bewanderten) leicht in die Irre führen kann. Einige Namensbestandteile und -herkünfte sind auch in Fachkreisen nicht eindeutig

geklärt. Ist nicht so schlimm, wenn man sich als Statistiker darauf beschränkt, nur besonders auffällige Häufungen auszuwerten, scheinbar exakte Zahlen meidet2 und versucht, die gröbsten etymologischen3 Missverständnisse auszuschalten.

Häufige Hinweise In den folgenden vier Abbildungen sollen vier Typen von

Abb. 1

Nach diesen ersten Kuriositäten kommunaler Selbstdarstellung nun ein Blick auf: Abb. 2

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Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal? Namensteilen und Namenszusätzen genauer betrachtet werden. Und zwar der Bezug auf: • Flüsse /Seen • Berge, Gebirge und Wald • Entstehung, Lage, besonderer Status / Ressourcen einer Gemeinde • Emotionale Bedeutung/ Wer­tung.

Abb. 3

Abb. 4

Flüsse / Seen (379 Nennungen, 60 verschiedene Flüsse/Seen; sowie 124 weitere „Seen“) Warum ist es am Rhein so schön? – Keine Frage für einen Rheinländer, Hessen oder Badener. Man ist Anlieger, profitiert seit Alters her von diesem Verkehrsweg und seinem Image. Für Köln ist das selbstverständlich, für Mainz ebenfalls, man

braucht den Rhein nicht im Namen. Aber andere brauchen das und schieben sich sprachlich gern näher ran. So vor kurzem zwei Kreise in NRW – neu: der „Rheinkreis Neuss“ und der Rhein-Erft-Kreis. Wetten, dass andere folgen werden? – Man trägt den Rhein entweder im Namen selbst oder ersatzweise im Namenszusatz z.B. „Monheim am Rhein“4. „Bald gras ich am Neckar“ und „an der Saale hellem Strande“ – solch rühmende Worte mögen Anlass gewesen sein, dass auffällig viele Gemeinden sich diese Flussnamen zugeeignet haben. Donau und Weser können da nicht mithalten. Kleine Kuriosität: Wenn auch heute längst kein Wasser mehr fließt, kann man sich auch historisch/ geografisch benennen: z. B. 12069454 „NutheUrstromtal“. Berg- / Wald (140 Nennungen) Harz und Schwarzwald-Region liegen gleichauf, wenn man dem Schwarzwald noch ein nahe liegendes Kleinod, den Kaiserstuhl, hinzurechnet und dem Harz die 5 „Bergstädte“, die nur für den Harz (und sein Vorland!) kreiert wurden. „Berg“ weist hier allerdings eher auf die historische Bedeutung für den Bergbau hin. Heute assoziiert man eher „Berg“ = gute Luft = gut. Das lässt sich werblich nutzen. Entstehung, Lage, Status und Ressourcen der Gemeinde Ein weites Feld (s. Abb. 2) und interessant für den Siedlungsgeo­ grafen oder Namensforscher. Kleine Auffälligkeit: Die Synonyme für „Stadt“ treten fast dreimal so häufig auf (2,460) wie die für „Dorf“ (900). Kampf und Stolz auf die Stadtrechte? Standhaft

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Gemeindenamen – ein Alleinstellungsmerkmal? bekennen­des „Dorf“ dagegen ist die Landeshauptstadt Düsseldorf – die ihren Status aber nicht im Namen trägt.

Emotionale Bedeutung/Wertung Ist „Ober“/„Hoch“ vorteilhafter im Namen als „Nieder“/ „Unter“? Oder, ist „Groß“ besser als „Klein“? – Könnte man meinen, denn Ersteres tritt jeweils doppelt so oft im Namen auf als Letzteres. Zufall? Jedenfalls sind entsprechende Gemeindenamen nicht die Kreation aktueller Stadtväter mit viel Stadtwerbung im Hinterkopf, sondern überlieferte Namen, Das wäre ein Hinweis darauf, dass die neuzeitliche Masche, sich einen wohlfeilen Namenszusatz zuzueignen, gar nicht so neu wäre ... Bei „Alt“ und „Neu“ im Namen ist die Sache dagegen weniger eindeutig: „Neu“ ist fortschrittlich, „alt“ = gediegen / ehrwürdig. – Dennoch kein Patt! Es gibt andere Namensbeispiele, bei denen ein positives Image durchaus angesagt ist: • „Kirche“, „Sankt“ oder „St.“ Oder „Gott“ und „heilig“ im Namen (286 Fälle), sowie „König“ oder gar „Kaiser“, oder deren tatsächliche Namen (205) klingt auch nicht übel – es verweist auf alte/ höhere Autoritäten bzw. auf große Bedeutung. • Namen mit „schön“, „Sonne“, „Licht“, „reich“, „gold“ (208) lassen die Herzen ebenfalls höher schlagen. • Begehrt war und ist der Titel „Bad“ (155). Wer es nicht geschafft hat, kann sich ersatzweise „Kurort“ nennen oder „Heilbad“ (11). Oder „Höhenluftkurort“. Das erscheint mindestens so gut wie „Bad“.

Neuere werbliche Eskapaden Alt ist der Titel „Hansestadt“. Aktuell nur von 6 Gemeinden im Namen verwandt, darunter auch von Demmin (heute 12.500 Einw.). Gab es früher nicht mehr Hansestädte? Pennen die anderen? „Landeshauptstädte“ gibt es in Deutschland nur 8, dem amtlichen Namen nach. Die anderen haben den Namenszusatz offenbar (noch?) nicht nötig. „Universitätsstädte“ gibt es nur 6, und nur in Baden Württemberg und in Hessen. In letzterem Land hat sich eine Stadt (leider nicht am „Rhein“ und auch nicht an einem berühmten Gebirge gelegen) sogar den amtlichen Titel „Wissenschaftsstadt“ zugeeignet. – Wenn das den Chinesen nicht imponiert, z. B. auf der Suche nach einem hervorragenden Partner für den gewünschten Wissenstransfer (bzw. -klau) in Deutschland. Nennung nach hervorragenden Persönlichkeiten (5), die da wären: - Martin Luther (Wittenberg und Eisleben), OK, aber - „Gelnhausen, Barbarossastadt“? War dieser deutsche Kaiser nicht eher global im damaligen Sinne? - „Schildau, Gneisenaustadt“? (Eben Schilda ... immer aktuell). - „Stavenhagen, Reuterstadt“. Wer war doch Fritz Reuter? Viele weitere Dichter, Komponisten und Maler laden ein, auch ihre Namen genau und einzig zu verorten... - „Sankt Goarshausen, Loreleystadt“ – wer kann da

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wegsehen? Der Binnenschiffer wird prompt sein Ruder fester greifen.

Hansestadt

Zur Nacheiferung empfohlen, vielleicht „xxx, Rosemariestadt“? – Die kannte jeder, vor allem die VIP’s. Welche Stadt aber hat den Vogel abgeschossen bei der realen amtlichen „Namenszusatzgebung“? Mein Favorit: die „Dom- und Kaiserstadt“. Welche wohl? Was tippen Sie? Ich tippte zunächst auf „Speyer“, oder „Aachen“? Weit gefehlt... Es ist „Fritzlar, Dom- und Kaiserstadt“. Da muss man erst drauf kommen. Aus den aufgeführten real existierenden Einfällen cleverer Stadtväter ergeben sich Anregungen für andere Städte, zum Beispiel für eine kleine Stadt in Südostniedersachsen: Einbeck, aufgewertet als - Einbeck, Hansestadt (trifft zu, wenigstens für das Mittelalter), da träumt man heute noch von, - Einbeck am Solling (525 m hoch und nur 10 km entfernt) - Einbeck an der Ilme (fließt in die Leine, fließt in die Aller, fließt in die Weser – und die kennt man), - Einbeck, Bockbierstadt (das Bier fließt immer, und zwar reichlich) - Einbeck, Wilhelm-HenzeStadt (Plattdeutscher Heimatdichter). Was würden Sie wählen? Ich rate den Vätern der Stadt, mir wohlbekannt, zu: - „Einbeck, Stadt a. A. der Welt“. Das wäre 1.) ehrlich, sowie – amtlich geschützt – 2.) zugleich ein Alleinstellungsmerkmal.

Landeshauptstadt

Barbarossastadt

Reuterstadt

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MEHr alS NUr StatiStiK: 90:10

KuriositätenKabinett xyz-Stadt „bei ...“(das gibt es 48-mal), Beispiele: Becherbach bei Kirn Graitschen b. Bürgel Kirn (8500 Einw.) kennt mancher, aber wer kennt Bürgel (3 200 Einw.)? Kurios erscheint auch das Chaos bei den amtlichen Notationen, da gibt es viele Varianten: - Gundelfingen an der Donau, - Bach a. d.Donau, (nur in Bayern, immer ohne Leerzeichen vor „Donau“) - Ehingen (Donau).

Berühmte Persönlichkeiten

tistik: Über Staeil!“ ist ein

g „Geiz ist er Satz. r furchtba hen ch da ste Aber au MittelZahlen im punkt..

Magdeburg, otto-Stadt“, da denke ich doch gleich an otto Waalkes oder an den otto-Versand … die Stadtväter haben übrigens eine doppelte Herleitung bemüht: „otto der Große“, den mit dem dom, sowie „otto von

Guericke“, den Entdecker des Nichts und der luftpumpe. Gelnhausen, Barbarossastadt, Der Reisekaiser, hier fest verortet. Wittenberg, lutherstadt Eisleben, lutherstadt landstuhl, Sickingenstadt, Franz von Sickingen, der „letzte Ritter“. Gernsheim, Schöfferstadt, Peter Schöffer, Mitarbeiter von Joh. Gutenberg (Erfinder des Buchdrucks). Schildau, Gneisenaustadt, Militär von Weltruf, geb. in der sächs. Kleinstadt Schildau (auch „Schilda“). Stavenhagen, reuterstadt, Geburtsort von Fritz Reuter, niederdeutscher Schriftsteller. Hünfeld, Konrad-Zuse-Stadt, Konrad Zuse, Konstrukteur des ersten Computers (im Kreis Hünfeld erbaut). Spangenberg, liebenbachstadt, der Liebenbach hat seinen Namen von zwei Liebenden (Sage)

Anmerkungen 1

2

3

4

Man muss 300 mal scrollen bis zum Ende der Tabelle. Mit „Ziehen“ braucht man in Excel dafür 34 sec. hin und 34 zurück.

Grundlage ist eine amtliche Gemeindetabelle mit Gebietsstand 2007. Bei den abfragen zur auszählung von Namensbestandteilen musste man auch irrtümer vermeiden, Beispiel: die westfälische Stadt rheine liegt an der Ems und leitet ihren Namen natürlich nicht vom Fluss rhein ab (sondern von Villa reni). Ebenso konnten nicht alle sprachlichen Frühformen und regionalen Schreibweisen berücksichtigt werden (aus dem schlichten Grund, weil sie dem Verfasser nicht bekannt sind) Sprachwissenschaftzweig, der sich mit der Bedeutung und dem Wandel der Wörter beschäftigt Und genau hier entsteht der ärgerliche Umstand, dass der Statistik-Nutzer keinen Match findet für das schlichte „Monheim“ in der ihm vorliegenden tabelle, er muss suchen sowie per Hand nacharbeiten. das dauert ..

Mehr als nur Statistik

90:10 Martin Schlegel, Hagen Bei „90:10“ handelt es sich nicht um den Endstand beim Fußballspiel zwischen Bayern München und dem SF turmkirchen. der Bayern-Schlussmann könnte gar nicht so viele Weißbierchen verköstigt haben, dass er 10 Sportfreunde-tore zugelassen hätte. 90:10, das ist der tipp eines Profi-Journalisten: „Nehmen Sie 90% über Statistik und 10% Sonstiges. Und fassen Sie das Sonstige weit: Vom reisebericht nach

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China über alte Schätze und neue autos bis hin zum Fußball. lassen Sie die leser auch mal lachen – wenn Statistiker das können.“ der rat ist klar. Kein Mensch verträgt nur Statistik. das sieht man ja auch nach den tagungen, abends in der Kneipe. da wird nicht nur gefachsimpelt, es gibt auch schöne andere themen. die sollten sich in „Stadtforschung und Statistik“ wiederfinden.

Waren Sie schon mal in China und könnten uns etwas berichten? Sind Sie Mountainbiker oder Kino-Fan? Können Sie von anderen Hobbys berichten, die den einen oder anderen interessieren könnten? Wenn ja, wenden Sie sich an ein Mitglied der redaktion. in dieser ausgabe ist andreas Hämer, ruhestandspfarrer aus dem Saarland, ein teil der 10%. auch die Bangkok-Klongs- und Key-West-Zeilen gehören in die Sparte.

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Die Gliederung des Frankfurter Stadtgebiets

Von der Adresse bis zur Stadtgrenze Michael Wolfsteiner, Frankfurt

Welcher Postleitzahlbereich gehört zu meinem Haus? In welchem Stadtteil lebe ich? Welches Polizeirevier ist für die Schule meines Kindes zuständig? Solche alltäglichen Fragestellungen kennt jeder von uns. Zu ihrer Beantwortung nutzen wir die in einer Stadt eindeutigen Adressen, die wiederum räumlichen Einheiten, ihren Raumbezügen, zugeordnet sind. Doch wie entstehen Adressen und wer bestimmt bzw. beschreibt ihre Zuordnung zu den verschiedenen Bezugsräumen? Die Frankfurter Statistik pflegt das Raumbezugsystem mit der Adresszentral- und Regionaldatei, die die Adressen der Stadt Frankfurt am Main und ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gliederungseinheiten enthält. Dabei stammen die Raumbezüge zum Teil ebenfalls aus der Statistikstelle (z.B. Stadtbezirke, Stadtteile oder Wahlbezirke), andere wiederum werden durch andere Fachämter vorgegeben (wie z.B. die Schulbezirke). Die amtlichen Adressen vergibt das Amt für Straßenbau und Erschließung. So führt die Adress­ zentral- und Regionaldatei die unterschiedlichsten Rauminformationen zusammen und stellt ihre Abhängigkeiten dar. Sie ist damit die maßgebende Datei für die Bearbeitung adressbezogener Daten in der Stadtverwaltung.

Adressen

Polygone

Sie sind die kleinste Einheit des Raumbezugsystems und werden im Allgemeinen in der landläufigen Form Straße: im Klartext als Straßennamen und/oder als Kennziffer Hausnummer: ein numerischer Wert Hausnummernzusatz: an die Hausnummer angehängter Buchstabe beschrieben und sind innerhalb der Stadt eindeutig. Zur Abbildung der Adresse im Raum dient ein Punkt, der über eine X/Y-Koordinate positioniert wird (vgl. Abbildung 1).

Über die Lage der Adresse kann diese übergeordneten Einheiten wie Blöcken, Stadtbezirken oder Stadtteilen zugewiesen werden. Solche Flächen sind durch ihre Umringe – also Begrenzungslinien – definiert. Diese wiederum werden über Stützpunkte und deren Verbindungslinien beschrieben. Abbildung 2 zeigt die Arbeitsweise schematisch. Zunächst wird Punkt 1, der über seine Punktkoordinaten festgelegt ist, durch eine Gerade mit Punkt 2 (ebenfalls per Koordinaten beschrieben), dieser mit Punkt 3 usw. verbunden. Über eine Verbindung der Geraden entsteht ein Polygon.

Die Angaben „Zeil 3“ (Name und Hausnummer) sowie „25540003“ (Straßenkennziffer und Hausnummer als vierstelliger Wert) bezeichnen also den gleichen Punkt mit den Gauß-Krüger-Koordinaten 3478160/5553232. In der Adresszentraldatei sind derzeit rund 87 000 Adresspunkte1 abgelegt. Neben 85 000 offiziellen, durch das Amt für Straßenbau und Erschließung vergebenen Adressen sind darin historische und informelle Adressen enthalten. Historische, d.h. erloschene, Adressen sind mit einem Gültigkeitszeitraum versehen und dokumentieren frühere Zustände2. Informelle Adressen dienen dazu, Daten, die keinen Bezug zu einer amtlichen Adresse besitzen, ebenfalls räumlich abzubilden3.

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Objekte, d.h. Punkte, Linien oder Flächen, lassen sich also zum einen grafisch und zum anderen alphanumerisch beschreiben. Abbildung 3 zeigt dies am Beispiel des Stadtteils Altstadt. Die Reihenfolge der Stützpunkte in der Textdatei entspricht ihrer Position im Polygonnetz.

Zeil 2 Zeil 4

Seilerstraße 4 Zeil 6

Zeil 1

Zeil 3 Zeil 5 Lange Straße 69

Abb. 1: Die Adresse „Zeil 3“ als Adress­ punkt in einer Karte dargestellt

Abb. 2: Schematische Darstellung einer Flächenkonstruktion

Abb. 3: Die Grenze des Stadtteils Altstadt

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Von der Adresse bis zur Stadtgrenze Abb. 4: Gliederungssystem von der Adresse bis zum Ortsbezirk

Blöcke Blöcke stellen das kleinste Gebiet oberhalb der Adressen dar. Sie sind überwiegend durch Straßen- oder sonstige Verkehrsachsen sowie natürliche Barrieren wie Gewässer begrenzt. Über die Blöcke abgeleitet werden die Stadtbezirke, Stadtteile und Ortsbezirke. Dabei liegen die Grenzen der Stadtteile und Ortsbezirke wiederum auf denen der Stadtbezirke. Somit ergibt sich ein eindeutig beschriebenes, topologisches4 Gliederungssystem. Die Blöcke sind innerhalb eines Stadtbezirks fortlaufend nummeriert, wobei die Blocknummer dreistellig definiert ist. Es gibt also im Stadtbezirk 010 einen Block 001, im Stadtbezirk 040 ebenso usw. Um einen Block eindeutig über seinen Schlüssel identifizieren zu können, müssen also beide Nummern kombiniert werden: 010001. Ergänzt man diesen Schlüssel nach vorne um jeweils drei Stellen für den Stadtteil sowie den Ortsbezirk ergibt sich ein 11-stelliger identifizierender Schlüssel für den Block, der im obigen Beispiel 001001010001 lautet. So wie die geometrischen Abhängigkeiten über Topologien definiert sind, ist das Schlüsselsystem ebenfalls hierarchisch von der größten zur kleinsten Einheit aufgebaut.

Raumbezugsystem unterstützt die Wahlorganisation Als weitere Gliederung des Stadtgebietes gibt es die Wahlbezirke, die für die Organisation und Durchführung politischer Wahlen notwendig sind. Bei der Festlegung der Wahlbezirksgrenzen werden die Stadtbezirksgrenzen beachtet. Innerhalb dieser Gren24

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VoN dEr adrESSE BiS ZUr StadtGrENZE

Tabelle 1: Beispielhafte Zusammenstellung der in einzelnen Raumbezugsebenen enthaltenen Gebietseinheiten

zen sind die Wahlbezirke fortlaufend nummeriert. der Wahlbezirksschlüssel setzt sich also aus dem Stadtbezirk und der fortlaufenden Nummer in der Form 010-01 zusammen. durch die Beachtung der Stadtbezirksgrenzen sind die Wahlbezirke in die städtische Gliederung integriert. darüber hinaus sind alle Wahlkreise (landtag- und Bundestag5) im System hinterlegt.

Verwaltungseinheiten Neben den genannten raumbezügen kann jede beliebige andere Gebietseinteilung in das raumbezugsystem eingebunden werden. So gibt es Sozialrathausbezirke, Polizeireviergrenzen, Schulbezirksgrenzen und vieles mehr. insgesamt sind in der adresszentral- und regionaldatei derzeit mehr als 50 raumbezüge enthalten. Über die Stadtgrenzen hinaus ist das Gliederungssystem in übergeordnete Einheiten eingebunden. So existieren fünf Ebenen für die Metropolregion Frankfurt/rhein-Main. Weitere 16 gliedern das land Hessen, so z.B. das Gebiet des Planungsverbandes Ballungsraum Frankfurt/rhein-Main, der regierungsbezirk darmstadt oder

die hessischen Kreise. diese Ebenen sind in vier für die Bundesrepublik deutschland integriert (Gemeinden, Kreise, länder sowie die Staatsgrenze). Bis zur europäischen außengrenze reichen weitere sechs Gliederungsebenen (z.B. Nuts 1-Ebene, regionen sowie die außengrenze selbst). Somit sind räumliche analysen und Kartendarstellungen lückenlos von der adresse bis zum Gebiet der Europäischen Union möglich.

Karte 1: Ausschnitt aus der wahlorganisatorischen Gliederung

Anmerkungen 1 2 3

4

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Stand: Juni 2008. die Historisierung reicht bis 2004 zurück. dies gilt z.B. für das „Uhrtürmchen“ in Bornheim. Zwar besitzt dies keine adresse, zweimal wöchentlich findet dort aber ein Markt statt, der auf dem Stadtplan in Frankfurt.de positioniert werden muss. Hierzu dient eine informelle adresse, die Geokoordinaten besitzt. Eine topologie beschreibt die abhängigkeiten innerhalb eines räumlichen Netzes. So muss z.B. eine Stadtbezirksgrenze immer auf einer Blockgrenze oder eine adresse innerhalb eines Blocks liegen. die landtags- und Bundestagswahlkreise basieren wiederum auf den Stadtteilgrenzen.

Über Statistik

:

Dale Carnegie : „Wenn es Ihr Ziel ist, jemanden zu überzeugen, dann denken Sie daran, dass es nützlicher ist, Gefühle zu erregen als Gedanken hervorzuru fen.“

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NRW-Wahl 2010: Zum ersten Mal mit zwei Stimmen

Grüne Frauen und Linke Männer Klaus Kosack, Bonn

Wie wählte alt und jung, wie Männer und Frauen? Dies sind immer wieder gestellte Fragen. Die Repräsentativstatistik kann sie beantworten. Worum geht es bei dieser Statistik? Zusätzlich zu den „üblichen“ Ergebnissen nach Stimmbezirken und Parteien wird das Wahlverhalten von fünf Altersgruppen und Geschlecht in ausgewählten Stimmbezirken

der Stadt ausgezählt. Hierfür werden am Wahltag gesondert gekennzeichnete Stimmzettel eingesetzt. Die Ergebnisse werden dann für das Land insgesamt veröffentlicht und regional bis auf Ebene der Regierungsbezirke herunter gebrochen. Das reicht nicht aus, die entstehende Lücke sollte geschlossen werden. Dazu wurden alle 27 NRWGrafik 1

Großstädte (23 kreisfreie Städte und vier kreisangehörige Großstädte) angeschrieben. 13 Städte haben sich an der Umfrage beteiligt. Dafür sei ihnen an dieser Stelle gedankt. In diesen 13 Städten gab es zusammen 156 repräsentativ ausgewählte Stimmbezirke mit knapp 190 000 Wahlberechtigten. 86 000 von ihnen haben an der Urne und 38 000 per Brief gewählt; 65 000 Personen zogen es vor, zu Hause zu bleiben. Das zeigt eindrucksvoll das Interesse der NRW-Bürgerschaft an dieser Landtagswahl.

Wahlbeteiligung Der erste Blick liegt auf der Wahlbeteiligung. Bei der Berechnung der Wahlbeteiligung wurden die Briefwähler den Wählern an der Urne zugeschlagen.

Grafik 2

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Bei der Betrachtung der Grafik 1 zeigt sich das Bild, so wie wir es von den Wahlen der letzten Jahre kennen: Geringes Interesse bei der jüngeren Wählerschaft; hohe Beteiligungen bei der Wählerschaft im Seniorenalter ab 60 Jahren. Dies sollte den Parteien zu denken geben: Warum ist die Beteiligung zum Beispiel zwischen den 21–24-jährigen um etwa 25 Prozentpunkte niedriger als bei der Gruppe zwischen 60 und 70 Jahren? Gibt es Ursachen hierfür? Andererseits kann auch konstatiert werden, dass das geringere

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Grüne Frauen und Linke Männer Interesse an Wahlen mit dem Alter „mitgenommen“ wird: Heute liegt die Wahlbeteiligung der 60- bis 69-Jährigen bei 70 %. Vor 20 Jahren galt das für die 20 Jahre jüngeren Wähler. Bei der Betrachtung der Grafik fällt auch auf, dass die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Männern und Frauen gering sind: Bei den 13 Städten wurde fast die gleiche Beteiligung von Männern und Frauen erreicht. In den einzelnen Altersgruppen gibt es freilich Unterschiede: Bei den Altersgruppen ab 21 und unter 60 Jahren betragen die Differenzen maximal 1,1 Punkte, mal für die Frauen, mal für die Männer. Erst mit dem Erreichen des Seniorenalters haben die Männer wieder die Nase vorne. Die größten Unterschiede zwischen den Geschlechtern aller Altersgruppen überhaupt weisen die ältesten Wähler auf: Bei den über 70-Jährigen haben wir eine Differenz von 9,7 Prozentpunkten. Da die Zahl der Wahlberechtigen im Seniorenalter ständig steigt, sollte sich der Gesetzgeber überlegen, die Gruppen der über 60-Jährigen weiter zu unterteilen, z.B. 60–64, 65–69, 70–74, 75–80 und 80 Jahre und älter.

Altersstruktur der Wähler

Grafik 3

Grafik 4

Tabelle zum Stimmensplitting

Zunächst sei auf die Altersstruktur der Wählerschaft eingegangen: Insgesamt gehören um die zehn Prozent der Wähler den beiden jüngsten Altersgruppen an. Ein Sechstel macht die Wählerschaft um die 40 aus, während der Anteil der 45–59-Jährigen ein gutes Viertel stellt. Die dominierende Gruppe sind die Senioren: Deren Anteil bei den Wählern beStadtforschung und Statistik 2/2010

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Grüne Frauen und Linke Männer FDP an der 5%-Hürde

CDU: Partei der Senioren

läuft sich auf gut 36 Prozent. Wie stehen die Parteien in den einzelnen Altersgruppen dar? Gibt es hier Unterschiede? Es gibt sie, wie Grafik 2 zeigt. Am Beispiel der Senioren, d.h. Wähler 60 Jahre und älter, soll einmal aufgezeigt werden, welches Gewicht die einzelnen Altersgruppen bei welchen Parteien haben. In die nachstehende Betrachtung fließen die fünf im NRW-Landtag vertretenen Parteien CDU, SPD, GRÜNE, FDP und LINKE ein, während die übrigen Parteien als „Sonstige“ zusammengefasst worden sind. Das unterschiedliche Gewicht der Parteien fällt sofort ins Auge. So gehört fast die Hälfte der CDU-Wählerinnen und Wähler zu den Senioren, bei GRÜNEN und LINKEN aber nur jeder sechste. Die SPDWählerschaft nähert sich noch am ehesten dem Durchschnitt. Etwa 4 von 10 Wählern der Sozialdemokraten sind über 60 Jahre alt. Bei den LINKEN fällt die Dominanz der um die 50-Jährigen auf. 38 Prozent aller Wähler dieser Partei gehören dieser Altersgruppe an. Grafik 3 zeigt, wie sich die Altersstruktur aller Wähler von der einzelner Parteien unterscheidet. Bei den Linken und den Sonstigen stellten die 18–24-jährigen Wähler etwa 10%-Punkte mehr als in der gesamten Wählerschaft. Riesige Abweichungen zwischen Wählerschaft und Parteien zeigen sich bei den Senioren. Dort liegt der Anteil der GRÜN-Wähler um 20 Prozent niedriger als im Durchschnitt. Gleiches gilt für die Sonstigen und die Linke.

Stimmabgabe nach dem Alter ... und der Frauen

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Jetzt werden die Parteienanteile (Zweitstimmen) innerhalb

der einzelnen Altersgruppen näher untersucht. Deutlich treten die unterschiedlichen Anteile der Parteien in den einzelnen Altersgruppen hervor. Insgesamt holte die CDU in den repräsentativ ausgewählten Bezirken der 13 Großstädte 28,7 Prozent der gültigen Stimmen. Dabei ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen Alter und Partei erkennbar: Den geringsten Zuspruch hatten die Christdemokraten mit 17,2 Prozent bei den jungen Leuten. Von Altersgruppe zu Altersgruppe steigt der Anteil bis 39,8 Prozent bei den Senioren. Anders als 2005 konnte die CDU diesmal in keiner Altersgruppe die SPD übertreffen. Die SPD erlangte insgesamt bei den 13 Städten 35,9 Prozent der Stimmen. Bei allen Wählern bis Mitte 40 schaffte sie nur 30 %; erst bei der Wählerschaft jenseits der 45 hatten die Sozialdemokraten einen höheren Zuspruch; das beste Ergebnis kam bei der Wählerschaft über 60 Jahren mit 40,2 Prozent Stimmenanteil. Es fällt auf, dass in den meisten Städten bei den jüngeren Altersgruppen die SPD den höchsten Zuspruch fand, selbst in CDU dominierten Städten. Als „dritte Kraft“ in den Großstädten und im Lande haben sich die GRÜNEN/ B90 etabliert. Insgesamt erzielten sie 15,5 Prozent Stimmenanteil bei sehr unterschiedlichen Gewichten in den Altersgruppen: Bei den unter 45-Jährigen ist sie stark verankert: über 20 Prozent wählen Grün; im höheren Alter nimmt der Zuspruch stark ab: Bei den Senioren votierten nur 7% für die GRÜNEN. Vom dritten auf den fünften Platz verdrängt wurde in den letzten Jahrzehnten die FDP. Mit 6,3 Prozent Stimmenanteil liegt sie nur noch knapp über

der 5-Prozent-Hürde in den Großstädten. In fünf Großstädten wurde diese Marke verfehlt. Auch bei den Liberalen ist ähnlich wie bei den GRÜNEN mit zunehmenden Alter eine geringere Präferenz erkennbar. Die höchsten Anteilwerte wurden mit 8,1 Prozent Anteil bei den Wählerinnen und Wählern um die 30 notiert, während bei den Senioren der Stimmenanteil bei 5,4 Prozent liegt. Auf Platz 4 in den Städten haben sich die LINKEN etabliert und liegen mit 6,6 Prozent Stimmenanteil knapp vor der FDP. Am besten schnitten sie bei der Wählerschaft um die 50 Jahre ab, wo sie 8,7 Prozent erreichten Bei den übrigen Parteien existiert ein immenser Alterseinfluss: Von den jungen Leuten votierten etwa 16 % für Gruppen wie Piraten und Pro NRW, dann aber geht es steil bergab. Bei den Senioren fanden diese Gruppierungen nur noch eine verschwindend geringe Anhängerschaft.

Stimmabgabe nach dem Geschlecht Wählten Männer bei der NRWWahl anders als Frauen? Nach Eliminierung des Frauenüberschusses (auf 1000 Wähler kamen 1058 Wählerinnen) kamen folgende Resultate für die Parteien heraus: Auf 1000 Männer, die CDU wählten, kamen 1102 Frauen, die sich für die CDU entschieden. Die Christdemokraten hatte also bei den Frauen einen besseren Rückhalt als bei Männern. Für die anderen Parteien gelten: SPD: 1033; GRÜNE: 1139; FDP 819; LINKE 682 und Sonstige 696. Hier zeigt sich, dass die GRÜNEN eindeutig von Frauen bevorzugt worden ist, gefolgt von der CDU und SPD. Als eher Männerparteien

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Grüne Frauen und Linke Männer entpuppten sich die FDP, LINKE und die sonstigen Parteien.

Stimmensplitting Erstmals in der Geschichte der NRW-Landtagswahlen hatten die Wähler eine Erst- und eine Zweitstimme. Gut drei Viertel der Wählerschaft wählte gleichförmig; d.h. sie gaben ihre Erst- und Zweitstimme der gleichen Partei. Dabei existieren deutliche Unterschiede. So holte die FDP von den auswertbaren Stimmzetteln 6,2 Prozent der Zweitstimmen. Aber nur 2,6 Prozent – mithin deutlich weniger als die Hälfte – votierten auch mit der Erststimme für den FDPKandidaten, mehr hingegen –

nämlich 3,0 Prozent – gaben sie dem CDU-Kandidaten. Ein ähnlicher, aber nicht so enger Zusammenhang besteht zwischen SPD und GRÜNEN. Von den 15,3% Zweitstimmen für die GRÜNEN kreuzten 8 % auch den GRÜNEN-Kandidaten an, 6 % fanden sich als Erststimmen bei der SPD wieder. Der Rest verteilt sich auf die übrigen Parteien und wird in der Tabelle nicht ausgewiesen. Fakt ist auch, das die Bereitschaft zum Stimmesplitting mit zunehmendem Alter sinkt. Bei den jüngsten Wählern haben 36 % ihre beiden Stimmen auf zwei Parteien aufgespalten, bei den Senioren waren es dagegen nur 15%.

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Anhang Der Anhang enthält für die 13 NRW-Großstädte die Wahlbeteiligung und die Ergebnisse der fünf untersuchten Parteien. Die Sortierung der Städte erfolgte nach dem jeweiligen Stichprobenergebnis.

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Statistik und Politik

Es geht auch anders

Statistik und Politik Martin Schlegel, Hagen Wer glaubt, als Redaktionsleiter dieser Zeitschrift lese ich jeden eingereichten Beitrag einoder mehrmals intensiv durch, um dann nach Abwägung von Plus und Minus der Redaktionskonferenz eine Empfehlung vorzutragen, der irrt. Beim Durchgehen der Artikel gilt: Überflogen werden alle, intensiv gelesen einige. Das birgt den – ungewollten – Nebeneffekt, dass jedes gedruckt vorliegende Heft mir Neues bietet. Und ich muss gestehen, ich genieße es auch, das Heft in die Hand zu neh30

men und durchzublättern. Ich lese anders, entspannter, einfach nur aus Neugier. Und entdecke eben Neues. So steht bei der Vorstellung einer Person: „Statistik und Politik, das ist wie in einer Partnerschaft. Man sollte sich gegenseitig unterstützen und respektieren, aber dem anderen auch seine Freiheit lassen.“ Ansgar Schmitz-Veltin ist Verfasser dieser Aussage. Getroffen hat er sie, als es darum ging, sich den anderen VDStlern vorzustellen, indem man aus einigen vorgegebenen

Satzanfängen ein paar auswählt und ergänzt. Der Anfang „Statistik und Politik“ wird gerne genommen, aber meistens ganz anders fortgeführt. Meistens sehr kritisch, manchmal hämisch. Hier aber spricht jemand von Partnerschaft, von gegenseitiger Unterstützung und gegenseitigem Respekt, und davon, dem anderen Freiheit zu lassen. Das impliziert sicher auch, Verständnis – nicht Zustimmung – für das Handeln des Anderen aufzubringen. Sicher ein guter Weg.

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Landtagswahl und Teil-Wiederholung der Kommunalwahl

„Wahlbetrug“ in Dortmund? Ernst-otto Sommerer, dortmund

Es war schon sehr unruhig, in dortmund, nach dem 30. august 2009, dem tag der Kommunalwahl und der Wahl des oberbürgermeisters. am Montag nach der Wahl wurde eine Haushaltssperre verhängt, nachdem, so die opposition, bis zuletzt eine klamme Kasse verneint worden war. das Wort vom Wahlbetrug war schnell ausgesprochen und half, das politische Gezerre zu eskalieren. rot und Grün trennten sich, die SPd als stärkste Fraktion suchte wechselnde Mehrheiten. im dezember 2009 beschloss der rat mehrheitlich, dass die Kommunalwahlen und die Wahl des oberbürgermeisters wegen des Wahlfehlers („Wahlbetrug“) ungültig und zu wiederholen seien. Gegen diesen Beschluss zogen 10 ratsvertreter der SPd vor das Verwaltungsgericht – und aus 11 der 12 Bezirksvertretungen jeweils ein (SPd)Mitglied. So waren allein der oberbürgermeister und eine Bezirksvertretung neu zu wählen. Unter ausnutzung aller Fristen wurden diese Wahlen auf den tag der landtagswahl in NrW (9. Mai) gelegt. Und da sich kein politischer Friede einstellte, die eine oder andere finanzielle Ungeschicklichkeit auch noch in die Öffentlichkeit drang und letztlich der Bürger mehr verunsichert erschien, denn in seiner möglichen Entscheidung bekräftigt, wagte niemand eine Prognose. Für die Wahlanalysten war es schwer, die alternativen des Wahlabends vorzudenken, al-

les war drin. aber nichts wirklich Neues passierte:

Ergebnisse der alte oberbürgermeister (SPd) erhielt bei einer sichtbar höheren Wahlbeteiligung lediglich 1,7%-Punkte weniger, das reichte für 43,8 % und einen erneuten Wahlsieg („doppelt hält besser“). Sein erneuter Herausforderer (unterstützt von CdU, FdP und Bürgerliste) steigerte sich um 1,1 % und erreichte damit 37,8 %. Eine Stichwahl hatte die CdU/FdPgeführte landesregierung zuvor abgeschafft. die höhere Wahlbeteiligung aufgrund der landtagswahl konnte der SPdKandidat im bürgerlichen Süden nicht so gut nutzen, wie im Norden. Nebenbei wurden alle 4 SPd-direktkandidaten mit deutlichem abstand in den landtag gewählt – wie immer, nur etwas knapper als sonst. die höhere Wahlbeteiligung sorgte jedoch im Stadtbezirk Brackel für eine Überraschung: dort verlor die FdP ihren einzigen Sitz und die SPd gewann einen hinzu. Kein Kommentar.

Und nun? die Wahlwiederholung des oB und einer Bezirksvertretung sind erfolgt. Was ist mit den übrigen 11 Bezirksvertretungen und dem rat? Wie es weitergeht, wird man sehen. das Wahlergebnis lässt jedoch (achtung: Satire!) den Schluss zu, dass möglicherweise der Wahlbürger gar nicht betrogen werden konnte, also auch kein

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Wahlfehler vorliegen kann. den Wahlbürger interessiert das nämlich alles kaum, was da im rathaus passiert oder nicht.

Seattle andreas Hämer, Großrosseln

Graue Bauten aus geklauten Schätzen einer fremden Welt sich in engen reihen drängen, vollbekotzt mit falschem Geld lautes Brummen in den dummen Straßenschluchten dieser Stadt – Möwen schreien: kein Verzeihen. Selber schuld. Wer hat, der hat. Wolken kratzen blanke Glatzen schaun von oben wunderschön auf die Blinden die sich schinden und den Krakenarm nicht sehn. obdachlose mit der dose schlagen dumpf den müden takt für die fitten Parasiten, die nach oben abgesackt. Und wir wälzen unsre Stelzen auf dem lager her und hin. tage eilen. Kein Verweilen. Flucht nach vorne, ohne Sinn.

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Dynamische Analyse von Wahlkampfprozessen

Rolling Cross-Section Survey Thorsten Faas, Rüdiger Schmitt-Beck, Ansgar Wolsing, Mannheim

Einleitung

Mehr Wechselwähler

... und Spätentscheider

2005 und 2009: 40% Spätentscheider

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Eines der großen Themen der Forschung über öffentliche Meinung und politisches Verhalten ist seit mehreren Jahrzehnten die Beobachtung, dass die Orientierungen der Bürger an Stabilität verlieren. Ersichtlich wird dies beispielsweise bei Wahlen. So steigt seit Jahrzehnten der Anteil der Wähler, die von Wahl zu Wahl ihre Parteipräferenzen ändern. Ein anderer Indikator ist die wachsende Bedeutung der sogenannten Spätentscheider – jener Personen also, die sich erst während des Wahlkampfes, oft sogar erst am Wahltag selbst, endgültig auf eine Partei festlegen. Umfasste der Anteil dieser Gruppe vor der Bundestagswahl 1983 bei keinem Wahlgang mehr als fünf bis zehn Prozent der Wähler, so wuchs er in den nachfolgenden beiden Jahrzehnten allmählich an, um Ende der 1990er Jahre eine Größenordnung von 15 bis 20 Prozent zu erreichen. Hierzu trug zwar die schwächere parteipolitische Verwurzelung der Bürger aus den neuen Bundesländern durchaus bei. Doch auch im Westen der Republik ist ein deutlicher Trend zu verzögerten Wahlentscheidungen unübersehbar. Eine ganz neue Qualität erreichte dieses Phänomen freilich bei der Bundestagswahl 2005, bei welcher der Anteil der Spätentscheider sprunghaft auf über 40 Prozent anstieg – eine Größenordnung, die auch bei der jüngsten Bundestagswahl am 27. September 2009 erneut erreicht wurde.

Wenn so viele Wähler erst kurz vor Wahlen entscheiden, wie sie stimmen werden, dann gewinnen Wahlkämpfe erheblich an Bedeutung. Anders als in früheren Jahrzehnten ist daher heute die Analyse von Wahlkämpfen und ihren Konsequenzen ein unverzichtbarer Bestandteil wahlsoziologischer Forschung (Schoen 2005; Schmitt-Beck 2007). Hierzu bedarf es allerdings neuer methodischer Instrumente. Wahlkämpfe sind hochgradig dynamische Phänomene. Um sie angemessen zu untersuchen, sind Verfahren der Datenerhebung und -analyse vonnöten, welche diese Dynamik einzufangen vermögen. Im vorliegenden Beitrag wird ein solches Verfahren vorgestellt – das so genannte „Rolling Cross-Section“-Design (im Folgenden: RCS). Das zentrale Ziel von RCS-Studien besteht darin, dynamische Prozesse der Kristallisierung und Veränderung von Einstellungen und Verhaltensorientierungen abzubilden und zu analysieren. Dazu ist die Durchführung einer auf einer Zufallsstichprobe basierenden Querschnittsbefragung in strikt kontrollierter Weise so über einen vorab definierten Zeitraum zu spreizen, dass nicht nur alle Befragten zusammen, sondern auch die Befragten jedes einzelnen Tages jeweils in sich eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit konstituieren. Bisherige Anwendungen finden sich vor allem im Bereich

der Wahlkampfforschung – auch wenn das RCS-Design für jede Form kurzfristigen Wandels der öffentlichen Meinung einen attraktiven Analyseansatz darstellt. Das erste, allerdings noch in wöchentlichem Turnus realisierte RCS-Pilotprojekt wurde 1984 im Rahmen der American National Election Studies (ANES) durchgeführt. Der eigentliche Durchbruch des RCS-Designs setzte die Umstellung auf tägliche Interviews voraus, welche erstmals im Rahmen der Canadian Election Study (CES) 1988 vorgenommen wurde. Seither hat das RCS-Design weltweite Verbreitung gefunden. Es wird heute bei etlichen nationalen Wahlstudien eingesetzt, etwa seit 1988 kontinuierlich in Kanada (CES), in jüngerer Zeit aber auch in Neuseeland (New Zealand Election Study NZES), Großbritannien (British Election Study BES), Italien (Italian National Election Study ITANES) und den USA (National Annenberg Election Study NAES). Zur Europawahl 2009 wurde sogar ein international vergleichendes RCS-Projekt realisiert. In Deutschland wurde die erste Umfrage dieses Typs anlässlich der Bundestagswahl 2005 durchgeführt (SchmittBeck u.a. 2006). Im Rahmen der „German Longitudinal Election Study (GLES)“11 wurde bei der Bundestagswahl 2009 erneut eine solche Studie durchgeführt. Der vorliegende Beitrag skizziert zunächst in idealtypischer Perspektive die

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey Eigenheiten des RCS-Designs und erläutert dann am Beispiel der RCS-Bundestagswahlstudie 2009, wie dieses anspruchsvolle Design praktisch umzusetzen ist und welche Schwierigkeiten sich dabei stellen. Er schließt mit einigen exemplarischen Analysen, welche Rückschlüsse auf die Datenqualität ermöglichen und die besonderen Vorzüge von RCS-Daten verdeutlichen.

RCS als Instrument dynamischer Analyse Wahlkämpfe sind hochgradig dynamische Kommunikationsphänomene, die sich als Sequenzen von Ereignissen darstellen lassen. Diese werden von Parteien und Kandidaten, aber auch von den Medien oder anderen politischen Akteuren (z.B. Verbänden) initiiert. Überdies muss stets mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass unvorhersehbare Ereignisse, wie z.B. Naturkatastrophen oder Geschehnisse der internationalen Politik, auf das Wahlkampfgeschehen Einfluss nehmen. Studien zur Analyse von Wahlkampfwirkungen müssen daher längsschnittlich angelegt sein und diese kurzfristige Dynamik abbilden können. Panel-Designs Einer der bedeutendsten methodischen Fortschritte in diesem Bereich war die Entwicklung des Panel-Designs – mehrfache Wiederholungsbefragungen derselben Personen – durch Paul Lazarsfeld und seine Mitarbeiter Mitte des vergangenen Jahrhunderts (Lazarsfeld u.a. 1968). Panel-Designs haben den großen Vorteil, Vorgänge des Wandels von Einstellungen,

Vorstellungen und Verhaltensorientierungen auf der individuellen Ebene nachvollziehbar zu machen. Allerdings weisen sie auch einige gravierende Nachteile auf. Dazu zählen Konditionierungseffekte (d.h. Lerneffekte bei wiederholten Befragungen zu denselben Gegenständen), aber auch die unvermeidliche Panel-Mortalität und die damit verbundene Selbstselektion der zur erneuten Befragung bereiten Personen, die typischerweise mit studienrelevanten Merkmalen verknüpft ist. Für Wahlkampfforscher ist darüber hinaus die zeitliche „Grobkörnigkeit“ solcher Erhebungen ein Problem. Aus logistischen Gründen ist es schwierig, zahlreiche Panel-Wellen in sehr dichter Folge zu realisieren. Je mehr Zeit aber zwischen den einzelnen Panel-Wellen verstreicht, desto schwieriger ist es, Panel-Effekte eindeutig einem bestimmten Ereignis zuzuschreiben, weil die Zahl der potenziell für solche Effekte verantwortlichen Ereignisse mit der Zeit steigt. Außerdem weist das Instrument hinsichtlich möglicher Untersuchungsgegenstände eine gravierende Einschränkung auf. Der typische Untersuchungsplan, um Wirkungen eines Ereignisses mittels Panel-Daten zu analysieren, ist das Pre-Post-Design, d. h. die Durchführung von Befragungen vor und nach einem mutmaßlich einflussreichen Ereignis. Das ist aber nur möglich, wenn vor Studienbeginn schon klar ist, welches Ereignis untersucht werden soll. Nicht vorhersehbare Vorkommnisse sind mit diesem Instrument ebenso wenig analysierbar wie Ereignisse, die zwar im Prinzip antizipierbar sein mögen, für die aber mangels geeigneter Theorien keine Erwartungen politischer Effekte existieren.

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Für die in einer solchen Situation erforderlichen explorativen Analysen sind Panel-Designs ungeeignet (Bartels 2006). Rolling Cross-SectionDesign Mit dem Rolling Cross-Section-Design wurde eine Methode zur Analyse zeitlichen Wandels von Einstellungen und anderen Orientierungen entwickelt und konzeptionell perfektioniert, welche diese Probleme nicht aufweist (Johnston 2001; Romer u. a. 2006). Wie bereits erwähnt, besteht die Grundidee solcher Erhebungen darin, eine Querschnittsbefragung kontrolliert über einen vorab definierten Zeitraum zu spreizen, so dass auch die Befragten jedes einzelnen Tages jeweils in sich eine Zufallsstichprobe aus der Grundgesamtheit konstituieren. Herkömmliche Umfragen können dies nicht leisten. Dort nämlich werden stets bestimmte Zielpersonen eher zu Beginn einer mehr oder weniger lange dauernden Feldperiode, andere dagegen erst zu einem späteren Zeitpunkt befragt. Das ist unter anderem eine Folge der unterschiedlichen Erreichbarkeit dieser Befragungspersonen. Manche von ihnen können durch Umfrageinstitute leicht kontaktiert und interviewt werden, weil sie sich oft zuhause aufhalten und über ihre Zeit relativ frei disponieren können. Andere sind hingegen schwer erreichbar, weil sie aufgrund ihrer Berufstätigkeit und vielleicht auch aktiver Freizeitgestaltung selten in ihrer Wohnung anzutreffen sind, und noch schwieriger wird es, wenn solche Personen alleine leben. Dann nämlich fällt die Nichterreichbarkeit von Zielpersonen sogar mit der Nichterreichbarkeit des gesamten Haushaltes zusammen,

RCS als Lösung

Panel-Probleme

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey Zweistufige Stichprobenziehung

Ziel: Hohe Ausschöpfung

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und es besteht nicht einmal die Möglichkeit, Befragungstermine für die Zielperson mit anderen Haushaltsmitgliedern zu vereinbaren. Das RCS-Design trägt diesen praktischen Rahmenbedingungen der Umfrageforschung Rechnung und erlaubt es, trotz dieser Widrigkeiten Stichproben so zu ziehen, dass sie für jeden einzelnen Befragungstag eine eigenständige Zufallsstichprobe konstituieren. Um die Beobachtung der öffentlichen Meinung im Zeitverlauf noch weiter zu standardisieren, wurde darüber hinaus in den meisten bisherigen RCSStudien versucht, jeden Tag ungefähr gleich viele Interviews zu realisieren. Das ist jedoch nicht zwingend. Die täglichen Fallzahlen können, wenn dies für das Untersuchungsziel angemessen erscheint, in designkompatibler Weise variiert werden. Von zentraler Bedeutung ist hingegen die Zufälligkeit und damit gleichzeitig auch Repräsentativität der täglichen Interviews. Die für die inferenzstatistische Absicherung von Befunden zwingend notwendige Zufallsauswahl von Befragten kommt bei RCS-Studien auf doppelte Weise zum Tragen: Erstens im Hinblick auf die Chance eines Mitglieds der Grundgesamtheit, überhaupt in die Studie einbezogen zu werden, zweitens im Hinblick auf den Zeitpunkt innerhalb des Erhebungszeitraumes, an dem eine ausgewählte Befragungsperson interviewt wird. Zentrale Parameter, um diese kennzeichnenden Merkmale von RCS-Studien zu gewährleisten, sind die Stichprobenziehung und die Feldadministration: • Die Stichprobenziehung (präziser: die Ziehung der Haushaltsstichprobe) erfolgt bei einer RCS-Studie in

zwei Stufen. Zunächst wird eine normale Zufallsstichprobe gezogen. Diese wird dann jedoch nicht wie üblich sofort komplett oder in unsystematischer – oftmals rein feldlogistischen Erwägungen folgender – Weise über einen gewissen Zeitraum freigegeben. Vielmehr wird sie in einem zweiten Schritt zufällig in Teilstichproben (so genannte Replikate) unterteilt. Jedes Replikat stellt ebenfalls eine zufällige Stichprobe aus der Grundgesamtheit dar. Diese Teilstichproben werden dann nach einem festgelegten „Fahrplan“ jeweils an einem bestimmten, zufällig ausgewählten Tag für die Befragung freigegeben. • Nach der Freigabe wird für jedes Replikat eine Bearbeitungsroutine in Gang gesetzt, die einem strengen Protokoll folgt. Diese hat das Ziel, durch intensive Feldarbeit jede Teilstichprobe möglichst gut auszuschöpfen. Dies ist notwendig, weil in der Feldpraxis nicht alle Mitglieder eines Replikats umgehend am Tag der Freigabe interviewt werden können. Das wird nur für leicht erreichbare (und befragungsbereite) Personen der Fall sein, nicht jedoch für schwerer erreichbare Personen. Mit diesen kommen Interviews typischerweise erst nach mehreren vergeblichen Kontaktversuchen zustande. Essentiell für das RCSDesign ist nun, dass dieses Protokoll für alle Replikate in einheitlicher Weise abgearbeitet wird. Für jedes Replikat gelten also identische Kontaktierungsregeln; weder der Start- oder Wochentag noch sonstige Gesichtspunkte spielen da-

bei eine Rolle. Diese Regeln beinhalten einen genau festgelegten, für alle Replikate gleich langen, mehrtägigen Zeitraum, während dem die Kontaktdaten eines Replikats aktiv bleiben und Kontaktversuche unternommen werden, für die im Hinblick auf Anzahl und Zeitpunkte eine festgelegte Routine einzuhalten ist. Würden diese Abläufe geändert, würden nicht mehr alle Mitglieder der Grundgesamtheit mit derselben Wahrscheinlichkeit in die Stichprobe inkludiert und einem bestimmten Replikat zugeordnet. Damit könnte die für das RCSDesign zentrale Annahme der völligen strukturellen Gleichartigkeit aller Replikate nicht mehr aufrechterhalten werden. Die dichte zeitliche Taktung von RCS-Studien auf Tagesbasis und die Notwendigkeit strikter Kontrolle über den Befragungszeitpunkt präjudiziert den Erhebungsmodus. Persönlich-mündliche Umfragen scheiden als Modus für tägliche RCS-Erhebungen aus. Lange Zeit wurden RCS-Studien ausschließlich telefonisch durchgeführt. In den letzten Jahren wurden auch einige RCS-Studien online realisiert (Johnston 2008), doch müssen bei diesem Modus Abstriche im Hinblick auf das Ziel der Repräsentativität der Stichproben für die Grundgesamtheit der wahlberechtigten Bevölkerung akzeptiert werden. Bei genauer Umsetzung der beschriebenen methodischen Anforderungen erhält man eine Umfrage, die alle Eigenschaften einer normalen Querschnittsstudie auf der Grundlage einer Zufallsstichprobe besitzt und auch als solche analysiert werden kann. Zugleich aber kann sie unter

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey zeitlichen Aspekten in beliebiger und völlig flexibler Weise in ebenfalls zufällige Unterstichproben für beliebige Zeitpunkte oder ‑perioden zerlegt werden. Durch diese Eigenschaft von RCS-Daten werden höchst differenzierte Analysen des dynamischen Geschehens im Verlauf von Wahlkämpfen möglich. Die Replikate, die bei der Erhebung von RCS-Daten zentrale Bedeutung haben, treten bei diesen Analysen nicht mehr in Erscheinung. Die Auswertungen orientieren sich vielmehr an den Kalendertagen, an denen die Interviews realisiert werden. Auf ihrer Grundlage können auch „synthetische Querschnittsstichproben“ gebildet werden, die alle Interviews beinhalten, die innerhalb eines vom Forscher definierten Zeitraums durchgeführt wurden. Die Logik des RCS-Designs gewährleistet, dass die für jeden Erhebungstag zur Verfügung stehenden Interviews jeweils identische Mischungen von Befragten aus mehreren Replikaten und damit von leicht, aber auch schwer erreichbaren Personen beinhalten. Mit Blick auf die Stichprobe insgesamt ist der Befragungstag innerhalb der Feldzeit damit nicht mehr systematisch, sondern zufällig bedingt. Die an den verschiedenen Erhebungstagen realisierten Interviews unterscheiden sich durch nichts außer dem Datum ihrer Durchführung bzw. – präziser ausgedrückt – nur hinsichtlich des situativen Kontextes im Hinblick auf das Wahlkampfgeschehen, das diesem Datum entspricht. Alle Änderungen von Wahrnehmungen, Einstellungen, Präferenzen oder Verhaltensorientierungen, die im Zeitverlauf identifiziert werden, können daher nur zwei Quellen haben: den zufälligen

Stichprobenfehler und realen Wandel unter dem Eindruck des Kampagnengeschehens. Diese können durch geeignete statistische Verfahren separiert werden (Johnston & Brady 2002; Brady & Johnston 2006; Romer u. a. 2006). Flexible Daten­ auswertung Durch RCS-Erhebungen gewonnene Daten können in äußerst flexibler und vielfältiger Weise analysiert werden. Die einfachste Auswertungsvariante besteht darin, Trends der öffentlichen Meinung im Wahlkampfverlauf zu ermitteln (vgl. z.B. Schmitt-Beck 2009). Man kann die Daten aber auch auf der Basis einzelner Erhebungstage analysieren und damit punktgenaue Verbindungen zwischen bestimmten Wahlkampfereignissen und korrespondierenden Änderungen von Wahrnehmungen oder Einstellungen herstellen (vgl. z.B. SchmittBeck/Tenscher 2008). Ebenso leicht ist es möglich, die Daten nach Formalkriterien zu gruppieren, beispielsweise wochenweise, um zu höheren Fallzahlen und damit höherer Teststärke zu gelangen. Schnittpunkte können aber auch in beliebiger Weise nach inhaltlichen Kriterien gesetzt werden, etwa in Form eines Vergleiches der Interviews unmittelbar vor und unmittelbar nach einem bestimmten Ereignis im Wahlkampf. Ein besonderer Vorzug ist dabei, dass dies keineswegs nur für antizipierbare Ereignisse wie z. B. Parteitage oder TV-Duelle gilt, sondern für jedes beliebige Ereignis, einschließlich solcher, die im Vorfeld überhaupt nicht vorhergesehen werden können. Eine weitere interessante Analysevariante besteht in der

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Anreicherung von RCS-Datensätzen mit externen Daten, die über das Erhebungsdatum als Schlüssel problemlos zugespielt­ werden können. Beispiele sind Daten zur Medienbewertung politischer Akteure aus Inhaltsanalysen der tagesaktuellen Berichterstattung (Dobrzynska u. a. 2003) oder aktuelle demoskopische Daten aus Medienumfragen (Faas u.a. 2007), deren Effekte auf Wahrnehmungen und Einstellungen der Wähler sich auf elegante Weise ermitteln lassen. Bei ausreichenden täglichen Fallzahlen ist es sogar möglich zu analysieren, wie und aufgrund welcher Ereignisse sich die Stärke der Effekte bestimmter Prädiktoren auf das Wählerverhalten im Verlauf von Wahlkämpfen ändert (Johnston u.a. 2004). Auch hinsichtlich der einsetzbaren statistischen Auswertungsverfahren bieten RCS-Daten flexible Möglichkeiten. Sie können sowohl auf der Individualebene als auch – durch Verfahren der Zeitreihenanalyse – auf der Aggregatebene analysiert werden. Für Aggergatanalysen von RCS-Daten bieten sich überdies in besonderer Weise grafische Verfahren der Datenanalyse an (Romer et al. 2006). Aggregataussagen Bei all diesen Vorteilen darf nicht übersehen werden, dass RCS-Umfragen im Vergleich zu Panel-Befragungen auch einen Nachteil aufweisen: Sie erlauben zunächst keine Aussagen über individuellen Wandel, sondern nur Aggregataussagen über Prozesse des Wandels in der gesamten Wählerschaft oder in Wählergruppen. Von daher bietet es sich an, RCS-Studien durch eine PanelKomponente anzureichern, welche genau dies ermöglicht. Panel- und RCS-Studien kön-

Auswertungen für einzelne Tage

Zufälliger Befragungstag

RCS plus Panel 35


Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey

Zweite Panel-Welle

nen als komplementär gelten und ergänzen einander. Die Kombination einer RCS-Erhebung als Vorwahlbefragung mit einer als Nachwahlbefragung konzipierten zweiten Panel-Welle hat sich als ideales Verfahren erwiesen, um die Kampagnendynamik bei Wahlkämpfen zu analysieren (Johnston 2001; Schmitt-Beck u.a. 2006). Aus diesem Grund wurde entschieden, in die bislang umfangreichste und komplexeste deutsche Wahlstudie, die anlässlich der Bundestagswahl 2009 realisierte „German Longitudinal Election Study (GLES)“, neben zahlreichen anderen Komponenten (vgl. www.dgfw.eu/gles.php) auch eine RCS-Umfrage einzuschließen, die durch eine als Nachwahlbefragung realisierte zweite Panel-Welle angereichert wurde. Die Variablen der Nachwahl-Welle können als Messungen des kumulativen Einflusses des gesamten Wahlkampfes interpretiert und als solche mit unterschiedlich weit in der Wahlkampfperiode zurückliegenden Vorwahl-Messungen derselben Variablen verglichen werden. Überdies lassen sich verschiedene für die Wahlkampfdynamik wesentliche Daten erst nach der Wahl sinnvoll erheben, nicht zuletzt natürlich die tatsächliche Wahlentscheidung selbst.

Die RCS-Studie zur Bundestagswahl 2009

RCS: ungewöhnlich anspruchsvoll

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In idealtypischer Betrachtung zeichnet sich das RCS-Design durch eindrucksvolle Eleganz aus. Seine praktische Umsetzung ist jedoch ungewöhnlich anspruchsvoll und stellt Forscher und Erhebungsinstitute vor erhebliche Herausforderungen. Im Folgenden wird be-

schrieben, wie die im Rahmen des GLES-Projektes durchgeführte RCS-Studie realisiert wurde.2 Grundkonzept Die RCS-Studie zur Bundestagswahl 2009 wurde als CATI-Erhebung in der Zeit vom 29. Juli bis zum 26. September 2009 durchgeführt; sie umfasste also einen Zeitraum von 60 Tagen und endete am letzten Tag vor der Bundestagswahl. Im Rahmen der Studie wurden 6.008 zufällig ausgewählte Personen aus der Grundgesamtheit der deutschsprachigen, in Privathaushalten mit mindestens einem Festnetzanschluss lebenden Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, die zur Bundestagswahl 2009 wahlberechtigt war, befragt. Die unmittelbar nach der Bundestagswahl realisierte 2. Panelwelle erbrachte 4.027 Wiederholungsinterviews. Die Feldarbeit oblag dem Institut Ipsos GmbH (Mölln). Die Stichprobenziehung erfolgte als ADM-Telefonstichprobe gemäß dem Gabler/Häder-Modell. Angestrebt war ein Tagesmittel von 100 Interviews. Es wurde eine sehr umfangreiche Bruttostichprobe gezogen, die 54.400 Nummern umfasste. Diese wurden zufällig in 68 Replikate zu je 800 Telefonnummern unterteilt. Somit standen neben den Replikaten für die 60 Feldtage weitere acht Ersatzreplikate zur Verfügung. Nach Erhebungsbeginn zeigte sich jedoch, dass zur Realisierung der angestrebten Tagesfallzahlen deutlich mehr Telefonnummern erforderlich waren als zunächst kalkuliert (siehe hierzu unten im Detail). Diese Minderkalkulation konnte nicht allein mit Hilfe der Ersatzreplikate aufgefangen werden, weshalb eine Nachziehung von 45.600 Telefon-

nummern stattfand. Insgesamt kamen 94.296 Nummern zum Einsatz. Um auf schwankende Ausschöpfungsquoten an bestimmten Wochentagen reagieren zu können, ohne die RCS-Logik aufgeben zu müssen, wurden die Replikate ihrerseits wiederum zufällig in „Scheiben“ zu je 100 Telefonnummern zerlegt. Auch diese Teilstichproben waren aufgrund ihrer zufälligen Ziehung beliebig kumulierbar; es handelte sich gleichsam um „Replikate zweiter Ordnung”. Dadurch wurde die Möglichkeit geschaffen, die täglichen Teilstichproben in einer dem RCS-Design angemessenen Weise ad hoc durch Hinzuspielen oder Weglassen einzelner Scheiben zu vergrößern oder zu verkleinern, um so die erreichten Tagesfallzahlen feiner steuern zu können. Die Festlegung der Zahl der an jedem Erhebungstag neu einzuspielenden Scheiben erfolgte jeweils zeitnah in Reaktion auf die aktuelle Feldentwicklung und die bis dahin gesammelten Erfahrungen mit dem Verlauf der Erhebung. Dies ist eine bei RCS-Studien übliche Vorgehensweise; solche Studien erfordern grundsätzlich ein sehr dichtes (d.h. tägliches) Feldmonitoring und je nach Feldverlauf gegebenenfalls auch kontinuierliches Nachsteuern. Feldverlauf RCS-Studien können in der Erhebungsphase also keinesfalls „sich selbst überlassen“ werden. Die Feldentwicklung bedarf permanenter Beobachtung und gegebenenfalls zeitnaher Adjustierung der Zahl der täglich eingespielten Scheiben. Ansonsten bestünde ein erhebliches Risiko, das Ziel eines gleichmäßigen Feldverlaufs auf dem angestrebten

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey Niveau täglicher Fallzahlen zu verfehlen. Abbildung 1 zeigt die Entwicklung des Feldverlaufs der RCSStudie im Vorfeld der Bundestagswahl. Sie gibt die Zahl der Interviews wieder, die an den einzelnen Feldtagen realisiert wurden. Zum Vergleich sind auch die täglichen Fallzahlen der Nachwahl-Welle dargestellt, die – beginnend am Montag nach der Wahl – wie eine typische Querschnittsbefragung durchgeführt wurde: Ihr Ziel war die Abarbeitung der Wiederholungsbefragungen in möglichst kurzer Zeit. Die meis­ten Interviews sind denn auch am ersten Feldtag der Nachwahl-Welle zu beobachten; das Gros der Interviews wurde innerhalb der ersten zehn Tage der Feldzeit realisiert. Im Vergleich dazu stellt sich – als Folge der systematischen Steuerung – der Feldverlauf der Vorwahl-Welle wesentlich ebener dar. Gleichwohl ist der Grafik zu entnehmen, dass der Feldverlauf nicht völlig gleichmäßig vonstatten ging, vielmehr sind Schwankungen der Tagesfallzahlen zu konstatieren: Am ersten Feldtag wurden lediglich 22 Interviews realisiert (wobei dieses Hochfahren zu Beginn vollkommen designkonform ist); am 44. Feldtag wurde der Höchstwert von 138 Interviews erreicht. Das in der Abbildung erkennbare regelmäßige Absinken der Fallzahlen betrifft die Wochenenden, besonders die Sonntage, an denen es stets schwieriger ist, Interviews zu realisieren. Insgesamt lag die Tagesfallzahl der Bundestagswahlstudie im Mittel bei 100,1 Interviews und entspricht damit nahezu exakt dem angestrebten Tagesschnitt (bei einer Standardabweichung von 26,3).

Abbildung 1

Betrachtet man Abbildung 1 nochmals im Detail, so lassen sich drei Phasen des Feldverlaufs unterscheiden. Der Beginn der Feldzeit ist durch eine deutlich geringere Zahl von Interviews charakterisiert, als erwartet worden war. An den ersten beiden Feldtagen wurden lediglich 22 bzw. 31 Interviews realisiert. Ein gewisses „Aufschaukeln“ am Anfang ergibt sich zwar bei einer präzise umgesetzten RCS-Studie zwangsläufig. Die angestrebten Tagesfallzahlen sollen ja erst erreicht werden, wenn eine größere Zahl von Replikaten gleichzeitig aktiv ist und somit sowohl leicht auch als schwerer kontaktierbare Zielpersonen auch tatsächlich erreicht werden. Allerdings zeichnete sich kurz nach Feldbeginn ab, dass die geringe Fallzahl nicht allein den Spezifika des Designs geschuldet war. Vielmehr erwies sich auch die Zahl der pro Tag eingespielten Nummern als deutlich zu niedrig. Die zunächst als Bruttoansatz eingesetzten 800 Telefonnummern pro Tag

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genügten nicht, um daraus im Mittel 100 Interviews zu schöpfen. Daher war ein frühes Gegensteuern in Form einer deutlichen Erhöhung der Zahl der Scheiben pro Replikat vonnöten. Zusätzlich wurde an Wochenenden mit einem höheren Nummerneinsatz gearbeitet, um den dortigen Einbrüchen entgegenzuwirken.3 Nach erfolgreicher Justierung der Nummernfreigabe wurde die tägliche Zielfallzahl rasch erreicht. In einer zweiten Phase des Feldverlaufs wurden fortan stets 1.400 Nummern pro Werktag eingespielt, an Samstagen 1.600 und an Sonntagen 1.800. Dies führte, wie die Abbildung zeigt, zu einem recht gleichmäßigen Feldverlauf mit im Mittel rund 100 realisierten Interviews pro Tag. In der sechsten Feldwoche begann schließlich die dritte Feldphase, in der ein für RCS-Studien innovatives Element in das Projekt eingeführt wurde. Die Zahl der aktivierten Scheiben wurde nun nach einem festen Muster erhöht, um in den letzten beiden Wochen der Feldzeit eine tägliche

100 aus 800

1400 bis 1800 Nummern

Mehr aktive Scheiben

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey

Rotation bei den Kontaktversuchen

Zahl von etwa 125 Interviews zu erreichen. Dies sollte einerseits die Ausfälle zu Beginn der Feldzeit kompensieren und die angezielte Gesamtfallzahl von 6.000 Interviews sicherstellen, andererseits eine präzisere Beobachtung der „heißen“ Endphase des Wahlkampfes auf der Basis höherer Tagesfallzahlen ermöglichen. Um die Integrität des RCS-Designs, das einen sehr gleichmäßigen Feldverlauf erfordert, möglichst wenig zu beeinträchtigen, wurden die täglichen Fallzahlen allerdings nicht abrupt, sondern allmählich über einen längeren Zeitraum „hochgefahren“. Praktisch wurde dafür in drei Sechstagesintervallen die Zahl der eingesetzten Scheiben sukzessive um jeweils eine Scheibe erhöht. Bearbeitung der Replikate Nicht nur auf der soeben beschriebenen Ebene einzelner Feldtage, sondern auch eine Ebene darunter, nämlich bei der Bearbeitung der einzelnen Replikate am Tag und in den Tagen nach ihrer Freigabe, verlangt das RCS-Design ein strikt standardisiertes Vorgehen. Durch intensive Feldarbeit soll jede Teilstichprobe so weit wie möglich ausgeschöpft werden, da gerade schwerer erreichbare Personen, mit denen Interviews erst nach mehreren vergeblichen Kontaktversuchen zustande kommen, für die Repräsentativität der pro Tag realisierten Interviews von zentraler Bedeutung sind. Essentiell ist daher, dass die Bearbeitungsroutine für die einzelnen Replikate einheitlich ist und genau definierten, kons­ tanten Regeln folgt. Für die Bundestagswahlstudie 2009 wurde beschlossen, dass jedes Replikat 14 Tage lang aktiv bleiben sollte, um eine

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möglichst gute Ausschöpfung zu erreichen. In den ersten beiden Tagen sollte jede nicht sofort stichprobenneutral ausgeschiedene Telefonnummer, bei der noch kein Interview realisiert werden konnte, vier Mal angerufen werden, an den folgenden zwölf Tagen jeweils zwei Mal. Bezüglich der Uhrzeiten der Kontaktversuche war dabei ein komplexes Rotationsschema zu beachten, das die Kontaktversuche gleichmäßig über den Tag verteilen sollte. Telefoniert wurde wochentags von 9 bis 21 Uhr, samstags von 10 bis 20 Uhr und sonntags zwischen 12 und 20 Uhr. Nachdem zu Beginn der Feldzeit allerdings die Zahl realisierter Interviews hinter den Erwartungen zurückblieb, wurde – neben der bereits beschriebenen Erhöhung der Zahl der Telefonnummern – auch die Kontaktfrequenz erhöht: Nicht erreichte Nummern sollten fortan – solange aktiv – weitere vier Mal pro Tag kontaktiert werden. Zu diesen Grundregeln gab es zwei Einschränkungen: Besetzte Nummern – unter denen offenkundig eine Kontaktperson aktuell erreichbar ist – wurden bereits nach 30 Minuten erneut angewählt, um die gegebene Kontaktmöglichkeit zu nutzen. Zudem unterbrachen Terminvereinbarungen den skizzierten Algorithmus. Dies gilt für die Kontaktfrequenz pro Tag ebenso wie für den Zeitraum, für den eine Nummer aktiv bleibt, denn Terminvereinbarungen wurden auch über den definierten zweiwöchigen Zeitraum hinaus wahrgenommen. Schließlich sollte es – als zusätzliche Maßnahme mit dem Ziel optimaler Ausschöpfung – gezielte Konversionsversuche „weicher“ Verweigerer (Personen, die z.B. mit der Begründung, keine Zeit oder kein

Interesse zu haben, ein Interview ablehnten, jedoch keine weiteren Kontaktversuche untersagten) geben: Sie sollten zwei Tage nach ihrer ursprünglichen Ablehnung noch einmal kontaktiert werden. Abbildung 2 zeigt das Resultat der Befragung. Die absolute Zahl der Interviews, die aus jedem der 60 täglichen Replikate hervorgegangen sind, schwankte zwischen 60 aus dem am letzten Feldtag freigegebenen Replikat und 146 aus dem 40. Replikat. Beide Extreme sind wenig überraschend: Dass gerade das 40. Replikat zu besonders vielen Interviews führte, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass es die hohe Zahl von 20 Scheiben umfasste. Generell gilt natürlich: Je höher der Bruttoansatz, desto mehr Interviews, und das kommt durchweg in Abbildung 2 zum Ausdruck. Dass demgegenüber das letzte Replikat – wie auch generell die Replikate aus den letzten Tagen vor der Wahl – vergleichsweise geringe Interviewzahlen lieferte, ist ebenfalls designbedingt, denn diese Replikate konnten nicht für dieselbe Zeitdauer offen bleiben wie diejenigen, die so rechtzeitig ins Feld gegangen waren, dass sie noch für die volle Periode von 14 Tagen abgearbeitet werden konnten. Da die Vorwahlerhebung naturgemäß mit dem Vorabend der Wahl ihr Ende finden musste, „trunkierte” der Wahltag die Bearbeitung dieser Replikate. Für die Analysemöglichkeiten der Daten ist dieses für RCSStudien designbedingt normale Phänomen unbedenklich, denn diese orientieren sich ja nicht an den Replikaten, sondern an den Erhebungstagen. Das standardisierte Bild der Nettoausschöpfungsquoten der Teilstichproben, das Ab-

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey bildung 2 ebenfalls zeigt, ist demgegenüber – wie es sein soll – sehr viel gleichmäßiger: Die Effekte unterschiedlicher Scheibenzahlen sind hier verschwunden; dagegen bleibt – da designbedingt – der Rückgang der Ausschöpfung zum Ende der Feldzeit hin auch in dieser Darstellungsweise sichtbar. Darüber hinaus zeigt sich aber auch zu Beginn der Feldzeit ein auffälliges – und nicht designimmanentes – Muster: Die ersten Replikate weisen eine – im Vergleich zu den folgenden Replikaten – höhere Ausschöpfung auf, die dann allmählich abnimmt. Dies ist kein Effekt der Bearbeitungsdauer (schließlich blieben alle Replikate bis einschließlich des 47. Feldtages volle 14 Tage lange aktiv), sondern deutet auf eine variierende Bearbeitungsintensität hin. In den ersten Tagen der Studie, an denen – wie oben erwähnt – die Interviewzahlen deutlich hinter den Erwartungen zurück blieben, wurde besonders intensiv versucht, die bis dahin nicht erreichten Nummern aus den Replikaten der Vortage zu kontaktieren. Eine Nachanalyse der Bearbeitungsroutine deutet überdies darauf hin, dass noch offene Telefonnummern, die nach der erwähnten Adjustierung des Kontaktschemas in den ersten beiden Tagen acht Mal täglich hätten kontaktiert werden sollen, tatsächlich seltener, nämlich im Schnitt nur 5,3 Mal angewählt wurden. An den Tagen 3 bis 14 (mit einem Soll von sechs Kontaktversuchen nach der Adjustierung des Schemas) wurden im Schnitt nur 2,7 Kontaktversuche durchgeführt. Überdies war die tatsächlich realisierte mittlere Kontaktzahl in der Anfangsphase der Studie höher als zum Ende des Erhebungszeitraumes.

Abbildung 2

In der Feldpraxis gelang die Umsetzung des angestrebten idealen Kontaktschemas also nur mit Abstrichen. Damit bestätigt sich, was sich bereits bei der RCS-Studie zur Bundestagswahl 2005 gezeigt hatte: Der Kontaktalgorithmus ist bei der praktischen Durchführung von RCS-Studien ein kritischer Punkt und erfordert ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit, um sicherzustellen, dass er in der Feldarbeit auch adäquat umgesetzt wird. Die Analyse des kumulativen Feldverlaufs der einzelnen Replikate deutet überdies darauf hin, dass sich das Umfeld für die Umfrageforschung seit 2005 verschlechtert hat. 2009 waren im Schnitt mehr Kontaktversuche erforderlich, um ein Interview zu realisieren, als vier Jahre zuvor. Nach bis zu 14 Versuchen lagen 2005 80 Prozent der Interviews vor; 2009 lediglich 72 Prozent. Es ist seit der letzten Bundestagswahl offenbar schwieriger geworden, telefonische Interviews durchzuführen. Die Versuche,

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„weiche Verweigerer“ durch nochmaliges Kontaktieren zur Interviewteilnahme zu bewegen, erwiesen sich hingegen als durchaus erfolgreich: Immerhin 369 zusätzliche Interviews konnten so gewonnen werden.

Zur Qualität der RCS-Daten Das Kernanliegen einer RCSStudie besteht darin, eine Stichprobe zu realisieren, für deren Mitglieder nicht nur die Inklusion selbst, sondern auch der Tag, an dem sie interviewt werden, per Zufall bestimmt wird. Wenn dies gelingt, dürfen die Verteilungen demographischer Variablen und anderer stabiler Merkmalsdimensionen im Feldverlauf nicht variieren. Die Tagesstichproben sollen ja strukturgleich sein. Systematische Trends dürfen nicht erkennbar werden, lediglich zufallsbedingte Fluktuationen sind zulässig. Inwieweit dies in der praktischen Umsetzung der RCS-

Schwieriger gewordenes Umfeld

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey ort in den neuen Bundesländern) im Wesentlichen über den gesamten Erhebungszeitraum hinweg gleich geblieben sind. Zwar sind geringfügige Schwankungen erkennbar, d.h. die Feldverläufe waren nicht immer vollkommen eben, aber eine Tendenz nach oben oder unten lässt sich nicht ausmachen. Dass der Anteil von Vollzeit beschäftigten Personen in den Tagesstichproben in der ersten Phase leicht zunimmt, ist wohl darauf zurückzuführen, dass diese schwerer erreichbar sind als Personen, die nicht Vollzeit erwerbstätig sind, und daher mehr Kontaktversuche nötig waren, bis ein Interview realisiert werden konnte.

Abbildung 3

Tabelle 1

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Studie zur Bundestagswahl 2009 gelungen ist, wird im Folgenden anhand von fünf soziodemographischen Merkmalen aufgezeigt. Hierfür empfehlen sich zunächst Trendplots der interessierenden Merkmalsanteile bzw. Mittelwerte. Allerdings ist man, wenn man eine solche Analyse auf der Ebene einzelner Stichprobentage durchführen möchte, mit dem Problem konfrontiert, dass die Tagesstichproben jeweils relativ klein und daher zwangsläufig mit einem recht großen Zufallsfehler behaftet sind. Dem kann durch Verfahren der Datenglättung entgegengewirkt werden; wir haben hierfür auf das LOWESS-Glättungsverfahren zurückgegriffen.4 Weiterhin ist es bei grafischen Analyen von RCS-Daten üblich, die Befragten der ersten Erhebungs-

tage auszuschließen, da designbedingt erst eine gewisse Zeit vergehen muss, ehe sich die gewünschte Mischung aus leicht und schwer erreichbaren Personen einstellt. Die folgenden Analysen beginnen daher mit dem sechsten Feldtag unserer Erhebung. Abbildung 3 zeigt, dass die Verteilungen • des Lebensalters (grafisch dargestellt als der Anteil von Befragten über 40 Jahren), • des Geschlechts, • des höchsten allgemeinbildenden Schulabschlusses (Hochschul- bzw. Fachhochschulreife), • des Erwerbsstatus (Vollzeit erwerbstätig) • sowie der regionalen Herkunft der Befragten (Wohn-

In Ergänzung zur grafischen Analyse haben wir diese Ergebnisse auch inferenzstatis­ tisch abgesichert. Für alle möglichen Paare von Tagesstichproben (mit Ausnahme der ersten fünf Feldtage) haben wir den Anteil der oben genannten Merkmale mittels logistischer bzw. für das mittlere Alter mittels linearer Regressionen in den beiden jeweils betrachteten Tagesstichproben verglichen. In die Modelle haben wir jeweils neben einer Konstanten nur eine einzige Indikatorvariable einfließen lassen, die die Zugehörigkeit zu einer der beiden jeweils verglichenen Tagesstichproben anzeigt. In Tabelle 1 sind die Anteile signifikanter Abweichungen zwischen jeweils zwei Feldtagen an sämtlichen Zweier-Kombinationen von Tagesstichproben dargestellt. Eine signifikante Abweichung liegt dann vor, wenn der Koeffizient der Indikatorvariable, die zwischen den beiden Feldtagen trennt, außerhalb des 95-Prozent-Konfidenzintervalls liegt. Rein zufallsbedingt wür-

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey de man in bis zu fünf Prozent aller Kombinationen von Feldtagen Abweichungen erwarten. Die Tabelle zeigt lediglich für zwei Merkmale geringfügige Überschreitungen dieser Marge: das Geschlecht und den Erwerbsstatus. Schließt man die Wochenenden aus, an denen besondere Bedingungen herrschen, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Berufstätige, leichter zu erreichen sind als unter der Woche, während aber gleichzeitig die Befragungsbereitschaft insgesamt sinkt, so verbessern sich beide Werte deutlich. Allerdings finden wir nun geringfügig erhöhte Abweichungen beim Alter und der regionalen Herkunft der Befragten. Diese Ergebnisse sind insgesamt zufriedenstellend; das Gros der Abweichungen beruht demnach auf zufälligen Schwankungen der sozialstrukturellen Merkmale.

Beispiele für das Analysepotenzial Eine hohe Datenqualität im Sinne des RCS-Designs ist eine notwendige Voraussetzung für den Einsatz solcher Daten zur Analyse der Dynamik der Orientierungen der Wähler im Verlauf von Wahlkämpfen. Nur wenn unterstellt werden kann, dass die Daten aller Erhebungstage in gleicher Weise auf Zufallsstichproben aus der Grundgesamtheit beruhen, ist die Interpretation statthaft, dass Unterschiede zwischen den Befragten verschiedener Erhebungstage lediglich auf Änderungen der situativen Umstände und somit auf den Wahlkampf zurückzuführen sind. Zwar ist es in der Umsetzung der hier vorgestellten Studie zu punktuellen Beeinträchtigungen der DesignIntegrität gekommen, aber die

Analyse der Strukturgleichheit der Tagesstichproben deutet nicht darauf hin, dass dies zu spürbaren Einbußen im Hinblick auf die Datenqualität geführt hat. Vor diesem Hintergrund soll nun im letzten Schritt anhand einiger ausgewählter Beispiele tatsächlicher Dynamik aus dem Bundestagswahlkampf 2009 das Analysepotenzial von RCS-Daten aufgezeigt werden. Wenn man Wahlkämpfe als hochgradig dynamische Kommunikationsphänomene versteht, bietet sich dafür ein Vorgehen in drei Schritten entlang der folgenden Fragen an: • Wie sieht das Kommunikations- und Informationsverhalten von Wahlberechtigten in heutigen Wahlkämpfen aus – und wie verändert es sich potenziell im Laufe eines Wahlkampfs? • Wie verarbeiten Menschen die Informationen, die auf sie einströmen? • Welche Folgen sind damit verbunden? Dieser Logik entsprechend greifen wir im ersten Schritt exemplarisch zwei Aspekte der Zuwendung zu politischer Information im Wahlkampf heraus: die Häufigkeit, mit der sich Menschen im Alltag über Politik unterhalten (gemessen in Tagen in der vergangenen Woche) und ihre Aufmerksamkeit gegenüber den Ergebnissen in den Medien publizierter Meinungsumfragen (gemessen anhand der Frage, ob solche Ergebnisse in der vergangenen Woche gesehen oder gelesen wurden). Abbildung 4 zeigt die entsprechenden Ergebnisse und liefert in beiden Fällen den eindeutigen Nachweis einer Intensivierung politischer Kommunikation in Wahlkämpfen: Unterhielten sich die Deutschen rund acht Wochen vor der Wahl im Durchschnitt an gerade einein-

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halb Tagen in der Woche über Politik, so stieg dieser Anteil bis zum Wahltag auf einen Wert von annährend drei Tagen pro Woche. Nicht minder deutlich ist der Anstieg, der bezüglich der Aufmerksamkeit für politische Meinungsumfragen beobachtbar ist. War es in der frühen Wahlkampfphase gerade einmal jeder Vierte, der Ergebnisse solcher Umfragen wahrgenommen hatte, so erhöhte sich dieser Anteil auf über die Hälfte in den Tagen unmittelbar vor der Wahl. Insgesamt finden sich für beide Indikatoren klare Belege eines kontinuierlichen Anstiegs über den Zeitraum der letzten acht Wochen vor der Bundestagswahl 2009 hinweg. Wahlkämpfe sind offenkundig Zeiten intensiver – und sich bis zum Wahltag intensivierender – politischer Kommunikation. Abbildung 5 zeigt am Beispiel der Koalitionserwartungen der Befragten, dass sich die Wahrnehmungen und Erwartungen der Bürger verändern. Ähnlich wie schon bei der Bundestagswahl 2005 (siehe etwa Faas u.a. 2007) waren auch 2009 die Erwartungen der Wähler, welche Koalition Deutschland nach der Wahl wohl regieren würde, sehr instabil. Auch was die Richtung der Veränderungen betrifft, stimmen die Ergebnisse 2009 mit den früheren Ergebnissen überein: Mit näher rückendem Wahltag nahm der anfänglich sehr hohe Anteil der Menschen, die mit einer schwarz-gelben Koalition rechneten, zugunsten der Erwartung einer Großen Koalition ab, so dass sich kurz vor dem Urnengang in den Wählerwahrnehmungen ein Gleichstand beider Optionen ergab. Vermutlich sind auch die Gründe für diese gleichförmigen Trends 2009 und 2005 ähnlich: Für 2005 jedenfalls

Analysepotenzial von RCS-Daten

Veränderte Koalitionserwartungen

Wahlkämpfe erhöhen das Politikinteresse

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey Personals keineswegs immun gegenüber Einflüssen von Wahlkämpfen. Zwar zeigen sich keineswegs für alle Akteure Verschiebungen: Merkel, Westerwelle, Künast und Lafontaine etwa verharrten über den gesamten Wahlkampf hinweg auf einem nahezu unveränderten Beliebtheitsniveau (auf von -5 bis +5 reichenden Thermometerskalen). Zugleich aber finden sich für zwei Spitzenakteure markante, gegensätzliche Verschiebungen: Während SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier im Verlaufe des Wahlkampfs an Beliebtheit gewinnen konnte (immerhin um annähernd einen Skalenpunkt auf der elfstufigen Skala), büßte Karl-Theodor zu Guttenberg von der CSU (durchaus überraschend) an Sympathie ein: Sein Stern ist im Wahlkampf eher – von hohem Niveau kommend – gesunken.

Abbildung 4

Abbildung 5

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konnte gezeigt werden, dass Menschen ihre Koalitionserwartungen in enger Anlehnung an die Ergebnisse publizierter Meinungsumfragen formten und ihre Erwartungen im Lichte veränderter Umfrageergebnisse aktualisierten (Faas u.a. 2007). Bleibt schließlich die Gretchenfrage der Wahlkampffor-

schung: „Do campaigns matter?“ – und zwar vor allem mit Blick auf die Beliebtheit des politischen Spitzenpersonals und letztlich das Verhalten der Menschen am Wahltag. Wie Abbildung 6 am Beispiel der Beliebtheitswerte ausgewählter Spitzenpolitiker zeigt, sind auch solche summarischen Bewertungen des politischen

Abbildung 7 schließt den Kreis vom Informationsverhalten der Wahlberechtigten über ihre Perzeptionen, Erwartungen und Einstellungen bis hin zu ihrem (beabsichtigten) Verhalten am Wahltag. Bis spät in den Wahlkampf hinein gab es demnach vor der Bundestagswahl 2009 ein hohes und stabiles Maß an Unentschlossenheit unter den Wahlberechtigten (gemessen über den Anteil derer, die auf die Frage nach ihrer Wahlabsicht keine Partei nannten), das erst in den letzten zwei bis drei Wochen vor dem Wahltag allmählich zu sinken begann: Von etwa 25 Prozent ausgehend ging der Anteil der unentschlossenen Wähler auf rund 15 Prozent unmittelbar vor der Wahl zurück. Dies signalisiert: Bis spät in den Wahlkampf hinein lohnte es sich für die Parteien und ihre Kandidaten zu kämpfen – es gab in diesem Wahlkampf „eine Menge zu holen“.

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey Zugleich aber – das zeigt die zweite Kurve – stieg der Anteil derjenigen, die definitiv nicht mehr erreichbar waren, weil sie bereits postalisch gewählt hatten und ihre Stimme somit gar nicht mehr vergeben konnten. Ihr Anteil stieg – von null ausgehend – bis zum Wahltag auf rund 8,5 Prozent. Eher von Stabilität geprägt waren dieses Mal über die gesamte Wahlkampfzeit hinweg die Anteile der Parteien bei der Frage nach der Wahlabsicht. Die Anteile von Union, SPD, FDP, Linkspartei und Grünen verharrtem über den Zeitraum des Wahlkampfs hinweg ohne allzu große Dynamik auf jeweils ähnlichem Niveau. Das beste Erhebungsverfahren kann keine Dynamik einfangen, wenn es keine gibt. Die RCS-Studie aus dem Wahlkampf 2005 hat allerdings gezeigt, dass dies keinesfalls immer der Fall sein muss: Das überraschend gute Abschneiden der FDP 2005 ist das Ergebnis von Bewegungen gewesen, die sich erst in der letzten Woche vor der Wahl vollzogen haben. Und die SPD gewann in einer dramatischen Aufholjagd während der letzten drei Wochen des Wahlkampfes viele Stimmen dazu, und zwar vor allem bei den parteipolitisch ungebundenen Wählern, zu einem ganz erheblichen Anteil aber auch unter den eigenen Parteianhängern, die erst im Endspurt des Wahlkampfes mobilisiert werden konnten (Schmitt-Beck 2009). Dieses Mal aber – allen Hoffnungen vor allem im Lager der SPD zum Trotz – blieben solche Verschiebungen auf der Schlussgeraden des Wahlkampfes aus. Die Unentschlossenheit ging in allen Lagern in ähnlicher Weise zurück.

Abbildung 6

Fazit Erste Befunde des im Rahmen des GLES-Projektes zur Bundestagswahl 2009 durchgeführten Rolling Cross-Section Survey zeigen: im Verlauf von Wahlkämpfen entfaltet sich auf unterschiedlichen Dimensionen der öffentlichen Meinung erhebliche Dynamik, und RCSUmfragen sind ein probates In-

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strument, um diese abzubilden und zu analysieren. Der Vergleich zu der ersten deutschen RCS-Studie, die bei der Bundestagswahl 2005 realisiert wurde, verdeutlicht überdies, dass Wahlkämpfe keinem festgelegten Schema folgen, sondern von je spezifischen Entwicklungsdynamiken gekennzeichnet sind. Die beiden Wahlkämpfe, für die

Abbildung 7

RCS bildet die Wahlkampfdynamik ab

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Statistik und Politik Rolling Cross-Section Survey

RCS: Eine Herausforderung für die Praxis

RCS-Daten vorliegen, waren sich in Manchem ähnlich, in anderen Hinsichten jedoch sehr unterschiedlich. Es wird sich lohnen, auch in Zukunft mit diesem methodischen Instrumentarium zu beobachten, wie sich das Wahlkampfgeschehen in Deutschland entfalten wird. Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass die Umsetzung des in idealtypischer Betrachtung außerordentlich eleganten RCS-Designs in der Praxis eine erhebliche Herausforderung bedeutet.

Literatur

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nal Election Studies, in: Elihu Katz/Yael Warshel (Hrsg.), Election Studies. What‘s Their Use?, Boulder/Col.: Westview, 149-172. Johnston, Richard, 2008: Modeling Campaign Dynamics on the Web in the 2008 National Annenberg Election Study, in: Journal of Elections, Public Opinion and Parties 18, 401412. Johnston, Richard/Brady, Henry E., 2002: The rolling crosssection design, in: Electoral Studies 21, 283-295. Johnston, Richard/Hagen, Michael G./Jamieson, Kathleen Hall, 2004: The 2000 Presidential Election and the Foundations of Party Politics. Cambridge/Mass: Cambridge University Press. Lazarsfeld, Paul F./Berelson, Bernard/Gaudet, Hazel, 1968: The People‘s Choice. How the Voter Makes Up his Mind in a Presidential Campaign, 3rd edition, New York/London: Columbia University Press. Romer, Daniel/Kenski, Kate/ Winneg, Kenneth/Adasiewicz, Christopher/Jamieson, Kathleen Hall, 2006: Capturing Campaign Dynamics 2000 & 2004, Philadelphia: University of Pennsylvania Press. Schmitt-Beck, Rüdiger, 2007: New Modes of Campaigning, in: Russell J. Dalton/HansDieter Klingemann (Hrsg.), Oxford Handbook on Political Behavior, Oxford: Oxford University Press, 744-764. Schmitt-Beck, Rüdiger, 2009: Kampagnendynamik im Bundestagswahlkampf 2005, in: Oscar W. Gabriel/Bernhard Weßels/Jürgen W. Falter (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden: VS-Verlag, 146-176. Schmitt-Beck, Rüdiger/Faas, Thorsten/Holst, Christian, 2006: Der Rolling Cross-Section Survey – ein Instrument zur Analyse dynamischer Prozesse der Einstellungsentwicklung, in: ZUMA-Nachrichten 58, 13-49.

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Anmerkungen

1 Die GLES-Studie (vgl. www.dgfw. eu/gles.php) wird als bislang größtes Projekt der deutschen Wahlforschung im Rahmen der Langfristförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Leitung von Hans Rattinger (Universität Mannheim), Sigrid Roßteutscher (Universität Frankfurt), Rüdiger Schmitt-Beck (Universität Mannheim) und Bernhard Weßels (WZB Berlin) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung (DGfW) durchgeführt und untersucht die Bundestagswahlen 2009, 2013 und 2017. Alle in diesem Projekt erhobenen Daten stehen Interessierten für eigene Analysen zur freien Verfügung (http://www.gesis.org/ wahlportal/downloads/). 2 Wichtige Anregungen zum Design der Studie verdanken wir Richard Johnston (University of British Columbia), dem wir für seine Bereitschaft, das Konzept der Studie bei einem mehrtätigen Vorbereitungstreffen mit uns zu diskutieren, zu großem Dank verpflichtet sind. 3 Solche punktuellen Interventionen sind im Rahmen des RCS-Designs nicht unbegrenzt möglich, weil sonst „Aufschaukelungsprozesse“ an den Folgetagen ausgelöst würden, an denen die Wochenend-Replikate ja weiterhin aktiv bleiben. Daher konnten die „Wochenendtäler“ aus systematischen Gründen nicht vollständig nivelliert werden. 4 LOWESS steht für „LOcally WEighted Scatterplot Smoother“. Allen in diesem Artikel präsentierten Analysen liegt eine LOWESS-Bandbreite von 0,5 zugrunde (vgl. Cleveland 1994: 168-180).

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Frauenwahlrecht in Europa

Von Finnland bis Liechtenstein Gisela Notz, Berlin

Im März 1907 zogen 19 Frauen in das finnische Parlament ein, unter ihnen befanden sich Aktivistinnen der Arbeiterbewegung. Die Finninnen waren die ersten Frauen in Europa, sie hatten ein Jahr vorher das Stimmrecht erhalten und konnten wählen. 1913 durften die Norwegerinnen erstmals zur Wahl gehen, 1915 hatten die Däninnen zusammen mit Island das volle Wahlrecht erkämpft und 1917 die Frauen aus Russland und Estland. Nicht nur Deutschland, auch Polen, Österreich, Luxemburg und Lettland kamen 1918 nach dem Ersten Weltkrieg hinzu. Es dauerte bis 1928, bis die so eifrig und phantasievoll kämpfenden Suffragetten in Großbritannien die gleichen politischen Rechte für alle erstritten hatten und erst 1944, nachdem sie in der Résistance gegen die Nationalsozialisten ihren Mann gestanden hatten, erhielten auch die Französinnen das Wahlrecht, das sie während der Pariser Kommune 1871 bis zu deren Niederschlagung schon einmal hatten. Für die Liechtensteinerinnen bedurfte es einer Reise zum Europarat, bis ihnen 1984 als letzte Europäerinnen das Wahlrecht sicher war. In diesem Zusammenhang können nicht alle Länder und alle Kämpfe aufgezählt werden. Die Schweizerinnen waren 1971 nicht die letzten. Europa war nicht einmal Vorreiter im Hinblick auf politische Frauenrechte. Weltweit als erste konnten

die Frauen in Wyoming (USA) 1870 wählen. Australien gab 1902 den weißen Frauen das Wahlrecht. Der Kampf um das Frauenwahlrecht war nicht zuletzt deshalb schwierig, weil auch die Frauen – bedingt durch unterschiedliche Herkunft und politische Vorstellungen – durchaus nicht die gleichen Interessen einbrachten. Die Frauenstimmrechtsgruppen teilten sich in fast allen Ländern in Zusammenschlüsse mit verschiedenen Zielsetzungen. Da waren die „Gemäßigten Bürgerlichen“, die für die Frauen die gleichen Rechte wie für die Männer forderten. Wenn die Männer nach drei Klassen wählten, wollten sie das auch, denn sie gehörten meist den höheren Klassen an. Dann gab es aber auch die „radikalen Frauen“, die für das gleiche und freie Wahlrecht für alle Menschen kämpften. Das taten auch die Sozialistinnen. Sie kooperierten jedoch nur punktuell mit bürgerlichen Frauengruppen. Und die wenigsten bürgerlichen Frauen wollten sich mit den Sozialistinnen an einen Tisch setzen. So kam es zu wenig gemeinsamen Aktionen, teilweise eher zu Behinderungen. Lediglich in Skandinavien schien es möglich, über die Klassengrenzen hinweg zu agitieren. Auf der Frauenstimmrechtskonferenz 1899 in London schlossen sich sowohl Anhängerinnen eines eingeschränkten, wie auch eines

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allgemeinen Wahlrechts zusammen. Am Internationalen Frauenstimmrechtskongress 1904 in Berlin nahmen die Sozialistinnen nicht teil, weil sie keine Gemeinsamkeiten sahen, mit „Frauenrechtlerinnen“, die das „große und verwickelte Problem der Frauenbefreiung nicht in seinen vielverzweigten sozialen Zusammenhängen erfassen, vielmehr aus den Interessen der bürgerlichen Gesellschaft betrachten,“ wie Clara Zetkin das in ihrem Buch über die proletarische Frauenbewegung schrieb. Vermutlich waren sie aber auch gar nicht eingeladen worden. Aus dem Kongress von 1904 wurde der „Weltbund für das Frauenstimmrecht“ unter dem Vorsitz von Marie Stritt gegründet. Er verfolgte strikte Neutralität, in der Frage, welche Frauen von den Wahlrechtserweiterungen profitieren würden. Das verhinderte freilich eine einheitliche „Marschrichtung“. Auch zwischen den Sozialistinnen herrschte nicht immer Einigkeit. Bei der Auseinandersetzung um das Frauenwahlrecht vertraten die Vertreterinnen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) um Adelheid Popp und auch etliche Engländerinnen die Meinung, es sei unklug, gleichzeitig für das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen einzutreten. Sie wollten zuerst für das volle „Arbeiterwahlrecht“ für Männer kämpfen, dem dann das allgemeine Wahlrecht folgen sollte.

Höchst unterschiedliche Forderungen

... verhinderten gemeinsame Aktivitäten

Keine einheitliche Marschrichtung

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Von Finnland bis Liechtenstein Viele Wahlgesetze waren noch nicht einmal geschlechtsspezifisch formuliert. Während in Großbritannien bereits 1832 definiert wurde, dass der Wähler männlich sein müsse, war das in anderen Ländern, besonders in Osteuropa, aber auch in Deutschland gar nicht nötig: Alle Staatsangehörigen waren alle Männer, das genügte.

Ein langer Kampf in Deutschland Vorreiter SPD

Es war ein langer Kampf, bis Frauen am 19. Januar 1919 in Deutschland erstmals das aktive und passive Wahlrecht ausüben konnten: 17.710.872 Frauen (82,3 %) und 15.061.114 Männer (82,4 %) nutzen dieses Recht, nachdem der Rat der Volksbeauftragten am 12. November 1918 das preußische Dreiklassenwahlrecht aufgehoben hatte und alle Frauen und Männer ab einem Alter von 21 Jahren unabhängig von Einkommen und Herkunft wählen durften. Die Wahlbeteiligung nahm im Verlauf der Weimarer Republik ständig ab. Nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 gingen nur 78,5 % der Wahlberichtigten zur Urne; bei der letzten Bundstageswahl 2009 waren es nur 72,2 %.

Frauenwahlrecht und bürgerliche Frauenbewegung

Eine Forderung von 1848

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Es war Louise Otto (1819 – 1895), die Begründerin der bürgerlichen Frauenbewegung, die bereits 1848 „die Theilnahme der weiblichen Welt am Staatsleben“ forderte. Das Frauenwahlrecht sah sie dennoch als Fernziel. Hedwig Dohm (1831 – 1919), war eindeutiger, sie rief 1873 den Frauen zu: „Fordert das Stimmrecht, denn über

das Stimmrecht geht der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau.“ Eine bürgerliche Frauenstimmrechtsorganisation entstand in Deutschland erst 1902 mit dem in Hamburg gegründeten „Deutschen Verein für Frauenstimmrecht“, der für die volle politische Gleichberechtigung aller Frauen eintrat. (Mit)Gründerinnen waren Anita Augsburg und Lida Gustava Heymann, zwei Frauen des radikalen bürgerlichen Flügels. Der gemäßigte und größere Teil der bürgerlichen Frauenbewegung, repräsentiert vor allem durch Helene Lange und Gertrud Bäumer, hoffte das Stimmrecht später einmal als Belohnung für seine ehrenamtliche Wohlfahrtsarbeit nach dem „weiblichen Prinzip“ der „sozialen Mütterlichkeit“ zu bekommen. Er schloss die regionalen Frauenvereine im März 1894 im „Bund Deutscher Frauenvereine“ (BDF) zusammen. Zwischen 1899 und 1910, während der Hochphase der bürgerlichen Frauenbewegungen, führte Marie Stritt den BDF an. 1910 wurde Gertrud Bäumer ihre Nachfolgerin. 1911 schließlich spaltete sich der BDF in drei konkurrierende Verbände. Marie Stritt wurde 1911 Vorsitzende des „Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht“. Viele bürgerliche Frauen hielten die Forderung nach Frauenwahlrecht bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein für verfrüht, weil der öffentliche Widerstand gegenüber Frauen in der Politik zu groß erschien, oder weil sie an der „natürlichen“ Bestimmung der Frau „im Dienste des Familien- und Volkswohles“ festhielten. Für die bürgerlichen Frauen war es ohnehin schwierig, zum Wahlrecht eindeutig Stellung zu be-

ziehen, ohne damit den Bezug zu einer Partei und ihren Vorstellungen vom Frauenwahlrecht herstellen zu können. Keine der bürgerlichen Parteien unterstützte die Frauen ihn ihrem Anliegen.

Frauenwahlrecht und proletarische Frauenbewegung Massenwirkung bekam die Frauenbewegung erst mit dem Aufkommen der sozialdemokratisch geprägten Arbeiterinnenbewegung. Die 1863 gegründete Sozialdemokratische Partei Deutschlands schrieb sich die Forderung nach einem allgemeinen Wahlrecht als einzige Partei auf die Fahnen. Für die proletarische Frauenbewegung stand das Frauenwahlrecht – eingebunden in die Debatten um eine allgemeine Wahlrechtsreform – von Anbeginn an auf dem Programm. Viele Wegbereiterinnen wurden nicht nur gesellschaftlich geächtet, sondern diskriminiert und verfolgt und ins Gefängnis geworfen. Schließlich war zwischen 1878 bis 1890 Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Social-Demokratie“ in Kraft, das sämtliche Basisaktivitäten von Parteien, Gewerkschaften und anderen sozialistischen Zusammenschlüssen betraf. Sozialistinnen waren einer doppelten Unterdrückung und Verfolgung durch die Staatsgewalt ausgesetzt, weil alle Frauen vor 1908 – mit Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes – keiner politischen Partei oder Organisation beitreten konnten. Keine der führenden Frauen der proletarischen Frauenbewegung blieb von Verfolgung verschont, während viele „Bürgerliche“, die „Radikalen“ ausgenommen, Politik machen konnten.

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Von Finnland bis Liechtenstein Wen wundert es, dass auch die Arbeiterinnen aus den Reihen der Arbeitsmänner wenig Fürsprecher hatten? Auch diese fürchteten die Selbständigkeit der Frau, die durch das Stimmrecht möglicherweise gefördert wurde: „Es gibt Sozialisten, die der Frauenemanzipation nicht weniger abgeneigt gegenüberstehen, wie der Kapitalist dem Sozialismus“, schrieb August Bebel. Er beantragte 1875 auf dem Gothaer Parteitag der SPD, der Forderung nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht für alle Staatsbürger im Parteiprogramm die Forderung nach dem Wahlrecht für Frauen hinzuzufügen. Durchsetzen konnte er sich damit (noch) nicht. Ausdrücklich betonten die Männer, dass die Ablehnung nicht aus prinzipiellen Gründen erfolgte, sondern aus „taktischen“ Erwägungen. Clara Zetkin lag sicher richtig, wenn sie vermutete, dass die sozialistischen Männer keinen Kräftezuwachs für ihren Kampf durch die Mobilisierung von Frauen erwarteten. Erst auf dem Parteitag 1891 in Erfurt konnten die (meisten) Genossen überzeugt werden, dass „allgemein und gleich“ auch die Frauen einschließen musste. Das Parteiprogramm bekam nun zusätzlich die Formulierung: „ohne Unterschied des Geschlechts“. Damit war die SPD die erste und einzige Partei, die die Forderung nach dem Frauenwahlrecht in ihr Programm aufgenommen hatte. Nun musste die Forderung in den Reichstag eingebracht werden und dem gehörten (noch) keine Frauen an. 1895 brachte die SPD einen Gesetzentwurf, der die Einführung des Frauenstimmrechts zum Inhalt hatte, ein. August Bebel musste es ertragen, dass er bei den Männern aller übrigen Parteien Heiterkeit für das von ihm vor-

getragene Anliegen erntete. Der Antrag wurde abgelehnt. 1906 wurde derselbe Antrag als „Gesetzentwurf Albrecht und Genossen“ wiederholt, durch Eduard Bernstein begründet und erneut abgelehnt. Die Frauenfrage wurde nun zum Teil der Klassenfrage. Die Sozialistinnen wollten gleiche politische Rechte für alle Menschen, um diese zu erreichen wollten sie Seite an Seite mit den Männern kämpfen und auf gar keinen Fall gegen sie. Die Klassenschranken waren unüberwindbar und bildeten die Grenzlinie zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung. Mit der Gründung der Sozialistischen Fraueninternationale auf der ersten internationalen Konferenz sozialistischer Frauen 1907 in Stuttgart erhofften sich die Sozialdemokratinnen eine Stärkung ihrer Position. In einer Resolution verpflichteten sich alle teilnehmenden Länder, für die Einführung des uneingeschränkten allgemeinen Frauenwahlrechts Aktionen zu entwickeln. Auf der Folgekonferenz 1910 in Kopenhagen beschlossen die Delegierten die Einführung des Internationalen Frauentags als Kampftag für das Frauenwahlecht. Unter dem Kampfruf Heraus mit dem Frauenwahlrecht gingen 1911 mehr als eine Million Frauen, darunter auch Frauen des radikalen bürgerlichen Flügels, auf die Straße.

Endlich das Frauen­wahlrecht Mit dem neuen Wahlrecht wurde 1918 eine Forderung erfüllt, für die Frauen, wenn auch von unterschiedlichen Standpunkten aus und mit unterschiedlichen Zielsetzungen, jahrelang mit

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Bild 1: Kundgebung in Stuttgart mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin. 1. Juni 1907

Bild 2: Wahlen zur Deutschen Nationalversammlung Frauendemonstration für die USPD und Luise Zietz, 1919

viel Ausdauer, Mut und Fantasie gekämpft hatten. Als am 19. Januar 1919 37 Frauen in die Verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung gewählt wurden, stellten sie 8,7 Prozent der Abgeordneten. „Meine Herren und Damen“ – das Protokoll verzeichnete Gelächter, so ungewöhnlich war die Anrede. „Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf“, stellte die Abgeordnete Marie Juchacz­ am 19. Februar 1919, in der ersten Rede, die eine Frau in einem deutschen Parlament gehalten hat, in der Nationalversammlung zu Weimar, fest. Sie war sich sicher, dass die Frauen der Regierung nicht zu Dank verpflichtet waren: „Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbst-

Gelächter bei der Anrede

Heiterkeit im Parlament

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Wahlrecht im Deutschen Reich verständlichkeit; sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Die Parlamente der ersten deutschen Republik verzeichneten in den 1920er Jahren den höchsten Frauenanteil unter den gewählten Abgeordneten in der

Welt. Danach nahm ihr Anteil stetig ab. Während des Nationalsozialismus wurden Frauen aus den politischen Gremien ausgeschlossen. De facto ging die „Frauenfrage“ in den beinahe 60 Jahren Bundesrepublik nur langsam voran. Darauf hinzuweisen, dass eine Demokra-

tie unvollendet ist, solange die soziale Ungleichheit fortbesteht und solange die Ebenbürtigkeit zwischen den Geschlechtern nicht in allen Lebens- und Arbeitsbereichen erreicht ist, war und ist die Aufgabe von Frauenforschung und -politik.

Verwirrende Vielfalt – Offene Stimmabgabe – Kein Wahlrecht für Frauen

Wahlrecht im Deutschen Reich Martin Schlegel, Hagen

Viele nehmen die in Deutschland praktizierten Wahlrechtsgrundsätze als etwas völlig Selbstverständliches hin. Sie wissen gar nicht, dass es noch vor 100 Jahren bei uns ganz anders aussah. Es fanden zwar Wahlen statt, doch genügten die aus heutiger Sicht keineswegs demokratischen Anforderungen. In einigen Ländern war die Stimmabgabe bereits geheim, in anderen aber öffentlich, z.B. in Preußen. Und als dort 15 Beamte im Januar 1910 nicht regierungsgenehm abgestimmt haben, wurde ge-

gen sie ein Disziplinarverfahren angestrengt. Das Ergebnis war: Sie wurden versetzt. 1910 bildeten die Wahlrechtsbestimmungen zu den deutschen Landtagen eine verwirrende Vielfalt. Hier war das Wahlrecht an Steuerleistungen gebunden, dort wurde es mit der Gründung eines Hausstandes verliehen. Die einen hatten ein Drei-, die anderen sogar ein Vierklassenwahlrecht. Nur in einem Punkt stimmten alle überein: Dem fehlenden Frauenwahlrecht.

Tab.: Landtagswahlrecht in den deutschen Staaten 1910

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Wie Frauen wählen Martin Schlegel, Hagen

immer schon wollte man wissen, wer wie wählt. Heute wie gestern. der im Kasten wiedergegebene artikel befasst sich mit der Wahlentscheidung

nach dem Geschlecht und zwar bei der reichstagswahl am 6. Juni 1920. dieser artikel stammt aus „Wirtschaft und Statistik“, her-

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ausgegeben vom Statistischen reichsamt, Berlin, lützow-Ufer 6 – 8, 1. Jahrgang, 1921, Seite 150 f.

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Informationsbedarf und Datenlage zu SGB II

Hartz IV und die Folgen für die kommunale Berichterstattung Peter Höfflin, Ludwigsburg

Bewertung der Veränderungen im SGB II-Bereich

Abb. 1: Wie wichtig sind SGB II-Daten für verschiedene Bereiche? (in %)

Die Jahreszahl 2010 hat eine doppelte Symbolik. Einerseits ist sie das Bezugsjahr für eine der umfassendsten Sozialreformen der deutschen Nachkriegsgeschichte, die als „Agenda 2010“ mit einer Regierungserklärung am 14. März 2003 durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder gestartet wurde. Zweitens steht das Jahr 2010 für das fünfjährige Bestehen des „Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, das umgangssprachlich als „Hartz IV“ bekannt ist. Sowohl die „Agenda 2010“, wie auch „Hartz IV“ haben zu erheblichen politischen Debatten und Umbrüchen geführt, die von der Umstrukturierung des sozialen Sicherungssys­ tems bis hin zur Veränderung des Parteiensystems reichen.

Vor allem die Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zu einer neuen „Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfe­ bedürftige“ (Arbeitslosengeld II) hatte weitreichende Folgen für die kommunale Sozialberichterstattung, die auf eine grundlegend neue Basis gestellt werden musste. Die Gesetzesänderungen führten nicht nur zu veränderten Leistungs- und damit statistischen Merkmalsstrukturen. Zusätzlich konnten die Daten auch nicht mehr unmittelbar aus den eigenen Verwaltungsverfahren der Kommunen erschlossen werden, sondern stehen ausschließlich über Datenlieferungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zur Verfügung. Nach fünfjähriger Praxis mit „Hartz IV“ stellt sich nun auch die Frage,

wie die Veränderungen und der aktuelle Stand der kommunalen Sozialberichterstattung im SGB II-Bereich zu bewerten sind? Einige Antworten auf diese Frage ergibt eine kleine Städteumfrage1, die im Frühjahr 2009 durchgeführt und als Beitrag aus der Städtestatistik zum DAGStat-Symposium „Die Folgen von Hartz IV“ gedacht war. Die Fragestellungen und Ergebnisse dieser Umfrage sind die Grundlage dieses Beitrages. • Welche Bedeutung hat die SGB II-Statistik für die Kommunen und wo liegt der Informationsbedarf? • Wie hat sich der Übergang von der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II auf die statistischen Berichtssys­ teme ausgewirkt? • Welche Verbesserungen und welche Verschlechterungen sind festzustellen? • Wie wird das Datenangebot und die Datenlieferung der BA bewertet?2 • Wie ist der Stand der kommunalen Armutsberichterstattung zu beurteilen und wo liegen mögliche Entwicklungsperspektiven?

Informations­ bedarf auf kommunaler Ebene Die SGB II-Daten werden von 55 % der befragten Kommunen als „sehr wichtig“ und von weiteren 38 % als „wich50

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Hartz IV und die Folgen für die kommunale Berichterstattung tig“ eingestuft. Warum die Statistikstellen diese Zahlen für so wichtig halten, wird leicht verständlich, wenn man den Blick auf die Bereiche richtet, die die­se Informationen nachfragen (Abb. 1). Strategisches Handeln benötigt­ eine empirische Basis. Dass auch Planung und Steuerung auf eine aussagekräftige Datenbasis bauen muss und eine brauchbare Evaluation und Bewertung von Maßnahmen ohne Zahlen nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Folglich überrascht es nicht, wenn vor allem aus der Sozialplanung und den kommunalen Entscheidungsgremien eine starke Nachfrage nach den SGB IIZahlen kommt. Aber nicht nur für den Sozialbereich, sondern auch für die kommunale Migrationspolitik, die Stadtentwicklung, die Bildungs- und Schulpolitik und für die kommunale Wohnungspolitik werden diese Daten mehrheitlich als wichtig oder sogar sehr wichtig eingeschätzt. Es wäre aber zu eng gedacht die Datenbedarfe nur aus Sicht der Verwaltung zu sehen. Die Informationsmöglichkeit über wichtige gesellschaftliche Sachverhalte gehören zur demokratischen Infrastruktur. Wer die Redeweise vom „Volk als Souverän“ ernst nimmt, der muss diesem den Zugang zu Informationen ermöglichen. Auch eine ernst gemeinte Bürgerbeteiligung kommt ohne objektive und transparente Sach­informationen nicht aus. Dies erklärt, warum zwei Drittel der befragten Städte die SGB II-Daten auch für die Öffentlichkeit und die Medien­als „wichtig“ oder sogar „sehr wichtig“ bewerten. Viele wichtige Armutsfragen kann übrigens nur die Kommunalstatistik mit ihren spezifischen Datenbeständen beantworten.

Dies betrifft vor allem die sozialräumlichen Aussagen zur Segregation von Armut im städtischen Raum und die Berücksichtigung der Haushaltsform, des Migrationshintergrundes und weiterer demographischer Merkmale. Nur mit diesen Daten lassen sich drängende Fragen, wie etwa nach der Polarisierung der Städte oder den Effekten kommunaler Betreuungsangebote auf Kinderarmut untersuchen.

Datenangebot nach Hartz IV Nach der Einführung von Hartz IV können die Städte auf verschiedene Datenangebote der BA zurückgreifen. Mit 53 von 67 befragten Städten nutzt eine hohe Anzahl die Berichte und Tabellensammlungen, die die BA frei ins Internet stellt. Die Vorteile sind das breite Angebot und die regelmäßige Aktualisierung. Allerdings sind die Daten nur für die kreisfreien Städte abrufbar und nicht unmittelbar mit anderen Daten verschneidbar. Damit stehen keine aussagefähigen Sozialindikatoren, wie z.B. Quoten für Bevölkerungsgruppen zur Verfügung. Auch ist das Angebot sehr unübersichtlich und schwer zu durchdringen. Eine weitere wichtige Datenquelle sind die Datenübermittlungsverfahren der Bundesagentur für Arbeit an Städte, die auf vertraglicher Basis für Städte

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mit abgeschotteten Statistikstellen möglich ist. Mit Stand März 2010 beziehen 199 Städte Arbeitsmarktdaten in kleinräumiger Gliederung, 78 Städte erhalten pseudonymisierte Einzeldaten und 27 Städte nutzen den Datenquader der Bundesagentur für standardisierte Abfragen. Insgesamt wird die Datenlieferung der Bundesagentur sehr positiv bewertet. Und zwar hinsichtlich der Datenqualität, der verfügbaren Merkmale und der technischen Verwendbarkeit der Datensätze. Lediglich die Kosten der Datenlieferung werden kritisch gesehen (Tab. 1).

Tabelle 1

Zufriedenheit mit den BA-Daten

Hat sich die Datenlage verändert? Wie stellt sich nun die Datenlage im Vergleich zur Situation vor der Einführung von Hartz IV dar? Die Entwicklung wird von den Städten ambivalent bewertet. Etwas mehr als die Hälfte (55 %) sehen eine Verbesserung. Die übrigen halten die jetzige Berichterstattung nicht für besser: für ein Fünftel der Städte (20%) ist sie gleichgeblieben und jede vierte Stadt (25 %) sieht sogar eine Verschlechterung. Positiv angemerkt wird vor allem die gute Verfügbarkeit und der Umfang der Daten, die Unabhängigkeit von eigener, stadtinterner Datenerschließung und die Vergleichbarkeit,

Unübersichtliches Datenangebot

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Hartz IV und die Folgen für die kommunale Berichterstattung

Hohe Kosten

Differenziertheit und Aktualität der Daten. Als Schwachpunkte werden die hohen jährlichen Kosten benannt und die Tatsache, dass die Aktualisierung der kleinräumigen Gliederung jedes Mal wieder zu Buche schlägt. Hier wird auch kritisch angemerkt, dass die Kommunen doch als Mitglied der ARGEN auch Eigentümer der Daten seien und nun nochmals bezahlen müssen. Weiterhin wird festgestellt, dass einige Merkmale wie die Schul- und Berufsausbildung oder die Staatsangehörigkeit eine völlig unzureichende Datenqualität haben. Diese Probleme sind aber keine Besonderheit der SGB II-Daten, denn auch bei den früheren Sozialhilfedaten waren nicht unmittelbar leistungsrelevante Daten schlecht eingepflegt und statistisch kaum verwertbar.

Nur Stichtagsdaten

Hoher Umstellungs­ bedarf

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Eine wesentliche Einengung der Analyse- und Berichtsmöglichkeiten wird in der Beschränkung der Datenlieferung auf einen einzigen jährlichen Stichtag gesehen. Aus statistischer Sicht sind damit ausschließlich Querschnittanalysen möglich. Da Stichtagszahlen die Zahl der Kurzzeitbezieher systematisch unterschätzen, sind letztlich keine verlässlichen Aussagen über die durchschnittlichen Bezugsdauern einzelner Personengruppen möglich. Gerade der Aspekt der Armutsdauer ist aber von sehr hoher Bedeutung für die Analyse von Armutslagen. Schließlich ist die schnelle Vermittlung in den Arbeitsmarkt und damit die Verkürzung der mittleren Bezugsdauer, sowie die Reduzierung von Langzeitarbeitslosigkeit eine explizite Zielsetzung der Hartz IV-Reform. Dynamische Armutsanalysen, die nach

zeitlichen Armutsverläufen fragen und diese nach demographischen und sozialräumlichen Aspekten differenzieren, gehören zu den Standardanforderungen an die kommunale Sozialberichterstattung.3 Aus den aktuellen Ergebnissen sozialgeographischer Untersuchungen wissen wir, welchen starken Einfluss Segregationsentwicklungen und räumliche Kontextbedingungen auf die Verfestigung von Armutslagen haben.4 Es wäre deshalb sehr zu wünschen, wenn die Kommunen in gleicher Weise wie die BA5 dynamische Analysen durchführen und dabei sozialräumliche Kontexte einbezogen werden könnten. Allerdings befand sich die dynamische Armutsforschung auf kommunaler Ebene erst in der Entwicklung und es gab bislang nur wenige Städte, die entsprechende Analysen im Rahmen ihrer Sozialberichterstattung realisiert hatten. Der unterschiedliche Ausbaustand der Sozial(hilfe)statistik ist letztlich auch eine Erklärung für die unterschiedliche Bewertung der neuen Datenlage nach der Einführung von Hartz IV. 80 % der befragten Städte halten die Aussage für zutreffend, dass die Änderungen vor allem für Städte zu einer Verbesserung geführt hat, die bislang keine ausgebauten Sozialhilfestatistiken hatten. Für diese hat sich die Berichterstattung wesentlich erleichtert. Die Städte, die bereits vor Hartz IV eine ausdifferenzierte Sozialberichterstattung betrieben hatten, sahen sich mit einem hohen Umstellungsbedarf konfrontiert, der auch heute nach fünf Jahren vielfach noch nicht abgeschlossen ist. Statistische Produktions- und Berichtssysteme mussten grundlegend neu konzipiert werden und Zeitreihen wurden unterbro-

chen. Wer an der Zielsetzung einer integrierten kommunalen Armuts- und Sozialberichterstattung festhält, muss weiterhin zusätzlich die Daten aus der „Grundsicherung im Alter oder bei voller Erwerbsminderung“ (SGB XII) aus den Datenbeständen der Sozialämter erschließen.

Wird das Infor­ mationspotential erschlossen? Die Verbindung der kleinräumigen Daten der Bundesagentur für Arbeit mit den kommunalstatistischen Datenbeständen bietet ausgesprochen viele Informationen. Bis heute sind diese Schätze aber nur unzureichend gehoben worden. Viele Städte berichten Fallzahlen auf gesamtstädtischer und kleinräumiger Ebene. Aber nur wenige Städte haben bislang kleinräumige Anteilswerte und Sozialindikatoren erarbeiten können. So werden von weniger als einem Drittel der Städte sozialräumlich differenzierte Armutsquoten für Familien berichtet. Die Frage der Armutsentwicklung von Familien, Kindern und Alleinerziehenden besitzt aber eine hohe öffentliche Bedeutung und alle vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass es nicht nur zwischen den Städten, sondern vor allem auch zwischen den innerstädtischen Gebieten erhebliche Unterschiede in der Prävalenz von Armut gibt. Fachpolitische Debatten über die Möglichkeiten und Ansatzpunkte für eine kommunale Armutsprävention, etwa von Kindern, oder die Diskurse über eine zunehmende Polarisierung und Spaltung von Städten können sinnvoll nur mit den entsprechenden Zahlengrundlagen geführt werden. Auch

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Hartz IV und die Folgen für die kommunale Berichterstattung lässt sich der Zusammenhang zwischen dem Angebot an Kinderbetreuung, kommunaler Bildungspolitik und wirksamer Armutsbekämpfung nur mit den entsprechenden kleinräumigen Sozialdaten evaluieren. Die Kommunalstatistik hat hier eine Schlüsselstellung, da nur sie über regelmäßig erhobene kleinräumige Bevölkerungsund Haushaltsdaten (HHGEN) verfügt. Alle anderen Armutsberichte sind zwangsläufig sozialräumlich unterbelichtet.

Woran mangelt es? Ein wesentliches Hemmnis für die ausreichende Aufbereitung der SGB-II-Datenbestände liegt in den mangelnden personellen Ressourcen der Kommunalstatistik, die im Zuge der kommunalen Finanzkrise zudem erheblich geschrumpft sind. Knapp die Hälfte der Städte (45%) konnte wegen knapper personeller Ressourcen die vorhandene Datenbasis bislang nicht ausreichend auswerten. Dabei muss man im Auge behalten, dass die Kommunalstatistik ohnehin nur über eine sehr knappe Personalausstattung verfügt. Davon abgesehen, dass es viele

und durchaus nicht nur kleine Städte gibt, die über keine abgeschottete Statistikstelle verfügen, hat jede fünfte Statistikstelle nur eine/n Mitarbeiter/in. 45 % der Statistikstellen haben bis zu 3 Mitarbeiter/innen. In knapp einem Viertel (23%) der Statistikstellen ist kein/e wissenschaftliche/r Mitarbeiter/ in angestellt und in einem weiteren Drittel (32%) ist lediglich ein/e wissenschaftliche/r Mitarbeiter/in tätig. Notwendig wären städte- und bereichsübergreifende Analyse- und Berichtskonzepte im SGB II-Bereich, die von 57 % der befragten Städte vermisst werden. 68 % der Städte halten einen stärkeren Austausch der Städte in diesem Bereich für sinnvoll, aber auch hier sind die knappen Personal-

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und damit Zeitressourcen der Städte wieder ein zentraler Hemmschuh. Über die Hälfte (53 %) der Befragten halten die Aussage für zutreffend, dass ein stärkerer Austausch zwischen den Städten an den knappen zeitlichen Ressourcen scheitert.

Abb. 2: Wegen knapper personeller Ressourcen kann die vorhandene Datenbasis bislang nicht ausreichend ausgewertet werden (N=59)

Zusammenfassung Die Einführung von Hartz IV hatte erhebliche Konsequenzen für die kommunale Sozialberichterstattung. Die Datengrundlage hat sich völlig geändert, so dass die Berichtssysteme umgebaut werden mussten oder sich noch im Umbau befinden. Die zentrale Datenbereitstellung durch die Bundesagentur für Arbeit erleichtert für viele Städte die

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iMPrESSUM

KOSIS-Verbund

tistik: Über Stigae Men-

Wenn ein tent hlenresis schen za en es an d sind, kan uviel en, die z g e li n e n en. roduzier Zahlen p

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Berichterstattung, auch wenn sich für Städte mit einer zuvor gut ausgebauten Sozialhilfeberichterstattung die Möglichkeiten teilweise verschlechtert haben. das datenangebot und die Qualität der Ba-Statistik werden von den Städten sehr positiv bewertet. Viele Städte sind aber aufgrund knapper personeller ressourcen in der Kommunalstatistik nicht (mehr) in der lage die daten ausreichend aufzubereiten, zu analysieren und zu berichten. die SGB ii – daten sind von hoher Wichtigkeit für eine sozialraumbezogene kommunale armutsberichterstattung, die wiederum für eine auf empirischen Fakten aufbauende Sozial- und Stadtplanung benötigt wird. die befragten Statistikstellen bewerten diese datenbestände als sehr wichtig und erleben in der täglichen Praxis eine starke

Nachfrage aus unterschiedlichen Bereichen, die weit über die engere Sozialplanung hinaus geht. deshalb sollte verstärkt nach Wegen gesucht werden, wie die gewachsene diskrepanz zwischen der gestiegenen informationsnachfrage und den vorhandenen statistischen Berichtsressourcen vermindert werden könnte. Einen ansatzpunkt liefern vielleicht die in der Vergangenheit sehr erfolgreichen Beispiele von Städtekooperationen im KoSiS-Verbund. Um den eng gewordenen zeitlichen Möglichkeiten rechnung zu tragen, könnte überlegt werden, zusätzliche externe ressourcen zu erschließen. immerhin sind daten zur sozialräumlichen armutsentwicklung für einen breiten interessentenkreis von der Stadtentwicklung bis zur Wissenschaft von Bedeutung.

Anmerkungen 1

2

3

4

5

an der online-Erhebung, die im april 2009 durchgeführt wurde, haben sich 67 Städte beteiligt. die adressen wurden vom Verband deutscher Städtestatistiker zur Verfügung gestellt. ich danke sehr herzlich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich beteiligt haben und insbesondere auch dem VdSt-Vorsitzenden Herrn Schulmeyer für die freundliche Unterstützung. dieser aufsatz bezieht sich hauptsächlich auf Städte mit arbeitsgemeinschaften zwischen der Kommune und der Bundesagentur für arbeit, da lediglich 6 Städte mit eigener trägerschaft (optionskommunen) in der Stichprobe vorhanden waren. Siehe Mardorf, Silke (2006): Konzepte und Methoden von Sozialberichterstattung. Eine empirische analyse kommunaler armuts- und Sozialberichte. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. Vgl. Farwick, andreas (2004): Segregierte armut: Zum Einfluss städtischer Wohnquartiere auf die dauer von armutslagen. in: Häußermann, Hartmut (Hg.): an den rändern der Städte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 286–314. Bundesagentur für arbeit (2010): Grundsicherung für arbeitssuchende: Verweildauern von Hilfebedürftigen. Nürnberg. online unter http://www.pub.arbeitsagentur. de/hst/services/statistik verfügbar.

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Praxiserprobte Empfehlungen für die Abfrage von Wanderungsmotiven

Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen Holger Cischinsky, Darmstadt

Wanderungsmotivbefragun­gen­ erfreuen sich insbesondere bei größeren Städten einer ungebrochenen Beliebtheit. Die Städte versprechen sich davon handlungsorientierte Informationen. Die Befragung stellt jedoch ein schwieriges Unterfangen dar, und häufig gelingt es nur unzureichend, die „wahre“ Motivlage korrekt abzubilden. Die nachfolgenden Empfehlungen legen aufbauend auf einer theoretischen Betrachtung von Wanderungsentscheidungen dar, wie die Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen mittels standardisierter Fragebögen erfolgen sollte. Fast alle größeren deutschen Städte haben in den letzten Jahren ihre zu- oder weggezogenen Bürger nach ihren Wanderungsmotiven befragt. Typischerweise erfolgen solche Erhebungen auf Basis eines standardisierten schriftlichen Fragebogens, auf dem die Befragten die in ihrem Fall zutreffenden vorformulierten Gründe ankreuzen sollen. So fragte beispielsweise die Stadt Kiel im Jahr 2001 „Warum ziehen Sie aus Kiel fort?“ und gab als Antwortoptionen unter anderem „Wunsch nach einer größeren Wohnung/Haus“ und „Ärger mit Nachbarschaft“ vor1. Bei

einer Münchener Befragung hieß es: „Welche Gründe waren für Ihren Wegzug aus München wichtig?“, wobei unter den 20 Antwortvorgaben Gründe wie „Vergrößerung des Haushalts“, „Kündigung durch den Vermieter“ und „Ausstattung der alten Wohnung“ aufgeführt wurden2. Karlsruhe fragte „(...) Welche der Gründe waren für Ihren Umzug aus Karlsruhe in Ihre jetzige Wohnung wichtig?“ und gab wiederum eine Reihe von Gründen explizit vor, verzichtete jedoch im Gegensatz zu Kiel und München auf die Vorgabe einer Antwortoption der Gestalt „sonstige Gründe“, unter der die Befragten gegebenenfalls weitere Gründe eintragen konnten3. Die jeweiligen Zielgruppen solcher Befragungen waren in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht näher definierte Haushalte, bisweilen aber auch zuoder weggezogene Personen selbst. So bat beispielsweise Düsseldorf im Herbst 2001 (Fortziehende) und im April 2002 (Zuziehende) alle Personen, die sich im Bürgerbüro persönlich ab- oder angemeldet haben, darum, die Gründe ihrer Wanderungsentscheidung auf einer eigens dafür eingerichteten Wahlmaschine direkt vor Ort anzugeben4.

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Probleme des klassischen Ansatzes Das auszugsweise geschilderte Vorgehen erscheint auf den ers­ ten Blick durchaus zielführend. Ein Anliegen der nachfolgenden Ausführungen ist es jedoch aufzuzeigen, dass die von den Kommunen angestrebte Operationalisierung der hinter den jeweiligen Wanderungsentscheidungen stehenden Motive leider nur sehr eingeschränkt gelingt und die aus derartigen Befragungen abgeleiteten Ergebnisse folglich nur bedingt aussagekräftig sind. Dieser Umstand ist angesichts der noch aufzuzeigenden hohen Komplexität von Wanderungsentscheidungen und der generellen Schwierigkeit, Motive mittels eines standardisierten Fragebogens abzufragen, durchaus nicht verwunderlich und den Kommunen bzw. ihren statis­ tischen Ämtern nicht als Kritik anzulasten. Insofern möchte dieser Aufsatz keine Kommunen an den Pranger stellen, sondern praxisrelevante Empfehlungen geben, wie die Ergebnisqualität bei zukünftigen Wanderungsmotivbefragungen gezielt erhöht werden kann. Die Empfehlungen haben übrigens ihren Praxistest bei einer Zu- und Weggezogenenbefragung in ausgewählten Anrainerkommu-

Bedingt aussagefähige Ergebnisse

Viele Städte fragen

Umfrage per Wahlmaschine 55


Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen

Zielgruppe: Haushalte

Drei Problemkreise

nen des Flughafens Frankfurt erfolgreich bestanden (vgl. Cischinsky et al. 2008: 49ff.). Diese Arbeit greift drei in engem Kontext zueinander stehende Problemkreise bei der Konzeption von Wanderungsmotivbefragungen und insbesondere der Erhebung von Wanderungsmotiven auf. Erstens, wie die Grundgesamtheit bzw. Zielpopulation abgegrenzt werden sollte, zweitens, wie Fragen zur Erhebung der hinter den Zu- und Wegzugsentscheidungen stehenden Motive formuliert werden sollten, und drittens, ob man die Befragten in eigenen Worten antworten lassen sollte oder ob vorformulierte Antworten sachdienlicher und effizienter sind.

Abgrenzung der Grundgesamtheit

Abbildung 1

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Zu Beginn jeder Befragung steht die Definition der Grundgesamtheit an. Häufig ergibt sich diese aus der Fragestellung. Bei Wanderungsbefragungen ist sich jedoch bewusst zu machen, dass Wanderungsentscheidungen typischerweise Haushaltsentscheidungen sind und bei Mehrpersonenhaushalten gewöhnlich durch einen Interessensausgleich zwischen den einzelnen Haushaltsmitgliedern zustande kommen (vgl. Schwarz 1969: 35f.). Wanderungsmotivbefragungen sind

daher Haushaltsbefragungen, die Grundgesamtheit sollten Haushalte bilden, die in einem definierten Zeitraum umgezogen sind, nicht jedoch Personen. Bei Mehrpersonenhaushalten fungiert der Gesamthaushalt als Untersuchungseinheit, wobei es sich anbietet, nach einer festen Regel ein bestimmtes Haushaltsmitglied, beispielsweise das älteste Haushaltsmitglied, als Befragungsperson zu kontaktieren. Es ist jedoch auch vertretbar, sich an den Gesamthaushalt zu wenden und es diesem zu überlassen, aus seiner Mitte einen kompetenten Antwortenden zu bestimmen. In jedem Fall aber ist zu vermeiden, dass – wie bei der Düsseldorfer Wanderungsumfrage – verschiedene Haushaltsmitglieder unabhängig voneinander um eine Befragungsteilnahme gebeten werden, da dadurch die Gefahr von ergebnisverzerrenden Dopplungen gegeben ist. Im Gegensatz zu konventionellen Haushaltsbefragungen interessiert bei Wanderungsmotivbefragungen nur der wandernde Haushalt, der zwar häufig, nicht aber notgedrungen deckungsgleich mit dem Haushalt am Herkunftsund am Zielort ist. So ist bei Haushaltsauflösungen und -neugründungen, die ihrerseits Wanderungen auslösen können, typischerweise keine Äquivalenz zwischen dem Haushalt am Herkunftsort, dem wandernden Haushalt und dem Haushalt am Zielort gegeben. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Sachverhalt graphisch am Beispiel zweier erwachsener Kinder (jeweils schwarz eingezeichnet), die aus ihrem jeweiligen Elternhaus in Kommune A ausziehen und in einer Kommune B einen gemeinsamen Haushalt gründen. Im Beispiel gibt es zwei Eltern-Kind-Haus-

halte am Herkunftsort A, zwei wandernde Einpersonenhaushalte, jeweils gebildet von jedem der beiden ausziehenden erwachsenen Kinder, sowie einen gemeinsamen Haushalt in Kommune B. Sowohl bei einer Weggezogenenbefragung in der abgebenden Kommune A als auch bei einer Zugezogenenbefragung in der aufnehmenden Kommune B sollten beide umgezogenen Personen getrennt voneinander als wandernde Einpersonenhaushalte befragt werden, da ihre Wanderungsanlässe nicht vollständig deckungsgleich sein müssen. Beispielsweise könnte für das eine erwachsene Kind neben dem Wunsch, mit dem Partner zusammenzuziehen, auch ein neuer Arbeitsplatz in Kommune B zweiter und möglicherweise gleichberechtigter Wegzugsanlass gewesen sein, während das andere erwachsene Kind nur deshalb von Kommune A nach Kommune B gezogen ist, um mit seinem Partner zusammenwohnen zu können. Wie identifiziert man nun einen wandernden Haushalt? Die Identifikation eines wandernden Haushalts gelingt in den meisten Fällen problemlos über eine Melderegisterauswertung, bei der alle in einem definierten Zeitraum erfassten zu- bzw. weggezogenen Personen mit gemeinsamer Herkunfts- und Zieladresse zu einem wandernden Haushalt zusammengefasst werden.5 Ein identischer Nachname sollte dagegen ebenso wenig wie ein gleicher An- bzw. Abmeldetag konstitutives Merkmal zur Zusammenfassung wandernder Personen zu wandernden Haushalten sein. Allen voran gemeinsam zu- bzw. weggezogene unverheiratete Paare könnten

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Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen andernfalls fälschlicherweise nicht als wandernder Haushalt identifiziert werden, und zwar zum einen wegen des in aller Regel unterschiedlichen Nachnamens und zum anderen wegen des Umstandes, dass sich Unverheiratete grundsätzlich persönlich im neuen Wohnort anmelden müssen und dies nicht notwendigerweise am selben Tag tun. Um Missverständnissen aufseiten der Befragten im Hinblick auf die Haushaltsabgrenzung vorzubeugen, sollte im Anschreiben oder auf dem Fragebogen deutlich gemacht werden, auf welchen Personenkreis sich die Befragung bezieht.

Wanderungen als multikausaler und hierarchischer Entscheidungsprozess Zu- und Wegzugsentscheidungen sind grundsätzlich multikausal sowie hierarchisch angelegt. Die Multikausalität von Wanderungsentscheidungen zeigt sich darin, dass es häufig nicht nur einen einzigen Wanderungsgrund gibt, sondern ein ganzes Bündel von Gründen, womöglich mit unterschiedlichem Gewicht. Es sind auch Situationen vorstellbar, in denen mehrere eng zusammenhängende und sich unter Umständen gegenseitig bedingende Gründe gleichzeitig und gemeinsam einen Umzug auslösen (vgl. Koch 1983: 37). Ein Beispiel für eine solche Motivverflechtung wäre, wenn ein Ehepaar aufgrund von Familienzuwachs die alte Wohnung zugunsten einer größeren Wohnung aufgibt. Es ist müßig zu diskutieren, ob dieses Ehepaar nun aus wohnungsbezogenen (Wohnungsgröße) oder

aus persönlichen Gründen (bevorstehende Haushaltsvergrößerung) umzieht. Was die Hierarchie des Endscheidungsprozesses bei Wanderungen angeht, so ist gedanklich streng zwischen dem eigentlichen Auszugsanlass und der hierarchisch nachgelagerten Wohnstandortwahl zu unterscheiden. Zwar mag in einigen Fällen Deckungsgleichheit zwischen Auszugs- und Wegzugsgründen bestehen, beispielsweise wenn ein Haushalt allein wegen des unbefriedigenden kulturellen Angebots des bisherigen Wohnorts ausund wegzieht. Es ist jedoch auch denkbar, dass die Motive für den Auszug und die für die Wahl eines Wohnstandortes voneinander verschieden sind. Beispielsweise kann der Anlass für den Wohnungsauszug allein im Wunsch nach einer größeren Wohnung begründet liegen, der Grund für den Wegzug dagegen die Unzufriedenheit mit Aspekten des bisherigen Wohnorts sein, beispielsweise mit dessen mangelnder kultureller Attraktivität. In einer solchen Situation wird dann der ohnehin anstehende Wohnungsauszug als Gelegenheit wahrgenommen, mit der Wohnung auch gleich noch den Wohnort zu wechseln. Ohne den eigentlichen Anlass des Auszugs, dem Wunsch nach einer größeren Wohnung, wäre es jedoch überhaupt nicht zur Entscheidung gegen den alten Wohnort gekommen, d.h. die Unzufriedenheit mit dem kulturellen Angebot des bisherigen Wohnorts wäre nicht groß genug gewesen, um allein deswegen die Mühen eines Umzugs auf sich zu nehmen. Auch die Entscheidung hinsichtlich des neuen Wohnstandorts kann ihrerseits mehrstufig angelegt sein. Jeder Wohnortwechsel impliziert

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eine Entscheidung gegen den bisherigen und für den neuen Wohnort. Gedanklich lässt sich die Entscheidungssituation in Anlehnung an Lee (1972: 118 ff.) durch das Zusammenspiel von abstoßenden Bedingungen am Wegzugsort (sog. Push-Faktoren) und anziehende Bedingungen am Zielort (sog. Pull-Faktoren) erklären, denen unter Umständen ein unterschiedliches Gewicht zukommt. Beispielsweise könnte am Anfang des Entscheidungsprozesses die grundsätzliche Entscheidung stehen, nicht mehr im bisherigen Wohnort leben zu wollen, etwa wegen dessen unbefriedigenden kulturellen Angebots. Die Entscheidung gegen den bisherigen Wohnort wäre dann „push-getrieben“ und erklärt für sich genommen noch nicht die Entscheidung zugunsten des Zielortes. Letztere Entscheidung ist nachgelagert und hängt im Beispiel dann davon ab, ob und wenn ja welche zusätzlichen Entscheidungskriterien der jeweilige Haushalt neben dem Kriterium „kulturelles Angebot“ bei der Wohnortwahl in Erwägung zieht und wie er die Entscheidungskriterien gewichtet. Die Entscheidung gegen den bisherigen Wohnort kann jedoch auch „pull-getrieben“ sein. Dann ist es sogar möglich, dass die Wohnstandortentscheidung ihre Mehrstufigkeit verliert. Dies wäre beispielsweise dann gegeben, wenn ein Haushalt einen ohnehin anstehenden Wohnungswechsel dazu nutzt, in eine ganz bestimmte Stadt zu ziehen, in der die Haushaltsmitglieder schon immer einmal leben wollten. Ohne zu tief in die Komplexität von Wanderungsentscheidungen und die darin implizierten Abwägungsprozesse eindringen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass Wande-

Hierarchischer Entscheidungsprozess

Push and Pull

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Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen rungsentscheidungen gedanklich in eine Auszugsentscheidung auf der einen und eine Wohnstandortentscheidung auf der anderen Seite aufzuspalten sind. Die Auszugsentscheidung kann, muss aber nicht eine Wohnstandortentscheidung implizieren. Kommunale Wanderungsmotivbefragungen sollten im Hinblick auf das mit ihnen verbundene Erkenntnisinteresse versuchen, dieses grundlegende Entscheidungsgerüst fragetechnisch nachzubilden. Denn beispielsweise dürften die Entscheidungsträger einer abgebenden Kommune aus dem Ergebnis einer Weggezogenenbefragung, wonach 30% der weggezogenen Haushalte ihre alte Kommune allein wegen des dortigen unzureichenden kulturellen Angebots verlassen haben, eine ungleich größere Handlungsnotwendigkeit ableiten, als wenn dieselbe Befragung als Ergebnis hervorbrächte, dass 30% der weggezogenen Haushalte zwar wegen des unzureichenden kulturellen Angebots ihren Wohnort verließen, der eigentliche Wohnungsauszug jedoch anders begründet war. Für den aufnehmenden Wohnort kann es dagegen wichtig sein zu wissen, ob beispielsweise seine Attraktivität hinsichtlich kultureller Einrichtungen so groß ist, dass er Zuziehende zum Umzug veranlasst, oder aber ob die Zugezogenen aus anderen Gründen, etwa wegen eines neuen, außerhalb der Pendlerreichweite befindlichen Arbeitsplatzes, ihre alte Wohnung verlassen und sich nun unter mehreren infrage kommenden Kommunen für die kulturell attraktivste entschieden haben. Den eingangs erwähnten Praxisbeispielen gelingt die Abbildung der Mehrstufigkeit sowie 58

der damit verbundenen Hierarchie der Wanderungsentscheidung nur ansatzweise. So macht zum Beispiel die Antwortoption „Kündigung durch den Vermieter“ auf die Frage „Welche der Gründe waren für Ihren Umzug aus Karlsruhe in Ihre jetzige Wohnung wichtig?“ bei der Karlsruher Befragung nur in Kombination mit anderen Antwortoptionen Sinn, denn für sich genommen gibt sie lediglich einen Hinweis auf den Auszugsanlass, erklärt jedoch nicht den Wegzug aus Karlsruhe und den Zuzug in die neue Kommune. Hierfür müssen andere Motive vorgelegen haben, möglicherweise der angespannte Karlsruher Wohnungsmarkt und die Schwierigkeit, dort eine angemessene Wohnung zu finden, oder der Wunsch, aus der Stadt „ins Grüne“ zu ziehen. Aber auch die Kombination beispielsweise zweier angekreuzter Antwortoptionen wie „Verbesserung hinsichtlich der Wohnung“ sowie „Wunsch nach besserer Wohn­umgebung“ lässt offen, was von beidem denn nun den Ausschlag für den Auszug aus der alten Wohnung gab. War es der Wunsch nach einer besseren Wohnungsausstattung, stellt sich die Folgefrage, ob der „Wunsch nach besserer Wohnumgebung“ erst dann zum – möglicherweise alleinigen – Wegzugsgrund wurde, als der Auszug aus der Wohnung bereits entschieden war, oder ob umgekehrt der „Wunsch nach besserer Wohnumgebung“ bereits auf der Ebene der Auszugsentscheidung eine, wenn auch gegenüber dem Wunsch nach einer besseren Wohnungsausstattung untergeordnete Rolle spielte. Möglicherweise war es aber auch ganz anders und alleiniger Auszugs- und Weg-

zugsanlass bildete der Wunsch nach einer besseren Wohnumgebung, wobei der anstehende Umzug dazu genutzt wurde, im neuen Wohnort mit besserer Wohnumgebung nach einer besser ausgestatteten Wohnung zu suchen. Die Karlsruher Befragung trennt somit nicht nur zwischen Auszugs- und Wohnstandortentscheidung, sondern vermengt auch Push- und Pullfaktoren in nachträglich nicht mehr voneinander zu trennender Art und Weise. Die fehlende Trennung zwischen Auszugs- und Wohnstandortentscheidung lässt sich auch nicht dadurch kompensieren, dass – wie beispielsweise bei der Münchner Wegzugsbefragung – die Befragten dazu angehalten werden, bei mehreren angekreuzten Gründen eine Rangfolge hinsichtlich der Bedeutung der einzelnen Gründe anzugeben. Kreuzte ein Befragter beispielsweise die Gründe „Größe der alten Wohnung“ und „Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln“ an und gab darüber hinaus an, dass die „Größe der alten Wohnung“ der wichtigere von beiden Gründen war, so bleibt dennoch offen, ob bereits auf der Ebene der Auszugsentscheidung die „Probleme mit öffentlichen Verkehrsmitteln“ eine Rolle spielten (und möglicherweise sogar für sich genommen einen Auszug veranlasst hätten) oder ob dieser Grund für die eigentliche Auszugsentscheidung bedeutungslos war und erst im Rahmen der Wohnstandortentscheidung relevant wurde.

Formulierung der Fragen Wie sind nun die Multikausalität und insbesondere die

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Zur Erhebung von Wanderungsmotiven in kommunalen Befragungen Mehrstufigkeit der Wanderungsentscheidung fragebogentechnisch abzubilden? Abbildung 2 enthält einen Vorschlag für eine Befragung von Weggezogenen, bei der im Interesse der abgebenden Kommune naturgemäß die Erfassung der Push-Faktoren der Wohnstandortwahl, d.h. die Erfassung der Gründe für den Wegzug steht. Abbildung 3 zeigt auf, wie Zugezogene, bei denen sich die aufnehmende Kommune insbesondere für die Pull-Faktoren der Wohnstandortentscheidung interessieren wird, befragt werden könnten. Der Vorschlag in Abbildung 2 schließt einen relativ langen Einleitungstext vor der eigentlichen Frage ein und verletzt dadurch eine grundsätzliche Formulierungsregel, wonach in Fragebögen lange Fragen möglichst zu vermeiden sind (vgl. Porst 2008: 99f.). Im vorliegenden Kontext ist die Verletzung dieser Regel jedoch zu rechtfertigen, da den Befragten nur so das hinter der eigentlichen Frage stehende Anliegen deutlich gemacht wird und sie dadurch veranlasst werden, den zurückliegenden Entscheidungsprozess und hierbei insbesondere die Trennung zwischen Auszugs- und Wegzugsentscheidung nochmals zu rekapitulieren.

Geschlossene, halboffene oder offene Fragen? Bei den Formulierungsvorschlägen in den Abbildungen 2 und 3 unterblieb bis auf die mittlere Filterfrage eine Vorfestlegung dahingehend, in welcher Weise der Befragte antworten soll. Grundsätzlich unterscheidet man zwei entgegengesetzte Fragetypen. Während bei sog. geschlossenen Fragen den Befragten eine begrenze An-

Abbildung 2: Vorschlag zur Erfassung von Wanderungsmotiven bei einer schriftlichen Befragung von Weggezogenen

Abbildung 3: Vorschlag zur Erfassung von Wanderungsmotiven bei einer schriftlichen Befragung von Zugezogenen

zahl vorformulierter Antwortoptionen zum Ankreuzen oder Markieren vorgegeben wird, verzichten sog. offene Fragen hierauf und überlassen es den Befragten, in eigenen Worten zu antworten. Jede der beiden Fragetypen hat spezifische Vor- und Nachteile, wobei die Vorteile des einen Fragetypus die Nachteile des anderen sind und umgekehrt (vgl. Porst 2008: 51ff.). Ein praxisrelevanter Vorteil von geschlossenen Fragen liegt darin, dass die Antworten hierauf schnell und effizient – gegebenenfalls sogar mittels eines Fragebogenscanners – in einen

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Datensatz eingelesen werden können. Bei offenen Fragen muss vor der eigentlichen Ergebnisauswertung dagegen erst noch eine gemeinhin personalintensive Kategorisierung der einzelnen Antworten erfolgen. Qualitätsmindernd kommt hinzu, dass die Kategorisierung dem Bearbeiter einen gewissen Interpretations- und Ermessensspielraum lässt. Gerade wenn aufgrund einer großen Zahl von Fragebögen mehrere Mitarbeiter zur Kategorisierung eingesetzt werden (müssen), lässt sich nicht gewährleisten, dass alle Mitarbeiter ein und dieselbe Antwort auf eine offene 59


ZUr ErHEBUNG VoN WaNdErUNGSMotiVEN iN KoMMUNalEN BEFraGUNGEN

Offene oder geschlossene Fragen

tistik: Über Star können

e „Statistik ahlen um Z nur mit gehen.“ t: richtig is „Falsch, nistiker kö Nur Stat mZahlen u nen mit . gehen.“

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Frage in gleicher Weise kategorisieren. davon abgesehen antworten Befragungsteilnehmer häufig auf unterschiedlich hohem abstraktionsniveau. Während der eine teilnehmer sehr präzise und detailliert antwortet und beispielsweise alle aspekte des Wohnumfelds aufzählt, die ihn zum Wegzug bewogen haben, begnügt sich der andere mit wenig aussagekräftigen allgemeinplätzen und schreibt beispielsweise nur „Unzufriedenheit mit dem Wohnumfeld“ in das vorgesehene antwortfeld. dies führt bei der späteren Kategorisierung letztlich dazu, dass ebenfalls pauschale und undifferenzierte antwortkategorien verwendet werden müssen, um die unterschiedlich detaillierten antworten gewissermaßen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Schlussendlich hängen die antworten auf offene Fragen von den Verbalisierungsfähigkeiten und der Schreibkompetenz der Befragten ab. Gerade Personen mit nur rudimentären deutschkenntnissen könnte die Verwendung von offenen Fragen sogar von einer Befragungsteilnahme abschrecken. die prinzipielle Problematik von geschlossenen Fragen besteht dagegen darin, dass sich nicht alle Befragten in den vorgegebenen antwortoptionen adäquat wiederfinden, was zu ausbleibenden bzw. beliebigen angaben führen kann. Bei geschlossenen Fragen ist es daher unerlässlich, alle möglichen antwortoptionen zu berücksichtigen. dies ist jedoch gerade bei Wanderungsmotivbefragungen aufgrund der Unüberschaubarkeit möglicher Wanderungsgründe ein hoffnungsloses Unterfangen. Bei der abfrage von Wanderungsmotiven in stan-

dardisierten Fragebögen stellen daher sog. halboffene Fragen, wie sie auch die meisten Kommunen verwenden, einen guten Kompromiss dar. Hierbei wird an eine an sich geschlossene Frage eine zusätzliche antwortoption der art „Sonstige Gründe, und zwar...“ angehängt, die ein auffangbecken für alle nicht explizit vorformulierten antwortoptionen bildet und von den Befragungspersonen wie eine offene Frage beantwortet werden kann. Um den Einleseaufwand möglichst gering zu halten, sollte allerdings darauf geachtet werden, dass die explizit vorgegebenen antwortoptionen in der Mehrzahl der Fälle das Gros möglicher Wanderungsgründe abdecken. aufgrund der Mannigfaltigkeit der Wanderungsgründe können dies durchaus um die 20 antwortvorgaben sein. aufgrund der Multikausalität von Wanderungsgründen auf jeder Entscheidungsstufe sollte den Befragungspersonen die Möglichkeit mehrerer zulässiger antworten explizit mitgeteilt werden, und zwar sowohl im Fragetext selbst als auch durch entsprechend gestaltete antwortfelder (z.B. Kästchen), die sich von antwortfeldern von Fragen mit nur einer zulässigen antwortoption (z.B. Kreise) abheben. die obligatorische Bildung einer rangfolge bei mehr als einem angekreuzten Wanderungsgrund gelingt dadurch, dass man – wie beispielsweise bei der Münchner Befragung – die vorgegebenen antwortoptionen (einschließlich der Sammelkategorie „Sonstiges“) durchnummeriert und die Befragten bittet, die Nummer des wichtigsten und gegebenenfalls des zweit- und drittwichtigsten Grundes anzugeben.

Literatur

Cischinsky, H./Gräff, H.-J./ Häußermann, H.: Externe wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase eines Sozialmonitorings in den Gemeinden im Umfeld des Flughafens Frankfurt/Main, Endbericht – erstellt im auftrag der institut für organisationskommunikation GmbH im rahmen des regionalen dialogforums Flughafen Frankfurt. darmstadt, Berlin 2008 Koch, F.: interregionale Wanderungen und Wohnungsmarkt. Frankfurt/Main, New York 1983 lee, E. S.: Eine theorie der Wanderung. in: Széll, G.: regionale Mobilität, München 1972, S. 115-129 Porst, r.: Fragebogen. Ein arbeitsbuch. Wiesbaden 2008 Schwarz, K.: analyse der räumlichen Bevölkerungsbewegung. Hannover 1969

Anmerkungen 1 2

3

4

5

landeshauptstadt Kiel (2002): die Ergebnisse der Fragebogenaktion „Wegzüge aus Kiel“. iMU-institut für Medienforschung und Urbanistik (2002): raus aus der Stadt? Untersuchung der Motive von Fortzügen aus München in das Umland 1998 – 2000, Gutachten im auftrag der landeshauptstadt München, referat für Stadtplanung und Bauordnung. Stadt Karlsruhe (1998): Motive der Stadt-Umland-Wanderung in der region Karlsruhe 1997. Ergebnisse einer Befragung zu den Wanderungsmotiven der Fortgezogenen von Karlsruhe in die region, in: Beiträge zur Stadtentwicklung, Heft 6. landeshauptstadt düsseldorf, amt für Wohnungswesen (2003): düsseldorfer Wanderungsumfragen 2001/2002 (Entscheidungsgründe und Wanderungsmotive). Ein ausführlich beschriebener und praxiserprobter algorithmus zur Generierung von wandernden Haushalten auf der Grundlage von Melderegisterauszügen findet sich bei Cischinsky et al. (2008: 54ff.).

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Was macht die Statistik mit den 2+i-ten Zuwanderer­ generatio­nen?1

Zukunft der Statistik von Personen mit Migrations­ hintergrund Stefan Böckler, Düsseldorf

In den letzten fünf Jahren hat die deutsche Statistik eine entscheidende Umorientie­ rung in der kon­zeptionellen Fassung und Erhebung der in Deutschland leben­den Zuwan­ de­rer­be­völ­ke­rung vollzogen. Von der Definition dieser Bevölkerungsgrup­pe ausschließlich über ihre (nichtdeutsche) Staatsangehörigkeit ist sie dazu übergegan­gen, auch und in erster Linie ihre Zu­wan­de­rungs­ge­schichte heranzuziehen, und inzwischen werden die Daten zu dieser Gruppe immer häufiger aufgrund der neuen Definition erhoben.2 Ausgangspunkt dieser Um­ orientierung war die Einsicht, dass die Definition und Er­ hebung von Zuwanderern über ih­re nicht-deut­sche Staatsangehörigkeit immer weni­ ger die tatsächliche Präsenz dieser Grup­pe widerspiegelt. Zum einen kann sie nicht mehr im ge­ringsten als ‚treffsicher’ an­ge­se­hen werden, insofern als heute mit ihr nicht einmal mehr 50% der in Deutschland lebenden Zuwandererbevölkerung erfasst wer­den; die Mehrheit der Zuwanderer besaß schon immer oder besitzt inzwischen die deutsche Staats­ an­ge­hörigkeit. Zum anderen wird sich die Definition der Zuwan­derer­gruppe über ihre nicht-deutsche Staatsange-

hörigkeit auch für die Zukunft immer we­niger als ‚nachhaltig’ erweisen: Das neue Staats­ angehörigkeitsgesetz von 2000 räumt einem großen Teil der seitdem in Deutschland ge­ bo­re­nen ausländischstämmi­ gen Zu­wanderer inzwi­schen die doppelte Staatsangehörigkeit ein. Die Ausländer­grup­pe innerhalb der schon längere Zeit in Deutschland lebenden Zuwanderergrup­pen wird damit weiter aus­ge­dünnt; auch die Neuzuwanderung von Ausländern und diejenigen ‚Op­ tions­deut­schen’, die sich zu einem späteren Zeitpunkt (im Alter von 21 Jahren) für ihre aus­ländische Staat­s­an­ge­hö­rig­ keit und damit gegen die deutsche entscheiden, wer­den die­ sen Prozess nicht aufhalten. Die Umstellung der Bevölkerungsstatistik auf ‚Personen mit Migrationshintergrund’ (PmMh) hat dieses grundlegende Defizit der Datenerhebung weitgehend behoben. Durch sie ge­lingt es, die im analytischen und politischpragmatischen Sinn ‚interes­ santen’ Gruppen im Wesentlichen zu er­fas­sen: Sie erlaubt es, analytisch die ‚Zuwanderer’ als in einer Vielzahl von relevanten demographischen, sozialen und kulturellen Merk­ ma­len von der ein­heimischen Bevölkerung unterschiedene Gruppe zu definieren und zu

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erheben und handlungsbezogen als Gruppe auszuzeichnen, für die ein be­son­de­rer (Anerkennungs- und Integrations-) Bedarf be­steht. Konzeptionell ist diese Umorientierung inzwischen weitgehend abgeschlossen, und auch in der Er­he­bungs­pra­xis wird sie inzwischen auf Bundes-, Länder- und kommu­naler Ebene in­ten­siv betrieben. Angesichts dieser noch sehr jungen Erfolgsgeschichte stellt sich die Frage, ob es heute schon angebracht ist, eine solche Neuerung ihrerseits auf ihre ‚Treffsicherheit’ und ‚Nachhaltigkeit’ zu problematisieren. Auf diese Frage soll im Folgenden ver­suchs­weise eine Antwort gegeben werden.

Das ‚Aussterben’ der PmMh

Umstellung der Bevölkerungsstatistik

Dass diese Frage auch heute schon eine gewisse Aktualität besitzt, wird an dem in der ak­ tuel­len Diskussion umstrittenen Umfang der Einbeziehung der dritten Zuwan­de­rer­ge­ne­ ra­tion fass­bar. Die vom Statistischen Bundesamt gelieferte Definition­ von PmMh3 schließt einen gewissen Teil dieser Generation ein: Indem auch Kinder von Eltern(teilen) einbezogen werden, die in Deut­sch­land geboren sind, aber zum Zeit­ punkt ihrer Geburt noch keine 61


Zukunft der Statistik von Personen mit Migrations­hintergrund

Temporäres Phänomen

„Migrationshintergrund vererbt sich nicht“

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deutsche Staatsangehörigkeit be­saßen, wird auch ei­nem Teil der ausländischstämmigen dritten Generation das Merkmal ‚Migrations­hin­­ter­grund’ zugeschrieben. (Die dritte Generation der (Spät-) aus­siedler, die in jedem Fall die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wird durch diese De­fi­ni­tion von vorn­herein aus der Gruppe der PmMh ausgeschlossen.) Mit der ausdrücklichen Zielsetzung, ‚Migrationshintergrund’ nicht als „Eigenschaft, die sich von Generation zu Generation vererbt“4, zu betrachten, hat sich das Land NRW von diesem Ver­fahren ein Stück weit abgesetzt und eine engere Definition von ‚Mig­ra­tionshin­ tergrund’ gewählt. Diese schließt die drit­te Zuwanderergeneration weit­ge­hend aus: Nur diejenigen Angehörigen der dritten Ge­neration, deren in Deutsch­land ge­borene El­ tern(teile) weiterhin nicht die deutsche Staats­an­gehörigkeit besit­zen, gel­ten ihr ge­mäß als PmMh.5 Mit einer solchen Definition (und ihrer Begründung) wird davon ausgegan­gen, dass ‚Mig­­rationshintergrund’ ein temporäres sozialstatistisches Merkmal dar­stellt, dessen Zu­­ schrei­bung sich damit in der weiteren Zukunft auch als nicht mehr sinnvoll erwei­sen könnte. (Dies gilt zumindest für die erste Zuwandererwelle in der Bundesrepublik seit Ende der 1950er Jahre, während für spätere, aktuelle und zu­künftige Zuwande­rer das Merkmal weiter Bedeutung besitzen würde.) Gunter Brückner anti­zipiert für die Zu­ kunft die entsprechende empirische Entwicklung: „Sollte der ge­genwärtige Trend an­ halten und es auch in Zu­kunft keine quantitativ bedeutsame Zu­wanderung mehr ge­ben, dann wäre die Be­völ­ke­rung

mit Migrations­hintergrund ein temporäres Phä­no­men. Nach zwei bis spä­te­s­tens drei Generationen hätte sich diese Bevölkerungs­grup­pe durch die Be­völ­ke­rungspyramide bewegt und ab 2050 würden die Bevölke­rungs­pyramiden bei den Nulljährigen wieder ausschließ­lich Menschen ohne Migrati­ons­hintergrund aufweisen.“ Tatsächlich scheint also zumindest für die weitere Zukunft keineswegs das häufig entworfene Szenario der ‚Majorisierung der deutschen Bevölkerung durch die Zu­wan­­de­rer­’ wahrscheinlich zu sein, sondern sich vielmehr eine deutliche Ausdünnung auch der Gruppe der PmMh abzuzeichnen.

Definitorische und empirische Auflösung von Gruppen Offensichtlich ist diese zunächst kontra-intuitive Konsequenz durch die Art und Weise bedingt, in der die in Deutschland lebende Zuwandererbevölkerung mit der ge­lie­fer­ten Definition von PmMh definitorisch festgelegt wird. De­finitionen sind nun zunächst bloße Konventionen über die logische Zuordnung von Zeichen und können als solche empirisch weder bestätigt noch kritisiert werden. Al­ lerdings ste­­hen hinter der Entscheidung, ob die Wahl einer bestimmten definitori­schen Fest­le­gung im Unterschied zu anderen mög­lichen Definitionen sinnvoll ist, immer auch em­pi­­ri­sch prüfbare An­nah­men. Zwar existieren durchaus auch erhebungstechnische Gründe für eine nur ein­ge­schränk­te Einbeziehung der 3. Generation innerhalb der Definition von ‚Migra­tions­hin­tergrund’ (für eine vollständige Erhebung dieser Generation müsste auch

die Staats­angehörigkeit und die Zuwanderung der Großelterngeneration abgefragt wer­den). Zumindest hinter der vom Land NRW vorgelegten restriktiven Fassung der vom Statistischen Bundesamt vorgeschlagenen Definition steht aber ver­mut­ lich auch die empirische Annahme, dass es schon bei großen Teilen der dritten Zu­­wan­de­ rer­­­­ge­neration, auf jeden Fall aber bei den nachfolgenden Zuwanderer­ge­ne­ra­tionen, eben kei­­nen ‚Sinn’ mehr macht, sie als distinkte Gruppe zur ein­ heimischen Be­­völ­ke­rung aus­ zuweisen, und es dementsprechend sinnvoll ist, diese Gruppe sta­tis­tisch wie­­der in den mainstream der deutschen Bevölkerung zurück­zu­füh­ren. Das würde allerdings unterstellen, dass die Angehörigen dieser Nachfolge­ge­ne­ra­tio­nen dann auch tatsächlich keine statistisch bedeutsamen Merkmalsunterschiede zur autochthonen deutschen Bevölkerung aufweisen und dass dementsprechend auch kein spezifischer Bedarf an politischer Intervention im Sinne der Anerkennung und Integration dieser Gruppen mehr besteht. Nun weist die Geschichte von Einwanderungsgesellschaften durchaus Inte­gra­tions­ver­­­läufe von Zuwandererpopulationen auf, die dieser Annahme entsprechen. Die In­te­gration (in die­sem Fall tatsächlich sogar die ‚Assimilation’) der Ende des 19./An­fang des 20. Jahr­ hunderts in das Ruhrgebiet zugewanderten ‚Polen’ bei­ spielsweise war Mitte des 20. Jahrhunderts mit der dritten Generation weitgehend abge­ schlos­sen. Al­ler­dings hat auch diese erfolgreiche ‚Integrationsgeschichte’ drei Ge­ne­ra­tio­nen ein­be­­zogen und war von sehr spezifischen demographischen, politi­schen und kul­tu­rel­len Be­ din­gun­­gen abhängig.6

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Zukunft der Statistik von Personen mit Migrations­hintergrund Umgekehrt weist die Geschichte der ‚klassischen Einwanderungsländer’ eine Viel­zahl von Zuwanderercommunities auf, die auch in der vierten und fünften Ein­wan­de­rer­­ge­ne­ra­ tion noch konzentriert in bestimmten Stadtvierteln leben, ihre stark binnen­eth­­ni­sch orientierten Sozialbeziehungen und ihre ethnische Ökonomie beibehalten und die Sprache und die kulturellen Traditionen ih­res Herkunftslandes weiter pflegen, und bei denen eine Angleichung an die Mehr­heits­­bevölkerung auch für die weitere Zu­kunft nicht ab­zu­se­hen ist.7 Zu fragen ist also, ob die aktuell gelieferte Definition der Zuwandererbevölkerung in gewisser Weise nicht rein definitorisch eine für die weitere Entwicklung der deut­schen Ge­­sellschaft sehr bedeutsame empirische Frage vorentscheidet: Ist tatsäch­lich davon aus­zu­ge­hen, dass die dritte Generation (und weitere Generationen) der zwischen den 1960er und 1970er Jahren in die Bundesrepublik zugewanderten Ar­beitsmigranten sich in die deutsche Gesamtbevölkerung auflöst? Oder ist auch auf lange Sicht davon aus­zu­ gehen, dass sich zumindest relevante Teilgruppen systematisch von der einheimischen Be­­völkerung unterscheiden und sich dadurch in Bezug auf sie ein spezifischer politischer Hand­lungs­­be­dar­f stellt? Wenn es so ist, dass die Definition von Zuwanderern als PmMh eine solche empi­risch riskante Vor­ent­schei­dung fällt, ist abschließend zu fragen, was schon heute und mittelfristig getan werden könnte, um die ‚Nachhaltigkeit’ der Zu­wandererdefinition da­durch zu ver­bes­­­sern, dass weitere Merkmale in sie einbezogen werden.

Was tun? Tatsächlich zeichnen sich in den Bemühungen um eine an­ge­mes­se­ne Definition und Erhebung der in Deutschland lebenden Zuwanderergruppen schon Ten­den­zen zu einer solchen Ausweitung der Definition von ‚Migrationshintergrund’ ab. Immer wieder werden ne­ben staatsangehörigkeits- und zuwanderungsbezo­ ge­nen Defini­tions- und Er­ he­bungs­merkmalen auch im weitesten Sinne ‚kulturelle’ Merkmale ein­be­zogen. In den in NRW durchgeführten Schuleingangsuntersuchun­gen und auch in dem der NRWSchul­statistik zugrunde gelegten Erhebungsbogen8 wird Migrations­hin­ter­grund unter an­derem über die in der Familie hauptsächlich ge­sprochene Sprache ab­gefragt. In ein­ zelnen Untersuchungen wird das subjektive Kri­te­rium der Selbst­zuschreibung einer Zuwandereridentität durch die Befragten (neben der ‚ob­jek­ ti­ven’ Definition über Staatsangehörigkeit und Zuwanderungsgeschichte) zur Zu­schrei­ bung von Migrationshintergrund verwendet.9 Mit einer solchen Erweiterung der Definition von Migrationshintergrund wird dessen Vor­liegen offensichtlich von der Zuordnung zu einer bestimmten Generation in­ner­halb der Zuwanderungsgeschichte der jeweiligen Gruppe ent­ kop­pelt. Fraglich ist aller­dings, ob eine solche Umorientierung den bisherigen zu­wan­ derungsbezogenen Rahmen nicht in einem grundsätzlicheren Sinne sprengt. Schon die Mitglieder der zweiten Zuwanderergeneration können ja im stren­gen Sinne nicht mehr als ‚Zu­wan­de­rer’ bezeichnet werden; dies gilt um­so mehr noch für die nachfolgenden Ge­ne­ra­tio­nen. Bei diesen ist

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darüber hinaus zu fragen, ob ihre begriffliche Fassung über den Zu­wanderungsprozess, die ja auch im Ter­mi­­nus ‚Mi­gra­ tionshintergrund’ weiterhin im Vor­dergrund steht, überhaupt noch angemessen ist, da für die nachfol­genden Ge­ne­ra­tionen und ihre Lebenssituation in der Ein­wan­de­rungs­gesellschaft der Zu­wan­de­rungs­prozess selbst zunehmend an Be­deutung ver­ liert. Insofern scheint ‚Migra­ tions­hin­tergrund’ tatsächlich nicht sinn­vol­ler­weise als ein über mehrere Gene­rationen ver­erb­bares Merkmal verwendet werden zu können. Für Merk­male von ur­sprünglich zu­ge­wanderten Gruppen, die sich faktisch über mehrere Ge­­ nerationen vererben, wäre dem­nach auch ein anderer konzeptioneller und ter­mi­no­ logischer Rahmen zu wäh­len. Als mögliche und in ‚klassischen’ Einwanderungsländern gebräuchliche Alternative steht der Begriff der ‚Minderheit’ zur Verfügung (je nach Charakter und Stellung der je­ weiligen Grup­pe mit den Attributen ‚national’ und ‚ethnischkulturell’ spezifiziert). Dieser Begriff erlaubt es, unabhängig von ‚Staatsangehörigkeit’ und ‚Zuwande­rungs­ge­schichte’ die spezifischen sozialen und kulturellen Merkmale einer Teilbevölkerung genauso wie deren Selbstverständnis als distinkte Gruppe zu beschreiben und zu erheben.10 Allerdings enthält auch die Zuschreibung dieses Begriffs höchst an­spruchs­volle em­pi­rische An­nah­­men über die soziale und kulturelle Eigenart dieser Grup­­pen und vor allem über ih­ren Fortbestand in der Zeit. Zwar können sich auch ‚Min­­derheiten’ im Genera­tio­ nenzyklus auflösen; im Regelfall wird allerdings davon aus­­ gegangen, dass Min­der­heiten über mehrere Ge­ne­ra­tionen hinweg ihre soziale und kul-

Kriterium: die zu Hause gesprochene Sprache

Was sind die Enkel der Zuwanderer?

Selbstauflösung der Minderheiten?

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Zukunft der Statistik von Personen mit Migrations­hintergrund turelle Unter­schied­lich­keit zur Mehr­heits­­be­völ­ke­rung beibehalten und auch po­­litische Maßnah­men zum Um­­gang mit dieser spezifischen Identität notwendig ma­chen. Ob es für die statistische Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und das po­litische Handeln mittel- oder lang­fris­tig notwendig werden wird, eine solche (oder ei­ne andere) weitere konzeptionelle Umorientierung zu voll­ziehen,

hängt damit ent­schei­­dend von der zukünftigen Ent­wick­ lung der Be­zie­hung zwi­schen Mehrheits­ge­sell­­schaft und Zuwanderer­be­völ­ke­rung selbst ab, d.h. un­ter an­derem davon, in wel­chem Maße es gelingt, diese Zu­wan­de­rer­­­be­völ­ke­rung in die Mehr­heits­ge­sell­schaft zu in­tegrieren oder gar an sie zu as­si­mi­lie­ren. Ein Erfolg dieses Prozesses könn­te PmMh nicht nur de­fi­ni­to­risch, sondern in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ‚aus­ster­ben’ lassen; eine weitere analytische und handlungsbezogene Beschäftigung mit den nach­folgenden Zuwanderergenerationen würde sich damit tatsächlich er­übri­gen. Zumindest sollten sich Bevölkerungsstatistik und Politik allerdings schon heute be­ wusst machen, dass die hier angedeutete konzeptionelle und terminologische Um­ orientierung – zumindest für einen Teil der in Deutsch­­land lebenden Zuwanderer­gruppen – unter den Be­dingungen eines ge­rin­ge­ren Er­folgs der Integrationsbemü­hungen (oder der wei­teren Auf­recht­erhaltung eth­nisch-kul­tu­reller Identitäten auch unter Bedingungen erfolgreicher Integration) für die Zu­kunft ei­ne der zu bedenken­ den Optionen darstellt.

Literatur

Böckler, S./Ceylan, R./Frazzetto, A./ Maxim, N./Richter, R., 2009: Integration zwischen Distanz und Annäherung. Die Ergebnisse der Ersten Duisburger Integrationsbefragung. Duisburg Häußermann, H./Siebel, W., 2001: Soziale Integration und ethnische Schichtung. Zu­sammenhänge zwischen räumlicher und sozialer Integration, Gutachten im Auftrag der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung“, Berlin/ Oldenburg. Heckmann, F., 1992: Ethnische Minderheiten, Volk und Nation. Soziologie inter-eth­ni­scher Beziehungen, Stuttgart.

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Medda-Windischer, R., 2009: Old and New Minorities: Reconciling Diversity and Cohesion, BadenBaden. Mintzel, A., 1997: Multikulturelle Gesellschaften in Europa und Nordamerika: Kon­zep­­te, Streitfragen, Analysen, Befunde, Passau. Santel, B., 2008: Integrationsmonitoring: Neue Wege in NordrheinWestfalen, in: Po­li­­­tische Essays zu Migration und Integration, hrsg. v. Rat für Migration, 2.

Anmerkungen 1

Für ihre hilfreichen Kommentare zu diesem Artikel, die zu einer Präzisierung von Teilen der Argu-mentation beigetragen haben, danke ich Gunter Brückner und Bernhard Santel. 2 Ein entscheidender Meilenstein hierzu war die vom Statistischen Bundesamt 2005 durchgeführte Mikrozensuserhebung, in der erstmals ‚Migrationshintergrund’ als diese Gruppe auszeichnendes Merkmal systematisch definiert und erhoben worden ist. 3 Die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen und Problemen, die mit der vom Statistischen Bundes­ amt gelieferten Definition verbunden sind, wird hier nicht im Detail nachgezeichnet. Siehe hierzu die Beiträge in ‚Stadtforschung und Statistik’ 2/08. 4 Santel 2008, S. 5. 5 Die Rolle der dritten Generation für die Sozialstatistik ist auch in anderen europäischen Ländern umstritten. In den Niederlanden, in denen bisher eine ähnlich auf die zweite Generation fokussierte Definition ‚allochthoner Gruppen’ verwendet wurde, wird gegenwärtig die Ausweitung dieser Definition und dann auch der Auswertung und Erhebung auf die dritte Generation vorbereitet. 6 Zu diesen spezifischen Erfolgsbedingungen der Assimilation der ‚Ruhrpolen’ siehe Häußer­mann/ Siebel 2001, S. 67ff. 7 Zur Persistenz und den wiederholten Revivals der Zuwanderercommunities in den USA und Kanada und der Orientierungsfunktion, die diese Prozesse für den wissenschaftlichen und politischen Umgang mit Minderheiten in Europa übernehmen könnten, siehe Mintzel 1997, S. 557ff. 8 Siehe den vom NRW-Schulministerium hierzu zur Verfügung gestellten „Datenerhebungsbogen zur Jahresstatistik“. 9 Siehe hierzu beispielsweise die vom N.U.R.E.C.-Institute Duisburg für die Stadt Duisburg 2008 durch­geführte Stu­die zur Integrationssituation der Duisburger Zuwandererbevölkerung. -Tatsächlich ist die Frage der Einbeziehung ‚kultureller’ Definitionsmerkmale schon im Rahmen der Entwicklung der für den Mikrozen-

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Zukunftsmodell „Untere Statistikbehörde“? sus verwendeten Definition von Migrationshintergrund diskutiert, aus unterschiedli­chen Gründen dann aber bisher nicht weiterverfolgt worden.

10 Als frühzeitigen und insofern besonders weitsichtigen Versuch, die Gruppe der ‚Arbeitsmigranten’ als einen Typus „ethnischer Minderheit“ zu beschreiben, siehe Heckmann 1992.

Zur Tragfähigkeit einer analytischen und politisch-rechtlichen Fassung von Zuwanderergruppen als ‚neue Minderheiten’ siehe neuerdings Medda-Windischer 2009.

Nicht klagen hilft, sondern Neues denken – und umsetzen

Zukunftsmodell „Untere Statistikbehörde“? Ernst-Otto Sommerer, Dortmund Immer wieder ist es das Projekt Urban Audit, welches von Klaus Trutzel und seinen Helfern so sicher durch alle statistischen Untiefen geführt wird. Einmalig stehen wir in Europa da, 40 Städte stemmen eine gewaltige Datensammlung von über 300 Indikatoren, die dann aber auch zusammengeführt werden müssen. Wir wissen, dass gerade in solchen Arbeitsfeldern nichts von alleine passiert. Europa ist es zufrieden und überlegt, dieses jetzt in rechtliche Formen zu gießen, die ein wenig mehr Nachhaltigkeit erwarten lassen. Ansprechpartner ist das Statistische Bundesamt als nationale Behörde – aber die hat keine Durchgriffsmöglichkeiten auf die Kommunen, davor steht der föderale Staatsaufbau. Dazwischen stehen die Landesämter. Und so schoben sich auf der letzten Sitzung des Netzwerkes „Stadt- und Regio­ nalstatistik“ mal wieder die Vertreter von Bund und Land das schwarze Peterle zu – was sollten sie auch anderes machen, sie waren in die Vorgaben ihrer Häuser gebunden. Mit gezähmter Wut im Bauch habe ich dann festgestellt, dass wir so nie weiterkämen und auch auf anderen Feldern permanent so nur Schwierigkeiten produzieren würden. Wir

müssen die föderalen Grenzen überwinden, zu einem neuen Miteinander und Verständnis der amtlichen Statistik kommen und die kommunale Statistik dort ohne wenn und aber mit einbeziehen. Wir bräuchten ein Statistiksystem, welches stringent von unten nach oben durchorganisiert sei, sonst würde das alles nichts. Niemand widersprach mir, alle nickten, zum Teil verhalten, weil es eben nicht der Linie entsprach, aber zumindest ein großer Regelungsbedarf besteht, wie immer man dem begegnen möchte: • Urban Audit • Kommunales Bildungsmonitoring im Rahmen von „Lernen vor Ort“ • Evaluierung von Städte­ bauförderung • Lärmkartierung um nur einige Felder aufzuzeigen. Zudem wird sich die statis­ tische Landschaft hinsichtlich kleinräumiger Darstellungen zunehmend im Zusammenspiel mit Online-Aktivitäten Dritter verdichten – erwähnt seien an dieser Stelle Aktivitäten unter dem Stichwort von INSPIRE.

Untere Statistik­ behörde Da es bei formuliertem Unwohlsein niemals bleiben darf,

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wenn man zumindest etwas in die Diskussion kommen will – und eigentlich will ich auch Veränderung nach 2013! – so habe ich eine Organisationsidee hinterher geschoben: In NRW gibt es für unterschiedliche Aufgabenbereiche sog. Untere Landesbehörden, die mit einem staatlichen Auftrag in die Kommune eingebunden sind und auch kommunal handeln: Denkmalschutz, Landschaftsbehörde, Wasserbehörde, Katasteramt, Schulamt usw. Warum sollte es bei Kreisen und kreisfreien Städten keine Untere Statistikbehörde geben können? Sie vereinigen in sich zunächst das, was abgeschottete Statistikstellen heute auch schon sind und tun. Darüber hinaus hätten sie Zugriff auf alle Einzeldaten, die der übrigen amtlichen Statistik auch zur Verfügung stehen – für ihren jeweiligen Einzugsbereich. Sie würden die Umsetzung von Bundes- und Landesgesetzen in Bezug auf kleinräumige Daten umsetzen helfen. Und außerdem läge es in ihrer Zuständigkeit, die im 10-jährigen Turnus anfallenden Zensen vor Ort zu organisieren.

Föderale Grenzen überwinden

Es würde mich interessieren, wie die Leser dieser Fachzeitschrift meine Idee beurteilen.

Ihre Meinung, bitte!

Untere Landesbehörden

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Blick für das Wesentliche, Daten sammeln, Fahrradcomputer, 32 Ecken

Statistiker über sich Auch diesmal haben sich einige der in den letzten Monaten eingetretenen VDSt-ler die Mühe gemacht, einige der zugesandten Halbsätze zu ergänzen, um sich so kurz vorzustellen. Lernen Sie diese Neuen schon mal etwas kennen, auf der Statistischen Woche erfahren Sie vielleicht mehr über sie. Bettina Falkenburg, Stadt Moers, Sachbearbeiterin im Fachbereich 3 – Interner Service, bettina.falkenburg@ moers.de

Wichtig bei einer Grafik ist der Blick für das Wesentliche. Der zu einer Statistik gehörende Text ist unentbehrlich um Nuancen zu beschreiben. Statistik ist für mich eine Bereicherung. Statistik ist alles andere als langweilig. Wäre ich nicht Statistikerin geworden, hätte sich mir diese Welt des Arbeitens nicht erschlossen und ich wäre im Verwaltungsdenken „stecken geblieben“. Wer ohne Zahlen argumentiert, vergeudet seine Zeit. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: Zahlenspiegel sein um Erkenntnisse ziehen zu können und ggf. Handlungsbedarfe einzuleiten. Die nächste Volkszählung sollte auf der Habenseite gewichtiger sein.

Alois Kopp, Stadt Weiden in der Oberpfalz, Leiter der Statistikstelle, alois. kopp@weiden-oberpfalz.de und Petra Scharrer, Stadt Weiden in der Oberpfalz, Stellvertretende Leiterin der Statistikstelle, petra.scharrer@ weiden-oberpfalz.de

Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, eine Vielzahl von Daten zu sammeln und mit den Erkenntnissen einen wichtigen Beitrag für die Planungen der Entscheidungsträger zu leisten. Die Stadt, in der wir arbeiten, hat rund 42.000 Einwohner und befindet sich in der nördlichen Oberpfalz (Bayern). Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: Die reale Stadt darzustellen, sowie auf negative Entwicklungen hinzuweisen.

Guido Menn, B.Sc., Wirtschaftsinformatiker, Fachbereich 1, Statistik, Siegen, g.menn@siegen.de

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie von Kontrahent und Befürworter gleichermaßen ernst genommen wird. Statistiken liefern wichtige Informationen, sind gewissermaßen Berater und nehmen den Verantwortlichen die Entscheidung nicht ab. Wichtig bei einer Grafik ist die Verständlichkeit ebenso wie die getreue Abbildung der Fakten. An der Statistik gefällt mir die Notwendigkeit, sich mit den unterschiedlichsten Themengebieten zu beschäftigen. Die liebste Statistik ist mir die in meinem Fahrradcomputer. Ohne Statistik ist die Welt wie ein Boot ohne Kompass. Man müsste die Sterne um Rat fragen. Ein Computer ist für mich nicht mehr wegzudenken, nicht immer ein Segen, Büromaschine und Entertainer.

Stefan Zöllner, Diplom-Geograph, Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, stefan.zoellner@heidelberg.de

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Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie Diskussionen auslöst. Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, die Realität abzubilden. Wichtig bei einer Grafik ist, dass sie sich selbst erklärt. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist der Fußball. Er hat 32 Ecken und ist doch rund. Ohne Statistik ist die Welt chaotisch. Die Stadt, in der ich arbeite, ist Sitz der ältesten Universität Deutschlands. Vor allem eines sollte Städtestatistik leisten: Politik mitgestalten.

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Die Ex-AG vor der Frühjahrstagung

Bericht aus Bonn Udo Maack, Berlin

Seit mehreren Jahren arrangiert Ludwig von Hamm im Vorfeld der Frühjahrs- und Herbst-Tagungen des VDSt lockere und interessante Treffen mit kulturellem Focus für die Ex-AG. Dies sind überwiegend Kollegen, die bereits in den Ruhestand getreten sind, aber auch weitere interessierte Mitglieder. So hat sich diese Gruppe auch zur Frühjahrstagung in Bonn getroffen. Die am Freitag langsam eintrudelnden Mitglieder trafen sich bereits am Abend im „Sudhaus“. So bahnte sich ein mit vielen Ereignissen gespicktes Wochenende an, über das es zu berichten gilt.

Samstag 13. März 2010 Vormittag

Byzanz – Pracht und Alltag Pünktlich zur morgendlichen Öffnung der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland strömten 11 Interessierte der Ex-AG in die Ausstellung „Byzanz – Pracht und Alltag“. Wir informierten uns über die Lebenswelten des „Byzantinischen Jahrtausend“ von der Gründung Konstantinopels (324 durch Konstantin dem Großen) bis zur Eroberung durch die Osmanen im Jahre 1453. Interessante Computeranimationen und Kurzfilme gaben einen Einblick in eine faszinierende Geschichte und Kunst dieses Reiches zwischen dem West-Rom und Asien.

Das Byzantinische Reich zeichnete eine ungewöhnliche Verbindung zwischen der Antike und dem Christentum aus. Während der christliche Glaube das religiöse Fundament des Reiches bildete, wurden in Kultur, im Rechtssystem und in der Verwaltung die Traditionen der griechischen und römischen Antike fortgeführt. Erst die Kreuzfahrer zerstörten im Jahr 1204 das Byzantinische Reich mit seiner reichen und vielfältigen Kultur, die viele Jahrhunderte als Standard galt und an dem sich der Westen Europas gemessen hat. Ein selbstbewusstes – auch für Fremdes offenes – Reich wurde uns dargestellt. Das Byzantinische Reich und sein Erbe erschienen dem Besucher in einem völlig neuen Licht. Die negative Beurteilung als ein starres, in seinen Traditionen verharrendes Reich, kann wohl auf Basis neuer Forschungsergebnisse korrigiert werden. Die in Zusammenarbeit mit dem Römisch-Germanischen Zentralmuseum / Forschungsinstitut für Vor- und Frühgeschichte aus Mainz zusammengestellte Ausstellung gibt uns eine ganz andere Sicht, wenn wir nun von Zentraleuropa nach Kleinasien schauen. Die Bedeutung des christlichen Ost­ römischen Reiches als Wurzel unseres Rechtssystems und als Brücke vom Altertum bis in das moderne Europa gilt es neu einzuordnen.

Stadtforschung und Statistik 2/2010

Samstag 13. März 2010 Nachmittag

Weg der Demokratie Nach der Mittagspause führte Klaus Kosack die Gruppe durch das Bundesviertel der Bundesstadt Bonn, zeigte geschichtsträchtige Orte und deren Wandel seit dem Umzug der Regierung nach Berlin. Wir sollten Geschichte erleben. Auf dem Weg der Demokratie wurden Erinnerungen an 60 Jahre Demokratiegeschichte Deutschlands geweckt. Bundeskanzleramt, Palais Schaumburg, Villa Hammerschmidt und der Kanzlerbungalow, verbunden mit Namen der darin wirkenden, wie Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Helmut Schmidt, Willi Brandt und Helmut Kohl u. A. erinnerten an Zeiten der wichtigen politischen Entscheidungen für Deutschland. Ruhig – wie für einen Samstagnachmittag nicht anders zu erwarten – passierten wir die Orte der harten politischen Gefechte, den Sitzungssaal des Bundesrats, den Plenarsaal des Bundestags und den Plenarsaal im Wasserwerk. Der „lange Eugen“ (114 m hoch), einst Arbeitsplatz vieler Bundestagsabgeordneter, ist dauerhaft den Vereinten Nationen überlassen worden, wird von rund einem Dutzend UN-Einrichtungen genutzt und bildet heute das Zentrum des neuen UN-Campus Bonn. Wie wir lernen konnten, haben solch­ namhafte

Geschichte erleben

Byzantinisches Jahrtausend

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Bericht aus Bonn Institutionen aber auch ihre Ansprüche, und da reicht die vorhandene, vielfach auch für internationale Großkonferenzen erprobte, exzellente Infrastruktur manchmal nicht aus. Z.B. muss ein Sitzungssaal

Hausschild am Langen Eugen

Deutsche Welle im Schümann Bau

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für Treffen von Vertretern aller UN-Mitgliedsländer, bei dem alle auf gleichem Niveau sitzen, auch noch her. Solch ein World Conference Center mit internationalen Investoren zu errichten, birgt einige Gefahren in sich und kann zu heftigen Turbulenzen führen, wie die Entwicklung um das WCC Bonn leider zeigt. Umnutzung ist das Kennzeichen für die Entwicklung dieses Viertels. So wird das als Abgeordnetenbürohaus geplante, im Rohbau 1993 fast im Hochwasser des Rheins untergegangene Schümann-Gebäude, heute von der Deutschen Welle genutzt. Ganz in der Nähe ist der neue Posttower entstanden. Dieses spektakuläre Bürohochhaus (162,5 m) aus zwei zueinander versetzten Kreissegmenten umfasst 46 Geschosse und überragt damit den langen Eugen um einiges. Auffallend ist Markus Lüpertz‘ Skulptur „Mercurius“ vor dem Haus, eine moderne Version des Götterboten, der auf der Weltkugel unterwegs ist und als Sinnbild des weltweit operierenden Logistikkonzerns Deutsche Post zu interpretieren ist Warum aber steht „DHL“ in riesigen Lettern in weit sichtbarer Höhe am Gebäude? Dass die Deutsche Post das amerikanische Logistik-Unternehmen gekauft hat und jetzt unter diesem Kennzeichen firmiert ist allgemein bekannt, aber was bedeuten diese drei Buchstaben? Keiner der Teilnehmer konnte es beantworten1. Am Rheinufer ging es auch entlang eines von Bonner und Siegburger Schülern errichteten Planetenlehrpfads. Ausgehend von der Sonne kann man auf einem 5,9 km langen Weg entlang des Rheins alle Planeten – in Tafeln beschrieben – erwandern, wobei die Sonne

Merkurius vor DHL

und ihre Planeten maßstabsgetreu in Größe und Abstand entlang der Strecke aufgestellt sind (Maßstab 1:1Millarde). Auf dem Spaziergang entlang des Rheins gab es aber auch eine neue Sportart zu bewundern: Nordic-Walking mit Armauflagen und Rädern an den Stöcken. Soll nach Aussagen der Tester bei gleichem Erfolg angenehmer zu „walken“ sein.

Sonntag 14. März 2010 Vormittag Der Sonntag stand ganz im Zeichen der Schlösser in Brühl, auf halbem Weg zwischen Bonn und Köln. Die beiden Schlösser Augustusburg und Falkenlust stehen mit ihren Gärten und Parkanlagen seit 1984 unter dem Schutz der Welterbekonvention der UNESCO. Ein Areal, das es wert war, einen ganzen Tag erkundet zu werden. Traditionsgemäß traf man sich am Bonner Hauptbahnhof zur Fahrt nach Brühl. Es war wie-

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Bericht aus Bonn der alles bestens vorbereitet. Der Zug und seine Abfahrtzeit, die Gruppenfahrkarte waren geplant und wurden auch gerne genutzt. Nach einer halbstündigen Fahrt mir der Regionalbahn standen wir im Bahnhof Brühl und sahen schon den Eingang zum westlichen Schlossgarten vor uns liegen.

Fürsten- und Kaiserresidenz Für das Schloss Augustusburg legte Kurfürst und Erzbischof Clemens August von Köln im Jahre 1725 den Grundstein. Im Zeitraum von über 40 Jahre entstand unter Leitung der Architekten François de Cuvilliés, Michael Leveilly, Balthasar Neumann, Johann Conrad Schlaun, im Zusammenwirken deutscher, italienischer und französischer Architekten, Maler, Bildhauer und Stukkateure dieser schöne Rokoko-Bau. Wie so häufig konnte der Initiator die Vollendung nicht erleben, er starb 1761. Sein Nachfolger Kurfürst Max Friedrich von Königsegg (1761-1784), vollendete das Schloss nach den Plänen seines Vorgängers. In den Wirren der Französischen Revolution ging das Fürstentum unter, das Schloss gehörte schließlich dem französischen Marschall Davoust, der es von Napoleon geschenkt bekam, aber verfallen ließ. 1815 ging das Schloss in preußischen Besitz über. Seine Wiederherstellung ist König Friedrich Wilhelm IV. zu verdanken der es nach einem Besuch 1842 als preußisches Königsschloss wieder aufbauen ließ. Später diente es Kaiser Wilhelm I als Residenz, wenn er an den Herbstmanövern in der Eifel teilnahm. Nach Ende des 2. Weltkrieges wurde umgehend mit der Wiederherstellung und Restaurie-

rung des Baus begonnen und diente von 1949 bis 1996, als Repräsentationsschloss des Bundespräsidenten. Das Land Nordrhein-Westfalen als heutiger Eigentümer sorgt dafür, dass in Brühl ein Schloss von Weltrang erhalten wird und – zusammen mit Schloss Falkenlust – als Museum der Öffentlichkeit zugänglich ist. Einen herausragenden Eindruck hinterließ das prunkvolle Treppenhaus, das vom damaligen Stararchitekten Balthasar Neumann entworfen und vom kurkölnischen Hofarchitekten Michael Leveilly und seinem Künstlerstab ausgeführt wurde. Ergänzt wird diese Komposition aus Marmor, Stuck und Bildhauerei durch die Deckenbilder des italienischen Malers Carlo Carlone. Gerade im Treppenhaus fiel die gelungene Umgestaltung des Schlosses zum Museum auf, nach der zum Vorteil der Besucher die Besichtigung hinter Vollglastüren in wohltemperierten Räumen absolviert werden kann, ohne von dem draußen stattfindenden kühlen Wetter berührt zu werden.

NordicWalking mit Räder

Sonntag 14. März 2010 Nachmittag

Jagdschloss Falkenlust Der Nachmittag begann mit einem ausgiebigen Spaziergang durch die Gärten der Schlossanlage zum Jagdschloss Falkenlust. Parallel zum Entstehen des Schlosses Augustusburg ließ Clemens August am Rande eines abgeschieden liegenden Wäldchens dieses Lustschloss für die Falkenjagd bauen. Der Bauplatz wurde durch die besondere Lage an einer Flugschneise der Reiher – bevorzugte Beutevögel der Falken – zwischen ihren Horsten im

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Eingang Schloss Augustusburg

Jagdschloss Falkenlust

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Bericht aus Bonn

Kaktus und Veronika

150 NGOs

15 000 IT-Beschäftigte

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Brühler Schlosspark und den Fischgründen im Altrheingebiet bestimmt. Nach den Plänen des bereits am Schlossbau beteiligten kurbayrischen Hofbaumeister François de Cuvilliés entstand 1729 in rund 8 Jahren dieses kleine Palais. In den kostbar ausgestatteten Innenräumen versammelte sich die höfische Gesellschaft zum Afterparty Event (zum Souper und zum Spiel) nach dem Jagdvergnügen. 1807 ging es in Privatbesitz über und wurde erst 1960 durch das Land NRW angekauft und umgebaut. Seit 1974 steht es als Museum für die Bevölkerung offen. Es machte uns Vergnügen, dieses originalgetreu erhaltene Palais zu begehen, das wie eine kleine Tabakdose eingerichtet und verziert ist, wie es ein Besucher schon 1741 beschrieb. Heute gibt es zwar keine Jagdgeschehen mehr, das Wesen der Falknerei und wie es ausgeübt wurde wird anhand einer original eingerichteten Falknerstube und einer Ausstellung vermittelt. Von der barocken Gartenanlage der Brühler Schlösser war nicht viel zu sehen, der Schlossgarten lag noch in seiner Winterruhe. So ging es vom Jagdschloss direkt zum Bahnhof, und mit dem Zug zurück nach Bonn. Für den Abend war ein Besuch des Bonner Opernhauses vorbereitet. Das THEATER BONN, gemeinsam mit dem Staatstheater Darmstadt, zeigten die Geschichte der „Comedian Harmonist“, der ersten Boygroup der Welt. Von den anfänglich harten und langen Proben, ihren Erfolgen im vergnügungssüchtigen Berlin der goldenen zwanziger Jahre, bis

zum Höhepunkt, einem Auftritt in der Berliner Philharmonie. Aber auch vom Niedergang und Scheitern aufgrund des Auftrittverbots der Nationalsozialisten und der Streitereien innerhalb der Gruppe. Mit zahlreichen musikalischen Einlagen und Ohrwürmern, wie „Mein kleiner grüner Kaktus“ oder „Veronika, der Lenz ist da“, hatte auch der Abend einen historischen, einen mehr musikhistorischen Charakter. Dieses schöne, wenn auch regnerische, aber mit vielen Ereignissen ausgefüllte Wochenende klang mit einem gemütlichen Beisammensein aus. Montag 15. März 2010

Zentrum für internationale Zusammenarbeit Am Montagvormittag fand in Ergänzung zum Stadtrundgang „Weg der Demokratie“ ein Vortrag und eine Diskussion mit dem Leiter des Stadtplanungsamtes, Herrn Isselmann, statt. Es ging um die Umstrukturierung Bonns nach dem Wegzug der Regierung. Im Berlin-Bonn-Gesetz vom 26. April 1994 wurden der Bundesstadt Bonn wichtige politische Funktionen auf Dauer zugewiesen und damit Chancen für eine gute Entwicklung von Stadt und Region eröffnet. Eine faire Arbeitsteilung zwischen den beiden Städten und der Ausbau Bonns als Standort nationaler, inter- und supranationaler Einrichtungen wurden festgeschrieben. Die Ausgleichsvereinbarung, die der Stadt und der Region 1,43 Milliarden Euro zur Verfügung stellte, ermöglichte eine strukturelle Anpassung und damit eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Die Bundesstadt hat ihre internationale Kompetenz aus dem

Hauptstadterbe erfolgreich für die Weiterentwicklung umsetzen können. Dank der perfekten Infrastruktur hat sich Bonn zu einem Zentrum für internationale Zusammenarbeit entwickelt. Wie bereits am Samstag auf dem Rundgang festgestellt werden konnte, haben etliche UN-Organisationen und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen in Bonn niedergelassen. Auch die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Verknüpfungen mit aller Welt konnten erweitert werden. Sechs der 15 Bundesministerien haben ihren ersten Dienstsitz weiterhin am Rhein. Über 20 Bundesbehörden, darunter das Bundeskartellamt und der Bundesrechnungshof, sind nach Bonn gezogen und haben damit den Verlust an ministeriellen Arbeitsplätzen ausgleichen können. Auch die Qualität der Arbeitsplätze konnte erhalten bzw. noch verbessert werden. Wesentlich dazu beigetragen haben die Ansiedlung von inzwischen vier großen und acht kleineren Einrichtungen der Vereinten Nationen, darunter das UN-Klimasekretariat (UNFCCC), sowie rund 150 NGOs, die zusammen mit zahlreichen international arbeitenden Organisationen ein starkes Netzwerk bilden. Auch der Wandel von der öffentlichen zur privaten Dienstleistung ist gelungen. Zahlreiche international tätige Unternehmen, darunter die Deutsche Post World Net und die Deutsche Telekom mit etlichen Tochterfirmen, haben ihre Zentralen nach Bonn verlegt. Allein die IT-Branche beschäftigt in Bonn rund 15.000 Menschen. Und so könnte man die Liste um die positiven Entwicklungen im Wissenschafts- und

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Gemeinsamkeiten von Key West und Bangkok Klongs Kulturbereich, auch in enger Zusammenarbeit mit der Region, erweitern. Jedenfalls ist der Ausgleich des prognostizierten Verlustes von 15.000 Arbeitsplätzen innerhalb von 3 Jahren sehr gut gelungen. Mit diesen interessanten Informationen zur Stadtentwicklung war der Übergang zur Frühjahrstagung eingeleitet. Abschließend gilt es die hervorragende Planung von Ludwig von Hamm, mit lokaler

Unterstützung durch Fritz von Klitzing und Klaus Kosack, hervorzuheben. Zum 9. Mal wurde ein ausgezeichnetes Programm, mit Alternativen für jedes Wetter, bis ins Detail ausgearbeitet. Neben den kulturellen Höhepunkten wurde das leibliche Wohl nicht vergessen. Die Auswahl an Restaurants, sei es im Sudhaus, Weinhaus Jacobs oder im Brühler Hof, war wieder hervorragend. Der Dank aller Teilnehmer ist ihnen gewiss.

So freue ich mich schon auf das nächste Ex-AG Treffen am Wochenende vor der Statistischen Woche 2010, um auch in München wieder Kulturelles mit dem Beruflichen zu verknüpfen.

Dank an die Organisatoren

Anmerkung 1

Ein Blick in Wikipedia konnte später diese Frage klären: DHL sind die Anfangsbuchstaben der Familiennamen der Firmengründer Adrian Dalsey, Larry Hillblom und Robert Lynn.

Gemeinsamkeiten von Key West und Bangkok Klongs Martin Schlegel, Hagen

Key West, die äußerste Spitze der Keys, am südlichsten Punkt von Florida gelegen und mit dem Festland über 42 Brücken verbunden, 258 km von Miami entfernt, ist Vielen ein Begriff. Der eine war schon mal da. Hat auf dem Sunset Pier mit vielen Hundert anderen den Sonnenuntergang genossen, hat dort Akrobaten und Gaukler bewundert – und mit einem Dollar finanziert – und hat natürlich die Duval Street besucht: Bars und Geschäfte jeden Zuschnitts und gleich daneben Galerien vom Feinsten. Alles grell, bunt gemischt, eben tropisch. Sicher hat er oder sie auch die Marke US Southernmost besucht, von wo aus es bis Kuba nur 145 km sind.

Andere waren noch nicht da, haben Key West noch vor sich, wissen aber, dass Ernest Hemingway hier viele Jahre lebte. Hier schuf er Romane wie „In einem anderen Land“ sowie „Haben und Nichthaben“. Hier stand er mit großem Vergnügen am Tresen von Sloopy Joe’s oder anderen Bars und genoss den Alkohol. Noch etwas mehr im Süden und 15 800 km entfernt: Bangkok, Hauptstadt Thailands und 300 mal so viele Einwohner zählend wie Key West. Früher trug Bangkok den Beinamen „Stadt der Kanäle“, denn sie war einem dichten Netz von Kanälen (Klongs) durchzogen. Der Verkehr spielte sich zum Großteil auf diesen Klongs ab und selbst die Märkte fanden

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auf dem Wasser statt. Diese schwimmenden Märkte gibt es heute noch. Per Boot werden Obst, Geflügel, Fisch und viele andere schöne Sachen herangeschafft und gleich vom Boot aus verkauft. Das führt zu einem orientalischen Gewusel von Käufern und Verkäufern, Dieben und Aufpassern. Zwei Welten. Und wo liegt die Gemeinsamkeit? Sowohl bei „Bangkok Klongs“ wie bei „Key West“ handelt es sich um Gesellschaftsspiele. Gemeinsam ist ihnen zudem, dass sie noch gar nicht zu kaufen sind. Sie erscheinen erst zur Essener Spielemesse, die am 21. Oktober startet. Die Frage nach der nächsten Gemeinsamkeit, dem Autor, erübrigt sich wohl. Oder?

Hemingway 42 Brücken

Sunset Pier Sloopy Joe‘s

15.800 km Duval Street

Essen Klongs Kuba

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„Weltstadt mit Herz“, „Nördlichste Stadt Italiens“ oder „Heimliche Hauptstadt Deutschlands“?

Willkommen in München Uta Thien-Seitz, München

Marienplatz mit Rathaus (Foto: Michael Nagy, München)

Machen Sie sich selbst ein Bild – auf der Statistischen Woche 2010 in München, zu der wir Sie herzlich einladen möchten. Die Keimzelle Münchens war eine Niederlassung von Mönchen aus dem Kloster Schäftlarn auf dem Petersbergl. Das Münchner Stadtwappen, das einen Mönch im goldenen Talar zeigt, weist auf die Anfänge der Stadt hin. München wurde erstmals 1158 als Villa Munichen urkundlich erwähnt, nachdem Heinrich der Löwe, Herzog von Bayern und Sachsen, nahe der Mönchssiedlung rund um die Peterskirche eine Brücke über die Isar errichtet hatte. Dabei zerstörte er die weiter nördlich gelegene Brücke des Bischofs von Freising, um selbst vom reichen Salzhandel nach Augsburg zu profitieren.

Altstadt Rathausspieluhr (Foto: Michael Nagy, München) Münchener Stadtsilhouette (Foto: Michael Nagy, München)

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Dem besonderen Flair Münchens begegnet man besonders in der Altstadt, in dem sich das Wahrzeichen Münchens, die Frauenkirche mit ihren Doppeltürmen, der Marienplatz

– das Herz von München –, und der Viktualienmarkt befindet, wo Delikatessen aus aller Welt zum Verkauf angeboten werden. Inmitten der vielen Touristen trifft der Besucher tatsächlich noch echte Münchner, die sich im Biergarten ihre Weißwurst mit Brezn und süßem Senf oder eine Leberkässemmel holen und bei einem Münchner Bier entspannen.

Stadt des Bieres und des Oktoberfestes Bereits 1589 gründete Herzog Wilhelm V. das Hofbräuhaus, in der allerdings nur Bedienstete des Hofs essen und trinken durften. Erst ab 1828 steht das berühmteste Wirtshaus der Welt der Bevölkerung offen. Im Erdgeschoss, der sogenannten Schwemme, werden täglich bis zu 1000 l Bier ausgeschenkt. Auch das größte Volksfest der Welt – das Oktoberfest – ist eine weltweit bekannte Münchner Sehenswürdigkeit. Das Fest geht auf die Hochzeit des Kronprinzen Ludwig

im Jahre 1810 zurück, bei der auf der „Theresienwiesn“ – benannt nach der Braut des Kronprinzen – ein großes Pferderennen stattfand. Zum 200-jährigen Jubiläum findet 2010 in Anlehnung an die Ursprünge der Wiesn zweimal täglich ein kleines Pferderennen statt! Über 6 Millionen Besucher aus aller Welt trinken heutzutage in 14 großen (und einigen kleineren) Bierzelten (ca. 5.000 bis 9.000 Plätze allein im Zelt) mehr als 6 Millionen Liter Bier, essen mehr als 100 Ochsen und fast 500 000 Hendl. Auf der Wiesn trinkt der Bayer dann eine Maß mit „ß“. Alle anderen, teils abenteuerlichen, Schreibweisen von „Mass“ über „Maaß“ bis „Maas“ sind schlicht und ergreifend falsch. Ausgesprochen wird die Maß so, dass sie sich auf „Fass“ reimt, also mit einem kurzen „a“ in der Mitte und sie ist immer weiblich.

München – die Kulturmetropole Bei 71 Theatern, drei großen Orchestern und 50 Museen und Sammlungen ist für jeden Besucher Interessantes dabei. In der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts schlossen sich Maler zu Künstlergemeinschaften zusammen, die sich vor allem im Ortsteil Schwabing ansiedelten, so z.B. die Maler des „Blauen Reiters“, wie Wasilij Kandinsky und Gabriele

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WillKoMMEN iN MÜNCHEN Münter, Franz Marc, Paul Klee und die Schriftsteller thomas Mann und Bertolt Brecht, Frank Wedekind und Joachim ringelnatz. die alte Pinakothek zählt mit fast 9.000 Bildern großer europäischer Maler des 15. bis 18. Jahrhunderts zu den reichsten Gemäldesammlungen der Welt. als jüngste unter den drei Pinakotheken wurde im Jahr 2002 die Pinakothek der Moderne eröffnet, die gleich vier bedeutende Einzelmuseen beherbergt, darunter die Sammlung Moderne Kunst mit Meisterwerken des 20. Jahrhunderts von Picasso, Klee, Kandinsky, und die Staatliche Grafische Sammlung, in der Zeichnungen und Grafiken von leonardo da Vinci bis Cezanne zu finden sind. das Münchner Stadtmuseum befindet sich im ehemaligen Zeughaus am St.-Jakobs-Platz – gegenüber des Jüdischen Museums, das dort mit der neuen Synagoge und dem jüdischen Gemeindezentrum das neue Jüdische Zentrum bildet. das 1905 gegründete deutsche Museum gehört mit über einer Million Besucher jährlich zu den meistbesuchten Museen Europas und ist das größte technisch-naturwissenschaftliche Museum der Welt. Wahrzeichen des deutschen Museums ist sein 65 Meter hoher turm. Von oben hat man bei gutem Wetter Sicht bis hin zu den alpen. innen hängt ein Pendel, das sich langsam seitwärts schwingend bewegt und damit die Erdrotation veranschaulicht.

Erholung im Grünen der 1792 eröffnete Englische Garten ist einer der stimmungsvollsten und größten landschaftsparks in Europa.

Mit schönen alten Bäumen bepflanzt, zieht er sich mit einer Breite von 600 bis 1.000m auf ca. 2,2 km an der isar entlang. Mit einer Fläche von 4,17 km² übertrifft er sogar den Central Park in New York. der Schlosspark Nymphenburg entstand im Westen von Schloss Nymphenburg im französischen Stil. im 19. Jahrhundert wurde er größtenteils in einen englischen landschaftspark umgestaltet. Nördlich schließt sich der Botanische Garten an, südöstlich der ehemals kurfürstliche Hirschgarten. Bedeutend ist auch der olympiapark, der neben mehreren Seen auch einen hervorragenden Blick über die Stadt vom olympiahügel bietet.

Unser Tagungsort die ludwig-Maximilians-Universität (lMU) München ist eine der führenden Universitäten in Europa mit einer über 500-jährigen tradition. Sie nutzt ihren Erfolg in der Exzellenzinitiative, um ihr Profil als forschungsstarke „universitas“ in den nächsten Jahren zu schärfen und ihre Position international weiter auszubauen. in 18 Fakultäten forschen und lehren rund 700 Professorinnen und Professoren sowie etwa 3.300 wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie bieten ein breites und ausdifferenziertes Spektrum aller Gebiete des Wissens von Geistes- und Kultur- über rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften bis hin zur Medizin und den Naturwissenschaften. als echte „universitas“ hat die lMU den auftrag, für die zunehmend komplexer werdenden Zukunftsfragen um Mensch, Gesellschaft, Kultur, Umwelt und technologie, fächerübergreifend problemorientierte lösungsansätze zu entwickeln.

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die Studienmöglichkeiten sind mit rund 150 angeboten und zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten enorm breit. dieses angebot nutzen zurzeit rund 44.000 Studierende, davon rund 15 Prozent aus dem ausland. die leitidee der „universitas“ steht auch für umfassende Bildung, die soziale Kompetenzen sowie kritisches Werte- und Geschichtsbewusstsein einschließt. das Vermächtnis der Weißen rose, der studentischen Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus, gehört dazu.

9 000 Bilder

Weiße Rose

Rahmenprogramm Bei dem für die Statistische Woche geplanten rahmenprogramm ist sicherlich für jeden etwas dabei: Sei es das Münchner Stadtmuseum mit seiner ausstellung „typisch München“, Stadtführungen, der Englische Garten inkl. Biergartenbesuch, die Pinakothek der Moderne oder eine gemütliche Schifffahrt auf dem Starnberger See. Wir freuen uns darauf, Sie auf der Statistischen Woche in München begrüßen zu dürfen.

18 Fakultäten mit 700 Professoren

Über Statistik

:

Im Vorfeld de r Duisburger Love-P arade sprachen Veran stalter und Verwaltu ng von weit über 1 M illion Besuchern. Die Zahlen waren erstunke n und erlogen. Wan n lernen die eigentlich, Zahlen den Profis zu überlassen, z.B. Statis tikern?

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Von der Dienstbotenstatistik bis zum Zensus

Rückblick auf die Statistikertreffen Martin Schlegel, Hagen

Über die heutigen Themen der Statistik wissen wir gut Bescheid. Aber worüber haben unsere Vorgänger diskutiert? Was stand vor 50, 75 oder 100 Jahren auf der Tagesordnung der Statistiker? Ein solcher Rückblick ist relativ leicht möglich, denn 1975 brachte der VDSt eine Schrift heraus, in der die Berichte der bis dahin durchgeführten Tagungen aufgelistet sind. Der Dank dafür gebührt den Herren Naumann, Neeb, Preis und Sirp.

1910 – Posen Vor 100 Jahren tagte die „Konferenz der Vorstände Statistischer Ämter Deutscher Städte“ vom 7. bis 9. Juni in Posen. Das breit gefächerte Themenfeld umfasste u.a. folgendes: • Grundstückszählung 1910, • Dienstbotenstatistik, • Kommunale Arbeitslosenzählung, • Statistik der Säuglingsfürsorge, • Rentabilitätsberechnung städtischer gewerblicher Unternehmungen, • Ermittlung des Milchverbrauchs in den Städten , • Statistik der Baumaterialienpreise.

1935 – Königsberg 25 Jahre später fand die „Tagung des Verbandes der deutschen Städtestatistiker“ in Königsberg statt und zwar am 3. und 4. September. Obwohl das Treffen nur 2 Tage dauerte, war eine riesige Themenliste abzuarbeiten: 41 Berichte standen auf der Tagesordnung. Eine kleine, sicher subjektive Auswahl: • Der Einfluss nationalsozialistischer Gesetzgebung auf die Wohlfahrt des deutschen Volkes, • Die statistische Erfassung der Lebensmittelversorgung der Großstädte, • Die Finanzstatistik als Grundlage des Finanzausgleichs, • Neuberechnung der Reichindexziffer für die Lebenshaltungskosten, • Reichsfürsorgestatistik 1936, • Wünsche zur Krankenanstaltsstatistik für das Deutsche Reich, • Wohnungsbedarf, • Systematische Einteilung des Stadtgebiets, • Schulfinanzstatistik, • Lichtspielwesen.

1960 – Bremen Wieder 25 Jahre später war Bremen unser Gastgeber. Die „Tagung des Verbandes Deutscher Städtestatistiker“ fand dort am 22. und 23. November statt. Die Teilnehmer waren 60 Tagesordnungspunkten ausgesetzt, etliche drehten sich um den „Zensus 1961“. Daneben fand aber noch vieles andere Platz, beispielsweise: • Möglichkeiten regionaler Wirtschaftbeobachtung, • Stand und Entwicklung der Einsatzfähigkeit des Stimmenzählgerätes, • Statistik der Rundfunk- und Fernsehteilnehmer, • Probleme der zeitlichen Abgrenzung der Säuglingssterblichkeit, • Berechnung des Sozialproduktes für Großstädte, • Kriminalstatistik und Verkehrsdelikte, • Das Optidual-System bei der Einwohnerplattei, • Berechnung der Sitzverteilung bei den Kommunalwahlen Nordrhein-Westfalens. 74

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Buchbesprechung

Tabellen gestalten – aber mit Verstand Barbara Brokate, Coppenbrügge „Immer häufiger müssen sich Leser innerhalb weniger Sekunden entscheiden, ob sie einen Text oder eine Darstellung lesen oder in den Papierkorb werfen. Sollen andere auf die eigene Darstellung aufmerksam und vom eigenen Standpunkt überzeugt werden, … muss der systematischen Datenaufbereitung bzw. Datendarstellung große Beachtung geschenkt werden.“ (Seitz, S. 13) Wer überzeugen möchte, muss die Information inhaltlich interessant, leicht verständlich und optisch ansprechend darstellen. Dies gilt nicht nur zwischen Unternehmen und Kunden oder Behörden und Bürgern, sondern auch bei der internen Kommunikation. Obwohl Daten großen Raum einnehmen, wird die Tabellengestaltung eher stiefmütterlich behandelt. Es gibt viele Publikationen, die sich mit der Gestaltung von Grafiken befassen; dem gegenüber beschränken sich Veröffentlichungen bei Tabellen vielfach auf redaktionelle Vorgaben (z. B. DIN 55 301), um die Einheitlichkeit von Tabellen sicherzustellen. Der beim Statistischen Bundesamt in der 2. Auflage erschienene Band zur Tabellengestaltung geht weit darüber hinaus. Das Buch bietet eine komplexe grundlegende Ausarbeitung zum Thema Sinn und Zweck, Wirkung und Effektivität von Tabellen. Der Ansatz ist wissenschaftlich. Trotzdem lässt es sich leicht lesen und

verschafft in kurzer Zeit einen schnellen Überblick, wie die Lesbarkeit und damit die Verständlichkeit von Tabellen auch mit einfachen Mitteln der Datenanordnung und des Layouts verbessert werden kann.

Wünschenswert ist es, Tabellen zu erstellen, deren Strukturen von den Betrachterinnen und Betrachtern intuitiv erfasst werden und in denen die gewünschten Aussagen auf Anhieb verstanden und nachvollzogen werden. Je besser eine Tabelle aufgebaut ist, umso leichter ist es möglich, auch die zentralen Aspekte mit grafischen Mitteln besonders hervorzuheben. Die detaillierten Gestaltungsempfehlungen im Buch werden nicht nur ausführlich begründet, sondern auch anschaulich mit interessanten Beispielen verdeutlicht. Checklisten am Ende des Buches fassen die wesentlichen Gestaltungsalternativen noch einmal leicht nachlesbar zusammen. Fazit: Das Buch „Tipps und Tricks zur Gestaltung von Tabellen“ von Michael Seitz sensibilisiert auf sehr anschauliche

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Weise für eine gute, übersichtliche und interessante Wissensvermittlung in Tabellen. Es richtet sich an alle, die sich mit der Erstellung von Tabellen befassen. Es zeigt die Bedeutung eines guten Tabellenlayouts auf und gibt ein Instrumentarium für die Tabellengestaltung an die Hand. Insofern ist es für den Praktiker ebenso nutzbringend wie für den Wissenschaftler.

Seitz, Michael J.: Tipps und Tricks zur Gestaltung von Tabellen 2. überarb. Aufl., hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Reihe Statistik und Wissenschaft, Bd. 15, Wiesbaden 2010, ISBN: 978-3-8246-0869-0, 14,80 Euro

Martin Luther King hat Recht. Wenn die Sonne scheint, kann jeder Chef sein. Charakter zeigt sich erst beim Sturm.

Dieses Foto fanden meine Frau und ich auf einer Radtour am Rhein – in einem kleinen, besuchenswerten Hotel in einem kleinen, besuchenswerten Ort: im „The Homy Inn“ in Kaiserswerth, genau: Düsseldorf-Kaiserswerth. Martin Schlegel, Hagen

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Autorenverzeichnis Bleja, Martin, Diplom-Ingenieur, Stadt Hagen, Fachbereich Stadtentwicklung und Stadtplanung, martin.bleja@stadt-hagen.de Böckler, Dr. Stefan, Diplom-Sozialwissenschaftler, Stadt Duisburg, Amt für Statistik, Stadtforschung und Europaangelegenheiten, s.boeckler@stadt-duisburg.de Brokate, Barbara, Dipl.-Ing. Arch., wildArt, architektur & grafik, Coppenbrügge, b.brokate@t-online.de Cischinsky, Dr. Holger, Diplom-Volkswirt, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Institut Wohnen und Umwelt in Darmstadt, IWU, Darmstadt, h.cischinsky@iwu.de Faas, Prof. Dr. Thorsten, Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Wählerverhalten an der Universität Mannheim Falkenburg, Bettina, Stadt Moers, Fachbereich 3 - Interner Service, bettina.falkenburg@moers.de Hämer, Andreas, Pfarrer i.R., Großrosseln, a.haemer@web.de Haußmann, Michael, Diplom-Geograf, Statistisches Amt Stuttgart, Abteilungsleiter 12-3, michael.haussmann@stuttgart.de Höfflin, Prof. Dr. Peter, Evangelische Hochschule Ludwigsburg, p.hoefflin@efh-ludwigsburg.de Kopp, Alois, Leiter der Statistikstelle, Stadt Weiden in der Oberpfalz, alois.kopp@weiden-oberpfalz.de Kosack, Klaus-Peter, Diplom-Geograf, Leiter der Statistikstelle im Bürger- und Standesamt Bonn, klaus.kosack@bonn.de Maack, Dr. Udo, Diplom-Wirtschaftsingenieur, Geo Consultant, Berlin, geo-consult.berlin@t-online.de Menge, Hans, Diplom-Ingenieur, Bonn, hdmenge@yahoo.de Menn, Guido, B.Sc., Wirtschaftsinformatiker, Fachbereich 1, Statistik, Siegen, g.menn@siegen.de Notz, Dr. Gisela, Berlin, gisela.notz@fes.de Püttmann, Dr. Heike, Statistisches Amt der Landeshauptstadt München, heike.puettmann@muenchen.de Scharrer, Petra, Stellvertretende Leiterin der Statistikstelle, Stadt Weiden in der Oberpfalz, petra.scharrer@weiden-oberpfalz.de Schäfer, Josef, Diplom-Statistiker, Information und Technik NRW, Geschäftsbereich Statistik, josef.schaefer@it.nrw.de Schlegel, Martin, Diplom-Kaufmann, Amtsleiter a.D., Hagen, me.schlege@t-online.de Schmitt-Beck, Prof. Dr. Rüdiger, Professor für Politikwissenschaft - Politische Soziologie an der Universität Mannheim, Co-Projektleiter der German Longitudinal Election Study (GLES), schmitt-beck@uni-mannheim.de Sommerer, Ernst-Otto, Diplom-Sozialwissenschaftler, Dortmund, Amtsleiter Fachbereich Statistik, sommerer@stadtdo.de Thien-Seitz, Uta, Diplom-Statistikerin, Amtsleiterin, Statistisches Amt der Landeshauptstadt München, uta.thien@muenchen.de Wolfsteiner, Dr. Michael, Diplom-Geograph, Sachgebietsleiter, Bürgeramt, Statistik und Wahlen, michael.wolfsteiner@stadt-frank­ furt.de Wolsing, Ansgar, M.A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt German Longitudinal Election Study (GLES) am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES), Universität Mannheim Zöllner, Stefan, Diplom-Geograph, Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, stefan.zoellner@heidelberg.de

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