Stadtforschung Statistik – Ausgabe 2/2011

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Editorial

Das verrückte Labyrinth

„Das hat doch nichts mit uns zu tun“, sagt der eine. „Eigentlich schon“, entgegnet der andere, „wenn ich so an die Entscheidungswege in der Kommune denke.“ Der Erste hat Recht; denn in der Überschrift ist das Spiel gemeint. Es erschien 1986 und aus Anlass des Silbernen Jubiläums schreibt der Autor dieses Klassikers über das „Verrückte“ und andere Labyrinthe. Tief taucht das Trio vom Dresdner IÖR in die Praxis von Stadtumbaukonzepten ein. In mehreren Anwenderbeispielen gehen sie den Weg von der Einwohnerprognose zur höchst differenzierten künftigen Wohnungsnachfrage. Seidel-Schulze und Dohnke geben uns einen Überblick über das Monitoring. Schlichting befasst sich mit Bremen, wo er die Einflüsse innerstädtischer Segregation herausarbeitet: Bildung und Einkommen sind zentrale Momente, die auch bei dem Siegrist-Artikel über die Lebenserwartung eine große Rolle spielen. Der Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung ist enorm. „Stehen wir vor einem – kleinen – Babyboom?“ fragt die Leipzigerin Schultz. Für ihre Stadt lautet die Antwort „Ja“. Die gleiche Antwort gilt auch bei der Frage, ob Stuttgart eine tolerante Stadt sei. Bredl, Winker, Kötschau sind dem Umfragefälscher auf der Spur und Bukowski stellt für den Landkreis Kassel eine Wende bei der Jugenddelinquenz fest, ein Artikel, den man kopieren und ans Jugendamt schicken sollte. Auch die kürzeren Beiträge sind es wert, gelesen zu werden, und entführen Sie bis nach Kambodscha. Außerdem erfahren Sie einiges über unser neues Ehrenmitglied und den Gründer der Mannheimer Statistik wie auch über die rührige Ex-AG. Und Hubert Harfst legt dar, dass „unwahrscheinlich“ nicht „unmöglich“ bedeutet. Martin Schlegel, Hagen

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 2 • 2011

Streiflichter

Umfragen

Methodik

Inhalt

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Seite

Irene Iwanow, Holger Oertel, Daniel Eichhorn, Dresden

Das IÖR-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadt­ umbaukonzepten

Antje Seidel-Schulze, Jan Dohnke, Berlin

Kleinräumige Analysen zur Sozialen Stadtentwicklung Monitoringsysteme – Stand und Potenziale

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Karl Schlichting, Bremen

Kleinräumige Bremer Analyse – Wanderung, Bildung, Einkommen Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

16

Andrea Schultz, Leipzig

Analyse des Gebärverhaltens in Leipzig Babyboom – aber warum?

41

Eberhard Schubert, Erfurt

Geburtenziffer im Vergleich von alten und neuen Ländern Elterngeld zeugt keine Kinder

47

Hubert Harfst, Hannover

Hannover ist wieder da

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Alexandra Klein, Tübingen

Vielfältige Aspekte der Toleranz Stuttgart – eine tolerante Stadt!?

28

7

Benfords Gesetz und Clusteranalyse Sebastian Bredl, Peter Winker, Dem Umfragefälscher auf der Spur Kerstin Kötschau, Gießen

37

Petra Elsner, Kurtschlag

Der Alchimist und der Herr der Tautropfen

65

Max Kobbert, Münster

Eine bewegliche Immobilie feiert silbernes Jubiläum Das verrückte Labyrinth

76

Ernst-Joachim Richter, Oberhausen

Ein (Ex-) Statistiker auf Reisen Angkor Wat – eigentlich unbeschreibbar

78

Martin Schlegel, Hagen

Vor dem Beginn

81

Andreas Hämer, Großrosseln

Mount Rainer

81

Hubert Harfst, Hannover

Plötzlich reich? Unwahrscheinlich wahrscheinlich

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Stadtforschung und Statistik 2/ 2011


Internes

Seite

Rudolf Schulmeyer, Frankfurt am Main

100 Jahre Deutsche Statistische Gesellschaft – 100 Jahre Partnerschaft mit dem Verband Deutscher Städtestatistiker

5

Martin Schlegel, Hagen

16 000 000 – und dann?

40

Martin Schlegel, Hagen

Fehler 2011

63

Rudolf Schulmeyer, Frankfurt am Main

Prof. Dr. Heinz Grohmann wurde 90 und Ehren­ mitglied im Verband Deutscher Städtestatistiker

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Sophie Scharf, Mannheim Zahl ohne Wort ist Zahlenmord! Das Leben eines Städte­statistikers

67

Eberhard Schubert, Erfurt Ex-AG immer vorne dran!?

68

Annetraut Monz, Gießen

Treffen der Ex-AG in Erfurt Auf den Spuren Martin Luthers und des Erzbischofs von Mainz

69

Martin Schlegel, Hagen

Göttinger Absacker (K)ein Abschied

72

Ruth Schmidt, Leipzig

Auf nach Leipzig!

73

Martin Schlegel, Hagen

Die Ex-AG unterwegs Große Stichprobe

75

Klaus Frank, KaisersNeue VDSt-ler stellen sich vor lautern, Renée Junghans, Mit Statistik in die Spielbank Zwickau, Axel Stender, Moers

Rubriken

Extra

Martin Schlegel, Hagen

80

Subhastationen – Kriegswirtschaft – Krebs-Statistik Rückblick 1911 – 1936 – 1961

83

Johannes Siegrist, Düsseldorf

Wer lebt länger? Soziale Umwelt und Gesundheit

49

Ruth Schmidt, Dresden

Schon lange ein Thema Volkszählung? Wieso? Fehlt jemand?

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Jens Bukowski, Kassel

Jugendgerichtshilfestatistik des Landkreises Kassel 2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugend­ delinquenz

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Editorial: Das verrückte Labyrinth

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Bevor der Ernst beginnt: Helga und Helmut

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Impressum

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Autorenverzeichnis

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Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Bevor der Ernst beginnt

Helga und Helmut

Es ist wirklich nicht ungewöhnlich, dass Statistiker lachen. Ungewöhnlich war aber schon, was sich beim gemütlichen Beisammensein am Rande der Statistischen Frühjahrstagung in Bielefeld ereignete. Am Nachbartisch hatte jemand etwas erzählt und alle lachten. Alle? Nur alle Frauen. Was war passiert? Andrea hatte die Geschichte von Helga (60) und Helmut (62) erzählt. Diese beiden – seit langem verheiratet – hatten Gutes getan. Das war so toll, dass der Erzengel Gabriel höchstpersönlich bei ihnen erschien und drei Wünsche offerierte. Einen gemeinsamen und für jeden einen eigenen. Der gemeinsame Wunsch war klar: Am Apfelbaum sollten sofort Apfelsinen wachsen. Gabriel schnippte kurz mit den Fingern und der Wunsch war erfüllt. Während Helmut noch staunte, schoss Helga los: „Ich wünsche mir die schönste Perlenkette der Welt.“ Wieder ein kurzes Fingerschnippen und um Helgas Hals hing eine Kette von unglaublicher Schönheit. Nun war Helmut an der Reihe: „Ich wünsche mir eine Frau, die 30 Jahre jünger ist als ich.“ Auch das war für Erzengel Gabriel kein Problem, wieder einmal schippte er mit seinen Fingern – Helmut war 90. Als sich das Lachen verzogen hatte, was eine ganze Weile dauerte, fragte einer der Herren: „Warum eigentlich leben Frauen 7 Jahre länger als Männer?“ und gab sich selbst die Antwort: „Das ist der Ausgleich für den Zeitverlust beim Einparken!“ Martin Schlegel, Hagenn 4

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011


100 Jahre Deutsche Statisti­sche Gesellschaft – 100 Jahre Partnerschaft mit dem Verband Deutscher Städtestatistik Rudolf Schulmeyer, VDSt-Vorsitzender, Frankfurt am Main

Die DStatG feiert in diesem Jahr ihr 100-jähriges Gründungsjubiläum. VDSt und DStatG sind nicht nur über ihre historischen Wurzeln verbunden, sie sind auch seit 1928 durch die Ausrichtung der Statistischen Woche Veranstaltungspartner. Mit kurzen Unterbrechungen ist die Statistische Woche 2011 in Leipzig der 75. gemeinsame Fachkongress für Statistik in Deutschland. Als 1911 die Gründungsversammlung der DStatG im „alten Stadtverordnetensaale“ in Dresden zusammentrat, hatten 84 Vertreter der Statistik im deutschsprachigen Raum das Anliegen unterstützt, eine eigenständige Plattform für den wissenschaftlichen Austausch zwischen amtlicher Statistik und Universitätsstatistik zu schaffen. Damals bestehende nationale Plattformen auch für Statistiker waren der 1873 gegründete Verein für Socialpolitik, vor allem aber die Treffen im System der amtlichen Statistik und seit 1879 auch die Conferenz der Directoren der statistischen Bureaus deutscher Städte. Nach inneren Auseinandersetzungen spaltete sich 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie vom

Verein für Socialpolitik ab. Sie sollte zur Keimzelle für eine eigenständige Statistische Vereinigung werden. Georg von Mayr, der Mitbegründer der modernen amtlichen Statistik, hat 1911 zur Gründung der DStatG aufgerufen. Er wurde ihr erster Vorsitzender. Aufgabe der Gesellschaft sollte es sein, „die Statistik vornehmlich nach ihrer wissenschaftlichen Seite hin zu pflegen“. Bereits 1899 war aber sein Blick schon weiter gerichtet: „Unmittelbarer als das der Zukunft zu überlassende Vereinsleben kann durch die Tages- und durch die Fachpresse dahin gearbeitet werden, dass die große Masse der Gebildeten lernt, mit der Statistik und ihren Ergebnissen vertrauter zu werden.“1 Sein seit 1890 herausgegebenes Allgemeines Statistisches Archiv wurde zur Fachzeitschrift der DStatG. Unter den 84 Gründungsmitgliedern der DStatG kamen 60 aus der amtlichen Statistik, darunter 34 aus der Städtestatistik. Die Abgrenzung ist allerdings fließend, weil die amtlichen Statistiker auch oftmals als Hochschullehrer tätig waren. Unter den Städtestatistikern waren vier frühere oder künftige VDSt-Vorsitzende. Ein

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renommierter Vertreter beider Richtungen war Sigmund Schott, der Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Mannheim. Er notierte in einem (vermutlich unveröffentlichten) Manuskript über das gleichzeitig stattfindende Treffen der Städtestatistiker: „Die XXV., also Jubiläumskonferenz 1911, wurde wieder in Dresden abgehalten, wo gleichzeitig abermals eine Ausstellung, die sehr lehrreiche und vortrefflich aufgemachte Hygiene-Ausstellung zu sehen war. Wie alle Kongresse in Dresden war auch diese Tagung sehr gut aufgezogen, man aß und trank aufs Beste und ich erfreute mich zum so und so vieltem Male der sauberen schönen Stadt.“ Einige Jahre später, 1929, fand die zweite gemeinsame Statistische Woche von VDSt und DStatG in Köln statt. Ein Thema war die Entwicklung der vergleichenden Städtestatistik und ihre Bedeutung für die Verwaltung. Aber auch Finanzstatistik und Finanzausgleich sowie Gesundheitsstatistiken und Formen der Bild-Statistik standen auf der Tagesordnung. Auf dem Foto vor der Kölner Messe sind die Tagungsteilnehmer von DStatG und VDSt versammelt,

Partner seit 1928

Gründung in Dresden

5


100 Jahre Deutsche Statisti­sche Gesellschaft

Köln 1929

Der VDSt gratuliert

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vorn in der Mitte im hellen Mantel der DStatG-Vorsitzende Friedrich Zahn (Präsident des Bayerischen Statistischen Landesamts). Für den Betrachter zweiter rechts neben ihm ist Paul Weigel, VDSt-Vorsitzender und Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Leipzig, einer der Mitbegründer der DStatG. Die Statistischen Wochen sind das gemeinsame Markenzeichen geblieben. Sie sind mit der Ausdifferenzierung der Universitätsstatistik und der Anwendungsgebiete in Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer fachlichen Breite und Tiefe gewachsen. Das Thema Demografie ist durch die Beteiligung einer weiteren statistischen Gesellschaft, der DGD, regelmäßig präsent. Bestand hat das Konzept, in wechselnden Städten auf Einladung einer gastgebenden Stadt zu tagen. Dies ist regelmäßig mit einer besonderen Wertschätzung für die Statistik verbunden. Die Statistische Woche führt Statistik-Vertreter/innen aus Wissenschaft, amtlicher Statistik einschließlich der Städtestatistik, Instituten, Unternehmen und Verbänden zu einem fruchtbaren fachlichen Austausch zusammen, als Ideenbörse, zur Vergewisserung über den aktuellen Forschungs- und Erkenntnisstand und zur Fortbildung. Die Städ-

testatistik steuert die Fragestellungen und Lösungen bei, die aus ihrer spezifischen Aufgabe resultieren, nämlich dem Informationsmanagement zur Sicherung der kommunalen Planungshoheit und der selbstverwalteten Daseinsvorsorge in den Städten. Jüngste Themen waren z.B. Wählen und Nichtwählen, Georeferenzierung und räumliche Analysen oder diesmal in Leipzig Lebensqualität in Stadtquartieren – Beobachten, Bewerten, Gestalten. Für den VDSt ist der DStatGAusschuss für Regionalstatistik ein weiteres wichtiges Bindeglied. Der Datenbedarf der Kommunalstatistik ist vor allem kleinräumig, aber auch auf regionale Strukturen und den Städtevergleich gerichtet. Mit der Georeferenzierung und der fortschreitenden Bedeutung von Registerstatistiken in der amtlichen Statistik wird auch die Frage drängender, wie die abgeschotteten kommunalen Statistikstellen für ihren Geschäftsbereich Zugang zu dieser Datenbasis erhalten können. Dritte Klammer ist die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Statistik DAGStat, in der Vertreter der DStatG besondere Verantwortung tragen. Die DStatG gehört zu den Initiatoren des im Jahr 2005 gegründeten Verbunds

von wissenschaftlichen Fachgesellschaften und Berufsverbänden, die die Fortentwicklung statistischer Theorie und Methodik zu ihren wesentlichen Aufgaben zählen. Der VDSt war von Anfang an dabei; heute gehören der DAGStat 14 statistiknahe Fachgesellschaften oder Sektionen an. Die Arbeitsgemeinschaft will ein Forum für gemeinsame Aktivitäten und Öffentlichkeitsarbeit bieten und somit eine stärkere Wahrnehmung der Statistik in Wissenschaft und Öffentlichkeit erreichen. Auch der VDSt ist diesem Ziel verpflichtet. Besonders wichtig auch aus Sicht des VDSt sind die Diskussionen und Empfehlungen der DStatG zur Zukunft der Statistikausbildung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Der VDSt gratuliert der Deutschen Statistischen Gesellschaft in langer Verbundenheit zum 100-jährigen Bestehen. Wir freuen uns auf die Jubiläumsfeier während der Statistischen Woche in Leipzig und auf viele weitere gemeinsame Statistik-Aktivitäten in einer „Kultur der Neugier“.

Anmerkung

1 Vgl. die Festschrift „Statistik in Deutschland, 100 Jahre Deutsche Statistische Gesellschaft“, herausgegeben von Heinz Grohmann, Walter Krämer und Almut Steger im Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2011

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011


Das IÖR-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“

Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten Irene Iwanow, Holger Oertel, Daniel Eichhorn, Dresden

Aufbau und Ergebnisbeispiele des IÖR-Internet-Rechenpro­ gramms „Kommunale Woh­ nungsnachfrageprognose“ wurden zusammen mit einem ­ Überblick über die Programmnutzung im Heft 1/2011 dieser Zeitschrift bereits vorgestellt (Iwanow, Eichhorn und Oertel 2011). In dem jetzigen Beitrag liegt der Schwerpunkt auf Anwenderbeispielen von Kommunen, welche bei der Erarbeitung ihrer Integrierten Stadt­ entwicklungskonzepte das Internet-Rechenprogramm des IÖR nutzten. Dieses wird als wissenschaftliche Dienstleis­ tung des Leibniz-Instituts für ökologische Raumentwicklung e.V. im Rahmen der Gesellschafts- und Politikberatung angeboten und steht allen Interessenten seit 2002 kostenfrei auf der Homepage des IÖR unter www.ioer.de/Wohnungsprognose zur Verfügung. Nach wie vor ist die Nachfrage groß. Bis Mai 2011 wurden mehr als 51.200 Zugriffe gezählt und insgesamt sind 1.765 Szenarienrechnungen zu diesem speziellen Thema bekannt.

Stadtumbau Ost: Anwenderbeispiel Hansestadt Wismar Das Internet-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ wurde als Re-

chenhilfe für die Erarbeitung der Integrierten Stadtentwicklungskonzepte beim Wettbewerb „Stadtumbau Ost“ erarbeitet und auch häufig genutzt. Für die Hansestadt Wismar (Meck­ lenburg-Vorpommern) liegen mehrere Prognosen und Szenarien auf der Basis der IÖR-Methode vor. Die erste Wohnungsnachfrageprognose stammt aus dem Jahr 2002 und gehört neben den Wettbewerbsbeiträgen von Wolgast und Barth zu den prämierten Konzepten mit Nachfrageprognosen nach dem IÖR-Prognoseansatz. Die hier angesprochenen Szenarien „Prozesskonstant“ und „Regional-realistisch“ stammen aus der Fortschreibung des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes 2005 (WIMES 2005). Die Szenarien zur zukünftigen Wohnungsnachfrageentwicklung basieren auf der Datenbasis 2004 und einer Analyse zur Gliederung des Gebäudebestandes nach 4 Bebauungsstrukturtypen (BST): BST 1: Ein- und Zweifamilienhausbebauung, Reihenhausbebauung BST 2: offene und geschlossene Blockstrukturen in integrierten gewachsenen Stadtvierteln (Stadtkern, Gründerzeitgebiet) BST 3: traditionell errichtete Wohngebiete

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

BST 4: industriell errichtete Wohngebiete Die Stadtverwaltung Wismar führte Umzugsanalysen zwischen den einzelnen Stadtteilen durch, welche die Basis für die Umzugs- und Bleibe­ wahrscheinlichkeiten der Wohnpräferenzmatrizen der drei Haushaltstypen bildeten (WIMES 2005, 24). Gegenüber dem Basiszeitraum weisen die Umzugsmatrizen in den einzelnen Szenarien und Prognose­ zeiträumen Modifikationen auf. Auch die Umzugs- und Bleibe­ wahrscheinlichkeiten der einzelnen Haushaltstypen lassen die unterschiedlichen Verhaltensweisen der Haushalte gut erkennen und gerade durch diese anspruchsvolle Wohnpräferenzstatistik und -einschätzung ist der Ansatz der Hansestadt Wismar als Anwenderbeispiel besonders interessant. Einige wenige Ergebnisse werden überblicksartig vorgestellt, weitere Ergebnisse können in der Fortschreibung des Inte­ grierten Stadtentwicklungskonzeptes der Stadt Wismar nachgelesen werden (WIMES 2005). Für die Stadt Wismar wird ein Bevölkerungsrückgang von 24,0 % (Szenario „Regional-realistisch“) und 27,2 % (Szenario „Prozesskonstant“) für den Zeitraum 2005 bis 2020 prognostiziert.

IÖR = Institut für ökologische Raumentwicklung

Umzugs- und Bleibe­ wahrscheinlichkeiten

7


Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten

7 Bebauungs­ strukturtypen

Stabilisierung und Weiterentwicklung

Die Bevölkerungsrückgänge allein aus der natürlichen Entwicklung betragen dabei 16,1 %. Korrespondierend zur prognostizierten Bevölkerungsschrumpfung muss mit Haushaltsrückgängen von 17,0 % (Szenario „Regionalrealistisch“) bzw. 20,1 % (Szenario „Prozessorientiert“) gerechnet werden. Auf der Basis der erwarteten hohen Schrumpfungsdynamik wurden folgerichtig auch Wohnungsnachfragerückgänge ermittelt. Im Szenario „Regional-realistisch“ betreffen diese drei der vier Bebauungsstrukturtypen: BST 1: -16,9 % BST 2: -25,6 % BST 4: -19,9 % Nur im BST 3 „traditionell er­richtete Wohngebiete“ dürfte die Nachfrage etwa konstant bleiben. Ohne Woh­ nungsabgang, Wohnungsrück- und Wohnungsneubau würde die Zahl leer stehender Wohnungen­um mehr als 6.700 Wohneinheiten steigen. Ein Vergleich zwischen der prognostizierten und der realen Be­ völkerungsentwicklung zeigt, dass es der Stadt Wismar auf der Basis der prognostizierten Be­völkerungsentwicklung und ihrer guten Konzepte der Stadt­ planung gelungen ist, die prognostizierten Bevölkerungsver­ luste und steigende Wohnungs­ leerstandsentwicklung ab­zu­ bremsen.

Stadtumbau West: Pilotprojekte Oer-Erkenschwick und Pirmasens Im Fokus der Pilotprojekte des Forschungsfeldes „Stadtumbau West“ stehen vor allem spezifische Fragestellungen der städtebaulichen Entwicklungs- und Umbaukonzepte. Im Weiteren werden die Anwenderbeispiele „Oer-Erken8

schwick“ und „Pirmasens“ vorgestellt. Beide Beispiele der erarbeiteten Wohnungsnachfrageprognosen sind nach sieben Bebauungsstrukturtypen differenziert, welche sich durch die frei wählbaren stadtspezifischen Bebauungsstrukturen deutlich unterscheiden. Neben den auszuwählenden Gliederungen der Gebäudestruktur ist im Internet-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ des IÖR auch die Anzahl der Bebauungsstrukturtypen variabel. Dadurch besitzt das Programm eine hohe Flexibilität hinsichtlich der möglichen Anwenderfälle.

Stadtentwick­ lungskonzept Oer-Erkenschwick Im Pilotprojekt „Oer-Erkenschwick“ (Kreis Recklinghausen im Regierungsbezirk Müns­ter) geht es vor allem um die Stabilisierung und Weiterentwicklung des Wohngebietes „Schillerpark“. Das „Stadtentwicklungskonzept Oer-Erkenschwick 2015“ (BKR Essen 2005) enthält eine umfangreiche Wohnungsmarktanalyse und städtische Wohnungsnachfrageprognose. Basis der Ermittlung der Wohnwünsche der Privathaushalte in OerErkenschwick bildete eine im Jahr 2004 durchgeführte Haushaltsbefragung auf der Basis einer „repräsentativen Stichprobe von rund sechs Prozent der Oer-Erkenschwicker Haushalte … zu Haushaltsund Wohnungstyp, Wohnwünschen …“ (BKR Essen 2005, 37). Zwischen 2000 und 2003 verlor Oer-Erkenschwick 1,6 % der 31.000 Einwohner. Die Bevölkerungsprognose wurde in Zusammenarbeit mit dem Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW (LDS)

mit unterschiedlichen Wanderungsannahmen in fünf Varianten gerechnet. Ein jährlicher Wanderungsgewinn von 100 Einwohnern pro Jahr könnte die Bevölkerungszahl in OerErkenschwick bis 2015 nahezu konstant halten. Die Wohnungsnachfrageprognose für Oer-Erkenschwick basiert auf der extern ermittelten Bevölkerungsprognose „Szenario 1“ mit einer um 5,3 % sinkenden Bevölkerungszahl bis 2020. Die angenommene Haushaltsverkleinerung von 2,15 Personen pro Haushalt im Basisjahr 2004 auf 2,04 Personen pro Haushalt im Prognosejahr 2020 führt zunächst zu einem leichten Haushaltszuwachs bis ca. 2013 und anschließend zu einem leichten Haushaltsrückgang. 2020 dürfte in OerErkenschwick die Zahl der Privathaushalte 0,4 % unter dem Niveau von 2005 liegen. Die Wohnungsnachfrageprognose stützt sich auf eine Wohnungsmarktanalyse nach sieben Bebauungsstrukturtypen (BKR Essen 2005, 37): BST 1: Ein- und Zweifamilien­ häuser, bis Baujahr 1950 BST 2: Ein- und Zweifamilien­ häuser, Baujahr 1951–1960 BST 3: Ein- und Zweifamilien­ häuser, Baujahr 1961–2004 BST 4: Mehrfamilienhäuser bis Baujahr 1950 BST 5: Mehrfamilienhäuser, Baujahr 1951–1960 und Baujahr 1961–1970 bis 3 Geschosse einschließlich BST 6: Mehrfamilienhäuser, Bau­jahr 1961–1970 mit 4 oder mehr Geschossen und Baujahr 1971–1980 BST 7: Mehrfamilienhäuser , Baujahr 1981–2004

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011


Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten Basis der ermittelten Umzugsund Bleibewahrscheinlichkeiten bildete die Haushaltsbefragung „Wohnen und Wohnwünsche in Oer-Erkenschwick“ zu den Umzügen der letzten fünf Jahre bzw. der geplanten Umzüge in den kommenden fünf Jahren. Trotz der rückläufigen Zahl der Familienhaushalte (Haushalte mit drei oder mehr Personen) von 7,0 % wird in Oer-Erkenschwick die Nachfrage in den Ein- und Zweifamilienhäusern weiter zunehmen: BST 1: + 1,3 % BST 2: + 4,0 % BST 3: +12,9 % Diese steigende Nachfrage nach insgesamt ca. 666 Wohnungen dürfte voraussichtlich nicht mehr im Bestand zu decken sein. Für die Mehrfamilienhausbestände der Vorkriegsund unmittelbaren Nachkriegsbebauung sowie der Geschosswohnungsbestände bis Baujahr 1970 bis maximal 3 Geschosse wurden teilweise deutliche Nachfragerückgänge ermittelt: BST 4: ‑26,0 % BST 5: ‑ 8,4 % Im BST 6 ist ein leichtes Nachfrageplus von 0,2 % und im BST 7 ein leichter Nachfragerückgang von 0,4 % zu erwarten. Hier handelt es sich vor allem um neu gebaute Mehrfamilienhäuser. Das Stadtentwicklungskonzept der Stadt Oer-Erkenschwick setzt auf der kurz vorgestellten Wohnungsnachfrageprognose bis 2017 auf und leitet daraus Anpassungsstrategien, wie z. B. den geordneten Teilrückbau von Wohnungen im innerstädtischen Wohngebiet „Schillerpark“ mit gleichzeitiger Aufwertung des Wohnumfeldes ab (BKR Essen 2005, 105–108, 133).

Wohnbaustudie Pirmasens Das Ziel des Pilotprojektes „Stadtumbau West – Pirmasens“ ist die erstmalige Erstellung einer Wohnbaustudie mit der Erfassung der aktuellen und der Einschätzung der zukünftigen Wohnungsmarktentwicklung. Für die Stadt Pirmasens in Rheinland-Pfalz war es ohne einen zusammenhängenden Überblick über die kommunale Wohnungsmarktentwicklung schwierig, die Auswirkungen der drastischen Bevölkerungsschrumpfung auf die zukünftige Nutzung der Wohnungsbestände abzuschätzen. Im Auftrag der Stadt Pirmasens erstellte das Büro Bachtler, Böhme & Partner (2005) ihre Wohnbaustudie auf der Basis des IÖR-Internet-Rechenprogramms „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“. Für die Differenzierung nach Bebauungsstrukturtypen wurde eine Analyse der 11.300 Gebäude in den 1.200 statistischen Bezirken durchgeführt. Die insgesamt 11 herausgearbeiteten Typen mussten für die Anwendbarkeit des IÖR-In­ ternet-Rechenprogramms noch zu maximal sieben Bebauungsstrukturtypen verdichtet werden (Bachtler, Böhme & Partner 2005, 7): BST 1: Ein- und Zweifamilienhausbebauung

BST 2: Mehrfamilienhaus­ bebauung, mit Baujahr bis 1945 BST 3: Mehrfamilienhaus­ bebauung, mit Baujahr bis 1969 BST 4: Mehrfamilienhaus­ bebauung, mit Baujahr bis 1989 BST 5: Mehrfamilienhaus­ bebauung, mit Baujahr seit 1990 BST 6: Alten- und Pflegeheime BST 7: Sonstige bebaute und unbebaute Bereiche Dabei nimmt der Bebauungsstrukturtyp „Alten- und Pflegeheime“ eine Sonderstellung unter den Bebauungsstrukturtypen ein, da es sich weniger um eine bestimmte Bauform, als vielmehr um eine spezifische Nutzergruppe handelt. Insofern ist dieser Bebauungsstrukturtyp mit Besonderheiten belegt. Die Basisdaten der Bevölkerungsprognose beziehen sich auf das Jahr 2002. Entsprechend der bislang fehlenden Wohnungsmarktbeobachtung in Pirmasens beanspruchte die Schaffung der für das Rechenprogramm erforderlichen Datengrundlage viel Zeit. Gerade die Ermittlung der Wohnungswechsel der drei Haushaltstypen zwischen den sieben Bebauungsstrukturtypen (Tab. 1) erwies sich als sehr zeitaufwendig, aber lohnend.

Weniger Familien, mehr Einfamilienhäuser

Tab. 1: Umzugsverhalten der „Älteren 1- bis 2-PersonenHaushalte (ab 45 Jahre)“ in Pirmasens (Quelle: Bachtler, Böhme & Partner 2005, 14)

… wohnen am Jahresende … Haushalte in BST … (in %) Von den zu Jahres­anfang im BST … wohnenden Haushalten (Ausgangswert jeweils 100%

BST 1

BST 2 BST 3

BST 4

BST 5

BST 6

BST 7

BST 1

97,74

0,48

0,56

0,28

0,00

0,88

0,06

BST 2

1,13

94,12

2,57

0,21

0,18

1,65

0,14

BST 3

1,04

2,33

94,55

0,48

0,00

1,49

0,11

BST 4

0,89

0,63

2,16

94,55

0,00

1,77

0,00

BST 5

0,00

3,09

0,00

0,00

94,85

1,03

1,03

BST 6

0,21

0,21

0,10

0,00

0,00

99,48

0,00

BST 7

0,28

0,71

0,28

0,00

0,28

0,00

98,45

Präferenzwert Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

101,29 101,57 100,22 95,52

95,31 106,30 99,79 9


Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten Für die Abschätzung der möglichen zukünftigen Entwicklungen in Pirmasens wurden drei Szenarien gewählt, die sich nur hinsichtlich der Wanderungsannahmen unterscheiden: • Szenario A: „Pirmasenser Modell“ (durchschnittliche Wanderungen der Jahre 1978-2002) • Szenario B: „RheinlandPfalz 2050“ (Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz) • Szenario C: „Pirmasens im Aufbruch“ (Wanderungsverluste reduzieren sich) 9% weniger Haushalte

3 wichtige Fehlerquellen

10

Am Beispiel des Szenarios A „Pirmasenser Modell“ wird deutlich, dass bis 2017 mit einer Bevölkerungsschrumpfung von 15,2 % und einem Rückgang nachfragender Haushalte von 9,1 % zu rechnen ist. Im positiven Szenario C sind es 13,5 % Bevölkerungs- und 7,4 % Haushaltsverluste und im Szenario B 17,7 % bzw. 11,2 %. Unabhängig von der konkreten Höhe der Wanderungen ist in Pirmasens sowohl mit weiterer Bevölkerungsschrumpfung, einer rückläufigen Zahl nachfragender Haushalte und einer Zunahme der Wohnungsleerstände unausweichlich zu rechnen. Im Ergebnis der Nachfrageprognose sind Nachfragerückgänge in 5 von 7 Bebauungsstrukturtypen zu erwarten. Zu diesem Ergebnis führen alle drei Szenarien. Die geringsten Nachfrageverluste sind im BST 1 „Ein- und Zweifamilienhausbebauung“ und im BST 5 „Mehrfamilienhausbebauung mit Baualter seit 1990“ zu erwarten. Ganz anders sieht das im Strukturtyp 6 „Alten- und Pflegeheime“ aus. Hier werden deutliche Zuwächse prognostiziert (Bachtler, Böhme & Partner 2005, 60). Infolge der spezifischen Wahl des Bebauungs-

strukturtyps 6 und damit der Auswahl der Nutzergruppe der Hochbetagten ist zu beachten, dass dem für die Alten- und Pflegeheime prognostizierten Nachfragezuwachs von mehr als 200 % auch eine besonders hohe Sterblichkeitsrate der Nutzergruppe gegenüber steht. Deshalb sollten speziell in diesem Fall weiterführende Analysen zur Zahl frei werdender Wohnungen durchgeführt werden. Ansätze hierfür wurden im Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. für die Zahl der frei werdenden Wohnungen in der Nachkriegssiedlung OrschelHagen in Reutlingen entwickelt (Schöfl et al. 2005).

Erreichte Qualität der Prognose­ rechnungen Die Ergebnisse der durch die Programmnutzer erstellten Bevölkerungs- und Haushaltsprognosen zeigen, dass in aller Regel sehr plausible Ergebnisse erzielt wurden. Dabei ist das Ergebnisspektrum erwartungsgemäß groß und reicht bei der Bevölkerungsdynamik der ausgewählten Prognoserechnungen für 103 Kommunen von -55,4 % bis +23,4 % in einem Zeitraum von 15 Jahren. Die prognostizierte Dynamik der Haushaltsentwicklung reicht entsprechend von -51,9 % bis +28,0 %. Für die Mehrzahl der Kommunen werden Bevölkerungs- und Haushaltsverluste prognostiziert. Die Spannweite ist bei den ostdeutschen Kommunen mit weniger als 10.000 Einwohnern mit -55,4 % bis +1,0 % besonders hoch. Trotz der z. T. recht unterschiedlichen Szenarienannahmen durch verschiedene Nutzer ist ein direkter Zusammenhang zwischen Bevölkerungs- und Haushalts-

dynamik erkennbar (Abb. 1). Nur wenige Nutzer verwendeten Annahmen, die zu sehr unwahrscheinlichen Ergebnissen führten. Beispielsweise erscheint ein Haushaltswachstum von 28,0 % bei gleichzeitiger Bevölkerungsschrumpfung von 1,6 % eher in den Bereich einer Ausnahme oder einer Testrechnung zu gehören. Auf jeden Fall zeigt sich, dass der Programmnutzer für seine Eingabedaten, Szenarienannahmen und Plausibilitätsprüfungen selbst die Verantwortung übernehmen muss, um schlüssige Ergebnisse zu erzielen und keine Fehlentwicklungen zu prognostizieren. Die wichtigsten Fehlerquellen der Programmnutzer lassen sich in drei Gruppen einordnen: 1. Eingabefehler (Fruchtbarkeitsziffer, durchschnittliche Haushaltsgröße) 2. Unrealistische Szenarienannahmen (Wanderungen, Haushaltsverkleinerung) 3. zu kleine Gebietseinheiten Alle drei Fehler der Programmnutzer führten zu unplausiblen Ergebnissen der prognostizierten Bevölkerungs- oder Haushaltsdynamik bzw. zu unerklärbaren Sprüngen in der prognostizierten Altersstruktur der Bevölkerung und daraus folgend zu drastischen Veränderungen der Haushaltsstruktur. Meist wurden die Fehleingaben vom Nutzer selbst bemerkt und im nächs­ ten Szenario korrigiert. Zu klein gewählte Gebietseinheiten können ebenfalls zu Unregelmäßigkeiten bei den Berechnungen führen, weil ggf. die Szenarienannahmen nicht zu den sehr speziellen Gebietseinheiten passen und dann aufgrund von Inkonsis­ tenzen zu Unplausibilitäten führen können. Diese sollten vom Anwen-

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Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten

der selbst erkannt und korrigiert werden, denn eine allgemeingültige rechnergestützte Konsistenzprüfung für alle räumlichen Gegebenheiten ist nicht möglich. Das Internet-Rechenprogramm „Kom­munale Wohnungsnachfrageprognose“ wurde für die Anwendung für Klein- und Mittelstädte konzipiert. Bei Anwendung des Programms für sehr kleine Ortsteile oder einzelne Wohngebiete ist besondere Aufmerksamkeit gefragt und die Ergebnisse müssen vom Anwender besonders überprüft und ggf. angepasst werden. Die wirkliche Qualität der gerechneten Szenarien ist aufgrund der wenigen gespeicherten Informationen kaum realistisch einschätzbar, denn die spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Kommune sind allgemein nicht bekannt. Im Allgemeinen ist davon auszugehen, dass die Kommunen ihre zukünftigen Entwicklungen am besten selbst ein-

schätzen können, andererseits besteht auch die Gefahr, dass problematische Entwicklungen zu lange „schön interpretiert“ werden. Meist wurden mehrere Szenarien gerechnet und Szenariennamen wie „Bevölkerungssaldo konstant“, „Erhebliche Beruhigung“, „Abwanderer“, „gemäßigt“, „gering positiv“, „Kontrast“, „Stabilität“, „Entwicklung“, „Langsam abnehmender Wanderungssaldo“, „Negativszenario“, „Status quo“, „verhalten optimistisch“, „Starke Erholung“ etc. zeigen, dass sich die Programmnutzer der Bedeutung der angenommenen Rahmenbedingungen in ihren Szenarienrechnungen sehr wohl bewusst sind.

Fazit Die drei vorgestellten Anwenderbeispiele zeigen deutlich, dass kommunale Wohnungs­ nachfrageprognosen mit Unterstützung des IÖR-Internet-Rechenprogramms eine wichtige Hilfe für die Wohnungsunterne-

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hmen, die Wohnungspolitik und die Stadtplanung darstellen und sehr interssante und wertvolle Ergebnisse liefern können. Informationen zur Zukunft sind jedoch stets mit Unsicherheiten behaftet und heute bestehende Trends müssen demnächst nicht mehr gültig sein. Deshalb empfiehlt es sich, Nachfrageprognosen stets in Form von Szenarien zu erarbeiten und in diesen, soweit wie möglich, wichtige Auswirkungen der Nachfrageentwicklung auf das zukünftige Nachfrageverhalten zu erfassen. Dies kann über eine Dynamisierung der Wohnpräferenzmatrizen erfolgen. Den Kommunalplanern und Wohnungsunternehmen werden so unterschiedliche Perspektiven mit verschiedenen Diskussions-, Handlungs- und Gestaltungsspielräumen aufgezeigt, wodurch neben den Folgen des demographischen Wandels auch die ihm innewohnenden Chancen besser sichtbar gemacht werden können. Die

Abb. 1: Prognostizierte Be­ völkerungs- und Haus­ haltsdynamik mit dem IÖRInternet-Rechenprogramm „Kommunale Wohnungs­ nachfrageprognose“ nach Gemeindegrößenklassen (Quelle: eigene Auswer­ tung, Datenbasis: Nutzer­ datenbank IÖR)

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Drei Anwenderbeispiele zur Entwicklung von Stadtumbaukonzepten

Regelmäßige Aktuali­ sierung erforderlich

k:

Über Statisti

ein Weniger als ler al tausendstel lle in Verkehrsunfä ten den Innenstäd ten von Großstäd ei b geschehen /h. Tempo 120 km Si­ Wer nun aus den n rü g cherheits , hat st ra dermaßen von g keine Ahnun Statistik.

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Kommunen sollten, aufgrund der meist veränderten demografischen Entwicklungen, ihre selbst erstellten Prognosen und Szenarien einer regelmäßigen kritischen Prüfung unterziehen und diese aktualisieren. Ein Monitoring zur kommunalen Wohnungsmarktentwicklung könnte dabei helfen und zu einem dauerhaften Instrument der Frühwarnung sich abzeichnender Veränderungen werden. Eine Kombination von Wohnungsmonitoring und Wohnungsnachfrageprognose bilden für die Kommunen und die Wohnungswirtschaft eine gute Einheit und zuverlässige Unterstützung. Die Nutzung des IÖR-InternetRechenprogramms „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ zeigt deutlich, dass viele Kommunen dies auch bereits erkannt haben und zu kontinuierlichen Programmnutzern wurden.

Literatur

Bachtler, Böhme & Partner (2005): Impulsprojekt Wohnen. Stadtumbau West – Pilot­ programm im Rahmen des Experimentellen Wohnungs- und Städtebaus des BMVBW/BBR, Wohnbaustudie im Auftrag der Stadt Pirmasens. Download unter www.stadtumbauwest. de/exwost/newsletterdaten/2005-09-12_Wohnbaustudie.pdf BKR Essen (2005): Stadtentwicklungskonzept Oer-Erkenschwick 2015 – Analyse, Ziele, Konzepte und Handlungsprogramm. Endbericht des Büros für Kommunalund Regionalplanung Essen (BKR Essen) im Auftrag der Stadt Oer-Erkenschwick im Rahmen des Forschungsfeldes „Stadtumbau West“ – Forschungsprogramm „Experimenteller Wohnungsund Städtebau“ (ExWoST) des Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. S. 153.

Iwanow, I.; Eichhorn, D.; Oertel, H. (2011): Rechenprogramm „Kommunale Wohnungsnachfrageprognose“ – Erfahrungen aus 8 Jahren. Ein Programm für alle. In: Stadtforschung und Statistik (2011) 1, S. 60–65. Schöfl, G. et al. (2005): Projektbericht zur Studie „Pilotstudie zur nachhaltigen Entwicklung von Nachkriegssiedlungen (1945–65) unter besonderer Berücksichtigung von Flächenökonomie und Flächenmanagement“, Auftraggeber: Forschungszentrums Karlsruhe, 2005, S. 419. WIMES (2005): Fortschreibung – ISEK 2005 – Integriertes Stadtentwicklungskonzept. Studie im Auftrag der Hansestadt Wismar, Bau Grund AG, Sanierungsträger für die Hansestadt Wismar, S. 41.

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Kleinräumige Analysen zur Sozialen Stadtentwicklung

Monitoringsysteme – Stand und Potenziale Antje Seidel-Schulze, Jan Dohnke, Berlin

Seit etwa zwei Jahrzehnten widmet die Stadtforschung der Betrachtung kleinräumiger Veränderungen in der Sozialstruktur von Städten zunehmend Aufmerksamkeit. Die Anfänge der Berichterstattung lagen im Bereich der Sozialplanung. Inzwischen hat sich eine ganze Reihe von integrierten und sektoralen Monitoringsystemen auch in anderen Bereichen der Verwaltung etabliert, und viele Städte verfügen über hohe Kompetenzen bei der Verarbeitung von kleinräumigen Daten, der vergleichenden Bewertung und Nutzung für eine datengestützte Stadtentwicklungspolitik. Die Politk- bzw. Themenfelder, in denen Monitoring eingesetzt wird, sind vielfältig. Man findet die Berichtssysteme im Sinne des Monitoring nicht nur im Zusammenhang mit Fragen zur sozialen Stadtentwicklung, sondern u.a. auch in den Bereichen Wohnen, Bildung, Integration, Gesundheit, Umweltgerechtigkeit und Demografie. Das Difu hat zusammen mit res urbana im Jahr 2010 in einem Städtekooperationsprojekt bestehende Monitoringsysteme der Sozialen Stadtentwicklung untersucht, systematisiert und im November 2010 ein Seminar und einen Erfahrungsaustausch veranstaltet. Einige Ergebnisse daraus sollen im Folgenden vorgestellt werden.

Begriffsbestim­ mung und Ziel Monitoring ist eine besondere Form des städtischen Berichtssystems, bei dem eine flächendeckende, kleinräumige und kontinuierliche Erhebung und Veröffentlichung von Strukturdaten zu ausgewählten Themenfeldern erfolgt. Die Grundlage bilden konstante Gebietsabgrenzungen, für die in kurzen Zeitintervallen, d.h. etwa alle zwei Jahre, Daten erhoben werden, die als Indikator für bestimmte Entwicklungen stehen und im Verhältnis zueinander oder im Vergleich zur Entwicklung in der Gesamtstadt untersucht werden. Ziel von Monitoring in der Stadtentwicklung ist es, Entwicklungen in Teilräumen der Stadt zu beobachten und Gebiete mit besonderem Handlungsbedarf hinsichtlich der beobachteten Indikatoren zu identifizieren. Monitoringssys­ teme sollen die Ausgrenzung von Stadtteilen verhindern, indem sie als (Früh-)Warnsystem auf problematische Entwicklungen in Teilräumen hinweisen und gleichzeitig die empirischen Grundlage bilden, um Maßnahmen zu beschließen, die den ungleichen Lebensverhältnissen in der Stadt entgegenwirken.

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Sektorales und Integriertes Monitoring Die Komplexität und Fülle von Informationen und Aktivitäten führt in den Städten oft dazu, dass Einzellösungen im Sinne sektoraler Monitoringsysteme umgesetzt werden. Integrierte Monitoringsysteme sind seltener verbreitet. Allerdings stellen sektorale Monitoringsysteme (Fachmonitore) einen guten Ausgangspunkt für eine spätere „Zusammenlegung“ von Systemen zu einem integrierten Monitoring dar. Je nachdem, ob es sich um ein sektorales oder integriertes System handelt, und wer das Monitoring beauftragt bzw. nutzt, ist die Bandbreite der verwendeten Variablen von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich. Die in dem o.g. Projekt untersuchten (integrierten) Monitoringsysteme stützen sich allerdings fast immer auf die drei Kernbereiche Demographie, Soziale Lage und Migration, was sich v.a. durch die Verfügbarkeit von Daten im Rahmen der bestehenden Sozialstatistik erklärt (vgl. Tabelle1).

Monitoring: kleinräumig, kontinuier­ lich, flächendeckend

Difu = Deutsches Institut für Urbanistik

Allerdings unterscheidet sich die Anzahl der verwendeten Indikatoren erheblich und reicht von drei Indikatoren (Kleinräumiges Monitoring

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Monitoringsysteme – Stand und Potenziale Tab. 1: Themenfelder in Mo­ nitoringsystemen der So­ zialen Stadtentwicklung (Stand 2010). Folgende Städte verfügen über zwei Monitoringsysteme: Bremen: Kleinräumiges Monitoring Soziale Stadt/ Sozialindikatoren; München: Stadtteilstudie/ Sozialreferatsmonitoring; Hamburg: Aufmerksam­ keitsindikatoren/ Struktu­ rindikatoren Quelle: Dohnke u.a. (2010), S. 6

Anstoß aus der Verwaltung

Sachgebiet Anzahl Indikatoren Demographie Soziale Lage Migration Bildung Kriminalität Partizipation Wohnen/Wohnumfeld

Berlin 12 1 8 3 -

Soziale Stadt Bremen) bis zu 28 Indikatoren (Strukturindikatoren Hamburg). Im Durchschnitt werden etwa 10 Indikatoren verwendet, um die soziale Lage in Stadtteilen zu beschreiben.

Ausgewählte Monitoringsysteme Sehr unterschiedliche Systeme

Die Methoden der Berichterstattung sind sehr unterschiedlich. Ein wichtiges Ziel ist zwar, Ergebnisse für die Zielgruppen, insbesondere in Politik und Verwaltung, verständlich und anschaulich aufzubereiten. Dennoch reicht die Spannweite der als „verständlich” bewerteten Informationen von einfachen deskriptiven Darstellungen über Indexberechnungen bis hin zu Clustermodellen. In der Monitorings­ übersicht auf der nächsten Seite werden einige Systeme vorgestellt (weitere Informationen in Dohnke u.a. 2010).

Politische Unter­ stützung für die Einführung von Monitoring Ratsbeschlüsse beschleunigen die Einführung von Monitoringsystemen nicht nur, sie sind eine wichtige Voraussetzung, um Monitoring als Grundlage politischen und Verwaltungshandelns zu implementieren. Das Difu hat in einem im November 2010 durchgeführten

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Bremen 3/ 20 1/ 7 1/ 7 -/ 2 1/ 1 -/ 1 -/ 2 -/-

München 28/ 25 5/ 9 4/ 12 3/ 2 2/ 1 14/1

Hamburg 7/ 28 1/12 5/8 -/3 1/4 -/-/1 -/-

Seminar und Erfahrungsaustausch mit etwa 50 Städtevertretern und dort vorgestellten Monitoringsystemen herausgestellt, dass die Impulse zur Einführung von Monitoring oft aus der Verwaltung kommen, dass es aber einer politischen Kultur der Transparenz und Offenlegung bedarf, um Ergebnisse zu kommunizieren. Ohne politisches Ziel bleibt ein Monitoring eine Datensammlung. Eine wichtige Facette im Zusammenhang mit der politischen Unterstützung ist die Frage der personellen Ausstattung der Verwaltung, ohne die die Einführung von Monitoringsystemen nicht diskutiert werden kann. In dem o.g. Erfahrungsaustausch, wurde deshalb auch die Frage der „Auslagerung oder Eigenproduktion” von Monitoringberichten diskutiert. Zwar scheint die Kommunikation kritischer Ergebnisse durch Externe besser vermittelbar. Allerdings ist es oft auch mit höheren Kosten verbunden, Monitoringberichte von externen Partnern erstellen zu lassen. Dennoch hat sich hier die Kooperationen mit Externen, in vielen Fällen Universitäten, bewährt.

Mainz 11 2 5 0 2 1 1

Leipzig 10 6 2 2 -

Karlsruhe 22 2 3 4 2 1 10

Monitoring kann mit seinen Ergebnissen Fachverwaltung und Öffentlichkeit informieren. Es kann sozialräumlich orientierte Politik begründen und initiieren sowie Hinweise für gezielte Interventionen für eine integrative Politik liefern. Diese ist angesichts der wachsenden Polarisierung in Städten als Grundlage einer „solidarischen Stadtpolitik“ (Häußermann, 2010) notwendiger denn je.

Literatur:

Häußermann, Hartmut (2010) „Warum wir Monitoringsys­ teme brauchen”. Vortrag im Seminar „Monitoring in der Stadtentwicklung – Stand und Potenziale”, Difu Berlin 29./30.11.2011. Dohnke, Jan, Häußermann, Hartmut und Seidel-Schulze, Antje (2010) Synopse der Monitoringsysteme zur sozialen Stadtentwicklung der Städte im Pilotprojekt „Kleinräumiger Städtevergleich“. Difu Berlin.

Fazit Der Trend zu einer datenbasierten Stadtpolitik ist besonders in Großstädten erkennbar; politische Entscheidungen wollen und sollen begründet werden.

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Monitoringsysteme – Stand und Potenziale

Monitoringsübersicht Berlin, Monitoring Soziale Stadtentwicklung: Es wird ein gestuftes Index-Berechnungsverfahren angewandt, bei dem zwei Indikatorensets mit jeweils 6 Indikatoren gebildet werden. Der Status-Index (S) steht für den aktuellen Zustand, der Dynamik-Index (D) gibt die Veränderungen seit der Durchführung des jeweils vorangegangenen Monitorings wieder. Die Ergebnisse werden skaliert und einer Skala von 0 bis 100 zugeordnet. In einem weiteren Schritt wird der Entwicklungsindex durch Addition von Status- und Dynamik-Index (Im Verhältnis 3:2) gebildet. Dieser erlaubt es abschließend, alle Untersuchungsgebiete miteinander zu vergleichen und analog zum beim Status-Index verwendeten Verfahren in Dezile (hoch, mittel, niedrig, sehr niedrig) einzuteilen. Bremen, Sozialindikatoren (Gesamtstadt): Die einzelnen verwendeten Indikatoren werden nach Thematik zu Indikatorensets (insgesamt 4) zusammengefasst. Die jeweiligen Einzelwerte werden transformiert, anschließend werden für die Einzelindices die entsprechenden Mittelwerte gebildet. Diese werden daraufhin zu einem Benachteiligungsindex zusammengefasst, mit welchem die einzelnen Ortsteile mittels eines Ranking direkt miteinander verglichen werden können. München, Sozialreferatsmonitoring: Die verwendeten Variablen werden themenbezogen zu vier Indikatoren per Faktoranalyse zusammengefasst. Die sich ergebenden Werte werden skaliert, wobei eine Unterteilung in 5 Perzentile (25-25-25-15-10, niedrigste 25% – sehr geringe Ausprägung, höchste 10% – sehr hohe Ausprägung) vorgenommen wird. Hamburg, Sozialmonitoring: Das Sozialmonitoring Hamburg arbeitet u.a. mit einem Set von 7 Aufmerksamkeitsindikatoren. Die Aufmerksamkeitsindikatoren nehmen vor allem eine „Frühwarnfunktion“ ein. Für die einzelnen Aufmerksamkeitsindikatoren erfolgt in Anlehnung an das Berliner Monitoring-Modell eine Differenzierung in Status- (7) und Dynamikindikatoren (4). Diese werden mittels Z-Standardisierung standardisiert und anschließend jeweils zu einem Dynamik- und Statusindex aufsummiert. Eine Klassifizierung der Gebiete erfolgt anschließend erneut auf Basis der Standardabweichung, zum einen für den Statusindex in vier Klassen (hoch, mittel, niedrig, sehr niedrig) sowie zum anderen für den Dynamikindex in drei Klassen (aufwärts, stagnierend, abwärts). Mainz, Sozialraumanalyse: Die einzelnen Indikatoren werden standardisiert und zu Einzelindices für die jeweiligen Themenfelder aufsummiert. Diese werden anschließend gewichtet (Beschäftigung & Erwerbsleben 35%; Wohnen & Wohnumfeld 15%; Bildung 20%; Soziale Situation 30%) zu einem Lebenslagenindex zusammengefasst, was einen direkten Vergleich der einzelnen Gebiete untereinander zulässt. Auf dieser Basis werden die Gebiete in vier Kategorien eingeteilt (sehr hohe Belastungen, hohe Belastungen, mit Belastungen, ohne besonderen Interventionsbedarf). Leipzig, Sozialräumliche Differenzierung: Die einzelnen Indikatoren werden zu 4 Themenbereichen zusammengefasst, diese standardisiert und zu Einzelindices addiert. Je nach Ausprägung der jeweiligen Einzelindices wird für die einzelnen Gebiete ein hoher, mittlerer oder niedriger Handlungsbedarf festgelegt. Karlsruhe, Stadtmonitoringsystem: Die Indikatoren werden themenbezogen in 4 Indikatorensets zusammengefasst, standardisiert und addiert. anschließend werden diese Einzelindices gewichtet zu einem Gesamtindikator zusammengeführt (Segregation 25%, Soziale Ungleichheit 25%, baulicher Handlungsbedarf 40%, Infrastruktur 10%), wodurch sich die einzelnen Gebiete mittels eines Rankings vergleichen lassen und auf diese Weise der Handlungsbedarf abgeleitet werden kann.

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Kleinräumige Bremer Analyse – Wanderung, Bildung, Einkommen

Bestimmende Einflüsse inner­ städtischer Segregation Karl Schlichting, Bremen

Hauptfaktoren: Bildung und Einkommen

Für die Beschreibung der städtischen Segregation sind aus der Vielzahl an Indikatoren die Bildungsbeteiligung und die Einkommensunterschiede bestimmend. Allerdings darf bei der Betrachtung der Dynamik der Stadtentwicklung keinesfalls die Einwohnerwanderung vernachlässigt werden.

Wanderungs­ ströme forcieren die soziale Polari­ sierung zwischen den Stadtgebieten

Schaubild 1: Geburten je Frau

Die natürliche Bevölkerungsentwicklung reduzierte seit annähernd drei Jahrzehnten relativ konstant die in Bremen ansässige Bevölkerung um cir-

ca ein Drittel. Für eine gleich bleibende Bevölkerung wäre statt der durchschnittlichen Geburtenrate von circa 1,3 Kindern je Frau jedoch eine von annähernd 2,1 Kindern je Frau nötig. Ein Ausgleich dieser Verluste ist nur über Wanderungsgewinne möglich, die sich vor allem im Austausch mit dem Ausland, der Binnenfernwanderung sowie dem Umland ergeben. Zuwanderungswellen aus dem Ausland, durch Aussiedler aus Polen (1980er Jahre) und dem Gebiet der Sowjetunion (1990er Jahre) sowie Asylsuchenden aus den Konfliktzonen Europas und der Welt sorgten für den Ausgleich der Verluste. Nur die Wanderungs-

verluste ins bremische Umland, deren Verlauf durch die wirtschaftliche Konjunktur gelenkt wurde (Schlichting 2000 S. 71), führten in vielen Jahren erneut zur Abnahme der Bevölkerung Bremens. Die soziale Segregation mit dem Umland wurde im Wesentlichen durch die Abwanderung jüngerer Familien mit überdurchschnittlichem Steuereinkommen verursacht, während sozial schwächere Haushalte in den Kernstädten zurückbleiben. So kommt es zu einer „sozial selektiven Entdichtung der Kernstädte“. (Krummacher 2000 S.23) Nach Krummacher führt die Schrumpfung vieler Städte zu einer Überalterung der Bevölkerung. Nur die überwiegend jüngeren Zuwanderer mit Migrationshintergrund schwächen diese Entwicklung ab. Diese wachsende Großstadtbewohnergruppe wird somit zu einer wichtigen Zielgruppe zukünftiger Stadtentwicklung. (Krummacher 2000 S.19) Heranwachsende und junge Erwachsene wandern seit Jahrzehnten nach Bremen und in die anderen Großstädte ein und hier besonders in die pulsierenden innerstädtischen Gebiete. Das Schaubild 2 zeigt für Bremen einen ausgeprägten

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation Zu- und Fortgezogene der Stadt Bremen nach Altersjahren deutsch

Schaubild 2

Wanderungsüberschuss bei Männern und Frauen über 18 bis circa 30 Jahren. Diese jungen Zuwanderer ziehen häufig als Einzelpersonen in die an die Innenstadt grenzenden Stadtteile Östliche Vorstadt, Neustadt, Walle und Findorff. Wobei die Neustadt am stärks­ ten von der Hochschule Bremen profitiert. Die bei vielen folgende Familiengründung führt zum Bedarf nach größerem Wohnraum und zur Wanderung in die Wohngebiete in Randlage mit dem entsprechenden Wohnungszuschnitt oder darüber hinaus in das Umland (vgl. Schaubild 4).

Zu- und Fortgezogene der Stadt Bremen nach Altersjahren Umlandwanderung deutsch

Schaubild 3 Wanderungssaldo zwischen der Stadt Bremen und dem Umland 2001 – 2005

Wanderungssalden der bremischen Stadtteile mit dem Umland, Deutschland und dem Ausland 2001 – 2005

Schau­ bild 4

Schau­ bild 5

Im Wesentlichen ist dieser Zyklus die Ursache für die erheblichen Wanderungsverluste des Landes Bremen an das Umland, die nur durch ein ausreichend preiswertes Angebot an entsprechendem Wohnraum reduziert werden können. (Schlichting 2000 S. 74) Auch das Auslaufen der Mietpreisbindung von Sozialwohnungen beeinflusst die Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

Arbeitslosigkeit trifft Ausländer

Liberalisierung des Wohnungsmarktes

Erosion der Industriestadt 18

innerstädtische Segregation. Nach der Rückzahlung staatlicher Förderungen kann die Sozialwohnung auf dem Wohnungsmarkt veräußert werden. Da viele dieser Wohnungen aus den 1950er und 1960er Jahren stammen und mittlerweile für den Wohnungsmarkt freigegeben sind, erfolgte ein kontinuierlicher Abbau von Sozialwohnungen, allerdings überwiegend außerhalb der sozialen Brennpunkte, denn nur hier besteht ein merkliches Kaufinteresse zahlungsfähiger Interessenten. Die Liberalisierung des Wohnungsmarktes und der damit einhergehende Verlust von günstigem Wohnraum geht in diesen Wohngegenden zulasten der unteren Einkommensgruppen. Dies hat zur Folge, dass sich sozial benachteiligte Gruppen in den Gebieten innerhalb der Stadt konzentrieren, deren Mietpreise für sie finanzierbar sind. Im Zuge der Aufwertung anderer Stadtgebiete werden diejenigen mit günstigem Wohnraum jedoch immer seltener. Hier spitzen sich die Problemlagen in den Vierteln zu. „Hand in Hand mit einer Stabilisierung von Wohnquartieren geht somit eine Abwertungsspirale in anderen Vierteln.“ (Kecskes 1997 S. 228) Neben der Polarisierung auf den Arbeitsmärkten formiert sich eine Gruppe der so genannten „Überflüssigen“. (Kronauer 2000 S. 22) Diese Gruppe umfasst erwerbsfähige Personen, die auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft kaum noch Chancen haben. Selbst in Zeiten einer wieder prosperierenden Wirtschaft schrumpft diese Gruppe nicht in einem nennenswerten Ausmaß. Ausgelöst wurden diese Entwicklungen durch die veränderten Rahmenbedingungen der glo-

balisierten Wirtschaft, die nach den „Standortpräferenzen des Kapitals“ ihre Produktionsstandorte aus den Städten der Industrieländer in Niedriglohngebiete verlagerte. Für die industriell geprägten Städte hatten diese Entwicklungen erhebliche Auswirkungen. (Schlichting 1990 S. 74) Der Dienstleistungssektor ist, wegen seiner größeren Mobilität, ebenfalls weniger an städtische Standorte gebunden. Resultat dieser Entwicklung ist die „Suburbanisierung der Erwerbstätigkeit“ und der Bevölkerung, die der Erwerbsarbeit räumlich folgt. So verlagerten viele bremische Betriebe des Verkehrssektors ihre Standorte aus den Häfen an die Autobahnen, häufig außerhalb der bremischen Grenzen. (Schlichting 1994 S. 309) Deindustrialisierung und der damit einhergehende Verlust von Arbeitsplätzen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen im Produzierenden Gewerbe betrifft neben niedrig qualifizierten einheimischen Arbeitnehmern vor allem Migranten, denn „Gastarbeiter“ wurden hauptsächlich in Arbeitsbereichen eingesetzt, in denen geringe Qualifikationsanforderungen bestanden: in der industriellen Massenfertigung, Schwerindustrie und dem Baugewerbe. Gerade diese Segmente des Arbeitsmarktes schrumpften seit längerer Zeit. (Bender/Seifert 2001 S. 41) Ein niedriger Qualifikationsstatus erschwert zudem die Suche nach alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten. Strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarktes und die abnehmende industrielle Standortbedeutung führen zur Erosion der Industriestadt, in der sich über die „Spaltung der Städte“ zunehmend dichotome räumliche Strukturen

herausbilden. (Häußermann/ Kapphan 2000) Aufgrund des überwiegend niedrigen Qualifikations­ niveaus der Ausländer aus Anwerbeländern, darunter die große Gruppe aus der Türkei, sind sie von diesem industriellen Schrumpfungsprozess am stärksten betroffen. Lag die Arbeitslosenquote aller Ausländer in Bremen im Juni 2007 bei 26,9 %, so waren es bei der gesamten Bevölkerung nur 12,6 %. Während der Arbeitsmarkt in der Vergangenheit als zentrale Instanz für die soziale Integration und der wirtschaftlichen Bestätigung der ausländischen Bürger bestimmend war, (Krummacher 2003 S. 20) schwindet diese Funktion zunehmend. Ohne Teilnahme am Arbeitsmarkt und den damit verbundenen Einkommen verschlechtern sich die Integrationschancen der Zuwanderer. Ist eine große Zahl von Migranten aus den ehemaligen Anwerbeländern vom Strukturwandel des Arbeitsmarktes besonders betroffen, so finden qualifizierte Migranten aus den Industrieländern weiterhin gute Bedingungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt vor. Es ist also analytisch wenig hilfreich, die Ausländer in ihrer Gesamtheit als eine Gruppe zu betrachten. Eine Unterscheidung nach ihrer sozialen Herkunft und dem Bildungshintergrund ist für die Integration in die bundesdeutsche Gesellschaft von grundlegender Bedeutung. Legt man für die Veränderungen im Stadtgebiet die Wanderung zugrunde, so resultieren die sozialstrukturellen Veränderungen im Wesentlichen aus drei saldierten geografischen Herkunftsbereichen, und zwar aus dem Umland, Deutschland und dem Ausland. Darunter ist der saldierte

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation Verlust der deutschen Bevölkerung ins Umland am höchs­ ten und über alle Jahre mehr oder weniger defizitär. Dagegen stehen Zuzugssalden der Deutschen aus der Binnenfernwanderung Deutschlands (vor allem aus den östlichen Bundesländern) sowie deutschen Aussiedlern aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion (vgl. Schaubild 5). Der Wanderungsgewinn in dem Fünfjahreszeitraum betrug 15.250, davon waren 11.800 Ausländer und 3.450 Deutsche. Allerdings wurde das Wachstum der deutschen Bevölkerung kompensiert durch die annähernd gleich große Zahl der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion. Dies bedeutet, der Wanderungsgewinn Bremens hat einen Migrationshintergrund. Im Wanderungssaldo mit dem Umland summierten sich die hohen Verluste von über 8.000 Deutschen, unter denen sich kaum Aussiedler befanden. Abgesehen von den zentralen Stadtteilen Mitte und Schwachhausen verloren alle anderen Stadtteile. Die stärks­ ten Verluste summierten sich aus den Stadtteilen mit verdichtetem Wohnungsbau und den alten Arbeitervierteln in Hemelingen, dem Westen und dem Norden Bremens. Der geringe Wanderungssaldo der Ausländer mit dem Umland ist weiterhin zu vernachlässigen. Die Binnenfernwanderung erhöhte die Zahl der Deutschen in Bremen (einschließlich der Aussiedler) um 12.000 und die der Ausländer um gut 1.000. Bezogen auf die Gesamtwanderungszahl von ca. 54.500 Deutschen und 9.900 Ausländern war das ein bemerkenswerter Saldo. Bei einem Wanderungsvolumen von rund 30.300 Zuwan-

derern und 20.400 Rückwanderern mit Migrationshintergrund weist die Auslandswanderung einen jährlich wachsenden negativen Saldo von deutschen Auswanderern aus, der inzwischen ca. 1000 erreichte. Dem gegenüber steht ein positiver Saldo von weit über 10.000 ausländischen Zuwanderern. Dies belegt, dass Bremen ein Zuwanderungsland von Ausländern ist und deutlich abgeschwächt ein Auswanderungsland für Deutsche. Der ausländische Zuwanderungssaldo der letzten fünf Jahre von gut 10.000 kam zu über einem Viertel aus der Europäischen Union, davon der größte Teil aus Polen. Jeweils gut ein Fünftel aus den GUSStaaten und Asien. Trotz der in der Öffentlichkeit diskutierten Rückführungen erreichte noch etwa ein Sechstel des Ausländersaldos aus Afrika Bremen. Der zahlenmäßig zu vernachlässigende Rest kam aus den übrigen Erdteilen. Die meisten Ausländer des Saldos ließen sich in der Neustadt, Burglesum, Obervieland, Hemelingen und Gröpelingen nieder. Alles Stadtgebiete, die durch starke ausländische Bevölkerungsanteile und überdurchschnittliche deutsche Bevölkerungsverluste gekennzeichnet sind. Die angeführten Werte sind nur die Spitze der Wanderungsbewegung, denn die Salden geben nur die Tendenzen an. Darunter befinden sich die Verluste und Gewinne, die das Volumen der Mobilität belegen. In den fünf Jahren wanderte über die Grenzen nach Bremen gut ein Fünftel des Bevölkerungsvolumens. Dies bedeutet, dass sich die bremische Bevölkerung rein rechnerisch in weniger als einem Vierteljahrhundert mit dem nichtbre-

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mischen Gebiet austauschen könnte. Darüber hinaus wurde bisher nur der Bevölkerungsaustausch mit den Gebieten außerhalb Bremens betrachtet. Gerade die innerstädtische Wanderung sagt aber viel über die Präferenzen und deren Veränderungen bei den Deutschen und Migranten aus. Insgesamt zogen in den fünf Jahren knapp 200.000 Einwohner zwischen den bremischen Ortsteilen um. Addiert man die beiden Wanderungen innerhalb und außerhalb Bremens, so wird schon in ca. 10 Jahren ein rein rechnerischer Bevölkerungsaustausch erreicht. Gerade die Wanderung zwischen den bremischen Stadtgebieten lässt den sozialen Auf- und Abstieg erkennen. Migranten lassen sich bei ihrer Einwanderung häufig in Stadtgebieten mit preiswertem Wohnungsbau nieder, die schon Populationen ihres Kulturkreises aufweisen.1 Daneben besteht bei Aussiedlern, hauptsächlich Zuwanderer aus ehemals sozialistischen Ländern, eine eindeutige Präferenz für den Großwohnungsbau. Nach einer erfolgreichen Integrationsphase ist bei einem Teil von ihnen eine innerstädtische Wanderung in andere Gebiete zu beobachten. Die niedrigsten Wanderungswerte zeigen sich in den bremischen Ortsteilen mit hohem Wohneigentum an Ein- und Zweifamilienhäusern. Veränderungen der Einwohnerstruktur vollziehen sich hier über einen vergleichsweise langen Zeitraum.

Auslandswanderung führt zu Einwohnergewinnen

Binnenfernwanderung bringt Einwohner-Plus

Bildungs­ beteiligung Analysen der Volkszählungen und Mikrozensen belegen durchgehend eine Ungleich19


Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation Karte 1

Karte 2

Karte 3

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heit der Bildungsbeteiligung. Benachteiligungen im Schulerfolg sind in der historischen Bildungsforschung für die Kinder von Arbeitern und Bauern und Mädchen insgesamt belegt. Mittlerweile verfügen allerdings Mädchen, besonders in Großstädten wie Bremen, über höhere Bildungsabschlüsse als Jungen. (Rösel 2003 S. 192) Im Mikrozensus wird die soziale Stellung durch eine vergleichsweise grobe statistische Unterteilung der Erwerbstätigen nach Stellung im Beruf nachgewiesen. Darüber hinaus dokumentiert der Mikrozensus die Familienstrukturen mit dem gemeinsamen Einkommen, der Religionszugehörigkeit und dem Bildungsabschluss. Die Ergebnisse belegen, dass für den Besuch weiterführender Schulen vorrangig nicht so sehr das Einkommen, sondern der Status der Eltern bestimmend ist. (Statistisches Bundesamt 2002 S. 31) Die Stichprobe beschreibt die allgemeinen Bildungsstrukturen für vergleichsweise große Gebietseinheiten wie Bundesländer. Für das Bundesgebiet insgesamt lässt sich aber das Bildungsverhalten nach Gemeindegrößenklassen nachzeichnen. Hier ist erkennbar, dass der Besuch weiterführender Schulen mit der Größe der Gemeinden korreliert, also eine Wechselwirkung zwischen Bildungsangebot und Bildungsnachfrage besteht. Allerdings schränkt die zunehmende Erosion klassischer Beschäftigungsverhältnisse die Aussagefähigkeit der Analyse nach Statusgruppen ein. Besonders das Wachstum der Angestellten und Selbständigen mit allen Differenzierungen in für die Betroffenen nachteilige sozialökonomische Abhängigkeits- und EinkommensverhältStadtforschung und Statistik 2/ 2011


Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation nisse wird ohne zusätzliche Informationen nicht transparent und steht eindeutigen Definitionen entgegen. Im Mikrozensus findet diese Entwicklung bei den Angestellten ihren Ausdruck im Wachstum der Teilzeitarbeit sowie der geringfügigen Beschäftigung, (Pöschel 1992) während die ehemals abhängig Beschäftigten und heutigen „Selbstständigen“, die Arbeitskraftunternehmer, (Pongratz/Voß 2001) mit vergleichsweise geringem Einkommen kaum als Gruppe zu definieren sind. Im Rahmen der Städtestatistik werden deshalb zunehmend Methoden angewandt, die über kleinräumige Analysen sozialstrukturelle Entwicklungen in Karten visualisieren. Die Einteilung der Stadt in charakteristische Gebietstypen spiegelt Sozialstrukturen für den ansässigen Leser häufig eingängiger wider als andere Analysen. Diese Methode wird zunehmend nicht nur in den Stadtstaaten genutzt. (Henning/Lohde-Reiff/Sack 2001 S. 243 und Buitkamp 2000) Zusammenhänge von Sozialund Siedlungsstrukturen sowie der Bildungsbeteiligung ließen sich so auf kleinräumiger Ebene für Bremen überzeugend nachweisen (Schlichting 2003 S. 71). Als originäre Quellen werden für eine kleinräumige innerstädtische Auswertung die Schülerindividualdateien herangezogen. Allerdings fehlen hier wie bei vielen anderen personenbezogenen Fachstatistiken die sozialstrukturellen Merkmale. Die Beschreibung der regionalen Bildungsstruktur der Stadt setzt somit die Kenntnis der Sozialstruktur in den Ortsteilen voraus. Durch die Einteilung Bremens in Gebietstypen lassen sich Informationsdefizite sozialstruktureller Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

Karte 4

Karte 5

Karte 6

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

Gesamtschulen ent­ schärfen die Segregation

Bürgerliche Wohn­ gebiete mit wenig Sonderschülern

Merkmale ausgleichen. Allerdings müssen die Gebietstypen ihre wesentlichen Bestimmungen aus den sozialstrukturellen Indikatoren erhalten und nicht wie früher aus der Bebauung. (Schnur 1974) Zur Darstellung der Bildungsquoten eignen sich die Schulabschlüsse an den allgemeinbildenden Schulen nur bedingt, da sie einem Jahrgang nicht eindeutig zugeordnet werden können. So können Schüler chronologisch mehrere Abschlüsse erreichen. Alle Kinder Bremens durchlaufen nach geltenden schulischen Bestimmungen die Sekundarstufe 1 in den Schulgattungen Gesamtschule, Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. Daneben ist für Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Formen der Behinderung auch der Besuch einer Sonderschule möglich, wenn sie in den anderen Schulgattungen nicht angemessen gefördert werden können. Die Verteilung der Schüler auf die Schulgattungen in der 10. Klasse gibt nur den aktuellen Stand der Bildungsanteile im Lande Bremen wider. Nicht alle Schüler einer Schulgattung erhalten zum Ende der 10. Klasse den entsprechenden Abschluss. Aber eine ganze Reihe von Schülern – besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – nutzen die Möglichkeiten eines weiteren Schulbesuchs, um einen höheren allgemeinbildenden Schulabschluss zu erhalten. Später können sie auch über die berufliche Bildung höhere allgemeinbildende Abschlüsse realisieren oder den zweiten Bildungsweg (Abendschule, Kolleg etc.) einschlagen (vgl. Karte 1).

Sonderschulen Wie schon vor 20 Jahren liegt der Anteil von Schülern in 22

Klassen für Lernbehinderte bei ca. zwei Drittel aller Sonderschüler. (Schlichting 1983) Hieraus ist ersichtlich, dass bei der überwiegenden Zahl der Schüler die Ursache für die Lernbehinderung weitgehend in ihrem Umfeld zu suchen ist. Nur ca. ein Drittel der Behinderungen (geistige und körperliche) können im Wesentlichen als angeboren betrachtet werden. Schüler mit geistigen und körperlichen Behinderungen verteilen sich relativ gleichmäßig über das bremische Stadtgebiet. Lernbehinderte Schüler konzentrieren sich dagegen weitgehend auf benachteiligte Stadtgebiete. Ausländische Schüler (Schlichting 2005 S. 40) und Aussiedlerkinder weisen überdurchschnittliche Anteile unter den Sonderschülern und Hauptschülern auf, so dass sich in Stadtgebieten mit hohen Migrantenanteil häufig entsprechend hohe Quoten unter Sonder- und Hauptschülern finden. Bezieht man die Anteile der Sonderschüler in den bremischen Ortsteilen auf die Schüler der Jahrgangsstufe insgesamt, so weisen die bürgerlichen Wohngebiete die geringsten Anteile auf, und zwar Schwachhausen (0,8 %), Peterswerder (1,1 %), Gete (1,8 %) und Oberneuland (2,0 %). Die höchsten Werte finden sich dagegen in Hemelingen (11,7 %) und Rablinghausen (12,9 %) (vgl. Karte 2).

Gesamtschulen Die vergleichsweise neue Schulgattung der öffentlichen und privaten Gesamtschulen erhöhte in den letzten 30 Jahren mit jeder neuen Eröffnung eines Standortes ihre Bedeutung auf mittlerweile ein Sechstel aller Schüler. Dabei gilt: Eine Gesamtschule in der näheren Umgebung

zieht viele Schüler an. Dagegen finden sich in Stadtteilen mit größerer Distanz zu einer Gesamtschule, wie in Vegesack und Blumenthal, niedrigere Beteiligungswerte. Gesamtschulen liegen überwiegend in den Großsiedlungen im Osten Bremens sowie in den klassischen Arbeitergebieten des Westens und entschärfen damit die Bildungssegregation. Sie reduzieren mit ihren Anteilen die Nachfrage nach Schulgattungen des dreigliedrigen Schulsystems. So liegt in Lesum der Anteil der Hauptund Realschüler bei 11 % und damit noch unter dem der Besucher des gymnasialen Zweigs (13,7 %). Mit Ausnahme von privaten Gesamtschulen werden diese von Schülern aus den bürgerlichen Ortsteilen deutlich seltener besucht. Private (Gesamt)Schulen mit einem weltanschaulichen Hintergrund haben an ihrem Standort einen deutlich niedrigeren Beteiligungswert, verfügen aber über einen sichtlich größeren Einzugsbereich. Wie in anderen europäischen Ländern ermöglichen Privatschulen einen weltanschaulich ausgerichteten Unterricht und sind zugleich ein Ausdruck gesellschaftlicher Distinktion. (Bourdieu 1987) Von den Besuchern der bremischen Gesamtschulen erreichte nach einigen Abgängern ohne (Haupt-)Schulabschluss im Durchschnitt ca. ein Zehntel einen Hauptschulabschluss. Die verbleibenden neun Zehntel erhielten einen Realschulabschluss. Davon wechselte rund ein Drittel mit Empfehlung direkt auf die gymnasiale Sekundarstufe II. (vgl. Karte 3).

Hauptschulen Durch die Einrichtungen der Gesamtschulen in den Groß-

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011


Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation siedlungen und klassischen Arbeitergebieten erreichten die Hauptschulen in Bremen nur noch einen Schüleranteil von ca. 10 %. Besonders in deren Umfeld sind sie unterrepräsentiert. Trotzdem besuchten in dem am stärksten benachteiligten Ortsteil Bremens mit dem bedeutendsten Großwohnungsbau und einer Gesamtschule fast ein Drittel aller Schüler die Hauptschule, einem der höchsten Anteile Bremens. In den anderen Stadtgebieten mit Großwohnanlagen im Osten dominiert dagegen der Schulbesuch an den Gesamtschulen. Im angrenzenden Stadtteil Hemelingen mit einem hohen Anteil gewerblicher Beschäftigter liegt der Hauptschüleranteil mit über einem Fünftel über dem Durchschnitt. Dieser Stadtteil weist aber weiterhin mit die höchsten Realschüleranteile auf. Dies ist für Stadtgebiete mit vielen gewerblichen Beschäftigten charakteristisch. In einigen Ortsteilen der Neu­ stadt lebt eine vergleichsweise große Zahl Familien mit Migrationshintergrund. Darunter findet sich die stärkste Konzentration türkischer Mitbürger im Ortsteil Huckelriede. Mit knapp drei Zehntel Hauptschülern und gut 8 % Sonderschülern sind hier auch die höchsten Anteile im Stadtteil Neustadt festzustellen. Auch in Huchting liegt der Anteil der Hauptschüler mit ca. einem Fünftel über dem Durchschnitt Bremens und erreicht in Mittelshuchting (31,8 %), mit seinem Großwohnungsbau, einen der höchsten Anteile in ganz Bremen. In Woltmershausen, mit sehr geringen Gesamtschüler­ anteilen, wird mit 36 % der höchste Hauptschüleranteil Bremens erreicht. Auch die

Quoten der überschreiten schnitt.

Sonderschüler den Durch-

Die Sozialstruktur des bremischen Westens ist nach wie vor durch einen sehr bedeutenden Anteil Arbeiter geprägt, der im Stadtteil Gröpelin­ gen durch einen sehr hohen Anteil türkischer Mitbürger ergänzt wird. Hier liegt der Sonderschüleranteil mit 8,6 % recht deutlich über dem Durchschnitt. Der überdurchschnittliche Hauptschüleranteil verteilt sich trotz einer Gesamtschule relativ gleichmäßig auf die Ortsteile Gröpelingens. Im Stadtteil Vegesack stieg der Hauptschüleranteil in den beiden letzten Jahrzehnten recht deutlich auf gut ein Viertel an, mit dem höchsten Wert in Grohn (32,8 %), einem Ortsteil mit Großwohnungsbau und hohem Migrantenanteil. Unter allen Stadtteilen weist Blumenthal mit knapp drei Zehntel den höchsten Anteil an Hauptschülern auf, darunter Lüssum-Bockhorn (35,3 %) mit dem höchsten Wert in Bremen Nord. Durch die große Distanz zur nächsten Gesamtschule wird sie hier von den wenigsten Schülern besucht. Dagegen besuchten in den bürgerlichen Stadtgebieten Oberneuland (6,0 %) und Borgfeld (6,3 %) sowie Schwachhausen mit 6,6 % die wenigsten Schüler eine Hauptschule. Hier wiesen die Ortsteile Barkhof (0,0 %) und Bürgerpark (1,9 %) die niedrigsten Hauptschüleranteile Bremens auf. Die bürgerlichen Stadtgebiete mit den sehr niedrigen Hauptschüleranteilen und einem zu vernachlässigenden staatlichen Gesamtschulbesuch spiegeln die segregierte Bildungsbeteiligung am deutlichsten wider (vgl Karte 4).

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

Realschulen Realschulen wurden von gut einem Viertel aller bremischen Schüler besucht. Die höchsten Beteiligungen finden sich in den Stadtgebieten ohne Gesamtschulstandorte mit leicht unterdurchschnittlicher Sozialstruktur, aber ohne hohe Problemlagen. Zwei Stadtgebiete Bremens mit dieser Sozialstruktur weisen die höchsten Realschüleranteile auf. Im gewerblich geprägten Hemelingen können Schüler eine Gesamtschule nur in den angrenzenden Stadtgebieten besuchen. Trotz eines nicht unerheblichen Anteils der Bevölkerung mit unterschiedlichen Problemlagen findet sich in diesen Ortsteilen eine verhältnismäßig homogene Sozialstruktur. Das zweite Stadtgebiet mit den höchsten Realschüleranteilen liegt im Norden Bremens. In Blumenthal und Vegesack mit überwiegend gewerblich Beschäftigten und relativer Entfernung zu einem Gesamtschulstandort dominiert der Realschulbesuch (vgl. Karte 5).

Gesamtschulen senken die Hauptschülerquote

Gymnasien Bürgerlich geprägte Gebiete (z.B. Oberneuland, Schwachhausen Horn) weisen dauerhaft hohe Gymnasiastenanteile auf. Am stärksten werden die weiterführenden Schulen im Stadtteil Schwachhau­ sen mit seinen bevorzugten Wohnlagen frequentiert. Hier stieg der Anteil der Gymnasiasten auf 62,4 % an, fast zwei Drittel aller Schüler. Unter den Ortsteilen Schwachhausens sind auch die mit den höchsten Gymnasiastenquoten in Bremen, davon allein 3 mit über 70 %. Zusammen mit Ober­ neuland (59,9 %), Borgfeld (58,5 %) und Horn (62,9 %) konzentriert sich hier ein zusammenhängendes

Bürgerliche Gebiete ten­ dieren zum Gymnasium

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

Durchschnittliches Einkommen der Lohn- und Einkommensteuer­ pflichtigen in Ortsteilen der Stadt Bremen im Jahre 2001

Karte 7

Veränderung der Durchschnittliseinkommen der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigen in Ortsteilen der Stadt Bremen von 2001 bis 2004

Karte 8

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Gebiet mit den höchsten Bildungsquoten. Die östliche Vorstadt gehört zu den historisch gewachsenen Vierteln. Seit den 70er Jahren wird die Bevölkerungsstruktur durch eine hohe Mobilität stark umgeschichtet. (Statistisches Landesamt Bremen 1981, S. 29) Die jetzt vorherrschenden bildungsbürgerlichen Milieus führten zu steigender Nachfrage nach weiterführenden Schulen und besonders Gesamtschulen. Der von den anderen bürgerlichen Gebieten abweichende Habitus fördert offensichtlich den Gesamtschulbesuch, die hier allerdings die höchsten Übergänge zur gymnasialen Sekundarstufe II aufweisen. Nur in den Stadtgebieten mit modernen bürgerlichen Milieus,­wie der östlichen Vorstadt, finden Gesamtschulen einen starken Zuspruch. Aber durch die hohen Übergänge zur Sekundarstufe II wird auch hier ein hoher Gymnasiastenanteil erreicht. In Findorff legte der Anteil der Gymnasiasten deutlich auf den recht hohen Anteil von 43,8 % zu. Durch Neubauten in hoher Qualität nahmen die Anteilswerte in den Ortsteilen Bürgerweide und Weidedamm stark zu. Sie liegen in diesem Stadtteil mittlerweile sehr weit auseinander. Weidedamm knüpft mit über 50 % an die Werte der jenseits des Bürgerparks liegenden bürgerlichen Wohngebiete an, während sich der Ortsteil Regensburger Straße mit knapp einem Drittel eher an Walle mit einer anderen Sozialstruktur „orientiert.“ In Bremen Nord sank der Gymnasiastenanteil recht deutlich (28,2 %). Allerdings differieren die Anteile zwischen Rönnebeck (38,6 %) und LüssumBockhorn (24,7 %) beacht-

lich. Die östlichen Ortsteile im Norden wurden durch hohe Gesamtschüleranteile beeinflusst. Insgesamt betrachtet werden die Bildungsanteile der nichtbürgerlichen Ortsteile überdurchschnittlich durch die Gesamtschulen geprägt. Sehr stark sank der Anteil der Gymnasiasten im Stadtteil Osterholz, und zwar auf gut ein Fünftel. Mehrere soziale Gruppen mit ihren unterschiedlichen Problemlagen gewannen in den letzten 30 Jahren in Tenever nachweislich an Bedeutung. (Senator für Arbeit 2003) Unter allen Gebieten des sozialen Wohnungsbaus sank hier die Sozialstruktur und die Bildungsbeteiligung am Stärksten.

Polare Einkom­ menssegregation in Bremen Auf der Grundlage der Lohnund Einkommensteuererklärung in den Finanzverwaltungen erfolgt alle drei Jahre die bundeseinheitliche sekundärstatistische Totalerhebung (Registerauswertung) in den Statistischen Landesämtern. Hierzu gehören alle unbeschränkt steuerpflichtigen natürlichen Personen. Die Gesamtsumme der Einkünfte (abzüglich der geltend gemachten Ausgaben beziehungsweise Werbungskosten) setzt sich aus den sieben Einkunftsarten zusammen, und zwar: • Land- und Forstwirtschaft, • Gewerbebetrieb, • selbstständige Arbeit, • nichtselbstständige Arbeit, • Kapitalvermögen, • Vermietungen und Verpachtungen, • sonstige Einkünfte.

Tabelle 1: Lohn- und Einkommensteuerpflichtige nach Größenklassen des Gesamtbetrages der Einkünfte

Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

Eine methodische „Einschränkung“ ergibt sich aus einem

Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation

Einkommen zwischen 21.000 und 102.000 Euro

Mehr höhere Einkommen

zentralen Begriff des Steuerrechts, dem „Gesamtbetrag der Einkünfte“. Es ist der Saldo aus den positiven und negativen Teilergebnissen der verschiedenen Einkunftsarten. Hohe Bruttoeinkünfte – abzüglich der geltend gemachten Ausgaben beziehungsweise Werbungskosten – lassen häufig bei den Selbstständigen den endgültigen Gesamtbetrag der Einkünfte zusammenschmelzen. Die Möglichkeit der Steuervermeidung wird überwiegend von Steuerpflichtigen mit steigenden Bruttoeinkünften in Anspruch genommen, da sie über die finanziellen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme steuerrechtlich geförderter Kapitalanlagen verfügen. Aufgrund des progressiven Steuertarifs kann gerade bei ihnen eine überproportionale Steuerersparnis erzielt werden. Somit sind die Aussagen über die Einkommen in den höheren Größenklassen zum Teil eingeschränkt. Veränderungen des Gesamtbetrags der Einkünfte werden durch die sich wandelnden Einkommen verursacht, die in der Verteilungsstruktur der Einkommen nach Größenklassen abgebildet werden. Zu Beginn des Betrachtungszeitraums 1986 fanden sich noch fast drei Viertel (74 %) aller Einkommensbezieher in den beiden Größenklassen mit Einkünften bis 25.000 Euro wieder. Bis 2001 reduzierte sich ihr Anteil auf gut die Hälfte. Noch stärker sank im Betrachtungszeitraum der Gesamtbetrag der Einkünfte für die beiden Einkommensgruppen, und zwar von gut 41 % auf knapp 17 %. Bemerkenswert ist hierbei, dass sich in der untersten Ein­ kommensgrößenklasse des Jahres 2001 mit gut 28 %

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wesentlich mehr Einkommens­ empfänger/innen befinden als in der Klasse darüber (22,4 %). Dies weicht von der Entwicklung bis 1995 deutlich ab und ist auf die Übernahme der „Nullfälle“ zurückzuführen. Ohne diese methodische Änderung wäre die Anzahl der steuerpflichtigen Einkommensempfänger/innen bis 12.500 Euro um knapp ein Fünftel geringer. Trotz dieser methodischen Änderung bleibt aber die Entwicklung in den unteren Einkommensgruppen signifikant. Dagegen wuchs die Anzahl der Lohn- und Einkommensteuer­ pflichtigen in den höheren Ein­­kommensgrößenklassen zu­ nehmend. Auffällig ist hierbei, dass mit der Höhe der Einkommensgruppen auch der prozentuale Anstieg immer stärker zulegt, darunter in der Einkommensgruppe zwischen 50.000 und 125.000 Euro von 3,9 % im Jahre 1986 auf 14,5 % (2001). Zudem waren 1986 die beiden Einkommensgruppen über 125.000 Euro mit in dieser Größenklasse ausgewiesen, die bis 2001 auf einen Gesamtanteil von 1,8 % wuchsen. Im Jahr des Mauerfalls kamen diese Spitzeneinkommen nur auf einen Anteil von 0,8 %. Dies ist der Beleg für die voranschreitende Polarisierung der Einkommen, denn der Anstieg der niedrigeren Einkommen ist im Zusammenhang mit der deutlichen Zunahme der Zahl der Arbeitslosen und der Sozialhilfeempfänger/innen im gleichen Zeitraum zu sehen.

Starke Segregation der Einkommens­ verteilung Zur Messung der Segregation wurden für jeden Ortsteil anhand der Lohn- und Einkommensteuerpflichtigenzahlen die

Durchschnittseinkommen berechnet und in der Karte 7 visualisiert. Die durchschnittlichen Einkünfte je Ortsteil oszillieren um den Mittelwert des Landes Bremen von 33.381 Euro. Allerdings streut die Spannbreite nach oben mit einem Spitzenwert von 101.750 Euro in Horn deutlich breiter als nach unten auf 21.420 Euro in Steffensweg. Auch hier finden sich die höchsten Durchschnittswerte in den bürgerlichen Wohngebieten Horn, Schwachhausen, Ober­ neuland und Borgfeld. Aber auch in Bremen-Nord werden in dem zusammenhängenden Wohngebiet St. Magnus, Grohn sowie Schönebeck hohe durchschnittliche Einkommenswerte erreicht. Die unteren Einkommensdurchschnitte konzentrieren sich in den Großsiedlungen (Tenever, Vahr etc.) und den his­ torisch proletarisch geprägten Stadtgebieten. Diese werden allerdings zunehmend nicht mehr von den Vollzeitbeschäftigten, sondern von marginal Beschäftigten und Transferleistungsempfängern geprägt und weisen hohe Migrantenanteile auf. Ab 2002 schränkt das Halb­ einkünfteverfahren die Darstellung der regionalen Einkommensverteilung aus der Lohn- und Einkommensteuerstatistik merklich ein. Danach gehen alle Einkünfte aus Kapitalvermögen bis 2009 nur zur Hälfte in die Berechnung der Einkommensteuer ein und reduzieren dadurch besonders die höheren Einkommen. Beim Vergleich der Durchschnittseinkommen in den bremischen Ortsteilen des Jahres 2004 mit denen des Jahres 2001 wäre durch die deutliche Verbesserung der Kapitalerträge mit einem überdurchschnittlichen

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Bestimmende Einflüsse innerstädtischer Segregation Anstieg gerade der Einkommen in den großbürgerlichen Ortsteilen zu rechnen gewesen. Betrachtet man die bürgerlichen Wohngebiete mit den hohen durchschnittlichen Einkommen, so sanken diese generell im zeitlichen Verlauf. Am stärksten um gut ein Fünftel in Oberneuland, Grohn und St. Magnus. In einigen Ortsteilen mit sehr hohen Durchschnittseinkommen, wie Horn, nahmen sie nur leicht ab. Dies ist sicherlich auf die deutlich verbesserte Kapitalertragslage gegenüber dem Jahr 2001 zurückzuführen. Trotz der Halbierung der Kapitaleinkommen nach Steuern konnte die verbesserte Ertragslage die realen Einkommen deutlich verbessern. Dagegen stiegen die Durchschnittseinkommen in vielen prekären Ortsteilen, darunter Tenever und Huckelriede sogar um gut 6 %. Somit ist für den Zeitraum bis 2009 die Lohn- und Einkommensteuerstatistik als Indikator für die Einkommensunterschiede in den Stadtgebieten zumindest für die Einkommen mit einem hohen Kapitalanteil nur noch eingeschränkt zu verwenden.

Anmerkung

1 Vgl. „Wohnen hinterm KasernenTor. Am Niedersachsendamm in Huckelriede ist Deutsch nur Zweitsprache“; in: Weser-Kurier vom 29. Juli 2007, S. 11.

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Über Statisti

k:

„Lies, bad lie s, Vester M., Oertzen P., Geiling H., st at is ti cs .“ Hermann T., Müller D., Soziale Vielzitierte W Milieus im gesellschaftlichen orte vo n Sir Winston Strukturwandel, Frankfurt 2001 Chur­ chill (1874 – 1965). Aus gleichem Mund stammt auch die Emp­ fehlung „No sports!“ In politischen Fragen urteilte er ke nntnis­ reicher.

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Vielfältige Aspekte der Toleranz

Stuttgart – eine tolerante Stadt!? Alexandra Klein, Tübingen

R. Florida: TTT

Indikatoren zur Toleranzmessung: Einwanderer, Homo­ sexuelle, Bohemians

FAZ: Kreativitätsindex für Deutschland

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Technologie, Talente und Toleranz – das sind die Zutaten für das Rezept für erfolgreiche Städte von Richard Florida. Er weist mit seinen Studien nach, dass der wirtschaftliche Erfolg von Städten davon abhängt, inwieweit es ihnen gelingt, kreative Menschen anzuziehen. Ihre Anziehungskraft auf kreative Menschen wirkt vor allem durch ihr hohes Entwicklungspotenzial. Dabei kommt es weniger auf „harte“ Faktoren wie Rohstoffe, Verkehrsanbindung und Pres­ tige­ objekte an, als vielmehr auf „weiche“ Faktoren wie ein offenes und tolerantes Klima in der Stadt. Um unterschiedliche Städte und Regionen zu vergleichen, entwickelte Florida ein Kreativitätsmaß, das sich aus • einem Index für Talente, • einem Index für Technologie und • einem Index für Toleranz zusammensetzt. Jeder Index wird aus mehreren Indikatoren bestimmt. Nach Floridas Studien erlangt der Anteil kreativer Menschen in einer Stadt zunehmende Bedeutung für ihre wirtschaftliche Entwicklung. Kreative Menschen bevorzugen eine Umgebung, die auf sie inspirierend wirkt. Sie finden diese in Städten mit einer Vielfalt an Ideen und Kulturen1. Ein Anreiz für kreative Men-

schen, sich für eine Stadt als Wohn- und Arbeitsort zu entscheiden, ist deshalb die Offenheit der Stadt und ihre Toleranz gegenüber anderen Kulturen und gegenüber Minderheiten. Ein tolerantes Klima senkt die Schwelle, sich für eine Stadt zu interessieren und zieht Menschen mit ihrer Offenheit an. Es gibt unterschiedliche Indikatoren, um Toleranz in einer Stadt zu messen. Um seine These für die USA zu belegen, verwendet Florida den Anteil der Einwanderer, den Anteil der Homosexuellen und anderer Minderheiten an der Bevölkerung einer Stadt und den Anteil der „Bohemians“ (Menschen in künstlerischen und kreativen Berufen) an den Erwerbstätigen. Florida geht nicht davon aus, dass Zuwanderer, Homosexuelle oder Künstler das Wirtschaftswachstum bewirken. Er wertet ihre Anwesenheit als Hinweis für eine offene Kultur, in der sich ein kreatives Potenzial entfalten kann und die deshalb für kreative Menschen attraktiv ist.2 Die Indikatoren, die Florida für die USA verwendet, stehen für europäische Länder vielfach nicht zur Verfügung. Studien, die Richard Floridas Ideen auf europäische Länder und Städte übertragen, wie beispielsweise von der Unternehmensberatung Roland Ber-

ger3 oder vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung verwenden zur Messung von Toleranz unterschiedliche Indikatoren. Sie bestimmen beispielsweise den Anteil von Ausländern an der Bevölkerung, den Anteil ausländischer Studierender, den Anteil der eingetragenen (homosexuellen) Lebensgemeinschaften an den Eheschließungen, den Stimmenanteil rechtsextremer Parteien bei der Bundestagswahl, den Anteil von Menschen in bestimmten künstlerischen Berufen und auch die Einstellung von Menschen gegenüber Zuwanderern und Minderheiten. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat zusammen mit der Unternehmensberatung Roland Berger einen Kreativitätsindex für Deutschland entwickelt. Der Gesamtindex setzt sich in Anlehnung an Richard Florida aus den drei Bewertungen für Technologie, Talente und Toleranz einer Stadt zusammen, die mit einer Vielzahl von Indikatoren bestimmt wurden. Stuttgart erreicht im Städtevergleich (11 Städte) den 2. Platz bei der Kreativität. Die Platzierung lässt sich vor allem auf die gute Bewertung beim Technologie- und Talentindex zurückführen. Beim Toleranzindex nimmt Stuttgart den 8. Platz

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? Abb. 1 Ergebnis des Roland Berger-Kreativitätsindex 2008: Toleranzindex

Abb. 2 Toleranztypologie 2000 nach Ländern in der Europäischen Union

Abb. 3: Einstellungsdmensionen nach SORA (Quelle: SORA 2001)

ein (vgl. Abbildung 1). Dabei wirkt sich die Anzahl von bilingualen und internationalen Schulen, der Stimmenanteil der rechtskonservativen Parteien bei der Bundestagswahl 2005, die Anzahl der eingetragenen Lebenspartnerschaften im Verhältnis zu Eheschließungen und die Meinung von „Experten“ z.B. der Popakademie in Mannheim und des Theatertreffens in Berlin zur Subkultur und Homosexuellenfreundlichkeit nachteilig für Stuttgart aus. Die Einstellung der Bevölkerung zu Zuwanderern und Minderheiten wurde nicht einbezogen. Ebenso wenig wurde der Anteil der ausländischen Bevölkerung oder der Bevölkerung mit Migrationshintergrund berücksichtigt. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung zeichnet die Studien von Florida ebenfalls für Deutschland nach4. Für den Toleranz-Index wird der Ausländeranteil, der Stimmenanteil rechtsextremer Parteien bei der Bundestagswahl, die Zustimmung zu fremdenfeindlichen Aussagen und Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? ein Bohemian-Index, also der Anteil künstlerisch tätiger Personen an den Erwerbstätigen, einbezogen. Baden-Württemberg steht an 6. Stelle im Bundesländervergleich und an 3. Stelle im Vergleich der Flächenländer. Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen besetzen die ersten drei Plätze.

Eurobarometer

Richard Florida greift für die Überprüfung seiner Thesen für die europäischen Länder unter anderen auf die regelmäßig durchgeführte Eurobarometer-Befragung5 zurück. Die Eurobarometer-Befragung enthält einen Fragekatalog, den die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC)6 entwickelt hat. EUMC hat damit die Einstellung gegenüber Minderheiten in 15 Mitgliedsstaaten abgefragt. Das sozialwissenschaftliche Institut SORA entwickelte aus den Ergebnissen der Umfrage eine Typologie der Toleranz. Ein Ergebnis der Untersuchung ist, dass Deutsche stärker als andere Europäer die Rückführung von Zuwanderern in ihre Herkunftsländer befürworten.7

Abb. 4: Beurteilung der positiv formulierten Toleranzfragen in der Stuttgarter Bevölkerung 2008 (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

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Stuttgarter Umfrage Welche Einstellung gegenüber Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur hat die Stuttgarter Bevölkerung, die auf eine lange Tradition des Zusammenlebens verschiedener Kulturen zurückblicken kann? Die Lebensstilbefragung der Stadt Stuttgart, die Ende 2008 bis Anfang 2009 durchgeführt wurde, enthält sieben Aussagen zu Menschen mit unterschiedlicher kultureller Herkunft. Das Statistische Amt der Stadt Stuttgart orientiert sich dabei an dem Fragekatalog der Eurobarometer-Befragung. Die Aussagen bilden die sechs Einstellungsdimensionen zu Zuwanderern ab, die aus der oben beschriebenen Auswertung der EurobarometerErhebung in 15 europäischen Ländern hervorging. Für die Lebensstilbefragung wurden die sieben Aussagen ausgewählt, die die Einstellungsdimensionen am besten repräsentieren.8 Für die Lebensstilbefragung der Stadt Stuttgart wurden 6860 zufällig ausgewählte

Stuttgarterinnen und Stuttgarter über 18 Jahre angeschrieben. Sie konnten den PapierFragebogen ausfüllen oder ihn mit einer zugeteilten Nummer im Internet online beantworten. Fast die Hälfte der angeschriebenen Personen beteiligte sich an der Befragung. Zwei Aussagen, die das Zusammenleben mit Menschen anderer Nationalität, Religion oder Kultur betreffen, sind positiv formuliert. Die übrigen fünf Aussagen, denen die Befragten zustimmen konnten, sind in Anlehnung an die Eurobarometerbefragung bewusst negativ formuliert.

Umfrage­ ergebnisse Die Zustimmung zu den einzelnen Aussagen zeigt eine positive Grundeinstellung der Mehrheit der Menschen in Stuttgart gegenüber Menschen mit anderer Nationalität, Religion und Kultur. Drei Viertel der Stuttgarterinnen und Stuttgarter sind der Ansicht, dass die Bildung von Organisationen gefördert

Abb. 5: Beurteilung der negativ formulierten Toleranzfragen in der Stuttgarter Bevölkerung 2008 (Quelle: Lebensstilbefra­ gung 2008)

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? werden sollte, die Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammenbringen, um ihre Beziehungen zu verbessern (vgl. Abbildung 4). Der große Anteil an Zustimmung zeigt zum einen die positive Einstellung der Stuttgarter zum Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen. Auf der anderen Seite zeigt er auch, dass ein Bedarf an Integrationsförderung in der Bevölkerung wahrgenommen wird. Unterstützt wird diese Feststellung durch das Ergebnis der Bürgerumfrage 2007, bei der ebenfalls die Mehrheit der Befragten die Förderung der Integration durch städtische Maßnahmen befürwortet. Drei Viertel der befragten Stuttgarterinnen und Stuttgarter sahen dabei die Sprachförderung als geeignete Maßnahmen um die Integration von Migranten zu erleichtern. Nicht ganz so eindeutig sind die Ansichten darüber, ob die Vielfalt von Nationalitäten, Religionen und Kulturen zur wirtschaftlichen Kraft einer Stadt beiträgt. Richard Florida geht davon aus, dass die wirtschaftliche Entwicklung einer Stadt auch von ihrer kulturellen Vielfalt abhängt. Diese Meinung teilen in der Lebensstilbefragung gut die Hälfte der Befragten (52%), weitere 32 Prozent stimmen zumindest teilweise zu. Insgesamt empfinden nur sechs Prozent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter Menschen mit anderer Nationalität, Religion und Kultur als störend. Ebenfalls nur ein geringer Anteil (8 %) stimmt der Aussage zu, dass Menschen mit anderer Nationalität, Religion und Kultur diese aufgeben müssen, um vollständig akzeptierte Mitglieder

Abb. 6: Beurteilung der negativ formulierten Toleranzfragen in der Stuttgarter Bevölkerung 2008 nach Migrationshintergrund (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

der Gesellschaft zu werden. Die positive Grundeinstellung gegenüber zugewanderten Menschen setzt sich aber nur teilweise durch, wenn es darum geht, uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren. Jeder 5. Stuttgarter befürwortet Arbeitseinschränkungen für Zuwanderer und zwar unabhängig davon, ob die Zuwanderer aus Osteuropa oder aus Ländern mit schweren inneren Konflikten stammen. Und jeder 5. Stuttgarter ist der Ansicht, dass gesetzlich anerkannte Einwanderer aus Ländern außerhalb der Europäischen Union in ihr Heimatland zurückgeschickt werden sollen, wenn sie arbeitslos sind.

Toleranz – eine Frage der Herkunft Es ist zu erwarten, dass Menschen, die Zuwanderung aus eigener Erfahrung oder der von nahen Angehörigen kennen, eine andere Einstellung gegenüber Menschen mit anderer Nationalität, Religion und

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Kultur haben. Dafür wurden die Stuttgarterinnen und Stuttgarter zusammengefasst, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder zusätzlich zur deutschen Staatsangehörigkeit noch eine weitere, und die Einwohner, die einen Elternteil oder einen Ehepartner mit anderer Staatsangehörigkeit haben. Diese Gruppe wurde denen gegen­ übergestellt, die in Deutschland geboren sind, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und ausschließlich deutsche Elternteile haben und, wenn sie verheiratet sind, zusätzlich deutsche Ehepartner haben. 36 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung hat eigene Migrationserfahrung oder ein Elternteil oder Ehepartner mit anderer Staatsangehörigkeit. Mit dieser Zuordnung wird nicht die gesamte Bevölkerung mit Migrationshintergrund erfasst. Sie liegt mit fast 40 Prozent noch etwas darüber. Bei der Stellungnahme zu den einzelnen Aussagen zeigt sich, dass diese Bevölkerungsgrup-

Bei Arbeitslosigkeit zurückschicken?

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? wenigsten von einem eventuellen Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt betroffen sind, da ein großer Teil nicht mehr aktiv am Erwerbsleben teilnimmt, lehnen also eher einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt ab. Die Ergebnisse stimmen mit denen anderer Studien zur Einstellung gegenüber Zuwanderern und ethnischen Minderheiten überein. Diese Studien zeigen jedoch, dass neben dem Alter die Kontakte zu Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur für die Einstellung relevant sind.9

Abb. 7: Beurteilung der positiv formulierten Toleranzfra­ gen in der Stuttgarter Be­ völkerung 208 nach Migra­ tionshintergrund (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

Beim Arbeitsmarkt scheiden sich die Altersgruppen

Toleranz – eine Frage der Bildung pe bei den Fragen eindeutiger Stellung bezieht, als deutsche Befragte und Befragte, die ausschließlich deutsche Eltern oder deutsche Ehepartner haben. Menschen mit Migrationserfahrung stimmen den positiv gestellten Fragen zur Zuwanderung eher voll und ganz zu und stimmen bei den negativ gestellten Fragen eher überhaupt nicht zu und wählen seltener die Mittelkategorien als andere Befragte. So stimmen beispielsweise 59 Prozent der Menschen mit Migrationserfahrung der Ansicht zu, dass die Vielfalt an Nationalitäten, Religionen und Kulturen zur wirtschaftlichen Kraft einer Stadt beiträgt, während 47 Prozent der übrigen Befragten diese Option wählen.

Toleranz – eine Frage des Alters Die Einstellung gegenüber Zuwanderern hängt vom Alter der Befragten ab. Je jünger die Befragten, desto positiver ist ihre Einstellung gegenüber Zuwanderern. 32

Die Befragten lassen sich in vier Altersgruppen zusammenfassen. Besonders groß sind die Unterschiede der jüngeren Stuttgarterinnen und Stuttgarter unter 30 Jahren gegenüber den älteren Einwohnern ab einem Alter von 60 Jahren. Lediglich bei der Frage nach der Zustimmung zur Bildung von Organisationen, die Menschen unterschiedlicher Nationalität, Religion und Kultur zusammenbringen sollen, spielt das Alter keine Rolle. Hier sind die Anteile der unterschiedlichen Altersgruppen, die zustimmen, nahezu identisch. Am größten sind die Altersunterschiede bei den Aussagen, die Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt betreffen. 16 Prozent der unter 30-jährigen Stuttgarterinnen und Stuttgarter befürworten, dass Menschen aus Osteuro­ pa und Menschen, die aus Ländern mit schweren internen Konflikten fliehen, nur eingeschränkt Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Dagegen liegt dieser Anteil bei den über 60-jährigen Stuttgarterinnen und Stuttgarter bei 31 Prozent. Menschen, die am

Die Einstellung gegenüber Zuwanderern hängt vom Bildungsabschluss der Befragten ab. Je höher der Bildungsabschluss, desto toleranter ist die Einstellung gegenüber Zuwanderern. So sieht beispielsweise in der Bürgerumfrage 2007 die Hälfte der Befragten mit Studien­ abschluss das kommunale Wahlrecht für Ausländer als ein angemessenes Mittel der Integrationsförderung. Dagegen teilen nur 30 Prozent der Stuttgarterinnen und Stuttgarter mit Hauptschulabschluss diese Ansicht. Der höchste erworbene Bildungsabschluss gilt aus mehreren Gründen als Indikator für eine tolerante Einstellung gegenüber Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur. Zum einen können bei längerer Ausbildung umfassendere Kenntnisse über unterschiedliche Kulturen und ihre Beziehung zur eigenen Kultur vermittelt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass komplexere Wahrneh-

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? mungsmuster erlernt werden, die einen differenzierteren Blick auf die eigene und eine fremde Kultur ermöglichen. Menschen mit höherem Bildungsabschluss achten stärker auf eine differenzierte „politisch korrekte“ Wortwahl.10 Deshalb ist davon auszugehen, dass sie bei einer Umfrage die Aussagen, die sie als politisch nicht korrekt einstufen, ablehnen. Dazu zählt beispielsweise in der Lebensstilumfrage die Aussage: „Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur empfinde ich als störend“. Außerdem gilt der Bildungsabschluss als Hinweis dafür, ob ein möglicher Interessenkonflikt auf dem Arbeitsmarkt mit Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur vorliegt. Derzeit gibt es in Deutschland nur einen geringen Anteil an Schulabsolventen mit Migrationshintergrund, die Fachhochschulreife oder Abitur erwerben. Die Wahrscheinlichkeit eines Interessenkonfliktes um Ausbildungs- oder Arbeitsplätze zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nimmt zurzeit mit einem höheren Bildungsabschluss ab.11 Die Verteilung der Bildungsabschlüsse auf die Befragten in unterschiedlichen Altersgruppen legt den Schluss nahe, dass die große Zustimmung der jüngeren Altersgruppen zu den Toleranzaussagen eher der besseren Ausbildung als dem Alter zugeschrieben werden kann. 47 Prozent der über 60-Jährigen hat einen Volksund Hauptschulabschluss. Dagegen beträgt der Anteil der Hauptschulabsolventen unter den Stuttgarterinnen und Stuttgartern im Alter bis 45 Jahren unter zehn Prozent. Dagegen erwarben zwei Drittel

Tab. 1: Zustimmung zu den positiv formulierten Toleranzfragen nach Altersgruppen (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

Tab. 2: Zustimmung zu den negativ formulierten Toleranzfragen nach Altersgruppen (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

Tab. 3: Zustimmung zu den negativ formulierten Toleranzfragen nach Bildungsabschluss (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

Tab. 4: Zustimmung zu den negativ formulierten Toleranzfragen nach Bildungsabschluss (Quelle: Lebensstilbefragung 2008)

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!?

Abb. 8: Toleranztypen in Stutt­ gart (Quelle: Lebensstilbe­ fragung 2008)

der Befragten in dieser Altersgruppe die Fachhochschulreife oder das Abitur.

Toleranz – keine Frage des Geschlechts Die Anteile von Frauen und Männern, die den Aussagen über Menschen anderer Nationalität, Religion oder Kultur zustimmen oder sie ablehnen, sind nahezu identisch. Es lassen sich keine Unterschiede zwischen Frauen und Männern bezüglich ihrer Einstellung gegenüber Zuwanderern feststellen.

Toleranztypen In Anlehnung an den Vorschlag der Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) wurde mit der Clusteranalyse12 eine Toleranztypologie der Stuttgarter Bevölkerung erstellt. Die Befragten können in vier Typen eingeteilt werden, abhängig davon, welchen Fragen sie zugestimmt und welche sie abgelehnt haben. Die Benennung der vier Toleranztypen wurde von der EUMC übernommen.

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„Aktiv tolerant” Die größte Gruppe der Stuttgarter Bevölkerung zählt zu den aktiv toleranten Menschen. 36 Prozent der Bevölkerung stehen Zuwanderern ausgesprochen positiv gegenüber und sind überzeugt davon, dass die Vielfalt der Nationalitäten, Kulturen und Religionen zur wirtschaftlichen Kraft einer Stadt beiträgt. Diese Gruppe lehnt Arbeitsmarktbeschränkungen für Zuwanderer und die Rücksendung arbeitsloser Einwanderer in ihr Herkunftsland nachdrücklich ab. Ebenso ablehnend steht sie der Forderung gegenüber, dass Zuwanderer die eigene Kultur, Religion und Nationalität aufgeben sollen. Sie unterstützt die Bildung von Organisationen, um die Beziehungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft zu fördern. „Passiv tolerant“ Diese Gruppe zeigt eine positive Grundeinstellung gegenüber Zuwanderern und Minderheiten. Sie empfindet Menschen mit anderer Kultur nicht als störend und fordert nicht die Aufgabe der Kultur, Religion und Nationalität der Zuwanderer. Auf der anderen Seite sieht sie keinen positiven Beitrag verschiedener Nationalitäten, Kulturen und Religionen für die Wirtschaftskraft einer Stadt. Der Förderung von Organisationen, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Herkunftsgruppen verbessern sollen, steht sie unbestimmt gegenüber. Ein großer Teil der Passiv Toleranten lehnt Arbeitsmarktbeschränkungen oder das Zurückschicken arbeitsloser Zuwanderer in ihr Herkunftsland ab. 21 Prozent der Stuttgarter Bevölkerung zählen zu diesem Toleranztyp.

„Ambivalent“ Die Gruppe von Menschen mit ambivalenter Einstellung gegenüber Zuwanderern oder Minderheiten (26 % der Stuttgarter Bevölkerung) fühlt sich durch sie teilweise gestört und unterstützt die Aussage, dass Zuwanderer erst dann vollständige Mitglieder einer Gesellschaft werden, wenn sie ihre ursprüngliche Nationalität, Kultur und Religion aufgeben. Darüber hinaus favorisiert sie Arbeitsmarktbeschränkungen und die Rücksendung arbeitsloser Zuwanderer. Auf der anderen Seite hat sie Interesse daran, dass sich die Beziehungen der Menschen unterschiedlicher Herkunft verbessern. „Intolerant“ Diese Gruppe zeigt eine stark negative Einstellung gegenüber Zuwanderern und fühlt sich explizit durch sie gestört. Sie fordert nachdrücklich die Aufgabe anderer Nationalitäten, Kulturen und Religionen und ihre Assimilierung. Sie unterstützt die Forderung nach Arbeitsmarktbeschränkungen und nach dem Zurückschicken arbeitsloser Zuwanderer in ihre Herkunftsländer. Sie sieht in der Vielfalt der Menschen keinen wirtschaftlichen Gewinn. Mit 17 Prozent der Bevölkerung stellt sie die kleinste Toleranzgruppe der Stuttgarter Bevölkerung.

Weitere Toleranzgruppen­ ergebnisse Beim Vergleich der verschiedenen Toleranzgruppen der Stadt Stuttgart mit den Ergebnissen der Eurobarometerbefragung für Ost- und Westdeutschland fällt die große

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!? Gruppe der aktiv toleranten Stuttgarter auf, die eine positive Grundeinstellung gegenüber Zuwanderern einnehmen und ihnen möglichst wenig Beschränkungen auferlegen wollen. Dies könnte zum einen auf die langjährige Tradition und Gewohnheit im Zusammenleben von Migranten und Nichtmigranten in Stuttgart zurückzuführen sein. Darüber hinaus gilt die Bevölkerung in Städten als toleranter als die Bevölkerung in ländlichen Gegenden, was sich wiederum auf den höheren Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund in den Städten zurückführen lässt. An Orten, an denen mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben, gibt es mehr Kontaktmöglichkeiten und ein höheres Maß an Toleranz. Außerdem wurde in der Lebensstilbefragung auch ein großer Anteil der Stuttgarterinnen und Stuttgarter befragt, die eigene Migrationserfahrung gemacht haben und deshalb Menschen mit anderer Nationalität, Kultur und Religion eher positiv gegenüberstehen. Der Anteil der passiv toleranten Personen ist in Stuttgart geringer als im Bundesdurchschnitt. Die Anteile der ambivalenten und der intoleranten Personen unterscheiden sich dagegen nur geringfügig von den Ergebnissen der Eurobarometererhebung für Deutschland. Wie bei den Zustimmungen zu den einzelnen Aussagen über Menschen anderer Nationalität, Kultur oder Religion, so spielt auch bei der Zuordnung zu den unterschiedlichen Toleranzgruppen das Alter und die Bildung eine entscheidende Rolle. Das Ergebnis des Vergleichs der Altersgruppen, die den einzelnen Aussagen zum Zusam-

Abb. 9: Toleranzgruppen in der Stuttgarter Bevölkerung 2008 nach Alter

Abb. 10: Toleranzgruppen in der Stuttgarter Bevölkerung 2008 nach Schulabschluss

menleben mit Menschen anderer Nationalität, Kultur und Religion zustimmen, wird auch bei der Zuordnung zu den Toleranztypen bestätigt: Je jünger desto toleranter. Lediglich zehn Prozent der Befragten in der Altersgruppe bis 29 Jahre, lassen sich als intolerant einstufen, dagegen zählen über 40 Prozent in dieser Altersgruppe zu den Aktiv Toleranten. Unter den älteren Stuttgarterinnen und Stuttgartern über 60 Jahre ist die größte Toleranzgruppe die der Ambivalenten. Der Anteil der aktiv to-

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leranten Personen ist in dieser Altersgruppe nur geringfügig größer als der Anteil der intoleranten Personen. Der Anteil der intoleranten Menschen steigt mit zunehmendem Alter. In der Altersgruppe ab 60 Jahren zählt fast ein Viertel der Menschen zum Toleranztyp der Intoleranten. Werden die Befragten in Bildungsgruppen nach ihrem allgemeinen Schulabschluss eingeteilt, ergibt sich für die Zuordnung zu den Toleranzgruppen ebenfalls ein eindeutiges Muster. Jede/-r fünfte Einwohner/-in mit Volks- und Hauptschulabschluss zählt

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Stuttgart – eine tolerante Stadt!?

Hauptschüler eher intolerant

zu der Gruppe der aktiv toleranten Menschen, dagegen jede/-r zweite Einwohner/-in mit Studium. Von den Volksund Hauptschulabsolventen werden 30 Prozent der Gruppe der Intoleranten zugeordnet, dagegen sind es nur zehn Prozent der Absolventen, die mindestens die Fachhochschulreife erworben haben. Die Schulbildung scheint den wichtigsten Einfluss auf die Einstellung gegenüber Zuwanderern zu haben. SORA stellt als Resultat der europäischen Analysen ebenfalls fest, dass eine höhere Bildung ganz eindeutig mit einer positiveren Einstellung gegenüber Minderheiten zusammenhängt.13 Investitionen in schulische Bildung tragen maßgeblich dazu bei, eine tolerantere Einstellung gegenüber Zuwanderern zu erreichen.

Fazit Stuttgart ist tolerant

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Stuttgart ist eine tolerante und offene Stadt insoweit sie den Menschen anderer Nationalität, Religion und Kultur offen gegenübersteht und sie in ihren Eigenheiten akzeptiert. Einer uneingeschränkten Integration in die Gesellschaft und einer uneingeschränkten Umsetzung von Rechten auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik steht ein Viertel der Stuttgarterinnen und Stuttgarter ablehnend gegenüber. Vor allem ältere Menschen und Menschen mit niedrigerem Bildungsabschluss befürworten Einschränkungen von Zuwanderern. Dagegen stehen jüngere Menschen, Menschen mit einem höheren Bildungsabschluss und Menschen, die eine andere oder eine weitere Staatsangehörigkeit als die deutsche besitzen oder deren Eltern oder Ehepartner eine andere Staatsangehörigkeit

haben, der uneingeschränkten Integration von Zuwanderern eher positiv gegenüber. Sie zählen eher zu den aktiv und passiv toleranten Personen. In Zukunft wird der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Stuttgart, der jetzt 39 Prozent beträgt, weiter zunehmen. Außerdem ist zu erwarten, dass es einen weiter steigenden Anteil an Gymnasiasten eines Jahrgangs in Stuttgart gibt. Somit nimmt der Anteil der Schulabgänger mit Fachhochschulreife und Abitur weiter zu. Beide Entwicklungen werden voraussichtlich dazu beitragen, dass der bereits hohe Anteil an aktiv toleranten Menschen in Stuttgart weiter steigen wird.

Fußnoten

1 Florida, Richard, 2002: The Rise of the Creative Class. New York 2 Florida, Richard/Tinagli, Irene, 2006: Technologie, Talente, Toleranz. Europa im kreativen Zeitalter. Perspektive 21, Heft 31. 3 Stadt Heidelberg, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, 2009: Roland Berger Kreativitätsindex 2008. Deutschlands lebendigste Städte. Statistische Kurzmitteilung Nr. 44. 4 Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) 2007: Talente, Technologie und Toleranz – wo Deutschland Zukunft hat. Berlin. 5 Die Eurobarometer-Befragung wird im Abstand von 2 Jahren in den Ländern der Europäischen Union durchgeführt. 6 Das Mandat der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wurde ab 2003 ausgeweitet und ab 2007 in die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte mit Sitz in Wien umgewandelt (Verordnung des Europäischen Rates Nr. 168/2007). 7 Thalhammer 2001: Einstellungen gegenüber Minderheitengruppen in West- und Ostdeutschland. Eine Analyse der Eurobarometer 2000 Erhebung im Auftrag der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Wien. S. 3. 8 Siehe SORA 2001: Attitudes towards minority groups in the European Union. A special Analysis of the Eurobarometer 2000 opin-

ion poll on behalf of the European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia. Technical Report. 9 Wasmer, Martina/Koch, Achim, 2000: Ausländer als Bürger 2. Klasse? Einstellungen zur rechtlichen Gleichstellung von Ausländern, in: Alba, Richard/Schmidt, Richard/Wasmer, Martina: Blickpunkt Gesellschaft 5. Deutsche und Ausländer: Freunde, Fremde oder Feinde? Empirische Befunde und theoretische Erklärungen. Wiesbaden, S. 254-293. 10 Terwey, Michael, 2000: Ethnozentrismus in Deutschland: Seine weltanschaulichen Konnotationen im sozialen Kontext, in Alba, Richard/Schmidt, Richard/Wasmer, Martina: Blickpunkt Gesellschaft 5. Deutsche und Ausländer: Freunde, Fremde oder Feinde? Empirische Befunde und theoretische Erklärungen. Wiesbaden. 11 Terwey 2000 s. Fußnote 10; Urban, Dieter/Mayerl, Jochen, 2006: Der lokale Ausländeranteil wirkt als selektiver Moderator. Zur statistischen Erklärung von Ausländerablehnung. ZA-Information 59. S. 56-82. 12 Bei der statistischen Methode der Clusteranalyse werden die Befragten so gruppiert, dass die Unterschiede zwischen den Befragten in einer Gruppe möglichst gering und die Unterschiede zu den anderen Gruppen möglichst groß sind. Die Unterschiede beziehen sich darauf, wie die Befragten die einzelnen Fragen – für die vorliegende Clusteranalyse die sieben Aussagen zu Menschen anderer Nationalität, Kultur und Religion beantwortet haben. 13 Siehe Fußnote 7.

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Benfords Gesetz und Clusteranalyse

Dem Umfragefälscher auf der Spur Sebastian Bredl, Peter Winker, Kerstin Kötschau, Gießen

Umfragedaten spielen in der Statistik eine zentrale Rolle. Dabei ist nicht nur die Quantität, sondern auch die Datenqualität von großer Wichtigkeit. Diese hängt in entscheidendem Maße davon ab, wie genau und zuverlässig die Antworten der befragten Personen ausfallen. Doch gibt es noch einen weiteren Unsicherheitsfaktor: der Interviewer, der die Befragungen vornimmt. Generell werden Interviewer von den Instituten beauftragt und sind in die nach der Umfrage stattfindende Analyse und Aufbereitung der Daten nicht involviert. Ihr Anreiz, „gute“ Daten abzuliefern, ist daher oftmals nicht besonders groß. Dieser Anreizmangel kann dazu führen, dass Interviewer dazu tendieren, sich die Arbeit zu erleichtern, indem sie von den vorgeschriebenen Prozeduren bei der Durchführung der Befragung abweichen. Der schlimmste Fall, der in diesem Zusammenhang eintreten kann, ist das Fälschen von kompletten Fragebögen. Der Interviewer füllt die Fragebögen selbst aus, ohne die Zielperson jemals zu kontaktieren. Einige Studien untersuchten die Folgen dieser „Fabrikation“ von Daten für die weitere Analyse (Schnell, 1991; Schräpler und Wagner, 2003). Die Resultate deuten darauf

hin, dass die Fälschungen für univariate Statistiken (wie z.B. Mittelwerte oder Varianzen) meist keine gravierenden Auswirkungen haben, sofern nur wenige Fragebögen betroffen sind. Allerdings kann bereits ein kleiner Anteil von gefälschten Fragebögen ausreichen, um multivariate Statistiken (z.B. Koeffizienten in Regressionsanalysen) stark zu verzerren. Diese Erkenntnis scheint einleuchtend. Man stelle sich beispielsweise eine Umfrage vor, in der Daten über den Bruttolohn und den höchsten Bildungsabschluss erhoben werden. Ein Fälscher dürfte nun eine einigermaßen realistische Vorstellung von durchschnittlichen Bruttolöhnen haben. Gleiches dürfte für den Anteil der Personen mit einem bestimmten Bildungsabschluss gelten. Allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass es ihm – insbesondere bei sehr komplexen Fragebögen – gelingt, beide Variablen „aufeinander abzustimmen“, also denjenigen Personen, die einen höheren Bildungsabschluss haben, tendenziell einen höheren Lohn zuzuweisen. Aus diesem Grund würden die gefälschten Daten die Resultate multivariater Analysen des Zusammenhangs zwischen Bruttolöhnen und Bildungsniveau unter Umständen stark verzerren.

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Die Frage ist, wie eine solche Fälschung aufgedeckt werden kann. Die sicherste Methode ist das sogenannte „Reinterview“. Dabei kontaktiert das Institut diejenigen Personen oder Haushalte, die von den Interviewern befragt werden sollten um festzustellen, ob eine solche Befragung tatsächlich stattgefunden hat. Allerdings ist es meist zu aufwendig, diese Verifizierung für alle Teilnehmer an der Befragung durchzuführen. Daher wäre es wünschenswert, bereits vor dem Reinterview einen Anhaltspunkt zu haben, bei welchen Interviewern „etwas genauer hingeschaut“ werden sollte.

Unsicherheitsfaktor Interviewer

Statistische Verfahren Hier kommen nun statistische Verfahren ins Spiel, die versuchen, fälschende von ehrlichen Interviewern auf Grundlage der in den Fragebögen enthaltenen Daten zu trennen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass Fälscher nicht in der Lage sind, die Antworten, die sie in einer Befragung erhalten hätten, zu imitieren. Ein denkbarer Weg wäre die Untersuchung von multivariaten Zusammenhängen, da Fälscher, wie bereits ausgeführt, kaum in der Lage sind, solche Zusammenhänge in ihren fa37


Dem Umfragefälscher auf der Spur

Abb. 1: Verteilung der ersten Ziffern nach Benford und Gleichverteilung

Fälscher senken die Varianz 38

brizierten Daten darzustellen. Solche Ansätze werden in der Literatur diskutiert (siehe z.B. Murphy et al., 2004), allerdings sind sie nur erfolgversprechend, wenn jeder Interviewer eine hinreichend hohe Anzahl an Interviews durchführt. Bei einer kleinen Anzahl von Fragebögen kann bezweifelt werden, ob auf Interviewerebene berechnete multivariaten Zusammenhänge ein verlässlicher Indikator sind. Andere Ansätze sind allgemeiner und berücksichtigen Informationen aus mehreren oder allen Variablen in einem Fragebogen, auch wenn diese Variablen inhaltlich nicht unbedingt viel miteinander zu tun haben. Schäfer et al. (2005)

Ein weiterer Ansatz, der in den letzten Jahren immer mehr an Popularität gewonnen hat, ist die Anwendung von „Benfords Gesetz“. Die Kernaussage dieses Gesetzes ist, dass erste Ziffern aus einem Sample von Zahlen, die aus verschiedenen Verteilungen gezogen werden, nicht über das Intervall 1 bis 9 gleichverteilt sind, wie es intuitiv zu erwarten wäre. Stattdessen folgen die ersten Ziffern einer Verteilung, bei der die erste Ziffer mit höherer Wahrscheinlichkeit den Wert eins als zwei annimmt, die Wahrscheinlichkeit für die Ziffer zwei wiederum höher als diejenige für die Ziffer drei ist, usw. (siehe Abbildung 1). Vergleicht man nur

gehen beispielsweise von der Annahme aus, dass Fälscher eher „zur Mitte“ tendieren. Sie berechneten für alle Fragen im Deutschen Sozioökonomischen Panel die Varianzen auf Interviewerebene für jede Variable – unabhängig von ihrer Bedeutung – und addierten dann die Varianzen auf. Die bereits bekannten Fälscher waren in der Tat unter denjenigen Interviewern zu finden, die die geringste Varianz in ihren Fragebögen aufwiesen.

die ersten Ziffern metrischer Variablen in den Fragebögen eines Interviewers mit der Benfordschen Verteilung und stellt eine große Abweichung fest, kann dies als Indiz für die Fabrikation der Daten gewertet werden. Die Anwendung dieses Ansatzes auf Datensätze mit vorher bekannten Fällen von Fälschungen lieferte einigermaßen erfolgversprechende Resultate (Schräpler und Wagner, 2005; Schäfer et al., 2005).

Allerdings gibt es in der Literatur auch kritische Stimmen bezüglich der Verwendung der Verteilung der ersten Ziffern zur Identifikation von Fälschern (siehe z.B. Diekmann, 2007). Alternativ lässt sich auch die Verteilung erster Ziffern aus den Fragebögen eines Interviewers mit der Verteilung aus allen anderen Fragebögen vergleichen. Dies scheint vor allem dann sinnvoll, wenn die Befragten dazu tendieren, Zahlenangaben zu runden, was zu einem erhöhten Anteil der Ziffern 1 und 5 verglichen mit der Benfordschen Verteilung führt. Aus dem Verhalten von Fälschern können weitere Indikatoren abgeleitet werden. Schäfer et al. (2005) gehen davon aus, dass Fälscher dazu neigen, den Fragebogen komplett auszufüllen und somit weniger fehlende Antworten als ehrliche Interviewer produzieren. Weiterhin scheint es nicht unplausibel anzunehmen, dass ein Fälscher versuchen wird, sich bei der Ausfüllung des Fragebogens möglichst viel Arbeit zu ersparen. So ist denkbar, dass ein Fälscher die Antworten bei sogenannten „Skipquestions“ (Fragen, deren Antworten determinieren, ob ein weiterer Fragenkatalog beantwortet werden muss) so wählt, dass weitere Fragen vermieden werden. Ebenso scheint es gut möglich, dass er bei Fragen, bei denen neben vorgegebenen Antwortmöglichkeiten auch die Antwortoption „andere“ nebst Angabe der Alternative besteht, die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten wählt, um die Angabe einer nicht genannten alternativen Antwort zu vermeiden. Werden beim Computer-AssistedInterviewing zusätzlich Daten über die Dauer und den Zeit-

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Dem Umfragefälscher auf der Spur punkt von Interviews erhoben, kommen auch diese Daten als möglicher Indikator in Frage. Verdächtig sind dann solche Interviewer, die ihre Interviews in extrem kurzer Zeit oder umgekehrt ungewöhnlich lange brauchen (Bushery et al., 1999; Murphy et al., 2004). Generell lässt sich festhalten, dass es bezüglich der Berechnung von Indikatoren kein Patentrezept für jede Art von Fragebogen gibt. Werden keine metrischen Daten erhoben, kann die Benfordsche Verteilung nicht als Indikator herangezogen werden. Existieren keine Skip-questions, kommen auch sie nicht zur Identifikation von Fälschern in Frage. Zur Bildung entsprechender Indikatoren sollte der jeweilige Fragebogen also mit Hinblick darauf inspiziert werden, wie sich ein Fälscher bei der Ausfüllung des Bogens wohl verhalten würde und welche Unterschiede sich daraus zwischen seinen Daten und den Daten ehrlicher Interviewer ergeben würden.

Clusteranalyse Wie gesehen, existieren viele denkbare Indikatoren zur Unterscheidung von ehrlichen Interviewern und Fälschern. Allerdings wurde bisher nach unserem Wissen noch kein Versuch unternommen, mehrere solcher Indikatoren in einer Analyse zusammenzufassen. Ein geeignetes Verfahren in diesem Zusammenhang stellt die Clusteranalyse dar (Bredl et al., 2008). Sie ermöglicht die Zuordnung von Elementen – in unserem Fall Interviewern – in verschiedene Gruppen oder Cluster auf Basis mehrerer Charakteristika – in unserem Fall Werte von Indikatoren, die auf Interviewerebene berechnet wurden. Auf Basis

der Indikatoren lassen sich Distanzen zwischen einzelnen Elementen oder den Zentren von Clustern berechnen (z.B. als quadrierte euklidische Distanzen). Die Zuweisung jedes Elements zu einer der Gruppen kann dann derart erfolgen, dass die Distanz zwischen den Clusterzentren maximiert wird, was die Heterogenität zwischen den Gruppen betont. Alternativ kann auch die Dis­ tanz zwischen den Elementen einer Gruppe oder zwischen Elementen und dem jeweiligen Clusterzentrum minimiert werden, was die Homogenität innerhalb der Gruppen in den Vordergrund stellt. Alternativ lassen sich auch beide Ansätze in einer geeigneten Zielfunktion kombinieren.

Test der Cluster­ analyse Wir konnten diese Idee praktisch testen, da uns ein Datensatz aus einer Haushaltsumfrage aus einem osteuropäischen Land zur Verfügung stand, der Daten von vier nachweislichen Fälschern und von neun ehrlichen Interviewern enthält (sie­ he hierzu auch: Bredl et al., 2008). Auf Grundlage dieser Daten berechneten wir vier Indikatoren auf Interviewer­ ebene: 1. Die x2-Teststatistik aus dem Vergleich der Verteilung erster Ziffern in den Fragebögen eines Interviewers mit der Verteilung in allen übrigen Fragebögen 2. Den Anteil unbeantworteter Fragen 3. Den Anteil der Fragen mit ordinaler Antwortskala, bei denen die niedrigste oder höchste Kategorie gewählt wurde 4. Den Anteil der Frage mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten und der

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Möglichkeit zur Angabe einer nicht vorgegebenen Alternative, die mit einer nicht vorgegebenen Alternative beantwortet wurde Gegeben die Hypothesen über das Verhalten von Fälschern sollte der erste Indikator in ihren Fragebögen hohe Werte annehmen (da die Abweichung zwischen beiden Verteilungen hoch sein dürfte), die drei anderen Indikatoren sollten dagegen geringere Werte ausweisen. Wie Tabelle 1 zeigt, ist dies im Großen und Ganzen auch der Fall, dennoch gelingt mit keinem einzelnen Indikator eine perfekte Trennung von Fälschern und ehrlichen Interviewern.

Verhalten bei Skip-Fragen

Alle 13 Interviewer wurden auf Grundlage der vier Indikatoren mittels Clusteranalyse in zwei Gruppen eingeteilt. Dabei war die Intention, ein sogenanntes Risikocluster zu erhalten, in das vorwiegend Fälscher fallen. Vor Durchführung der Analyse wurden alle Indikatoren auf einen Mittelwert von 0 und eine Standardabweichung von 1 normiert. Unsere Resultate sehen recht vielversprechend aus. Drei Clusterverfahren wurden angewendet, zweimal fanden sich drei der vier Fälscher im Risikocluster, einmal alle vier Fälscher und ein ehrlicher Interviewer. Zur Identifikation des Risikoclusters verwendeten wir die Cluster-Mittelwerte der vier Indikatoren. Tatsächlich war der Mittelwert des ersten Indikators für dasjenige Cluster, in dem sich die Fälscher befanden, stets höher, für die übrigen drei Indikatoren dagegen kleiner, so dass auch ohne vorherige Kenntnis der Fälscher die eindeutige Identifikation des Risiko­clus­ters stets möglich gewesen wäre. 39


16 000 000 – und dann? Bushery, J., Reichert, J., Albright, K. und Rossiter, J. (1999). Using Date and Time Stamps to Detect Interviewer Falsification. In: Proceedings of the American Statistical Association (Survey Research Methods Section). P. 316–320.

Tab. 1: Werte der Indikatoren auf Interviewebene für die vier Fälscher (F) und die ehrlichen Interviewer (I) (alle Werte bis auf x2-Test­ statistik als Anteile in Pro­ zent)

Fazit Der Einsatz der Clusteranalyse zur Aggregation der in mehreren auf Interviewerbasis erhobenen Indikatoren enthaltenen Informationen ist unserer Meinung nach ein erfolgversprechender Ansatz zur Identifikation von fälschenden Interviewern. Unsere Anwendung zeigt, dass er genau das leis­tet, was statistische Verfahren in diesem Zusammenhang leis­ ten sollen: er gibt Aufschluss darüber, welche Interviewer im Rahmen weiterer Qualitätskontrollen – hier ist vor allem an die erwähnten Reinterviews zu denken – vorwiegend ins „Visier“ genommen werden

sollten. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass im für unsere Analyse verwendeten Datensatz die gravierendste Fälschungsform vorlag: Interviewer, die alle ihre Interviews komplett fälschten. Ob unser Ansatz auch gute Resultate liefert, wenn Interviewer nur einen Teil ihrer Fragebögen und/ oder nur einzelne Sektionen der Fragebögen fälschen, wird in Zukunft zu untersuchen sein.

Literatur

Bredl, S., Winker, P. und Kötschau, K. (2008). A Statistical Approach to Detect Cheating Interviewers. ZEU Discussion Paper, Nr. 39.

Murphy, J., Baxter, R., Eyerman, J., Cunningham, D. und Kennet, J. (2004). A System for Detecting Interviewer Falsification. Paper Presented at the American Association for Public Opinion Research 59th Annual Conference. Schäfer, C., Schräpler, J., Müller, K. und Wagner, G. (2005). Automatic Identification of Faked and Fraudulent Interviews in the German SOEP. Schmollers Jahrbuch, 125, 183–193. Schnell, R. (1991). Der Einfluss gefälschter Interviews auf Survey Ergebnisse. Zeitschrift für Soziologie, 20(1), 25–35. Schräpler, J. und Wagner, G. (2003). Identification, Characteristics and Impact of Faked Interviews in Surveys – An analysis by means of genuine fakes in the raw data of SOEP. IZA Discussion Paper Series, 969.

16 000 000 – und dann? Martin Schlegel, Hagen

16 000 000 hieß die Zahl des Jahres 2010. So viele Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. Eine Gruppe, die in den vergangenen Jahrzehnten stetig gewachsen ist und heute eben ein Fünftel der Bevölkerung stellt.

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Diese Zahl hat die Redaktion von „Stadtforschung und Statistik“ aus Ihren Vorschlägen ausgewählt und so soll es auch in diesem Jahr wieder sein. Welche Zahl halten Sie für einen guten Aspiranten für die Zahl des Jahres 2011? Dabei kann es eine Zahl aus der Poli-

tik sein, aus der Wirtschaft, aus dem Sport, der Unterhaltung oder einem anderen Gebiet unserer Gesellschaft. Wenn Sie eine Zahl – oder auch mehrere – heraushebenswert finden, senden Sie sie an die Redaktion dieser Zeitschrift, nach Möglichkeit mit einer kurzen Begründung.

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Analyse des Gebärverhaltens in Leipzig

Babyboom – aber warum? Andrea Schultz, Leipzig

Im letzten Jahrzehnt kamen in Leipzig von Jahr zu Jahr immer mehr Kinder zur Welt. Dieser Geburtenanstieg ist umso erfreulicher, steht er doch dem Trend der 1990er Jahre entgegen, als die Geburtenzahlen drastisch einbrachen. 2001 wurden in Leipzig 3.773 Geborene registriert, in den Folgejahren stieg diese Zahl stetig an. Im Jahr 2008 erblickten erstmalig seit 1990 wieder mehr als 5.000 Kinder das Licht der Welt. Seither hat sich die Zahl der Neugeborenen stabilisiert. Für das Jahr 2010 ist eine Geborenenzahl von circa 5.300 absehbar. Worauf ist der Anstieg der Gebo­ renenzahlen zurückzuführen? • Handelt es sich um einen generellen Anstieg der Fertilität, also bekommen mehr Frauen überhaupt Kinder oder bekommen Frauen häufiger ein zweites oder drittes Kind? • Ist der Zuwachs der Geborenenzahlen auf stark besetzte Jahrgänge bei Frauen im fertilen bzw. hoch-fertilen Alter zurückzuführen? Sind jene Altersjahrgänge stark besetzt, in denen Frauen eher erste Mutterschaften haben oder bereits mehrfachgebärend sind? • Wie ist das Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen im fertilen Alter und welche Auswirkungen auf die Fertilität sind denkbar?

Abb. 1: Geborene in Leipzig 2001 bis 2010 (Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen, Amt für Statistik und Wahlen Leipzig)

* vorläufiger, geschätzter Wert

Methodische An­ merkungen und Nutzung des Ein­ wohnerregisters Die Daten aus der Geburtenstatistik können auf diese Fragestellungen nur bedingt Antworten liefern. Aussagen zur Entwicklung der Fertilität sind im Prinzip durch die TFR möglich, allerdings muss die Interpretation des Indikators auch mit Vorsicht erfolgen. Durch den „Hochrechnungscharakter“ der TFR bleibt erst noch abzuwarten, ob die endgültige Kinderzahl je Frau tatsächlich eintritt. Die Unterstellung, dass sich die 15-jährigen wie die heute 30-jährigen Frauen verhalten, ist nicht stichhaltig. Lebensstiländerungen erfolgen

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erfahrungsgemäß in kürzeren Abständen, gerade für Leipzig als ostdeutsche Großstadt konnte in den vergangenen 20 Jahren eine besondere Dynamik festgestellt werden. Ebenfalls sind Aussagen zur Geburtenfolge, also ob der Geburtenanstieg auf mehr Geschwisterkinder oder generell mehr fertile Frauen zurückzuführen ist, nur bedingt aus der Geburtenstatistik ablesbar. Die Geburtenfolge wurde in der Vergangenheit nur bei verheirateten Eltern erhoben. Da in Leipzig allerdings fast zwei Drittel aller Kinder außerhalb einer Ehe zur Welt kommen, sind diese Daten nicht verwendbar. Seit 2008 wird die Geburtenfolge nunmehr bei allen Geborenen erhoben. Daten

TFR = total fertility rate (zusammengefasste Fruchtbarkeitsziffer)

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Babyboom – aber warum? stehen jedoch im Moment nur für das Jahr 2009 zur Verfügung, so dass keine Trendaussagen möglich sind. Aufgrund dieser mangelnden Datenlage haben wir versucht, durch Analysen des KOSIS Bestands­datensatzes weitergehende Daten über Geburtenfolge, Geschwisterkinder und Altersstruktur­effekte zu ermitteln. Das in dieser Analyse angewandte Verfahren

Tab. 1: Gebärfähige, Geborene und Mehrfachgebärende in Leip­ zig 2001 bis 2010

Jahr

gebärfähige Frauen Ge­borene (15–45)

TFR

2001 99 873 3 773 1,13 2002 101 048 3 844 1,14 2003 102 206 3 951 1,17 2004 102 883 4 274 1,23 2005 104 506 4 312 1,24 2006 104 904 4 410 1,23 2007 104 826 4 736 1,31 2008 104 827 5 096 1,39 2009 104 308 5 018 1,32 2010* ≈103 500 ≈ 5 300 ≈1,33 Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen Ordnungsamt (Einwohnerregister) Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

Anteil Mehrfach­gebärende** 35,4 36,8 39,4 41,0 41,3 42,4 42,3 43,2 44,6 44,1

* vorläufiger, geschätzter Wert ** an allen Müttern, die im Bezugsjahr ein Kind bekommen haben

Tab. 2: Index Gebärfähige, Geborene und Mehrfachgebärende in Leipzig 2001 bis 2010

Jahr

gebärfähige Frauen Geborene (15–45)

TFR

2001  100 2001 100,0 100,0 100,0 2002 101,2 101,9 100,9 2003 102,3 104,7 103,5 2004 103,0 113,3 108,8 2005 104,6 114,3 109,7 2006 105,0 116,9 108,8 2007 105,0 125,5 115,9 2008 105,0 135,1 123,0 2009 104,4 133,0 116,8 2010* ≈ 103,6 ≈ 140,5 ≈ 117,7 Quelle: Statistisches Landesamt Sachsen Ordnungsamt (Einwohnerregister) Amt für Statistik und Wahlen Leipzig * vorläufiger, geschätzter Wert

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Anteil Mehrfachge­bärende 100,0 104,0 111,2 115,5 116,7 119,6 119,2 121,8 125,9 124,5

stützt sich auf die Bevölkerung mit Hauptwohnsitz in der Stadt Leipzig zum Jahresende 2010. Als Geborene gehen die Einwohner mit dem entsprechenden Geburtsjahr (2001 bis 2010) in die Analyse ein. Bedingt durch Zu- und Wegzüge entspricht die Zahl der tatsächlich im Analysejahr geborenen Kinder nicht der Zahl, wie sie auf diese Weise ermittelt wurde. Die Verbindung zwischen der Mutter und des im Analysejahr geborenen Kindes fand über die Wohnadresse und die steuerliche Verzeigerung statt, wie sie aus den Einwohnerbestandsdaten zu entnehmen ist. Auf die gleiche Art und Weise wurden die Geschwisterkinder ermittelt. Bei Zwillingen gehen ein Erstgeborener und ein Zweitgeborener in die Analyse ein. Dies entspricht auch der Definition des Statistischen Landesamts. Einschränkend muss Folgendes beachtet werden: Bei diesen Berechnungen kann nicht zwischen leiblichen Kindern sowie Adoptiv- und Stiefkindern unterschieden werden. Zudem bleiben leibliche Kinder unberücksichtigt, wenn sie nicht bei der Mutter leben oder bereits über 18 Jahre alt sind, was bei der Ermittlung von Geschwisterkindern relevant ist. Eine Überprüfung der Daten des Jahres 2009 zeigt bezüglich der relativen Verteilung jedoch nur sehr geringfügige Abweichungen zu den Daten des Statistischen Landesamtes von weniger als +/-1 Prozentpunkten.

Ergebnisse: Ferti­ litäts- und Alters­ struktureffekt Es stellt sich nun die Frage, worauf der Geburtenanstieg zurückzuführen ist. Liegt die Ursache darin begründet, dass

es mehr Frauen im gebärfähigen Alter in Leipzig gibt? Schließlich sind in den letzten Jahren viele junge Frauen nach Leipzig zugezogen. Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, dass es seit 2001 in Leipzig mehr Frauen im gebärfähigen Alter (15 bis 45 Jahre) gibt. Aber auch die TFR ist größer geworden, das heißt, auch die Gebärfreudigkeit hat zugenommen. Gleichzeitig hat auch die Zahl der Mehrfachgebärenden zugenommen. Demnach sind offensichtlich drei Gründe für den Geburtenanstieg verantwortlich: • mehr bzw. gleichbleibend hohe Zahl an Frauen im gebärfähigen Alter, • mehr Frauen entscheiden sich für ein Kind, • mehr Frauen entscheiden sich für mehrere Kinder.

Welcher Effekt überwiegt? Dass der Geburtenanstieg mehrere Ursachen hat, konnte gezeigt werden, aber welcher Effekt hierbei überwiegt, zeigt die Tabelle 2. Dazu wurde ein Index berechnet, wobei das Basisjahr 2001 auf 100 gesetzt wurde. Damit ist der relative Anstieg der betrachteten Daten ersichtlich. Im Untersuchungszeitraum ist die Zahl der gebärfähigen Frauen demnach um 3,6 % (Index: 103,6) angestiegen. Bei den Geborenen gab es aber einen Zuwachs um 41 %. Der Geborenenzuwachs wiegt also überproportional. In den ersten Jahren des Analysezeitraums, zwischen 2001 und 2006, ist zunächst der Anteil an Geschwisterkindern stark angewachsen. Während die TFR bis 2006 noch mäßig angestiegen ist, hat die Zahl der Geschwisterkinder überpro-

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Babyboom – aber warum? portional zugenommen. Das heißt, der Geburtenanstieg ist in diesem Zeitraum vor allem darauf zurückzuführen, dass Frauen, die bereits ein Kind oder mehrere Kinder haben, ein weiteres Baby zur Welt brachten. Im Jahr 2007 stieg die TFR mit der Einführung des Elterngeldes sprunghaft an, die Zahl der Mehrfachgebärenden verblieb jedoch auf Vorjahresniveau. Somit müsste die Zahl an kinderlosen Frauen im gebärfähigen Alter zurückgegangen sein.

Abb. 2: Anteil der Erst-, Zweit- und Mehrfachgebärenden in Leipzig 2001 bis 2010 (Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister), Amt für Statistik und Wahlen Leipzig)

Erst-, Zweit- und Drittkinder Die Betrachtung der Mehrfachgebärenden im Zeitverlauf (Abb. 2) macht deutlich, dass der Zuwachs an Geschwisterkindern bis 2006 vor allem durch Dritt- oder weitere Kinder getragen wurde. Bis 2006 wuchs der Anteil an Zweitkindern um ca. 2 Prozentpunkte, während die Dritt-, Viert- und weiteren Kinder einen Zuwachs von 5 Prozentpunkten erreichten. Zu beachten gilt, dass mehr Geschwisterkinder nicht zwangsläufig eine höhere endgültige Kinderzahl der Frauen bedeuten. Auch hierbei spielt die Altersstruktur eine Rolle. Mütter von Zweitkindern sind oft etwas älter, wie die Grafik zur Altersverteilung der Mutter nach Erstund Mehrfachgebärenden zeigt (Abb. 3). Denn wenn genau die Jahrgänge von über 30-jährigen Frauen besonders stark besetzt sind, die prädestiniert ein zweites oder drittes Kind bekommen, kommen in logischer Konsequenz auch anteilsmäßig mehr Geschwisterkinder zur Welt.

Abb. 3: Erst- und Mehrfachgebärende nach Alter der Mutter in Leipzig 2010 (Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister), Amt für Statistik und Wahlen Leipzig)

Altersstrukturen Eine Verschneidung der altersspezifischen Fertilität und des Durchschnittsalters bei Geburt des ersten oder weiteren Kindes mit der Anzahl der Frauen in den Altersjahrgängen kann eine Hilfe sein, um aus den aktuellen Strukturen Rückschlüs-

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se auf das zukünftige Geburtenvolumen und die Struktur der Geborenen (Erst- oder Zeitkinder) zu ziehen. Dazu muss der Blick auf den Besatz der Altersjahrgänge von Frauen im fertilen Alter gerichtet werden. Im Jahr 2000 sind die Altersjahrgänge noch 43


Babyboom – aber warum?

Abb. 4: Anzahl der Frauen im fertilen Alter und altersspezifische Fertilitätsraten in Leipzig 2000 bis 2014 (Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister), Amt für Statistik und Wahlen Leipzig (Bevölkerungsvorausschätzung)

* Altersspezifische Fertilitätsraten (GFR)

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Babyboom – aber warum? relativ gleich verteilt. Damals kam aber nur jedes dritte Kind als Geschwisterkind zur Welt. In den nächsten vier Folgejahren erhöhte sich der Bestand an Frauen im jungen fertilen Alter bis 25 Jahre. Also eigentlich waren somit besonders jene Altersjahrgänge gut besetzt, in denen Frauen eher ein erstes Kind zur Welt bringen. Trotz eines unterdurchschnittlichen Anteils an Frauen im höheren fertilen Alter nahm der Anteil von Geschwisterkindern in dieser Zeitspanne aber zu. Bis 2010 verstetigte sich im Wesentlichen dieser Trend zu mehr Geschwisterkindern. Die jüngeren fertilen Altersjahrgänge wuchsen überproportional an und diese Kohorten „schoben“ sich langsam vor ins hoch-fertile Alter. Vergleichsweise hohe Geburtenzahlen waren somit eine logische Konsequenz. Eine zweite Ableitung ist, dass der zunehmende Anteil von Geschwisterkindern somit eindeutig nicht auf Altersstruktureffekte zurückzuführen ist. Ganz offensichtlich kommen hier Lebensstiländerungen zum Tragen, insofern sich junge Paare tatsächlich häufiger für mehrere Kinder entscheiden. Denn die prädestinierten Altersjahrgänge für Mehrfachgebärende (über 30 Jahre) sind – wie bereits gesagt – nach wie vor vergleichsweise gering besetzt. Ein Blick in die Zukunft mit Hilfe der Bevölkerungsprognose für die Stadt Leipzig zeigt, dass in den nächsten Jahren mit einem quantitativen Anstieg der Altersjahrgänge um die 30 Jahre und älter zu rechnen ist. Einerseits sind damit hochfertile Altersjahrgänge weiterhin stark besetzt. Bei einer gleichbleibenden Fertilität dieser Jahrgänge sind auch weiterhin hohe Geburtenzahlen

wahrscheinlich. Andererseits werden sich durch die erwarteten Zuwächse bei Frauen über 30 Jahre auch die absoluten und relativen Zahlen von Geschwis­terkindern erhöhen. (Abb. 4) Ein anderer Aspekt: In der letzten Dekade hat das Alter der Mutter bei Geburt eines Kindes stetig zugenommen. In Leipzig ist im Jahr 2010 eine Frau zum Zeitpunkt der Niederkunft im Durchschnitt fast anderthalb Jahre älter als noch 10 Jahre zuvor. Aber worauf ist der Altersanstieg zurückzuführen? Einerseits finden erste Mutterschaften immer später statt, wie die Grafik zur Entwicklung

des Durchschnittsalters der Mutter zeigt (Abb. 5). Aber es kommen noch weitere erklärende Faktoren hinzu. Wie bereits erläutert, werden wieder mehr Geschwisterkinder geboren und je mehr Kinder eine Frau bereits bekommen hat, desto älter ist sie in der Regel. Zwischen der Geburt des ersten und zweiten Kindes liegen in Leipzig ungefähr viereinhalb Jahre (Tab. 3). Diese Altersdifferenz ist in den letzten 10 Jahren ebenfalls kontinuierlich angestiegen. Die Altersabstände zum dritten und vierten Kind sind sogar überdurchschnittlich angewachsen. Erklärend hierfür können mitunter sich wandelnde Familienmodelle

Ältere Mütter

Abb. 5: Entwicklung des Durchschnittsalters der Mutter bei Geburt in Leipzig (Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister), Amt für Statistik und Wahlen Leipzig)

Tab. 3: Zeitliche Abstände zwischen den Geburten in Leipzig 2001 bis 2010

Abstand zum Abstand zum Jahr jüngsten Kind jüngsten Kind 2001 3,7 Jahre 2006 4,4 Jahre 2002 3,8 Jahre 2007 4,3 Jahre 2003 4,0 Jahre 2008 4,4 Jahre 2004 4,1 Jahre 2009 4,4 Jahre 2005 4,2 Jahre 2010 4,6 Jahre Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister) Amt für Statistik und Wahlen Leipzig Jahr

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Babyboom – aber warum? sein. Wenn Kinder unterschiedliche Väter haben, kann auch ein zwischenzeitlicher Partnerwechsel die Zeitspanne bis zur nächsten Schwangerschaft verlängern.

Geschlechter­ proportionen Ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis wirkt sich positiv auf die Fertilität aus, weshalb an dieser Stelle auf einige Besonderheiten hingewiesen sein soll. In Leipzig gibt es mehr Männer als Frauen im fertilen Alter (Abb. 6). In manchen Altersjahrgängen kommen auf 100 Männer nur zwischen 80 und 85 Frauen, was unter anderem auf ein überproportional hohes Wanderungsdefizit bei jungen Frauen in den 1990er Jahren zurückzuführen ist. Das führte in den vergangenen Jahren dazu, dass jede Männerkohorte auf eine zah-

lenmäßig kleinere Kohorte noch nicht partnerschaftlich gebundener Frauen traf. Wissenschaftler nennen es den „birth-squeeze-Effekt“, wenn sich ein unausgewogenes Geschlechterverhältnis negativ auf das Niveau und die Verteilung von Geburten auswirkt. Daten der kommunalen Bürgerumfrage bestätigen, dass Männer in Leipzig häufiger kinderlos bleiben als Frauen, obwohl der Kinderwunsch bei Männern und Frauen gleichermaßen stark vorhanden ist. In den letzten Jahren traf das Frauendefizit ganz besonders die hoch-fertilen Altersjahrgänge, was unweigerlich auf die Geburtenzahl drückte. Dank des vermehrten Zuzugs vieler junger Frauen nach Leipzig herrscht bei den Altersjahrgängen bis 27 Jahre wieder eine gute Geschlechterproportion bzw. sogar ein Frauenüberschuss. Es ist also

Abb. 6: Anzahl Frauen auf 100 Männer in Leipzig 2010 (Quelle: Ordnungsamt (Einwohnerregister), Amt für Statistik und Wahlen Leipzig

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davon auszugehen, dass in den nächs­ten Jahren das Geburtenniveau durch den Geschlechtereffekt positiv beeinflusst wird. Entschieden ist die erwartete Entwicklung jedoch erst, wenn die jungen Frauen und Männer nach der Ausbildung oder dem Studium (weiterhin) entsprechende Erwerbsmöglichkeiten vorfinden, denn nur dann ist ein Verbleib auf Dauer und eine Familiengründung realistisch.

Resümee Die Ergebnisse zeigen, dass es in Leipzig wieder einen Trend zu größeren Familien gibt. Bereits in den letzten Jahren wurden zunehmend mehr Geschwisterkinder geboren, wenngleich die Altergruppe der über 30-jährigen Frauen im Moment noch schwach besetzt ist. Wenn zukünftig die stark besetzten Jahrgänge ins spätere fertile Alter vorrücken, sind nochmals mehr Geschwis­ terkinder zu erwarten. Frauen bekommen immer später Kinder. Spätere erste Mutterschaften und zunehmend längere Abstände zwischen den Geschwisterkindern sind dafür gleichermaßen verantwortlich. Durch ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis bzw. einen Frauenüberschuss bei den jungen Leipzigern unter 27 Jahre ist zudem auch mit einem generellen Anstieg der Fertilität in dieser Altersgruppe zu rechnen. Also unabhängig davon, wie sich die generelle Fertilität in den nächsten Jahren entwickeln wird und ob Leipzig auch weiterhin ein Zuzugsort für junge Frauen (und Männer) sein wird, ergibt sich aus der derzeitigen Altersstruktur bereits eine solide Basis für das Geburtenniveau der nächsten Jahre.

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Geburtenziffer im Vergleich von alten und neuen Ländern

Elterngeld zeugt keine Kinder Eberhard Schubert, Erfurt

In der Sonntagszeitung der Frankfurter Allgemeinen vom 23.12.2010 hat sich eine Redakteurin zum o.g. Thema geäußert. Tenor des Beitrags war im Wesentlichen, dass durch das Elterngeld und die Elternzeit, die insbesondere väterlichercherseits zu ausgedehnten Auslandsreisen Anlass gäbe, ein positiver Effekt auf die Geburtenzahl nicht zu erkennen wäre. Dies forderte meine Recherchewut heraus. Die erforderlichen Daten waren rasch von der Internetpräsentation des Statistischen Bundesamts beschafft. Glücklicherweise waren dort auch die zusammengefassten Geburtenziffern seit dem Jahr 1990 separat für die alten und die neuen Länder ausgewiesen. Nachstehend meine Zuschrift an die Redaktion: „Sehr geehrte Frau Weiguny, etwas differenzierter hätte es schon sein können! Es ist doch klar, dass Geld allein das Problem der viel zu geringen Geburtenraten nicht löst. Aber hilfreich kann es in vielen Fällen schon sein. Nicht jeder Papa wird dann gleich mit dem Nachwuchs nach Amerika reisen. Aber: Der Beitrag verstellt, dass ohne Elterngeld die Geburtenzahlen wohl noch viel niedriger ausgefallen wären. Seit dem Jahrtausendwechsel war diese Zahl jährlich im Durchschnitt um etwa 14.700 Geburten gefallen (gleitende Durchschnit-

te). Erst nach Wirksamkeit des Elterngelds wurde dieser Trend gebrochen. Es lässt sich leicht berechnen, dass in den Jahren 2007 bis 2009 etwa 102.500 Kinder zusätzlich geboren wurden. Rein rechnerisch entfällt damit auf jede „zusätzliche“ Geburt ein Betrag von 100.975 Euro Elterngeld. Ob dieser Betrag zu hoch ist, muss die Politik entscheiden. In jedem Fall muss sie dann auch die Alternativen benennen. Die Spezifik unterschiedlicher Entwicklung in den alten Ländern und in den neuen Ländern wird im Beitrag völlig ausgeblendet. In den alten Ländern ist seit 1998 die zusammengefasste Geburtenziffer regelmäßig gefallen und zwar von 1,41 auf 1,34 in 2006. Erst mit dem Jahr 2007

gab es einen bescheidenen Anstieg. Der lineare Trend zeigt leider seit 1990 nach Süden. Ganz anders zeigt sich die Entwicklung in den neuen Ländern! Dort besteht seit dem Tiefpunkt des Jahres 1994, der ja weitgehend durch die Anpassung des regenerativen Verhaltens der Ostfrauen an die Westfrauen geprägt war, eine Aufwärtsentwicklung. Der Wert ist seither von 0,772 auf 1,404 kontinuierlich angestiegen. Damit hat sich die TFR im Osten nicht nur angeglichen, sondern liegt 2009 um 0,051 über dem Wert des Westens. Mit freundlichen Grüßen Eberhard Schubert, Erfurt“

Elterngeld und Auslandsreisen?

Dem ist nun nur noch die resultierende Grafik hinzuzufügen.

Abb. 1: Zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) im Vergleich der alten und der neuen Länder in den Jahren 1990 bis 2009 (Daten: Statistisches Bundesamt, Zusammenfassende Übersichten, Eheschließungen, Geborene und Gestorbene)

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Wer lebt länger?

Soziale Umwelt und Gesundheit Johannes Siegrist, Düsseldorf

nach Einkommen, Bildungsniveau und beruflicher Stellung geschichtete Gruppierungen. Ihre Analyse befasst sich mit den Strukturmerkmalen und Entwicklungstendenzen sozialer Systeme, mit ihren ökonomischen und kulturellen Determinanten und mit ihren Auswirkungen auf das Verhalten und Befinden von Menschen, einschließlich ihrer Gesundheit. Dieser letztgenannte Aspekt steht hier im Vordergrund.

Blick auf die Stadt Xi‘an, China (Foto: M. Schlegel, Hagen)

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Zu Recht hat die inzwischen weltweit aktive ökologische Bewegung ihren Schwerpunkt auf die von Menschen verursachten Schädigungen und Bedrohungen der natürlichen Umwelt, des Biotops dieser Erde, der Vielfalt ihrer Arten sowie der Unversehrtheit ihrer Atmosphäre gelegt. Ein wichtiger Aspekt der ökologischen Bewegung betrifft die direkten und indirekten Auswirkungen der genannten Schäden auf die menschliche Gesundheit. Direkte Wirkungen gehen beispielsweise von Umweltgiften oder von verstärkter UV-Strahlung aus, indirekte Wirkungen von der durch globale Erwär-

mung veränderten geographischen Ausbreitung von Krankheitserregern (CSDH, 2008). So wichtig es ist, nachhaltig auf diese Gefahren aufmerksam zu machen und aktiv zu ihrer Verringerung beizutragen, so wichtig ist es andererseits, die ökologische Perspektive über die ‚natürliche’ Umwelt auszuweiten, indem die ‚soziale’ Umwelt in die Analyse einbezogen wird. ‚Soziale Umwelt’ umfasst die verschiedenen Formen menschlicher Vergesellschaftung, seien es Stammesgesellschaften oder demokratisch verfasste nationale Bevölkerungen, seien es soziale Kasten, Klassen oder

Mit dem weltumspannenden Modernisierungsprozess hat der Aspekt der Urbanisierung eine besondere Bedeutung erhalten, da er die soziale Umwelt von Menschen vermutlich weit reichender als jede andere Entwicklung beeinflusst. Heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten, und der Urbanisierungsprozess nimmt mit der Ausbreitung von etwa zwei Dutzend ‚Megacities’ (Städte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern) und von über 500 Städten mit 1 bis 10 Millionen Einwohnern weiter drastisch zu. Während Urbanisierung in hoch entwickelten Gesellschaften mit ausgebauten Transport- und Versorgungssystemen, mit reich gefächerten Dienstleistungen, kulturellem Angebot und sozialer Sicherheit assoziiert ist, geht sie in Entwicklungs- und Schwellenländern, zumindest gegenwärtig, mit einem ho-

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Soziale Umwelt und Gesundheit hen Maß an sozialer Verelendung einher. Zurzeit umfasst die meist in Slums wohnende urbane Armutsbevölkerung global schätzungsweise eine Milliarde Menschen. Zu ihren außerordentlich prekären Lebensbedingungen zählt auch eine hohe Krankheitslast. Hier breiten sich neben Infektionskrankheiten, Unfällen und Gewalthandlungen vor allem Suchtkrankheiten, HerzKreislauf- und Stoffwechselkrankheiten sowie psychische Störungen aus (The Marmot Review, 2010). Die negativen Auswirkungen der in urbanen Zentren besonders sichtbaren Veränderungen sozialer Umwelt auf die Gesundheit lassen sich, wenn auch in abgeschwächter Form, in modernen westlichen Gesellschaften ebenfalls feststellen. Im Zentrum steht hierbei der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit. Je ungünstiger die Wohn- und Einkommenssituation von Menschen ist, je belas­ tender ihre Arbeitsbedingungen und je prekärer ihre sozialen Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie sind, desto höher ist ihre gesundheitliche Gefährdung (Richter u. Hurrelmann, 2009; Siegrist u. Marmot, 2008). Diese medizinsoziologische Gesetzmäßigkeit lässt sich sowohl auf der makrosozialen (d.h. die gesamte Gesellschaftsstruktur umfassenden) Ebene wie auch auf der mikrosozialen (d.h. die sozialen Nahwelten alltäglichen Handelns umfassenden) Ebene nachweisen. Nachfolgend sollen einige neue Forschungsergebnisse zu diesen beiden Aspekten dargestellt werden, bei deren Auswahl der Gesichtspunkt praktischer Relevanz im Vordergrund stand.

Makrosoziale Umwelt und Gesundheit Trotz beeindruckender Fortschritte der Medizin, trotz technologischer Neuerungen, sozialstaatlicher Sicherungssysteme und Wohlstandsvermehrung bestehen soziale Ungleichheiten von Krankheit und Frühsterblichkeit in modernen Gesellschaften weiterhin. Dabei zeigt die wichtigste Erkenntnis der bevölkerungsbezogenen Gesundheitsforschung, dass die meisten weit verbreiteten chronischen Krankheiten, ebenso wie die Lebenserwartung, einem Verteilungsgesetz folgen, das als ‚sozialer Gradient’ bezeichnet wird. Dies bedeutet: Je höher die soziale Stellung einer Person in der Gesellschaft ist, desto besser ist ihre Gesundheit, desto höher ist ihre Lebenserwartung. Nicht nur der Abstand zwischen den sozialen Gruppen am oberen und unteren Ende einer gesellschaftlichen Schichtungsstruktur ist von Bedeutung, sondern ebenso die Tatsache, dass ungleiche Gesundheitschancen die gesamte gesellschaftliche Struktur durchziehen: So ist die Lebenserwartung bereits bei der zweithöchsten sozialen Schicht geringer als bei der höchsten, und dieser ‚Treppeneffekt’ lässt sich über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg nachweisen. Dabei handelt es sich um höchst bedeutsame Unterschiede, wie die mittleren Differenzen der Lebenserwartung von bis zu 10 Jahren zwischen Mitgliedern der obersten und Mitgliedern der untersten sozialen Schicht belegen. Diese Zahlen stammen aus besonders wohlhabenden Ländern wie Deutschland, Schweden, Frankreich oder Großbritannien (Richter

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u. Hurrelmann, 2009; Siegrist u. Marmot, 2008). Die mit der Aufklärung dieser sozialen Ungleichheiten von Gesundheit und Krankheit befasste medizinsoziologische Forschung hat in den vergangenen Jahren wichtige Fortschritte erzielt. Heute gilt als gesichert, dass neben materieller Armut drei Ursachenbündel ausschlaggebend sind: • ungünstige Entwicklungsbedingungen am Lebensbeginn, während der Schwangerschaft und in der frühen Kindheit, • gesundheitsschädigende Lebensweisen, die vorwiegend in der Adoleszenz erworben und im späteren Leben verfestigt werden, und • chronische psychosoziale Belastungen in den zentralen Bereichen von Beruf und Familie. In makrosozialer Perspektive sind Faktoren wie Einkommen, Bildung, Erwerbsstatuts und Wohnsituation von primärem Interesse, da sie die Bedingungen sozial ungleicher Gesundheitschancen maßgeblich beeinflussen. Dies zeigen Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen der Einkommenshöhe und dem Risiko der vorzeitigen Sterblichkeit (Tod vor dem 65. Lebensjahr), die in Abbildung 1 für die deutsche Bevölkerung dargestellt werden. Die Daten entstammen dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) und beziehen sich auf den Zeitraum 1995 bis 2005 sowie auf Angaben von mehr als 32.500 Personen im Alter ab 18 Jahren. Das Nettoeinkommen der Personen wurde in fünf Klasen unterteilt. Wie man sieht, ist die vorzeitige Sterblichkeit umso höher, je niedriger das Einkommen ist. Im Vergleich zur höchsten Einkommensgruppe sterben in

1 Mrd. Menschen leben in Slums

Sozialer Gradient

Frühe Sterblichkeit sinkt bei höherem Einkommen

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Soziale Umwelt und Gesundheit

Abb. 1: Sterbefälle vor dem Al­ ter von 65 Jahren, nach Ein­ kommen und Geschlecht in Deutschland (Quelle: T. Lampert et al., 2007)

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der niedrigsten Einkommensgruppe mehr als doppelt so viele Männer und Frauen vorzeitig (Lampert et al., 2007). Aber nicht nur die Differenz zwischen ‚oben’ und ‚unten’ ist von Bedeutung, sondern ebenso die Tatsache, dass sich der genannte ‚Treppeneffekt’ der Sterblichkeit durch die gesamte Einkommensstruktur hindurch zieht (der ‚soziale Gradient’). Dieser Gradient wird ebenso sichtbar, wenn die Bevölkerung nach der Höhe der Ausbildung oder nach Höhe der beruflichen Stellung des Haushaltsvorstands geschichtet wird, und er findet sich überdies, wenn das Kriterium nicht ‚Frühsterblichkeit’ heißt, sondern wenn es um die

Häufigkeit weit verbreiteter chronischer Krankheiten geht, wie insbesondere Herz-Kreislauf-Krankheiten, Stoffwechselkrankheiten, affektive Störungen, Suchterkrankungen, Atemwegserkrankungen sowie bestimmte Krebskrankheiten (z. B. Lungenkrebs) (Richter u. Hurrelmann, 2009; Siegrist u. Marmot, 2008). Ähnliche Zusammenhänge sind beobachtet worden, wenn Aspekte des Wohnumfeldes untersucht wurden, so z. B. Wohnviertel mit einem hohen Anteil arbeitsloser Einwohner oder mit einem hohen Anteil allein lebender Menschen (Siegrist u. Marmot, 2008). In einer britischen Studie wurde vor wenigen Jahren gezeigt, dass die räumliche Distanz zwischen der Wohnung und dem Zugang zu Grünflächen (z. B. Parkanlagen, Feld-, Wiesen- und Waldflächen) einen engen Zusammenhang mit dem Sterberisiko aufweist, und zwar selbst nach statistischer Kontrolle der Einkommenshöhe der Bewohner (Mitchell u. Popham, 2008). Leichter und häufiger Zugang zu Grünflächen bedeutet nicht nur vermehrte körperliche Bewegung und vermehrte sportliche Betätigung – beides Schutzfaktoren der Gesundheit –, sondern auch vermehrte Chancen der Entspannung, des Ausgleichs von beruflicher Belastung durch Freizeit sowie geringere Exposition gegenüber gesundheitsschädigenden Umwelteinflüssen. Die Erkenntnisse zu makrosozialen Einflüssen auf die Gesundheit der Bevölkerung – und speziell auf deren sozial ungleiche Verteilung – sind in allen modernen Gesellschaften, aus denen entsprechende Daten vorhanden sind, so einheitlich und in ihrer Evidenz

so überzeugend, dass Maßnahmen zur Verringerung sozialer Ungleichheit von Gesundheit und Krankheit inzwischen von vielen Regierungen als ein vorrangiges Ziel der Gesundheits- und Gesellschaftspolitik betrachtet werden (The Marmot Review, 2010). Es ist einsichtig, dass sich aus den einschlägigen Erkenntnissen der Forschung zu makrosozialen Einflüssen auf gesundheitliche Ungleichheit wichtige praktische Folgerungen ableiten lassen. Sie betreffen beispielsweise Verbesserungen im Bildungssystem, in der Einkommensverteilung und Steuerpolitik, sowie in der Stadtplanung, der Besiedlungs- und Verkehrsplanung sowie im Umweltschutz. Allerdings richten sich solche Maßnahmen auf ganze Bevölkerungsgruppen, ohne speziell gefährdete Gruppen oder speziell belastende Lebens- und Arbeitskontexte zu berücksichtigen. Die Forschung zu mikrosozialen Einflüssen auf die Gesundheit zeigt jedoch, dass von ihnen ebenfalls deutliche Effekte auf Gesundheitschancen und Erkrankungsrisiken ausgehen. Daher sollten auch diese Erkenntnisse, die im nächsten Abschnitt anhand weniger Beispiele dargestellt werden, in die praktischen Bemühungen um die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheit einbezogen werden.

Mikrosoziale Umwelt und Gesundheit Man kann die Einflüsse der sozialen Nahwelten alltäglichen Handelns und Erlebens auf Gesundheit und Wohlbefinden am besten erfassen, wenn man sie in ein allgemeines theoretisches Konzept

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Soziale Umwelt und Gesundheit integriert, in das Konzept der psychosozialen Balance. Psychosoziale Balance bedeutet, dass Menschen wesentliche Bedürfnisse ihrer Lebensgestaltung mit ihrer sozialen Umwelt in Einklang zu bringen vermögen (Siegrist, 2009). Obwohl es in der Wissenschaft keinen Konsens bezüglich einer universellen Wertigkeit einzelner menschlicher Bedürfnisse gibt, spricht vieles dafür, neben dem basalen Streben nach physischem Wohlbefinden und nach Sicherung der eigenen Existenz drei solchen Bedürfnissen eine besonders hohe Priorität einzuräumen: • dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Eingebundensein in soziale Beziehungen und Netzwerke; • dem Bedürfnis nach Autonomie, d.h. der Selbstverwirklichung im Medium des Handelns; • dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, d.h. dem Wunsch, für die eigene Person und ihr Handeln eine signifikante Bestätigung durch Andere in Form positiver Rückmeldung zu erhalten. Alle drei Bedürfnisse verweisen auf die Bedeutung menschlicher Vergesellschaftung für das Wohlbefinden, auf die Tatsache, dass wir primär soziale Wesen sind. Werden sie erfüllt, dann fördert dies Wohlbefinden und Gesundheit, werden sie hingegen unterdrückt oder gehemmt, dann erhöht sich das Risiko psychischer und körperlicher Störungen. Diese weitreichende Einsicht ist in den vergangenen 30 Jahren durch eine Fülle wissenschaftlicher Untersuchungen untermauert worden. Sie zeigen beispielsweise, dass Menschen, die vertrauensvolle, emotional stabile Bezie-

hungen zu ihnen Nahestehenden haben, im mittleren und höheren Lebensalter im Durchschnitt seltener erkranken und länger leben als sozial vereinsamte Menschen (Holt-Lunstadt et al., 2010). Ihr Risiko, einen Herzinfarkt oder eine depressive Störung zu erleiden, ist deutlich geringer, wenn sie sozial nicht isoliert, sondern in ein Netzwerk von tragfähigen Beziehungen eingebunden sind. Solche Beziehungen reichen typischerweise über die Partnerschaft hinaus, jedoch ist in mehreren Studien gezeigt worden, dass auch das Sterberisiko Alleinlebender deutlich gegenüber demjenigen Verheirateter erhöht ist. Die Gründe für diese Schutzwirkung guter sozialer Beziehungen für die Gesundheit sind vielfältig. Sie reichen von Hilfeleistungen bei Schwierigkeiten und Notlagen über verbesserte Ernährung und andere gesundheitsfördernde Verhaltensweisen bis zu den Antistress-Wirkungen von Erfahrungen der Liebe, der Geborgenheit und des Vertrauens, welche die Gesundheit über das Hormonsystem und über die körpereigene Immunantwort stärken. Wenn soziale Vereinsamung und Isolierung zunehmen, sei es durch die Auflösung familiärer Strukturen, durch hohe berufliche Mobilität, durch Armut oder durch den Verlust Nahestehender, dann erhöhen sich die Risiken gestörter Gesundheit und vorzeitiger Sterblichkeit. Diese Erkenntnisse sind auch für die Gestaltung der städtischen Umwelt, der Wohnformen und der öffentlichen Einrichtungen von praktischer Bedeutung. Vergleichbare wissenschaftliche Ergebnisse liegen zum zweiten grundlegenden Be-

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dürfnis vor, dem Bedürfnis nach Autonomie, nach Selbstverwirklichung im Medium des Handelns. Für die meisten Menschen gilt, dass sie den Wunsch haben, wichtige Ziele durch selbstständiges Handeln zu erreichen. Dies ist in erster Linie im Rahmen der Berufstätigkeit der Fall. Wer von der Teilnahme am Arbeitsmarkt ausgeschlossen ist, wer keinen Beruf findet, der seiner Begabung und Leistungsfähigkeit einigermaßen entspricht, dessen psychosoziale Balance ist nachhaltig gestört. Das Bedürfnis nach autonomem Handeln wird aber auch in einer beruflichen Tätigkeit blockiert, die durch ein kritisches Aufgabenprofil bestimmt ist, welches durch die Arbeitsstressforschung anhand des sog. AnforderungsKontroll-Modells identifiziert worden ist. Danach wird Dauerstress im Arbeitsleben bei Beschäftigten erfahren, deren Arbeitsaufgaben durch quantitativ hohe Anforderungen (Zeitdruck, Arbeitsmenge) und zugleich durch einen geringeren Entscheidungs- und Kontrollspielraum bei der Ausführung gekennzeichnet sind (klassisches Beispiel: Fließbandarbeit). Mit der Erfahrung geringer Autonomie der arbeitenden Person und mangelnder Nutzung persönlicher Fähigkeiten werden Erfolgs- und Selbstwirksamkeitsgefühle bei der Arbeit unterbunden, mit der Folge andauernder Aktivierung von Stressachsen im Organismus. In zahlreichen Studien ist gezeigt worden, dass Personen, die an Arbeitsplätzen mit einem entsprechenden Aufgabenprofil dauerhaft beschäftigt sind, erhöhte stressassoziierte Erkrankungsrisiken aufweisen (s. Abb. 2). Diese Erkenntnis gilt aber nicht nur für Autonomieerfahrungen

Bedürfnisse mit hoher Priorität: Zugehörigkeit

Autonomie

Anerkennung

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Soziale Umwelt und Gesundheit

Abb. 2: Relatives Risiko (Ha­ zard Ratio) für kardiovas­ kuläre Mortalität nach dem Ausmaß von Arbeitsstress (‚Anforderung-Kontroll-Mo­ dell‘ (Job Strain-Modell), Modell beruflicher Gratifi­ kationskrisen) in einer fin­ nischen Längsschnittstudie. Die Abbildung basiert auf der Veröffentlichung von E. Brunner et al. 2004.

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im Beruf, sondern auch in anderen zentralen Handlungsbereichen, bspw. der Hausarbeit, der Erziehungsarbeit oder dem freiwilligen ehrenamtlichen Engagement (Karasek u. Theorell, 1990). Drittens bildet die Erfahrung sozialer Wertschätzung ein wesentliches Element psychosozialer Balance. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung durch nahestehende oder anderweitig wichtige Personen dient dem universellen Bestreben, wiederkehrend ein positives Selbstwertgefühl zu erfahren. Wertschätzung ist in der Regel an das Erbringen von Leistungen gebunden. Die Erfahrung einer befriedigenden, als angemessen und gerecht empfundenen Beziehung zwischen Leistung und Belohnung, zwischen Geben und Nehmen, stellt einen weiteren Schutzfaktor psychosozialer Balance dar. Mit der Erfüllung dieses maßgeblichen Prinzips sozialer Reziprozität gehen starke positive Emotionen einher. Besonders bedeutsam für die Gesundheit ist die Erfüllung des Prinzips sozialer Reziprozität in vertraglichen Beziehungen, in welchen Rechte und Pflichten beim Ausüben zentraler sozialer Rollen geregelt sind. Angemessene Grati-

fikationen für berufliche Leistungen zu erfahren, vermindert das Risiko stressassoziierter Erkrankungen. Dies haben umfangreiche Untersuchungen anhand des Modells beruflicher Gratifikationskrisen ergeben. Dieses Modell besagt, dass intensive Stressreaktionen in Situationen hoher Verausgabung erfolgen, denen keine angemessenen Belohnungen entsprechen (Siegrist u. Marmot, 2008). Hohe berufliche Verausgabung zusammen mit niedrigen Gratifikationen in Form von Lohn oder Gehalt, beruflichem Aufstieg bzw. Sicherheit des Arbeitsplatzes sowie Anerkennung und Wertschätzung erhöhen das Risiko einer koronaren Herzkrankheit, einer Depression sowie weiterer stressassoziierter Erkrankungen, je nach Studie um 50150%. Ein Beispiel für die krankmachende Wirkung gestörter psychosozialer Balance im Berufsleben gibt Abbildung 2 (Brunner et al., 2004). Hier wird das relative Risiko der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit nach Ausmaß von Arbeitsstress in einer finnischen Studie dargestellt. Als Arbeitsstress dient das Anforderungs-KontrollModell (linke Seite) sowie das Modell beruflicher Gratifika-

tionskrisen (rechte Seite). Wie man sieht, ist das Risiko der Herz-Kreislauf-Sterblichkeit in der Gruppe derjenigen, die durch besonders hohe Werte bei der Messung von Arbeitsstress gekennzeichnet waren (jeweils oberes Tertil der Belastungswerte) mehr als doppelt so hoch wie dasjenige der Beschäftigten ohne nachweisbare Stressbelastung zu Beginn der Studie. In dieser Analyse werden einflussreiche Risikofaktoren wie bspw. Alter, Geschlecht, Übergewicht, Bluthochdruck, Bewegungsmangel statistisch kontrolliert, sodass das erhöhte Risiko nicht auf diese Bedingungen zurückgeführt werden kann.

Fazit Zusammenfassend können wir festhalten, dass nicht nur makrosoziale Einflüsse Erkrankungsrisiken erhöhen, sondern ebenso bestimmte mikrosoziale Faktoren der Nahwelt, welche die psychosoziale Balance von Menschen beeinträchtigen Menschen, • die sozial isoliert, ohne vertrauensvolle Beziehungen leben, • die im Beruf oder in anderen wichtigen Tätigkeiten keine Gelegenheit haben, Autonomie und Kontrolle zu erfahren und damit die eigene Selbstwirksamkeit im sozialen Umfeld zu erleben, • die trotz ihrer Bemühungen keine angemessene Anerkennung und Wertschätzung erfahren, sind vermehrt stressassoziierten Gesundheitsgefahren ausgesetzt. Die Erkenntnisse belegen, dass damit in der Regel eine Verdoppelung des Erkrankungsrisikos gegenüber Menschen einher geht, die befriedigende Erfahrungen

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Soziale Umwelt und Gesundheit eines Einklangs ihrer wichtigen Bedürfnisse mit Anforderungen und Belohnungen ihrer sozialen Umwelt machen. Auf die gesundheits- und gesellschaftspolitischen Folgerungen, die sich aus diesen neuen Erkenntnissen für die Praxis ergeben, so beispielsweise im Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung oder der Bildungspolitik, kann hier nicht eingegangen werden. Die Erkenntnisse unterstreichen jedoch die Notwendigkeit, in der Gesundheitspolitik in viel stärkerem Maße als bisher die Gesundheitsförderung und die Prävention zu beachten und Gesundheit zu einem zentralen Querschnittsthema, das in die anderen Politikbereiche hineingreift, zu machen. Abschließend ist der Hinweis wichtig, dass inzwischen aus der Forschung überzeugende Erkenntnisse zu den gesundheitsfördernden Wirkungen von Glückserfahrungen vorliegen (Seligmann, 2009). Dieser direkte Nachweis positiver sozialer Emotionen auf Gesundheit und Wohlbefinden ergänzt somit die oben referierten Erkenntnisse, welche gewissermaßen über den Umweg des Nachweises negativer Wirkungen belastender makro- und mikrosozialer Umweltfaktoren zu einem ähnlichen Schluss gelangen. So bleibt zu hoffen, dass Menschen in größerem Maße als bisher in der Lage sein werden, wesentliche Bedürfnisse ihrer Lebensgestaltung mit ihrer sozialen Umwelt in Einklang zu bringen. Die positiven Emotionen, die Erfahrungen von Wohlbefinden und Glück, welche dadurch hervorgerufen werden, bilden eine wertvolle, bisher unterschätze Ressource zur Erhaltung und Förderung von Gesundheit. Diese Res-

sourcen zu stärken ist aber nicht nur Aufgabe des Einzelnen, sondern ebenso Aufgabe einer nachhaltigen Gesundheits- und Gesellschaftspolitik.

Literatur

Brunner, E. J., Kivimäki, M., Siegrist, J., Theorell, T., Luukkonen, R., Riihimäki, H., Vahtera, J., Kirjonen, J., LeinoArjas, P. (2004) Is the effect of work stress confounded by socio-economic factors in the Valmet study? Journal of Epidemiology and Community Health 58: 1019-1020. CSDH (2008) Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Final Report of the Commission on Social Determinants of Health. Geneva, World Health Organization. Holt-Lunstad,J., Smith, T.B., Layton, J. B. (2010) Social relationships and mortality risk: a meta-analytic review. PLoS Med 7(7): e1000316. doi:10.1371/journal. pmed.1000316 Karasek, R. A., Theorell, T. (1990) Healthy work. Stress, productivity and the reconstruction of working life. Basic Books, New York. Lampert, T., Kroll, L. E., Dunkelber, A. (2007) Soziale Ungleichheit der Lebenserwartung in Deutscland. Aus Politik und Zeitgeschichte 41: 11-18. Mitchell, R., Popham, F. (2008) Effect of exposure to natural environment on health inequalities: An observational population study. The Lancet 372(9650): 1655-1660. Richter, M., Hurrelmann, K. (Hrsg.) (2009) Gesundheitliche Ungleichheit, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. Seligman, MEP (2003) Der Glücks-Faktor. Warum Opti-

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misten länger leben. Bastei Lübbe. Siegrist, J. (2009) Psychosoziale Balance. In: U. Nixdorff (Hrsg.) Check-Up-Medizin. Thieme Verlag, München, S. 323-332. Siegrist, J., Marmot, M. (Hrsg.) (2008) Soziale Ungleichheiten und Gesundheit: Erklärungsansätze und gesundheitliche Folgerungen. Huber, Bern. The Marmot Review (2010). Fair Society, Healthy Lives. University College of London, London.

­

Über Statisti

k:

Fast schon kl assisch sind d ie Worte eines Untern ehmers beim Rauswurf seines Untern ehmensberat ers, als letzterer einen ersten Zwisch enbe­ richt präsenti eren wollte, in d em er ausführlichst die denkbaren Markt­ strategien er läuterte, wob ei eine Vielzahl von Schaubildern den um­ fangreichen, streng wissen schaftlich formulierten Text ergänzt en und alle Daten in einem eigenen Tabel len­ band festgeh alten waren: „Die Hauptsac he bleibt: Bill iger ein­ kaufen als ve rkaufen.“

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Schon lange ein Thema

Volkszählung? Wieso? Fehlt jemand? Ruth Schmidt, Dresden

Um die Frage gleich zu beantworten: Das wissen wir nicht. Wir wissen es heute nicht und werden es auch nach Vorliegen der Zensus-Ergebnisse nicht wissen. Und im Übrigen ist das eine sehr komfortable Fragestellung, denn die Datenlage gibt eher zu einer an Nestroy angelehnten Vermutung Anlass: Dass es wohl viele geben wird, die nicht da sind – denn laut Statistischem Bundesamt ist „die Bevölkerungszahl

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Deutschlands insgesamt wahrscheinlich um ca. 1,3 Millionen Menschen überzeichnet“. Das ist nicht erfreulich, aber kein Grund so zu reagieren wie von Stalin berichtet wird, der 1937 das unerwünschte Ergebnis u. a. der Zählung der durch seine Agrarpolitik erheblich dezimierten Bevölkerung geheim hielt und die Zählungsverantwortlichen mit Stalinscher Konsequenz behandelte. Das nächste Volkszählungs-

ergebnis im Jahr 1939 in der UdSSR entsprach dann den Erwartungen (https://www.statistik.tu-dortmund. de/fileadmin/user_upload/Lehrstuehle/ IWuS/Publikationen/Kraemer/ Research/Lenin29012011.pdf). Der Zensus 2011 findet in Deutschland nicht mehr als Totalerhebung statt, sondern besteht aus methodisch unterschiedlichen Teilerhebungen sowie Berechnungen, wie der nachfolgenden Grafik (Quelle:

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Volkszählung? Wieso? Fehlt jemand? Statistisches Bundesamt) zu entnehmen ist. Trotzdem ist er mit erheblichem personellen, zeitlichen und natürlich finanziellen Aufwand verbunden. Gespannt sein darf man auf die Ergebnisse, auch wenn sie etwas auf sich warten lassen werden. Und spätestens, wenn sie vorliegen, wird man sich daran erinnern, dass die in unserem Kulturkreis berühmteste Datenerhebung im Lukas-Evangelium als Schätzung bezeichnet wurde. Wobei die Begriffe Schätzung, Volkszählung und Zensus durchaus in eine Euphemismus-Tretmühle geraten sein könnten.

endgültigen Hauptergebnisse veröffentlicht. Sie stimmten zur Genugtuung der Leipziger Statistiker „vollkommen mit denen überein, die wir schon am 23. April 1891 veröffentlichen konnten“. Für Leipzig wurden 1890 insgesamt 251.224 „ortsansässige“ Einwohner ermittelt. Beachtlich sind die kurzen Zeiträume, die zwischen Zählungstag und den ersten Veröffentlichungen liegen – ganz ohne DV-Unterstützung! Mit dieser soll es beim jetzigen Zensus 18 Monate bis zum Vorliegen der ersten Ergebnisse dauern.

1890: Ergebnisse

1925: Erhebungs­ beauftragte

In der Fachbibliothek des Leipziger Amtes für Statistik und Wahlen finden sich einige Veröffentlichungen zu Volkszählungen früherer Jahre. So beispielsweise zur allgemeinen deutschen Volkszählung am 01.12.1890. Im Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig aus dem Jahr 1890 ist zu lesen: „Um aber die fertig gestellten Ergebnisse nicht unnöthig veralten zu lassen und um den zahlreichen Bedürfnissen der Verwaltung möglichst bald gerecht zu werden, haben wir die vorläufigen Ergebnisse schon am 5. Dezember 1890 im Leipziger Tageblatt veröffentlicht. Auf Grund der vorgenommenen eingehenden Prüfung, Berichtigung und Vervollständigung des Materials konnten wir dann am 23. April 1891 in einer großen Übersichtstabelle die Hauptergebnisse der Zählung im Leipziger Tageblatt veröffentlichen.“ Ende Juli 1891 erschien ein Sonderheft des Leipziger statistischen Amtes mit vorläufigen Ergebnissen und im Januar 1892 wurden vom Königlichen statistischen Bureau Sachsens die

Der Verwaltungsbericht von 1890 enthält keine Angaben zur Organisation der Volkszählung; diese findet man ausführlich im Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig für das Rechnungsjahr 1925. Darin wird auf das Problem von spät erscheinenden gesetzlichen Regelungen sowie der Gewinnung von Erhebungsbeauftragten, auch Interviewer oder Zähler genannt, eingegangen. „Am 16. Juni 1925 hat im Deutschen Reiche eine allgemeine Volks-, Berufs- und Betriebszählung stattgefunden. ... bei der Zählerbeschaffung ... in Leipzig (sind) neue Wege beschritten worden. Das war zunächst nicht beabsichtigt, vielmehr sollte auch diese Erhebung wieder mit freiwilligen Zählern durchgeführt werden, zumal das Gesetz selbst diesen Weg als den in erster Linie gegebenen bezeichnete. Ein entsprechender Aufruf an die Gesamtbevölkerung in den Tageszeitungen hatte aber so gut wie keinen Erfolg. Es gingen nur acht Meldungen ein. Auch die alsbald eingeleiteten Besprechungen mit den

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Vertretern der Beamten- und Lehrerorganisationen hatten ein negatives Ergebnis. Allgemein trat die Abneigung gegen die Übernahme des Ehrenamtes als freiwillige Zähler hervor. Die in Aussicht gestellten Verordnungen der Reichs- und Landesministerien, die die Zählerbeschaffung aus den Kreisen der Beamten und Lehrer erleichtern sollten, erschienen viel zu spät. Unter diesen Umständen blieb nichts anderes übrig, als von der in der Verordnung des Reichswirtschaftsministeriums vorgesehenen Möglichkeit, die Hausbesitzer zur Austeilung und Wiedereinsammlung der Zählpapiere in ihren Grundstücken heranzuziehen, Gebrauch zu machen. ... Im ganzen dürften in Leipzig bei rund 24.000 Grundstücken etwa 20.000 Hausbesitzer und Vertreter an der Zählung beteiligt gewesen sein.“ Die Organisatoren des Zensus 2011 dürften die eine oder andere Parallele erkennen, da es mitunter Schwierigkeiten bereitete, genügend Erhebungsbeauftragte zu finden und gesetzliche Regelungen auf sich warten ließen. In Leipzig gab es durch rechtzeitiges Werben keine Probleme bei der Gewinnung der benötigten rund 300 Erhebungsbeauftragten. Betreut werden diese von in der Zensuserhebungsstelle tätigen zwei Mitarbeitern des Amtes für Statistik und Wahlen und sieben zusätzlich eingestellten Mitarbeitern.

1890: Schnelles Ergebnis

Hausbesitzer ersetzen Zähler

1792 und 2011: Zweck und Um­ fang Der Zweck und damit die auf diesen ausgerichteten Fragen einer Volkszählung änderten sich im Laufe der Jahrhunderte. 1792 bis 1830 fanden in Leip55


Volkszählung? Wieso? Fehlt jemand? zig sogenannte Consumentenzählungen statt, basierend auf einer Verordnung Friedrich Augusts vom 19. August 1791. In ihr heißt es: „Wir befinden für nöthig, sowie zeitherr, also auch künftig alljährlich, nach vollbrachter Erndte, Consignationen über den Erndten-Ertrag, auch die sonst vorhanden Vorräthe, und Consumenten-Verzeichnisse erfordern zu lassen.“ Die Erhebung erfolgte zur „Abwendung Mangels und drückender Theurung des Getreides in Unseren Landen“. (Codex Augusteus, 2. Fortsetzung, 1. Abteilung, S. 1003). Der Text in dem Kasten beschreibt, welche Bevölkerungsgruppen 1792 in das „Consumenten­v erzeichnis“ aufgenommen und befragt wurden. Die entsprechende Festlegung für 2011 im § 2 (1) Zensusgesetz 2011 ist wesentlich überschaubarer: Zur Bevölkerung zählen 1. die nach den melderechtlichen Vorschriften zum Berichtszeitpunkt meldepflichtigen Personen, Codex Augusteus, 2. Fortset­ zung, 1. Abteilung, S. 1003

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2. die im Ausland tätigen Angehörigen der Bundeswehr, der Polizeibehörden und des Auswärtigen Dienstes (§ 2 des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst) sowie ihre dort ansässigen Familien. Eine in der Daseinsvorsorge des Staates liegende Begründung des Zwecks der Zählung aus dem Jahr 1791 findet man auch für den jetzigen Zensus. Im § 1 (3) Zensusgesetz 2011 heißt es: Der Zensus dient 1. der Feststellung der amtlichen Einwohnerzahlen von Bund, Ländern und Gemeinden und der Bereitstellung der Grundlage für die Fortschreibung der amtlichen Einwohnerzahlen für die Zeit zwischen zwei Volkszählungen, 2. der Gewinnung von Grunddaten für das Gesamtsys­ tem der amtlichen Statistik sowie von Strukturdaten über die Bevölkerung als Datengrundlage insbesondere für politische Entscheidungen von Bund, Ländern

und Kommunen auf den Gebieten Bevölkerung, Wirtschaft, Soziales, Wohnungswesen, Raumordnung, Verkehr, Umwelt und Arbeitsmarkt sowie 3. der Erfüllung der Berichtspflichten nach der Verordnung (EG) Nr. 763/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über Volks- und Wohnungszählungen (ABl. L 218 vom 13.8.2008, S. 14).

1867 und 1950: Spezielle Frage­ stellungen Außer den in Volkszählungen immer wiederkehrenden Fragen, wie beispielsweise zur Bevölkerung, gab und gibt es Fragen und Auswertungen, die sich aus dem aktuellen Zeitgeschehen ergeben. 1867 berichtete das statistische Bureau der Stadt Leipzig über die Bedeutung der bevorstehenden Volkszählung am 03.12.1867: „... es wird von Tag zu Tag wichtiger zu wissen, wie unser Gemeinwesen beschaffen ist bei den steigenden Anforderungen wechselnder Zeitgeschicke. Der Eintritt in den norddeutschen Bund – um bei nahe liegenden Beispielen stehen zu bleiben – mit seiner tiefer greifenden Heeresergänzung, wirft er nicht Fragen auf, die zuletzt von der Statistik beantwortet werden? Sie zählt den jährlichen Zuwachs an männlichen Neugeborenen, sie berechnet uns, wie viele das streitbare Alter erreichen, sie sagt uns also wie viele Pfeile wir dereinst noch zu versenden haben.“ (Mittheilungen des statistischen Bureaus der Stadt Leipzig 1868). Damals wurde auch erhoben, wie viele Wohnungen im wievielten Stockwerk liegen, wohl

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Volkszählung? Wieso? Fehlt jemand? um insbesondere die Zahl der für die Gesundheit prekären Kellerwohnungen zu ermitteln. Auch im Ergebnis der anfangs erwähnten Volkszählung aus dem Jahr 1890 gibt es eine diesbezügliche umfangreiche kleinräumige Auswertung für die Stadt Leipzig. Das nebenstehende Foto 1 vermittelt einen Eindruck von der Volkszählung, die am 01.01.1971 in der DDR stattgefunden hat. Derartige Großereignisse waren auch immer willkommener Anlass für eine ironische Zeitkritik. So wurde angesichts der wirtschaftlichen Lage und der anhaltenden Republikflucht die am 31.08.1950 in der DDR stattfindende Volkszählung um die folgende Frage „ergänzt“: „Haben Sie vor, 1952 noch in der DDR leben? Und wenn ja, wovon?“

Foto 1: Auswertung der Volkszählung 1971 in der DDR: In den Hallen 18 und 22 auf dem Leipziger Messegelände hatte die Staatliche Zentralverwaltung für Statistik eine zentrale Signierstelle ein­ gerichtet. 1.900 Personen setzten dort die Arbeit von über 400.000 Zählern fort.

2010: China Dieser Tage gab das Nationale Statistikbüro Chinas das Ergebnis der Volkszählung bekannt, für die im November 2010 sechs Millionen Volkszähler von Tür zu Tür gegangen waren. Fünf Monate nach der Zählung wurde veröffentlicht, dass 1,3397 Milliarden Menschen im Reich der Mitte leben. Fünf Monate! 1,3397 Milliarden! Vielleicht kann man ja doch hoffen, Ergebnisse des deutschen Zensus vom 09.05.2011 vor November 2012 zu erfahren.

Foto 2: Werbung für die Volkszählung in China. Foto: M. Schlegel, Hagen

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Jugendgerichtshilfestatistik des Landkreises Kassel

2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugenddelinquenz Jens Bukowski, Kassel

Daten von 1998 bis 2008

Daten der Jugendämter

Die Polizeiliche Kriminalstatistik, unzweifelhaft eine der wichtigsten Datengrundlagen der kriminologischen Forschung, krankt daran, die Tatverdächtigen nach dem Ort der Tat zu zählen. Denn der Tatort kann, muss aber nicht mit dem Wohnort übereinstimmen. Des Weiteren kann diese Statistik nicht auf vergangene Interventionen der öffentlichen Jugendhilfe verweisen, weil der Polizei naturgemäß die Aktenlage des Jugendamtes nicht zugänglich ist. In dieser Lage scheint der Weg über die Daten des zuständigen Jugendamtes ratsam, denn dessen Zuständigkeit bemisst sich nach dem Wohnort des Tatverdächtigen. So konnten belastbare Zahlen erzeugt werden.

Vorgehensweise Schon seit einigen Jahren werden die „Fälle“ der Jugendgerichthilfe des Landkreises Kassel relativ detailliert erfasst – angefangen von der Biographie des Klienten/der Klientin, über die Lebensbedingungen bis hin zur Reak­ tion der Justiz. Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) legt fest, dass die Strafmündigkeit mit dem 14. Geburtstag beginnt; eine Regelung, die mit dafür verantwortlich ist, dass die 58

Jugendgerichtshilfe für die tatverdächtigen Personen im Alter von über 14 Jahren, aber unter 21 Jahren zuständig ist, um „im Strafverfahren die erzieherischen und sozialen Gesichtspunkte zur Geltung zu bringen“ Diese „Fälle“ sind in Wahrheit Mitteilungen1 der Staatsanwaltschaft über polizeilich abgeschlossene Ermittlungen gegen über 14- und unter 21-jährige Bewohner des Landkreises Kassel im Norden Hessens. Hier handelt es sich also um eine Längsschnittuntersuchung, der eine Vollerhebung zugrunde liegt; Stichprobenfehler sind damit ausgeschlossen. Diese Vollerhebung gibt Hinweise zu wichtigen Aufgaben des öffentlichen Jugendhilfeträgers, z. B. zur Jugendhilfeplanung und zur Kriminalprävention. Die folgenden Aussagen beruhen auf der vollständigen Dokumentation aller Fälle der Jugendgerichtshilfe des Jugendamtes des Landkreises Kassel, allerdings gingen tatverdächtige, strafunmündige Kinder nicht mit in diese Untersuchung ein. Für den Landkreis selbst sind im Rohdatensatz 13.338 Fälle der Tatjahre 1997 bis 2009 dokumentiert, die die Gesamtheit aller Fälle darstellen, die zwischen dem 1.1.1995 und dem 31.06.2009

ihren Hauptverhandlungstermin hatten. Für die hier vorliegende Analyse wurden nur die Tatjahre von 1998 bis einschließlich 2008 einbezogen. Die im Folgenden untersuchte Stichprobe umfasst also elf Jahre und besteht aus 11.811 Fällen. Die Fachkräfte der JGH haben zeitnah alle relevanten Merkmale des Falles dokumentiert. Die Datenanalyse hat der Autor durchgeführt. Der Zweck der Kooperation zwischen Universität und dem Jugendgerichtshilfe-Team liegt darin, ein zeitgemäßes Erhebungsinstrumentarium zu entwickeln, und dieses ständig auf seine Tauglichkeit hin zu überprüfen. Es soll leicht handhabbar sein und gleichzeitig die pädagogisch bzw. jugendpolitisch relevanten Informationen zur Verfügung stellen. An dieser Stelle sollen die vorhandenen Daten genutzt werden, um die justiziellen Reaktionen auf Delinquenz der letzten Jahre zu beleuchten.

Delinquenz in zeit­ licher Dimension Mit der nun folgenden Analyse soll die amtsinterne Statistik der Jugendgerichtshilfe aufbereitet werden; genauer gesagt, es wird der Zeitverlauf von 1998 bis 2008 verfolgt und der

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2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugenddelinquenz Gesichtspunkt der justiziellen Reaktion ausgewertet. Die Tabellen und Diagramme sprechen vielfach für sich, deshalb werden die Interpretationen auf die wichtigsten Kernsätze beschränkt. Die Auswertung stützt sich weiterhin auf Tatjahre; die Begründung liegt darin, dass Tatjahre eine gewissermaßen „sachliche/natürliche“ Dimension sind, während die auch mögliche Einteilung nach dem „Hauptverhandlungsjahr“ Gefahr liefe, durch wechselweise Arbeitsbeschleunigungen und -verzögerungen der Justiz, die aber ihrer eigenen Logik folgen, unkalkulierbare und sachfremde Einflüsse einbeziehen zu müssen. Schließlich muss noch ein Satz zur Aktualität der hier verwendeten Daten gesagt werden. Die Übersichten und Auswertungen sind so aktuell wie es irgend geht. Dabei ist das jüngste ausgezählte Jahr das Jahr 2008, weil es erstens sinnvoll ist, den Tatzeitpunkt zum Einteilungskriterium zu machen (s.o.), und weil zweitens zwischen Tat und Urteil in der Regel eine lange Zeit vergeht. Wir können recht genau sehen, wie lange es dauert. Drei Monate nach der Tat sind 20 % der Fälle abgeurteilt; nach sieben Monaten sind es 50 % der Fälle, nach insgesamt 14,1 Monaten aber auch erst 80 %, so dass auch zwei Jahre nach der Tat erst in 92 % der Anklagen die endgültige Hauptverhandlung geschehen ist. Die Ursachen für diesen Zeitverzug sind mehrschichtig: manche polizeilichen Ermittlungen dauern nun mal ihre Zeit, manchmal ist die Arbeitsbelastung der Justiz durchschlagend und manchmal benötigt eine Anklage drei, vier oder mehr Verhandlungstermine. Aber da die juristische Reaktion für uns wichtige und

unabdingbare Informationen beinhaltet, wollen und müssen wir die gerichtliche Hauptverhandlung abwarten. (Allein die Polizeistatistik beruht auf ermittelten Tatverdächtigen und kann nichts darüber aussagen ob und wie der Tatverdächtige vom Gericht gesehen wurde.) Wir fassen zusammen: unsere Übersichten sind nur auf den ersten Blick veraltet – in Wahrheit sind sie optimal aktuell.

Hellfeld-Analyse Das Hauptziel der Analyse liegt im Längsschnitt der beobachteten elf Jahre. Einen so langen Zeitraum mit einem einheitlichen Instrument beobachtet zu haben, ist in der Kriminologie selten und hat somit von vornherein einen Wert. Das Stichwort „Kriminologie“ erfordert einen weiteren Hinweis: Diese Auswertung beruht auf Hellfelddaten! Darum kann genau genommen über die tatsächliche Delinquenz (= Gesamtsumme aus Dunkelfeld und Hellfeld) keine Aussage gemacht werden. In der kriminologischen Diskussion wird sehr darauf geachtet, das Hellfeld und das Dunkelfeld zu unterscheiden. Denn nur ein Teil der Straftaten gelangt zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden; diese Teilmenge wird „Hellfeld“ genannt. Der Rest, der nicht bekannt wurde, bleibt somit ‚dunkel‘, das ist das oben erwähnte Dunkelfeld. Somit wird deutlich, dass sich mehrere wichtige Folgegedanken dem Modell des Hellfeldes/ Dunkelfeldes anschließen: 1. Wir postulieren eine nicht direkt erfassbare Gesamtmenge an realen Verhaltensweisen/ Geschehnissen, die kriminalisierbar sind. Ein Teil derselben wird bekannt bzw. registriert, d.h. er tritt ins Hellfeld ein.

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2. Genau genommen stellt also erst der Eintritt ins Hellfeld die Kriminalität im polizeilichen Sinne her. Und es gibt recht viele Faktoren, die diesen Eintritt steuern oder mindestens beeinflussen: die zeitlich/ örtlich verstandene Kontrolldichte, die Anzeigebereitschaft, die Sensibilisierung für ein bestimmtes Verhalten, die öffentliche Sichtbarkeit eines bestimmten Verhaltens usw. Dies läuft auf Folgendes hinaus: viele nicht steuerbare, auf jeden Fall nicht politisch steuerbare Faktoren beeinflussen den Übergang in das Hellfeld und beeinflussen die Grenze zwischen Hell- und Dunkelfeld. 3. Hellfeld und Dunkelfeld müssen separat erforscht und untersucht werden. Jedes Feld verlangt jeweils spezielle Methoden und Ins­ trumente. Eine Schlussfolgerung von Hellfeldwissen auf das Dunkelfeld ist prinzipiell nicht möglich und damit ist eine Schlussfolgerung von Hellfeldwissen auf die Gesamtmenge der strafbaren Verhaltensweisen prinzipiell auch nicht möglich. Alle drei Mengen sind unabhängig voneinander; z.B. kann der Anstieg eines Wertes im Hellfeld sowohl • einen Anstieg im Dunkelfeld und einen Anstieg in der Gesamtmenge der strafbaren Verhaltensweisen bzw. kriminalisierbaren Geschehnissen, • ein Sinken im Dunkelfeld und einen Anstieg in der Gesamtmenge, • ein Sinken im Dunkelfeld und ein Konstanthalten in der Gesamtmenge (dies wäre eine Verschiebung der Hell-/ Dunkelgrenze) oder

Tatjahr statt Haupt­ verhandlungsjahr

Längsschnittanalyse über 11 Jahre

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2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugenddelinquenz • ein Sinken im Dunkelfeld und ein Sinken in der Gesamtmenge bedeuten, ohne dass diese vier Fälle unterscheidbar wären. Natürlich gibt es Teilbereiche, in denen man von einem sehr, sehr kleinen Dunkelfeld ausgehen muss, z.B. werden nahezu alle Kfz-Diebstähle angezeigt, weil die Versicherungen dies zur Schadensregulierung verlangen. Auf der anderen Seite ist bei der häuslichen Gewalt, wenn Kinder die Opfer sind, das Hellfeld nahe Null, diese Straftat gibt es fast ausschließlich im Dunkelfeld. Jeder Teilbereich der Kriminalität bringt also in dieser Hinsicht seine eigenen, spezifischen Besonderheiten mit sich.

Aufbereitung der Daten Die in den Diagrammen enthaltenen Reaktionen, die vom Gericht oder vom Staatsanwalt ausgesprochen wurden, wurden der besseren Übersicht

halber teilweise zusammengefasst. Im Verfahren, das den Verfehlungen, die mit Strafe bedroht sind, folgt, hat das Jugendgericht eine ganze Reihe an Reaktionsmöglichkeiten, die sich in ihrer Differenziertheit lohnen, detailliert betrachtet zu werden. Hier soll allerdings ein vergröbernder Blick genügen, es soll der Dualismus ‚Jugendhilfereaktion versus Justizmittelreaktion‘ vorgestellt werden. Dieses Denkangebot verspricht durch seinen zusammenfassenden Blick nämlich einen Klarheits- und Deutlichkeitsgewinn. Zu diesem Zweck werden die justiziellen Reaktionen aufgeteilt in Reaktionen, die sich der justizeigenen Mittel bedienen; es handelt sich im Einzelnen um alle Arten von Haft und alle Arten von Geldstrafen und -bußen (diese Reaktionen nennen wir „Reaktionen mit Justizmitteln“); und Reaktionen, die sich der professionellen Jugendhilfe bedienen; es sind dies offenbar alle restlichen Reaktionen, von der

Arbeitsauflage, deren Erfüllung kontrolliert werden muss, über Betreuung, Aufsicht, soziale Trainingskurse bis zum AntiAggressivitäts-Training, um nur einige Beispiele herauszugreifen (diese Reaktionen nennen wir „Reaktionen mit Jugendhilfeaktivitäten“). Eine unserer Untersuchungsfragen lautet nun: Haben sich im Laufe des Untersuchungszeitraumes die Gewichte zwischen der Justizmittel-Sanktion auf der einen Seite und der Jugendhilfe-Sanktion auf der anderen Seite verschoben?

Ergebnisse2 • Alle vier Ausprägungen der Freiheitsstrafen (Kurzarrest, Dauerarrest, Jugendstrafe mit und ohne Bewährung) nahmen beständig und über den ganzen Beobachtungszeitraum hinweg ab. Die einzelnen Kurven ähneln sich sehr. Die Kurve des Anteils der Kurzarreste (dieser dauert unter einer Woche, oft nur Samstag/

Anteile in Prozent

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2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugenddelinquenz Sonntag, um mit Bildung/ Ausbildung nicht in Konflikt zu treten) beschreibt ein doppeltes U , der erste weniger ausgeprägte Tiefpunkt liegt im Jahre 2002 (0,6 % der Fälle) und der zweite ausgeprägtere Tiefpunkt liegt im Jahr 2006 (0,3 % der Fälle). Auch die Anteile der Dauerarreste (dieser dauert zwischen einer und vier Wochen) und der Jugendstrafen (die zwischen mindestens 6 Monaten und höchstens 10 Jahren variiert) beschreiben eine u-förmige Kurve, deren Tiefpunkt im Jahre 2006 (keine Jugendstrafen ohne Bewährung) bzw. im Jahr 2007 (nur 1,4 % Dauerarreste und 0,7 % Jugendstrafen mit Bewährung) liegt. Wird Bewährung gewährt, so braucht die Freiheitsstrafe nicht tatsächlich angetreten zu werden – ein gewisses Wohlverhalten vorausgesetzt. (Diagramm 1) • Bis 2005 – ganz deutlich in den Jahren von 2001

bis 2005 – gab es die Entwicklung weg von den Hauptverhandlungen und hin zur Diversion. In der justiziellen Aufarbeitung der Fälle aus 2005 lässt sich eine Richtungswende ausmachen: bis einschließlich zum Tatjahr 2005 stieg der Anteil der Diversionen und Einstellungen ohne Weisungen und Auflagen, während die Diversionen mit Weisungen beständig über den ganzen Beobachtungszeitraum schrumpfen. (Diagramm 2) Ähnlich wie die Diversionen mit Weisungen nahm auch bis 2005 der Anteil der Hauptverhandlungen (in denen allesamt mindestens eine Weisung oder Auflage auferlegt worden ist) beständig ab. Strafbefehle sind eng mit Straßenverkehrsdelikten assoziiert, spielen aber von der Menge her nur eine marginale Rolle, randständig ist auch der Anteil der Freisprüche. Ab 2005/06 wendet sich das Bild deut-

lich: die Diversionen ohne Weisungen nehmen ab und der Anteil der Hauptverhandlungen steigt an. Wie oben schon gesagt, nimmt der Anteil der Diversionen mit Weisungen weiterhin ab. Zusammen erreichen die beiden Varianten von Diversionen und Einstellungen in 2008 einen Anteil von unter 60 % an allen Fällen, der kleinste Wert, den es seit 1997 (= im Beobachtungszeitraum) bisher gab. • Auch bei der Betrachtung der justiziellen Sanktion im engeren Sinne (Diagramm 3) zeigt sich wiederum der o.g. Wendepunkt. Bis zum Tatjahr 2004 steigt der Anteil der Verfahren ohne direkte Sanktion, und parallel sinkt der Anteil der Sanktionen mit Justizmitteln (Geldbußen und Freiheitsstrafen) bis zum niedrigsten Wert im Tatjahr 2005. Seit 2004 sinkt der Anteil der sanktionslosen Verfahren und seit 2005 steigt der Anteil der Ver-

Diversion statt Haupt­ verhandlung

Anteile in Prozent

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2005 – Wende in der justiziellen Reaktion auf Jugenddelinquenz fahren wieder an, die mit Justizmitteln sanktioniert werden. Das Tatjahr 2008 hat in etwa die Größenordnung der JustizmittelSanktion von 1998 wieder erreicht. In ihrer U-Förmigkeit mit dem Tiefpunkt im Jahr 2005 ähnelt diese Kurve sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Bedeutung der anhand des Dia­ gramms 1 beschriebenen Entwicklung im Zeitverlauf der Freiheitsstrafen. Allerdings erreichen die Anteile der Freiheitsstrafen im Jahr 2008 nur etwa den halben Wert des Jahres 1998, während die justizielle Reaktion insgesamt den vollen Wert von 1998 wieder erreicht. Offenbar haben die Geldbußen an Bedeutung gewonnen und den Platz des Freiheitsentzugs teilweise übernommen. • Die Anteile der Sanktionen mit Jugendhilfeaktivitäten

(im weitesten Sinne pädagogisch intervenierend, einschließlich der Arbeitsauflagen) durchlaufen im Beobachtungszeitraum dieselbe u-förmige Kurve, allerdings hat sie ihren tiefsten Punkt in 2003: davor sinken die Anteile der Sanktionen mit Jugendhilfeaktivitäten (im damaligen Zeitraum stiegen die Anteile der Fälle ohne Sanktionen) und nach 2003 stiegen die Anteile der Sanktionen mit Jugendhilfe-Aktivitäten parallel mit den Anteilen der Fälle mit Justizmittelsanktion (in dieser jüngeren Vergangenheit sinken jetzt die Anteile der Fälle ohne Sanktion). Inzwischen (in der Aufarbeitung des Tatjahres 2008) gibt es mehr Jugendhilfe-Reaktionen denn je; ihr Anteil von fast 39 % war (im Beobachtungszeitraum) noch nie so hoch.

Was hat uns überrascht? Ganz knapp zusammengefasst ergibt sich das folgende Bild: 1. Freiheitsstrafen und Arreste werden in all ihren Ausprägungen seit 2005 seltener ausgesprochen. Das genaue Hinsehen zeigt aber in der Gegenwart einen leichten Anstieg. Freiheitsstrafen und Arreste sind sozusagen seit vier bis fünf Jahren ‚unmodern‘, aber in einem langsamen, stetigen Aufschwung begriffen. 2. Sowohl „Hauptverhandlungen“ als auch „Diversionen und Einstellungen ohne Weisungen“ nehmen als Verfahrenstyp seit 2005 deutlich zu, während „Diversionen/Einstellungen mit Weisungen“ unübersehbar abnehmen. Wenn diese Verfahrenstypen vergröbert gesehen als verschieden abgestufte Strenge interpretiert werden dürfen, dann

Anteile in Prozent

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Fehler 2011 ist die mittlere Strenge ‚unmodern‘ geworden, die Pole „sehr streng“ und „kaum streng“ übernehmen ihren Platz. 3. Die „Sanktion mit Justizmitteln“ ist zwischenzeitlich mal ‚unmodern‘ gewesen, hat aber inzwischen ihr Ausgangsgewicht wieder erreicht. Die darunter eingeordneten Freiheitsstrafen sind wie gesagt durchgehend „unmodern‘ geworden, also folgt daraus, dass die Geldbußen seit 2005 eine (immer noch weiter) wachsende Sanktionsform geworden sind. Genau wie die „Sanktion mit Justizmitteln“ hat auch die „Sanktion mit Jugendhilfeaktivitäten“ im beobachteten Zeitraum ihr Häufigkeitstal durchschritten und hat dabei die Ausgangswerte von 1998 hinter sich gelassen. Interessant ist, dass beide Sanktionstypen fast die gleiche

Kurve beschreiben. Sie werden offenbar nicht als komplementär zueinander verstanden. Dieses Ergebnis hat uns am deutlichsten überrascht, weil es unsere Vorerwartung, „Reaktionen mit Justizmitteln“ könnten durch „Reaktionen mit Jugendhilfeaktivitäten“ ersetzt werden, widerlegt. Der gemeinsame Komplementärwert zu beiden Reaktionstypen heißt offenbar „keine direkte Reaktion“. Letztere – oder mit anderen Worten die „Diversion/Einstellung ohne Weisung“ (Diagramm 2!) – hatte in der Zeit vor 2005 eine Wachstumsphase, die seitdem in ein Abschrumpfen übergegangen ist, das inzwischen auch schon den Ausgangswert von 1998 unterschritten hat. Wer etwas vergröbern möchte, kann sagen, dass in diesen geschilderten Wachstums- und Schrumpfungsentwicklungen das Jahr 2005 das Jahr der Wende war.

Anmerkungen:

1. ‚Fälle’ sind in diesem Verständnis gleichbedeutend mit Anklagen. Damit unterscheiden sich ‚Fälle’ von Personen (weil es einige Personen gibt, die wiederholt vor Gericht stehen) und auch von Straftaten (weil eine Anklage oft eine Reihe von Straftaten aufführt). 2. Die ausgewiesenen Prozentzahlen sind immer die Anteile der Fälle mit der jeweiligen Sanktion/Verfahrensweise in Bezug auf alle entsprechenden Fälle der Jugendgerichtshilfe.

Über Statisti

k:

Zahlen liefern In­ formationen . Aber hoffentlich h aben Sie schon mal vom abnehmenden Grenz­ nutzen gehö rt.

Fehler 2011 Martin Schlegel, Hagen

„Fehler gehören gefeiert!“ sagte mir mal ein Journalist. So richtig verstanden habe ich das damals nicht. Im Nachhinein: Hatte der „gefeiert“ gesagt, weil der Artikel durch eben den Fehler eine zweite Aufmerksamkeit erhält? Oder war von „gefeuert“ die Rede, weil niemand gerne Fehler begeht, der Chef und die Leser sich beschweren? Wie dem auch sei: Fehler gehören aufgeklärt – wenn es geht.

Die Einschränkung ist nötig, denn hier steht ein Fehler im Focus, den ich nicht aufklären kann: Der Fehler im Autorenverzeichnis der vergangenen Ausgabe. Üblich ist es, den ersten Buchstaben des Hausnamens fett zu drucken. Doch diesmal sind einige fett und andere mager. So beginnt meine Frau fett, ich bin durchgehend mager. Prof. Reuband hat ein fettes „R“, Roland Richter – einer

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aus der Redaktion dieser Zeitschrift – nur ein mageres. Dahinter steckt nicht etwa eine zweigeteilte Autorenschaft; hier die Herausgehobenen, dort das Autorenfußvolk. Der unterschiedliche Fettgehalt hat keine Bedeutung, ist einfach ein Fehler, einer der harmlosen Art. Ohne ihn würde die Sonne auch nicht später untergehen. Aber hier war noch etwas Platz frei.

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Erweiterung der Regionalebene

Hannover ist wieder da! Hubert Harfst, Hannover

Hannover, die Darunter-Stadt

Hannover verschwand

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Es war schon nervend. Zehn Jahre lang mussten nicht nur hannoversche Statistikerinnen und Statistiker Anfragenden erklären, • dass die Landeshauptstadt Hannover keine 1,2 Millionen Einwohner hat, sondern die Region Hannover, • dass Hannover nicht die schweinereichste Stadt Deutschlands ist, • dass Pattensen kein Stadtteil von Hannover, sondern eine eigenständige Stadt in der Region Hannover ist, • usw., usw. ….. Mit der Bildung der Region Hannover im Jahr 2001, einem bundesweit einmaligen Verwal­tungsreformprojekt, war die Landeshauptstadt Hannover in der Statistik zu einer kreis(regions)angehörigen Stadt geworden und aus der amtlichen Regionalstatistik verschwunden. Die kannte nämlich nur kreisfreie Städte und (Land)Kreise – alles schön geordnet nach dem achtstelligen Kreisschlüssel. Da passte die Landeshauptstadt Hannover, jetzt nur noch mit dem elfstelligen Gemeindeschlüssel, einfach nicht mehr rein. Die hannoverschen Statistiker haben das Dilemma ja rechtzeitig vorhergesehen und mit der niedersächsischen Landesstatistik vereinbart, in allen offiziellen Landesstatistikveröffentlichungen und -daten-

banken die Landeshauptstadt Hannover als Darunter-Zahl zu veröffentlichen. Das klappte ganz gut, erforderte aber oftmals, besonders bei „reinen“ Kreisstatistiken wie in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, eigene Verschlüsselungen und Berechnungen. Aber wer schaut schon in die Regionaldatenbank des Landesbetriebes Statistik und Datenverarbeitung Niedersachsen, wenn es bei destatis eine bundesweite Regionalstatistikdatenbank gibt? Ergebnis: Die Landeshauptstadt Hannover erschien bei Großstädtevergleichen anfangs falsch mit den Werten der gesamten Region Hannover (ist nachweisbar auch renommierten Forschungsinstituten passiert!), dann gar nicht mehr. Dank Hilfe der Regionalstatis­ tiker aus Niedersachsen und eigenem Insistieren war es nach knapp zehn Jahren endlich soweit. Hannover ist wieder in der amtlichen Regionalstatistik zu finden, wie die Regionaldatenbank des Bundes und der Länder unter ‚Neuigkeiten‘ eher lapidar vermeldet (https://www.regionalstatistik. de/genesis/online/logon): Erweiterung der Regional­ ebene „Kreise und kreisfreie Städte“ um die Städte Aachen, Hannover und Saarbrücken

Seit dem 25. Mai 2011 wird die sog. „Kreisebene“ (NUTS3), d.h. der Nachweis von statistischen Daten für die Kreise und kreisfreien Städte, um die Städte Aachen, Hannover und Saarbrücken erweitert, womit dem Wunsch zahlreicher Nutzer entsprochen wird. Die genannten Städte wurden bisher nicht in den Tabellen mit Kreisergebnissen nachgewiesen, da sie regionszugehörig sind und damit eigentlich zur sog. „Gemeindeebene“ (LAU-2) zu zählen sind. Die Städte werden unter folgendem Amtlichen Gemeindeschlüssel (AGS) und Kurztext angezeigt: 03241001 – Hannover, Landes­ hauptstadt, 05334002 – Aachen, Stadt, 10041100 – Saarbrücken, Lan deshauptstadt. Doch der Kampf geht weiter. Mit der Gebietsreform sind in den 1970er Jahren zahlreiche Großstädte, genannt seien hier nur Göttingen, Hildesheim, Paderborn, Neuss und Reutlingen, eingekreist worden und aus der Regionalstatistik verschwunden. Ziel ist es, alle Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern wieder in die offiziellen Regionaldatenbanken der amtlichen Statistik aufzunehmen.

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„Schattengeschichten aus dem Wanderland“ heißt ein 2010 erschienenes Büchlein, in dem Petra Elsner ein Dutzend Schorfheidemärchen erzählt. Einige davon sind mit historisch realen Hintergründen ausgestattet, über denen sich die Fiktion entspinnt. Für eines dieser Märchen haben uns die Autorin und der Verlag die Abdruckerlaubnis gegeben. Das Buch ist im Schibri-Verlag erschienen, Preis 6 Euro. ISBN 78-3-86863-040-4

Petra Elsner

V

Der Alchimist und der Herr der Tautropfen

Völlig unbemerkt war er mit seiner Wanderglashütte eingetroffen, der böhmische Alchimist und Glasmacher Johann mit seiner Sippe. Er lagerte dort, wo der Wald am undurchdringlichsten war. Nur selten durchquerten ein paar Mönche diesen Winkel der Heide. Johann hatte Gründe, sich gut zu verbergen. Um sein Glas aus Sand und Pflanzenasche zu schmelzen, benötigte der Glasmacher viel Holz. Zu viel, weswegen ihn der Fürst des Böhmerwaldes verjagte. Unterwegs hatte man ihm seine kostbaren Glaswaren gestohlen. Nun besaß er keinen Tauschwert mehr, um mit dem Herrn dieses Waldes, einen Handel zu schließen. Es durfte nicht auffallen, dass er heimlich Holz stahl, und deshalb musste sich der Mann etwas ganz Besonderes ausdenken, dass wenig Material benötigte. Es war Nacht, Johann schaute in den Sternenhimmel und sorgte sich. Noch war es Sommer, aber die notdürftige Hütte, die er für seine Familie gezimmert hatte, würde im Winter nicht ausreichend Schutz bieten. Durch seine Finger glitt eine kleine, feine Kugel. Grün wie das Wasser im Döllnfließ und blau wie der Himmel an einem Sommertag war sie. Er hatte diese besondere Färbung heute erstmals erreicht. Der Glasmacher drehte und wendete das kleine Rund im Mondlicht, wobei es ihm plötzlich aus den Händen rutschte. Als Johann danach fingerte schrie ihn etwas an: „Nein, hinfort, das ist jetzt meine!“ Johann zündete ein Schwefelholz an und sah nach dem, was da so zeterte. Es war eine winzige grün-blaue Gestalt, die leuchtete wie seine Glaskugel. „Wer bist Du?“, fragte der Glasmacher und das kleine Wesen zirpte: „Ich bin der Herr der Tautropfen.“ „Ah“, Johann lächelte, „ein kleiner Nix auf Landgang.“ „So ist es, aber diese Kugel ist jetzt trotzdem meine, auch wenn Du mich erkannt hast.“ „Reg’ Dich nicht auf, ich schenke sie Dir“, sprach leise der Mann. „Ach, wirklich?“ Der kleine Nix, halb Fisch, halb Frosch, schlüpfte in Johanns Schoß. „Verrate mir, wie Du sie gemacht hast – diese Kugel des Lichts.“ „Oh, ich habe sie aus diesem Sand dort gekocht“, erklärte der Mann. „Aus diesem Staub da, dass glaube ich nicht“, zankte der Winzling und sagte: „Wenn Du wahr gesprochen hast, dann kannst Du mir ja für meine Liebste bis morgen Nacht eine zweite, gleiche Kugel formen.“ „Aber gewiss“, antwortete Johann, und indem verschwand der kleine Nix. Am nächsten Tag kochte und goss der Alchemist eine zweite, ganz gleiche Kugel. Die leuchtete ebenso schön wie der Sommer. Und als nachts der Nix kam, die zweite Kugel zu holen, staunte er nicht schlecht. „Dieses Glas ist so herrlich wie das Wanderland und deshalb soll Dir auch ein wenig davon gehören, aber gehe sorgsam damit um!“ Dann griff der Nix nach der Kugel und entschwand. Als anderentags Johanns Frau am Fluss Wasser schöpfte, fand sie eine Flaschenpost. Aufgeregt lief sie damit zu ihrem Manne. Der holte die Nachricht aus dem gläsernen Bauch: Es war eine Karte, die „Johanns Waldland“ beurkundete. Ein Hektar, gelegen am Fließ. Johann lächelte, von nun an hatte seine Familie hier ein Recht zu siedeln, aber für seine Wanderglashütte, würde das Holz auf dem Waldstück nicht reichen. Johann klopfte auf die gläserne Postille. Sie war aus grünem Waldglas, wenn er nun altes Glas zu neuem schmelzen würde? Dann müsste er keinen Wald mehr roden und könnte für immer hier bleiben. Der Alchemist sammelte seit diesem Tage zerbrochenes Glas aus der Landschaft. Grünes und weißes, beides erhitzte er getrennt und dem weißen gab er eine Priese Cobaltoxid hinzu, dass brachte die Farbe eines lichten Himmels in das Glas. Dann goss er daraus die grün-blauen, die Himmel-und-Erde-Kugeln, die ein kleiner Nix im Morgengrauen mit Tautropfen wusch und heimlich beseelte. Kein Wunder, dass bald ein jeder so einen schönen, kraftvollen Schmuck tragen wollte, und so Johanns Sippe in eine sorglose Zeit gelangte.

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Professor Dr. Heinz Grohmann wurde 90 und Ehrenmitglied im Verband Deutscher Städte­ statistiker Rudolf Schulmeyer, Frankfurt

k: Über Statisti nen

io Wer Informat it Sta­tis­ sucht, kann m . tik anfangen

Es ist das Privileg der VDStMitgliederversammlung, „Per­ sonen, die sich um die Städtestatistik und Stadtforschung besondere Verdienste erworben haben, zu Ehrenmitgliedern des Verbandes zu ernennen.“ Sie macht davon sparsam Gebrauch. Nun hat die Mitgliederver­ sammlung mit Prof. Dr. Heinz Grohmann das vierblättrige Kleeblatt der zurzeit aktiven Ehrenmitglieder vervollständigt.­ Als jüngstes Ehrenmitglied tritt er in den Kreis von Prof. Dr. Erhard Hruschka, Klaus Trutzel

und Dr. Ernst-Joachim Richter. Der VDSt freut sich, dass der Jubilar die angetragene Ehrenmitgliedschaft als ideelles Geschenk zum 90. Geburtstag angenommen hat. Herr Professor Dr. Heinz Grohmann hat über Jahrzehnte als verlässlicher Weggefährte die Städtestatistik begleitet: In der Deutschen Statistischen Gesellschaft und auf ungezählten Statistischen Wochen, durch sein wissenschaftliches und gutachterliches Werk und insbesondere seine Beiträge zur Volkszählung und aktuell

dem Zensus 2011. Seit 2004 auch formal Mitglied im VDSt, bereichert Heinz Grohmann die Fachdiskussionen und die Treffen der Kolleginnen und Kollegen der Ex-AG. Wir freuen uns auf viele anregende Begegnungen mit unserem Ehrenmitglied Heinz Grohmann. Nächste offizielle Gelegenheit ist die Mitgliederversammlung während der Statistischen Woche im September dieses Jahres in Leipzig, für die Heinz Grohmann ein Grußwort zugesagt hat.

Prof. Dr. Heinz Grohmann und Dr. Ludwig von Hamm bei der Übergabe der Urkunde anlässlich des Treffens der Ex AG in Erfurt. Foto: Eberhard Schubert, Erfurt

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Zahl ohne Wort ist Zahlenmord!

Das Leben eines Städte­ statistikers Sophie Scharf, Mannheim

Bereits 1895 gründete die Stadt Mannheim als eine der ersten deutschen Großstädte ein eigenes Statistisches Büro. Die Gründerjahre der Mannheimer Kommunalstatistik waren maßgeblich geprägt von einer Persönlichkeit: Dr. Sigmund Schott. Sigmund Schott wurde am 10.10.1868 in Leipzig geboren und verbrachte seine Jugend in Stuttgart. Studiert hat er in München und Leipzig, wo er auch nach seiner Promotion über den „Volkswohlstand im Königreich Sachsen“ seine erste Stelle im Statistischen Amt Leipzig antrat. Seine Arbeit dort und ab 1892 im großherzoglichen Statistischen Büro in Oldenburg war so erfolgreich, dass er bereits am 1. Juli 1897 als Leiter des zwei Jahre zuvor gegründeten statistischen Büros in Mannheim berufen wurde. Anlässlich seines 25-jährigen Dienstjubiläums gestand Sigmund Schott, dass er bei seinem Dienstantritt in Mannheim die „Höhle des Löwen“ erwartetet hätte und er deswegen nicht ganz leichten Herzens nach Mannheim gekommen sei. Doch er ließ sich nicht weiter abschrecken und mit ihm begann eine Ära des produktiven Schaffens. Die statistischen Beobachtungen von Dr. Schott zeigen ein Mannheim, das geprägt war von den tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen

Veränderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts. Seine Ergebnisse stellte er in zahlreichen Berichten dar, teilweise mit detaillierten, handgezeichneten Diagrammen und Karten. Bereits zehn Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit in Mannheim habilitierte Dr. Sigmund Schott in Heidelberg zum Thema der großstädtischen Agglomeration und Citybildung – ein Thema, das äußerst fortschrittlich war und auch für Mannheim große Bedeutung hatte. Das Besondere an Dr. Sigmund Schott war allerdings, dass er in der Lage war, auch komplizierte statistisch-mathematische Sachverhalte in einer ansprechenden und poetischen Sprache zu formulieren. Der Ausspruch „Zahl ohne Wort ist Zahlenmord!“, der heute noch unter den Städtestatistikern gilt, wird auf Sigmund Schott zurückgeführt und zeigt, wie wichtig ihm die angemessene Präsentation seiner Forschung war. Nach dieser Devise verstand er es auch, ohne dass die Qualität oder Genauigkeit seiner statistischen Arbeit litt, seine Ergebnisse formvollendet darzustellen. Sein Ziel war zudem stets, seine Arbeit für Jeden verständlich zu machen – was man durchaus als gelungen betrachten kann. Im Verlaufe seiner Dienstzeit übernahm Sigmund Schott viele weitere Aufgaben in Mannheim, er leitete zum Bei-

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spiel das damalige Arbeitsamt und die Abendakademie und war erster Studiendirektor der Mannheimer Hochschule, die ihm als Dank für sein langjähriges Engagement nach Ende seiner Tätigkeit dort einen Ehrendoktortitel der Wirtschaftswissenschaften verlieh. Kurz bevor er nach 37 Jahren im Dienst der Stadt Mannheim in den wohlverdienten Ruhestand ging, wurde Dr. Schott als Anerkennung seiner Verdienste um die Stadt an seinem 60. Geburtstag die Amtsbezeichnung eines ordentlichen Professors verliehen. Dem folgte im Jahr 1949 die Verleihung der Ehrenbürgerwürden der Stadt Mannheim. Am 19.11.1953 verstarb Dr. Sigmund Schott nach einem erfüllten Leben im hohen Alter von 85 Jahren. Die Kommunale Statistikstelle wird Sigmund Schott als geistigem Vater der modernen Kommunalstatistik ein ehrendes Andenken bewahren.

Habilitation über Agglomeration

Ziel: Verständliche Darstellung

Quelle Stadtarchiv der Stadt Mannheim Literatur zum Weiterlesen:

Die Gebürtigkeit der Mannheimer Bevölkerung, Sigmund Schott, 1905 Ergebnisse der Volkszählung vom 1. Dezember 1900, Sigmund Schott, 1901 Das Gewerbewesen der Stadt Mannheim nach der Erhebung vom 14.06.1895, Sigmund Schott, 1897 67


Ex-AG immer vorne dran!? Eberhard Schubert, Erfurt

Nun also München! Wen kenne ich da? Das sind nicht viele: aus der Zeit als es noch einen Statistischen Ausschuss beim Deutschen Städtetag gab, die bodenständige Frau Schosser und von der Münchener Statistik deren rührige Leiterin Uta Thien-Seitz. Von beiden hatte ich schon lange nichts gehört. Als der Termin dieser „halbierten“ Statistischen Woche festzulegen war, war sicher noch nicht der Beitrag aus Hannover zur Erreichbarkeit von Großstädten eingereicht (inzwischen in: Stadtforschung und Statistik 1/2009 erschienen). Die mieseste Verbindung gibt es demnach mit dem Auto nach München – und gerade das wollte ich benutzen von Erfurt rüber zur A9 und dann immer nach Süden ... Dann war alles eher unproblematisch, weil es Lutz von Hamm, der Sprecher der ExAG, und unterstützende Münchener Kollegen, genial vorbereitet hatten. Das reservierte Hotel „Carmen“ lag verkehrstechnisch optimal, hatte ausreichend Parkplätze und war nachts durch die Lage in einem Innenhof auch noch extrem ruhig. Zur Stadtbahn waren es nur wenige Gehminuten.

Die Schwere der Kunst, Fotograf: E. Schubert, Erfurt

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Das Programm der Ex-AG war in München wie immer von hoher Dichte und bester Qua-

lität aber dennoch ohne Stress zu absolvieren.

Programm der Ex-AG Freitag, den 8.10.2010 ab 19:00: Gemütliches Beisammensein „Wirtshaus in der Au“ Samstag, den 9.10.2010 09:00: Fahrt zum Starnberger See – Bernried (BuchheimMuseum) 20:00: Gemütliches Beisammensein „Hofer – Der Stadtwirt“ Sonntag, den 10.10.2010 09:30: Spaziergang im Englischen Garten 11:30: Weißwurstfrühstück „Weisses Bräuhaus“ 14:00: Führung Synagoge/ Jüdisches Zentrum 15:30: Besuch des Münchner Stadtmuseums „Typisch München“ alternativ: Besuch des Jüdi­ schen Museums München 18:30: Gemütliches Beisammensein „Straubinger Hof“ Montag, den 11.10.2010 Gelegenheit zum Besuch des Viktualienmarkts Der Höhepunkt war sicher für die meisten Teilnehmer die Schiffsfahrt über den Starnberger See mit dem Besuch des Buchheim Museums in Bernried.

Auch wenn ich selbst nicht alle anderen Programmpunkte absolviert habe – statt Englischer Garten und Weißwurst war der Tierpark Hellabrunn angesagt, war die Vielzahl der Eindrücke bei diesem „Kurzurlaub“ gewaltig. Und nicht zuletzt hat es gefreut, sich nach Beendigung des aktiven Dienstes wieder einmal mit ehemaligen Mitstreitern aus anderen Städten auszutauschen und neue gemeinsame Interessengebiete zu finden. Der Auftrag an den Jüngsten in der Runde auch den Bericht zu schreiben, war dann nur folgerichtig. (Insofern kann ich nur um weitere Teilnehmer in der Ex-AG werben.) Ach ja, im Straubinger Hof gab es dann doch ein Wiedersehen mit Frau Thien-Seitz. Und was soll das Fragezeichen in der Überschrift? Nachdem sich die Ex-AG regelmäßig vor den Veranstaltungen der Statistischen Woche und der Frühjahrstagung getroffen hat, könnte sie sich jetzt an den Regionalen Arbeitsgemeinschaften orientieren. Schließlich ist im Mai oder Juni das Wetter beständiger als bei den oftmals unterkühlten Frühjahrstagungen.

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Treffen der Ex-AG in Erfurt

Auf den Spuren Martin Luthers und des Erzbischofs von Mainz Annetraut Monz, Gießen

Abgekoppelt von der diesjährigen Frühjahrstagung wählten die Pensionäre diesmal den Wonnemonat Mai für ihre nun schon sehr traditionelle Begegnung in der Hoffnung auf warme, sonnige Tage. Leider kommen in diesem Monat aber auch die Eisheiligen, und deren letzte Einflüsse bekamen wir gelegentlich in Form eines kalten Windes zu spüren. Gänzlich unabhängig vom Wetter, das eigentlich sehr gut war, verbrachten wir herrliche Tage bei allerbester Stimmung in wunderbarem Ambiente mit anregenden Gesprächen, guten Speisen und warmen und zu erwärmenden Getränken. Herr Dr. von Hamm hatte wieder ein äußerst interessantes und abwechslungsreiches Programm zusammengestellt und alles hervorragend organisiert. Das von ihm als Unterkunft gewählte Gästehaus Nikolai war wegen seiner zentralen Lage optimal für unsere Besichtigungen in der Altstadt. Die Anreise der Teilnehmer erfolgte am Sonntag, dem 15. Mai bis 18.30 Uhr. Gemeinsam gingen wir dann ins „Gasthaus Augustiner an der Krämerbrücke“ zum ersten gemütlichen Beisammensein bei köstlichen Speisen der thüringischen Küche und den passenden Getränken. In den folgenden Tagen lernten wir eine der schönsten und

geschichtsträchtigsten Städte Mitteldeutschland kennen: Er­ furt. Sie hat gerade in allerjüngster Zeit einen eindrucksvollen städtebaulichen Glanz bekommen. Zur Bestätigung des Namens „Blumenstadt“ lockt sie seit 50 Jahren mit ihrer Ega, früher Iga (Erfurter bzw. Internationale Gartenbauausstellung). Der Montag begann mit einem Weg über den Fischmarkt zum Rathaus. Bei der hier stehenden Statue, die die Erfurter „Roland“ nennen, handelt es sich aber um den heiligen Martin, Schutzheiliger der Stadt Mainz. Seit dem Jahr 755 gehörte Erfurt nämlich zum Erzbistum Mainz und blieb fast 1000 Jahre unter deren Herrschaft. Einen Roland, ein Freiheitssinnbild, war Erfurt nicht berechtigt aufzustellen, da dies nur Reichsstädten erlaubt war. Nun folgte eine aufschlussreiche Führung durch das Rathaus. Das Erfurter Rathaus ist ein neugotisches Gebäude, dessen wesentliche Teile 18711875 errichtet wurden. Neben seiner Funktion als Sitz der Verwaltung, ist das Haus durch seine künstlerische Ausgestaltung eine Touristenattraktion. In den Fluren und Treppenaufgängen, dem Sitzungssaal und dem Festsaal befinden sich Gemälde von Peter Jans-

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sen (1844 -1908) und Eduard Kämpfer (1859–1926). Die großflächigen Wandgemälde zeigen Motive, die aus der Erfurter und Thüringer Geschichte und Sagenwelt stammen: die Tannhäuser Sage, die Sage des Faust, die Sage des Grafen von Gleichen, Szenen aus dem Leben Martin Luthers. Die nachfolgende Stadtführung begann gegen 10.00 Uhr an der weltbekannten Krä­ merbrücke. Sie ist eine von vier mittelalterlichen Brücken. Ihre Anfänge gehen zurück bis in die Zeit zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert. Einfache Holzbrücken, die in der Zeit zwischen 800 und 1100 erbaut worden waren, wurden um 1325 durch eine steinerne Brücke ersetzt. Mit einer Breite von 18 m und einer Länge von 79 m werden 6 Tonnengewölbe überbrückt. Heute ist sie die einzige mit 32 Häusern bebaute bewohnte Brücke nördlich der Alpen. Die Krämerbrücke, die sich über mehrere Flussarme der Gera erstreckt, stellte im Mittelalter eine günstige Straßenund Handelsverbindung her. Ein alter Warenaustauschplatz zwischen Germanen und Slawen fand an der nördlich der Brücke über die Gera (erph) verlaufenden Furt statt und wurde‚ erphesfurt’ genannt, was zur Namensgebung der Stadt Erfurt führte.

Blumenstadt Erfurt

Roland ist Martin

Krämerbrücke

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Auf den Spuren Martin Luthers und des Erzbischofs von Mainz Für die Entwicklung der Stadt spielte die Brücke eine große Rolle. Die alte Handelsstraße von Köln–Frankfurt–Eisenach kreuzte hier die zu den Seestädten führende Handelsstraße von Nürnberg–Leipzig– Breslau. Als „Markt am Wege“ ist die Krämerbrücke seit vielen Jahrhunderten an beiden Seiten von Fachwerkhäusern bebaut, die die anfänglichen Holzbuden ersetzten. Heute ist man bemüht, den Charakter der Brücke zu erhalten, indem sich dort nur kleine Läden für

Das Rathaus Erfurt (Foto: Wolfgang Mahnkopf, Augsburg)

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Spezialitäten ansiedeln dürfen. Am Ende der Brücke befindet sich die Ägidienkirche, eine Brückenkopfkirche, die erstmals als Kapelle 1110 erwähnt wurde. Am Anfang diente ein Holzbau Pilgern und durchfahrenden Händlern als Gotteshaus. Im 14. Jahrhundert entstand St. Ägidii als einfacher Saalbau mit gewölbter Tordurchfahrt und Turm. Heute ist die Ägidienkirche Veranstaltungs- und Kirchenraum der evangelisch-methodistischen Freikirche Erfurts.

Die Universität Erfurt wurde 1392 als dritte Universität nach Heidelberg (1386) und Köln (1388) im deutschen Reich eröffnet. Durch die zentrale Lage Erfurts entwickelte sie sich schnell zu einer berühmten Bildungsstätte. Im 15. Jahrhundert. wurde sie zur meistbesuchten Universität Deutschlands mit der größten Studentenschaft. Zwischen 1392 und 1521 war die Universität Erfurt nach Wien die am stärksten besuchte deutschsprachige Hochschule. Hohes Ansehen genossen vor allem die theologische und die juris­ tische Fakultät, an der sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts neben dem Kirchenrecht auch das Zivilrecht durchsetzte. (Bologna des Nordens) Einer der bekanntesten Studenten im 16. Jahrhundert war Martin Luther, der sich 1501 immatrikulierte und 1505 zum Magister Artium wurde. Nach ihrer Blütezeit in den Jahren der Reformation und im Zeitalter des Humanismus begann in der Zeit der Revolutionskriege der unaufhaltsame Niedergang der Universität, so dass sie schließlich 1816 mit 20 Studenten geschlossen wurde. Die juristische Wiedergründung erfolgte 1994. Zurzeit studieren hier 5500 Studenten, vorwiegend Geistes- und Sozialwissenschaften. In dem historischen Hauptgebäude der Universität befindet sich heute die Verwaltung der evangelischen Kirche Mitteldeutschlands. Gegenüber der Universität befindet sich die Michaeliskir­ che, die als Universitätskirche diente. Ihr Bau wurde von fünf reichen Erfurter Familien finanziert. Sehr wohlhabend waren Erfurter durch die Verarbeitung der

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Auf den Spuren Martin Luthers und des Erzbischofs von Mainz Waidpflanze geworden. Zu Waidpulver verarbeitet, diente sie der berühmten Blaufärbung und war im Mittelalter einzigartig in Europa. In unmittelbarer Nähe der Michaeliskirche und der Krämerbrücke befindet sich die Alte Synagoge, eine der ältesten Synagogen Europas, deren Baubeginn um 1100 liegt. Nach dem Progrom von 1349 wurde sie zu einem Lagerhaus umgebaut. Das Museum in der Alten Synagoge besichtigten wir am Dienstagvormittag. In dem Museum ist eine Ausstellung zur Kultur und Geschichte der jüdischen Gemeinde Erfurts im Mittelalter untergebracht. An den Exponaten erkennt man, welch herausragende Stellung die Gemeinde in Europa hatte. Mittelalterliche Handschriften, die größte bekannte hebräische Bibel, der Judeneid aus dem 12. Jahrhundert (ältester erhaltener Judeneid in deutscher Sprache) sind Zeugnisse des entwickelten Geisteslebens der Gemeinde. Im Keller des Museums befindet sich ein einzigartiger Schatz, der 1998 bei Ausgrabungen gefunden wurde. Es handelt sich dabei um Münzen, Gold- und Silberschmiedearbeiten aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Die mittelalterliche jüdische Gemeinde zählte etwa 800 Mitglieder. Die heutige jüdische Gemeinde umfasst 470 Mitglieder, vorwiegend Migranten aus Russland. Vorbei am Domplatz, gingen wir weiter zum Petersberg mit einer weitläufigen Zitadelle. Angelegt im 17. Jahrhundert, wurde sie in Etappen bis 1868 aus- und umgebaut. Auf dem Plateau befindet sich ein klassizistisches Wachgebäude aus dem Jahr 1823, das an den Restbau der Peterskirche (1103–1147) angrenzt. Dieses

Gebäude wird heute für Kunstausstellungen genutzt. Der Mittelpunkt des Plateaus ist ein großer Platz, der für öffentliche Veranstaltungen zur Verfügung steht. Ein kleiner Weinberg auf dem Petersberghang symbolisiert die lange Tradition des Weinanbaus in Erfurt und die Weinpartnerschaft mit Bechtheim im Rheinland. Das auf Stelzen errichtete Restaurant „Glashütte“, in dem wir am Mittag einkehrten, bietet nicht nur schmackhaftes Essen, sondern auch einen herrlichen Blick über die Stadt, im Besonderen auf den nahe gelegenen Mariendom und die Severikirche. Im Jahr 725 ließ Bonifatius eine Kirche auf dem Domberg errichten. Im 12. Jahrhundert wurde dann an dieser Stelle eine spätromanische Basilika gebaut, bestehend aus einem dreischiffigen Langhaus, einem Querhaus und zwei Türmen. Dieses Gebäude wurde im 14. Jahrhundert erweitert. 1455 wurde an Stelle des dreischiffigen romanischen Baus ein spätgotischer Hallenbau errichtet, in dem 1465 der erste Gottesdienst gefeiert werden konnte. Das Langhaus und der Hohe Chor werden heute für die Gottesdienste des Bischofs, des Domkapitels, der Dom­ gemeinde und des Bistums genutzt. Der Hohe Chor wird geprägt durch die farbigen gotischen Fenster und das kunstvoll gestaltete Chorgestühl aus der Zeit um 1350. Der Barockaltar von 1697 zeigt die wichtigsten Heiligen des Landes Thüringen. Die Severikirche in unmittelbarer Nähe des Mariendoms wurde zwischen 1278 und 1400 als fünfschiffige Halle mit zwei Querschiffen erbaut, nachdem die im 11. Jahrhundert an dieser Stelle errichtete Kirche einem Brand zum

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Opfer gefallen war. Die zwei quadratischen Türme wurden, genauso wie der gesamte Bereich oberhalb des Chores, erst nach dem großen Brand 1472 errichtet Der Nachmittag begann mit der Führung in der Nikolai­ kirche. Sie wurde erstmals 1212 urkundlich erwähnt. 1288 erhielt der Deutsche Orden das Patronatsrecht vom Stift St.Marien. Durch die Errichtung eines Turmes zwischen 1360 und 1361 wurde die Kirche zu einer Torkirche. Turm und Kirchenschiff wurden mit­einander verbunden. Nachdem die Ordensbrüder im 18. Jahrhundert Erfurt verlassen hatten, verfiel das Kirchenschiff und musste abgerissen werden. Der Turm aber blieb stehen und enthält im Erdgeschoss der Elisabethkapel­ le mit Resten einer Wandmalerei aus dem 14. Jahrhundert. Die Malerei (Secco Malerei), die auf trockenem Putz aufgetragen wurde, lässt mit viel Liebe zum Detail Geschichten aus dem Leben der heiligen Elisabeth lebendig werden. In vierjähriger Arbeit wurde die Malerei restauriert und im Elisabethjahr 1997 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In der Kapelle wird von Juni bis September das Abendgebet gesprochen. Mit einer Führung durch das Augustinerkloster beendeten wir unser Besichtigungsprogramm an diesem Tag. Das 1277 errichtete Kloster wurde als Lutherstätte weltweit bekannt. 1505 wurde Luther in das Kloster der Augustiner Eremiten aufgenommen. 1507 wurde er zum Priester geweiht und lebte hier noch bis 1511. Nach der Zerstörung im 2. Weltkrieg wurde das Kloster wieder aufgebaut und ist heute eine Tagungs- und Begeg-

Deutscher Orden

Martin Luther

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(K)ein Abschied

Feuerkugel

Egapark

nungsstätte der evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen mit Bischofssitz in Magdeburg. Der schöne Renaissancehof wird für Theater­ aufführungen und Konzerte genutzt. Im Gasthaus „Feuerkugel“ ließen wir den Abend bei einem gemütlichen Essen in großer, fröhlicher Runde ausklingen. Am Dienstag verabschiedeten sich einige Teilnehmer vorzeitig, nachdem wir uns noch gemeinsam die Alte Synagoge angesehen hatten. Der Nachmittag stand ganz im Zeichen Erfurts als Gartenstadt: Wir fuhren mit der Trambahn zum Egapark, der Gartenschau, die in diesem Jahr ihr fünfzigjähriges Jubiläum feiert. Au-

ßer einem guten Mittagessen bummelten wir an Blumenbeeten vorbei und durch Pflanzenschauhäuser und informierten uns über die Artenvielfalt in der Pflanzenwelt in dem äußerst lehrreichen Gartenbaumuseum. Von einem Aussichtsturm aus genossen wir den weiten Blick über den Park und beim Rückgang die Ruhe des japanischen Gartens. Zum Ausklang fuhren wir im kleineren Kreis noch zum Schloss der Anna Amalia in Tiefurt bei Weimar. Nach einem Spaziergang durch den herrlichen Schlosspark mit seinen wunderschönen alten Bäumen bot die zu einem gepflegten Restaurant ausgestaltete Remise die beste Gelegenheit für

ein Abschiedsabendessen. Es waren wunderbare, erlebnisreiche Tage, an die wir gerne zurückdenken werden. Bei allen eindrucksvollen Kulturund Naturerlebnissen sollte aber das Wichtigste nicht vergessen werden: die großartige Gemeinsamkeit und Herzlichkeit, die alle Teilnehmer – aus allen Teilen Deutschlands zusammengekommen – so wundersam verbindet. Wir sagen alle ein ganz herzliches Dankeschön Herrn Dr. von Hamm, der uns erneut durch seine hervorragende Organisation eine schöne Reise ermöglichte und freuen uns bereits auf ein Wiedersehen bei der nächsten Ex-AG.

Göttinger Absacker

(K)ein Abschied Martin Schlegel, Hagen

k: Über Statistin ist io Gute Informat che der auch eine Sa Dosierung.

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„Woher kennen Sie den Hagener Weihnachtsmarkt?“ Auf so eine „Woher kennen Sie …-Frage“ waren unsere Kunden in der Stadtverwaltung häufig erpicht, die sollte in die Umfrage rein. Und wie ich sehe, ist das nicht nur in Hagen so, sondern auch in vielen anderen Städten. Wie habe ich diese Frage gehasst, denn meiner Meinung nach brachte sie nichts. Man weiß genau, woher man seine Frau kennt. Aber den Hagener Weihnachtsmarkt? Bringt ohnehin nichts – aber wenn die Kunden es so wollen. So stört es mich auch gar nicht, nicht zu wissen, woher ich Hubert Harfst kenne. Ich kenne ihn eben – und zwar schon lange. Und habe manch

eine Geschichte mit ihm erlebt und über ihn gehört. Doch ich werde jetzt nicht plaudern, nur eine kleine Geschichte. Es war in Göttingen. Nach der Sitzung ging man noch auf ein Bier in ein Lokal. Es wurden mehr als ein Bier und auch mehr als ein Lokal. Denn Hubert Harfst kennt sich in Göttingen und seinen Lokalen bestens aus. Irgendwann, der nächste Tag war schon angebrochen, war Schluss. Jeder ging zu seinem Hotel, ein Teil des Weges ging’s gemeinsam. Plötzlich: „Hier, das ist eine tolle Kneipe, da trinken wir noch einen kleinen Absacker.“ Eigentlich reichte es mir schon lange, aber ich wollte kein Spielverderber sein. Doch mit

einem Bierchen war’s nicht getan. Als wir dann aufbrachen, sagte ich mir: Egal in welche Richtung Hubert geht, ich gehe in die andere. So geschah es – und entging so weiteren Absackern. Ja, er kann schlecht Schluss machen. Was jetzt aber gut ist. Denn er ist 65 geworden und hat die Hannoveraner Statistik verlassen. Die haben damit einen tollen Statistiker verloren. Wir in der Redaktion von „Stadtforschung und Statistik“ aber nicht. Bei uns macht er nämlich weiter. So bleibt Ihnen und uns derjenige erhalten, der durch seine Netzwerke in ganz Deutschland immer wieder gute Beiträge aufgetrieben hat.

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Auf nach Leipzig! Ruth Schmidt, Leipzig

... sollte das Motto aller Statistiker im September 2011 lauten. Denn nach 1995 findet die Statistische Woche wieder in Leipzig statt. In den seither vergangenen 16 Jahren hat sich vieles in Leipzig geändert. Die schönen Häuser aus vergangenen Jahrhunderten sind größtenteils restauriert, Baulücken wurden geschlossen oder neu gestaltet und neue Attraktionen für die Leipziger und ihre Gäste, wie neue und sanierte Museen, wieder entstandene Gewässer und neue Seen sowie die Erweiterung des Zoos, kamen hinzu. Wir laden Sie recht herzlich ein, neben dem interessanten und umfangreichen Fachprogramm die alten und neuen Seiten Leipzigs, den Wandel der Stadt, zu erkunden. Leipzig wird traditionell am häufigsten mit der Messe sowie dem Hauptbahnhof, der historischen Innenstadt und dem Völkerschlachtdenkmal in Verbindung gebracht. Aber die Stadt ist und bietet noch viel mehr. Sie ist auch eine bedeutende Hochschul- und Universitätsstadt sowie eine Stadt der Kultur und Künste. Aber zuallererst ist sie eine

Bürgerstadt In vier Jahren wird Leipzig die 1000-jährige Ersterwähnung als urbs Libzi – Lindenort – feiern. Ihr Ursprung war eine Burg, in deren Nähe eine Siedlung von Handwerkern und Kaufleuten entstand. Seit dem zwölften Jahrhundert wurden zweimal jährlich überregional bedeutsame Märkte

abgehalten, aus denen später die Frühjahrs- und die Herbstmesse entstanden. Mit der Bedeutung als Handels- und Messestadt wuchs auch der Stolz der Leipziger Bürger. So wollte der polnische König und sächsische Kurfürst August der Starke (1670–1733) im Rosental, das an den Zoo angrenzt, ein Schloss errichten, das die Leipziger Bürger finanzieren sollten. Diese wehrten sich jahrelang und letztendlich erfolgreich dagegen, geblieben sind von den damaligen Plänen ein Tor sowie die auf den geplanten Standort zuführenden Alleen. Ein weiteres Bürgerengagement führte vor über 150 Jahren zur Begründung einer der bedeutendsten bürgerlichen Bildersammlungen, jetzt im neugebauten Museum der bildenden Künste zu besichtigen. Sie umfasst heute neben Werken der Künstler der Neuen Leipziger Schule auch Meister vergangener Jahrhunderte wie Lucas Cranach, Peter Paul Rubens, Caspar David Friedrich, Auguste Rodin, Claude Monet und – natürlich! – Max Klinger. Es war im Jahr 1989 als die Leipziger Bürger mit der Friedlichen Revolution Bürgermut und Bürgerstolz bewiesen, jetzt dokumentiert in der Gedenkstätte Museum in der Runden Ecke und im Zeitgeschichtlichen Forum. Die Bürgerstadt Leipzig widerspiegelt sich auch in ihren Bauten. So gibt es zwar keine großen Schlösser zu besichtigen, aber eine lebendige Innenstadt und interessante Stadtquartiere, insbesondere die gründerzeitlichen; durch

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eines dieser Quartiere, dem Waldstraßenviertel, führt am Donnerstagmorgen ein Rundgang.

Kunst- und Musik­ stadt Das Museum der bildenden Künste wurde bereits erwähnt. Zu ihm gesellen sich noch über 20 weitere große und kleine Museen und Kunstorte. Besonders hervorzuheben ist die Alte Baumwollspinnerei, die sich von einem Industrie- zu einem Atelier- und Galeriestandort, insbesondere – aber nicht nur – bekannt durch die Maler der Neuen Leipziger Schule, gewandelt hat. Weiterhin bemerkenswert sind die drei Museen im „Grassi“, von denen das Museum für Angewandte Kunst ebenso wie die Alte Baumwollspinnerei Teil des Rahmenprogramms sind. Leipzig war und ist auch eine Musikstadt. Zahlreiche Veranstaltungen von internationalem Rang, wie z. B. das diesjährige Mahlerfestival, die Mendelssohn-Festtage oder das jährlich stattfindende Bachfest zeugen davon. Das Gewandhausorchester, auch ein Ergebnis bürgerlichen Engagements, und der Thomanerchor erfreuen nicht nur Leipziger Zuhörer sondern gehören seit langem zu den bedeutendsten Leipziger „Exportartikeln“. Leipzig erfuhr mit seiner rasanten Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert auch große bauliche Veränderungen. Viele alte Häuser wurden durch neue ersetzt, ganze Straßenzüge neu bebaut.

August der Starke

Messe, Hauptbahnhof, Völkerschlachtdenkmal

Fast 1 000 Jahre alt

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Auf nach Leipzig!

Schillerhaus (Quelle LTM Leipzig (Andreas Schmidt))

Daher ist es fast ein Wunder, dass das Haus, in dem Friedrich Schiller im Sommer 1785 lebte und in dem u. a. die erste Fassung der „Ode an die Freude“ entstand, erhalten blieb. Dieses Kleinod kann im Rahmenprogramm besichtigt werden.

Grüne Wasserstadt

Zoo Leipzig (Quelle LTM Leipzig (Andreas Schmidt))

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Als Stadt am Wasser wird Leipzig kaum wahrgenommen. Und dabei durchziehen Gewässer von über 170 km Länge mit mehr als 450 Brücken die Stadt. Auch der Siedlungsort dürfte einst maßgeblich von der Gewässersituation beeinflusst worden sein. Zu den natürlichen Gewässern kamen im Laufe der Jahrhunderte zahlreiche künstliche hinzu; zunächst die noch im 19. Jahrhundert genutzten Mühl- und Floßgräben und, Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entwicklung Leipzigs zur Industriestadt, zwei große Kanäle. In den letzten Jahren entstanden an der Peripherie Leipzigs große Seen, in Folge der Gestaltung der zahlreichen ehemaligen Braunkohlenta-

gebaue. Auf der Bootstour im Rahmenprogramm kann man einige der Gewässer und ihre interessanten Ufer kennen lernen. Neben der Flusslandschaft hat Leipzig eine weitere natürliche Sehenswürdigkeit aufzuweisen. Mitten durch die Stadt zieht sich eines der größten Auwaldgebiete Mitteleuropas, bestehend aus den Überschwemmungsgebieten der Flüsse Weiße Elster, Pleiße und Luppe. Große Teile des Auwaldes gehören zum Leipziger Stadtwald, ein wichtiges städtisches Erholungsgebiet. Es besteht sowohl aus gestalteten Flächen, wie dem Wildpark und dem schon erwähnten Rosental, als auch aus von Gewässern und Wegen durchzogenen Waldgebieten. Ein 26 ha großes, gut bevölkertes Grüngebiet, dass in den letzten Jahren zu einer der bekanntesten touristischen Ziele in Leipzig wurde, muss an dieser Stelle erwähnt werden: der Zoo Leipzig, der ab dem 1. Juli 2011 um eine weitere Attraktion reicher wird, der Tropenerlebniswelt Gondwanaland. Im Rahmenprogramm ist ein Besuch des Zoos eingeplant.

Universitäts- und Hochschulstadt Die über 600 Jahre alte und damit zweitälteste deutsche Universität Leipzig liegt mit ihren Hauptgebäuden im Zentrum der Stadt und wird der Tagungsort der diesjäh­ rigen Statistischen Wo­ che sein. Sie präsentiert sich mit sanierten, modern ausgestatteten Gebäuden und bietet somit ideale Voraussetzung für die Durchführung des Fachprogramms. Im Laufe ihrer Geschichte erlebte die Universität Höhen und Tiefen. Zu ihr gehören heute 14 Fakultäten nahezu aller Wissenschaftsbereiche,

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GroSSe Stichprobe mit besonderen Akzenten in den Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Ihr Leitmotto ist: „Aus Tradition Grenzen überschreiten“. Außer der Universität gibt es noch weitere Hochschulen, darunter die Hochschule für Musik und Theater, die 1843 unter Mitwirkung Felix Mendelssohn Bartholdys, dessen Namen sie heute trägt, gegründet wurde. Eine weitere Hochschule ist diejenige für Technik, Wirtschaft und Kultur. Sie entstand 1992 aus verschiedenen Bildungseinrichtungen; ihre Wurzeln reichen bis in das 18. Jahrhundert, als 1764 Adam Oeser, der Zeichenlehrer Goethes, die Zeichnungs-, Mahlerey- und Architektur-Academie zu Leipzig gründete.

Städten vor dem Hintergrund aktueller demo­grafischer Prozesse, die Räumliche Statistik und die Messung der Wohlfahrt sind Teile des umfangreichen Fachprogramms. 1995 lautete das Thema der Statistischen Woche in Leipzig „Die Zukunft der Städte – Brennpunkt der Konflikte? Konsequenzen wirtschaftlichen, sozialen und räumlichen Strukturwandels“. Es wird interessant

sein, die Entwicklung seither festzustellen. Die Stadt Leipzig freut sich besonders, Gastgeberin der Statistischen Woche zu sein, in der die Deutsche Statistische Gesellschaft ihr hundertjähriges Gründungsjubiläum feiert. Wir freuen uns darauf, Sie als Teilnehmerin bzw. Teilnehmer der Statistischen Woche 2011 in Leipzig begrüßen zu können!

Das Fach­programm Nicht nur in Leipzig, einer Stadt des Wandels, ist die Aufgabe der Statistik, den Wandel zu messen, stets von aktuellem Interesse. Themen wie die Entwicklung der Stadtquartiere und der Lebensqualität in

Völkerschlachtdenkmal (Quelle LTM Leipzig (Andreas Schmidt))

Die Ex-AG unterwegs

Große Stichprobe Martin Schlegel, Hagen

Die Premiere der Ex-AG war 2006. Man traf sich vor der Frühjahrstagung in Koblenz, besuchte die Stadt, die Loreley, die Festung Ehrenbreistein - und eine Weinprobe. Die Frage, ob 6, 8 oder 10 Weine verkostet werden sollten, wurde nach einem zentralen Statistikergrundsatz entschieden: Eine große Stichprobe ist besser als eine kleine.

Im Herbst 2006 folgte Dresden. 2007 ging es nach Gera und Kiel, 2008 standen Saarbrücken und Köln auf dem Programm. Ein Jahr später wurden Rostock und Wuppertal aufgesucht und 2010 waren Bonn und München an der Reihe. In diesem Frühjahr trafen die Ex sich in Erfurt, im Herbst in Leipzig.

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Der Modus ist recht einfach: Im Frühjahr schließt man sich einer anderen AG an und im Herbst trifft man sich am Ort der Statistischen Woche. Vorbereitet werden die Treffen von Ludwig von Hamm, der dabei eng mit dem örtlichen Statistiker zusammenarbeitet Wer im oder kurz vor dem Ruhestand ist, sollte sich schnell an Herrn von Hamm wenden

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Eine bewegliche Immobilie feiert silbernes Jubiläum

Das verrückte Labyrinth Max Kobbert, Münster

Abb. 1 „Das verrückte Laby­ rinth“ erschien erstmals 1986 bei Ravensburger

Gebäude und Straßen sind Inbegriffe für Immobilien, also für unbewegliche Dinge. Es wäre etwas verrückt, sie verrücken zu wollen. Eben dies aber geschieht seit 25 Jahren bei einem Brettspiel. Das Unmögliche möglich werden zu lassen, ist einer der Vorzüge, die Brettspiele bieten. In „Das verrückte Labyrinth“ werden mit einer leichten Handbewegung ganze Straßenzüge umgeformt. Der Spieler bewegt sich mit seiner Spielfigur nicht auf festgelegten Wegen, sondern die Wege selbst lassen sich bewegen und Wegenetze verändern. Welches Vergnügen es macht, auf diese Weise zum Ziel zu finden, sieht man am internationalen Erfolg dieses Spiels. Schon im Erscheinungsjahr 1986 wurde es zum Verkaufsschlager und überholte sogar das ebenfalls bei Ravensburger erschienene „Spiel des

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Jahres“, „Heimlich & Co.“. 1991 erschien mit „Labyrinth der Meister“ eine zusätzliche Variante, obwohl es den bis dahin geltenden Regeln der Spielebranche zuwiderlief, ein ähnliches Spiel auf den Markt zu bringen. Manche befürchteten eine „Kannibalisierung“. Doch das Gegenteil trat ein. Bis heute hat sich eine ganze Produktfamilie von ca. 19 Titeln gebildet, vom „JuniorLabyrinth“ bis zum „Labyrinth mit Elektronik“, von den real verschiebbaren Labyrinthen bis zu Varianten für Computer und Nintendo. Adaptationen für iPhone und iPad sollen noch in diesem Jahr erscheinen. Labyrinthe faszinieren seit Jahrtausenden, sie sind Symbol des Rätselhaften und Verwirrenden. Die ältesten haben nur einen Weg, der in unübersichtlicher Weise gewunden ist. Man kann sich nicht verirren, man folgt nur dem einen Weg und darf gewiss sein, irgend-

Abb. 2: Das Prinzip des „kre­ tischen Labyrinths“: ein einziger, stark gewundener Weg, dem man nur zu fol­ gen braucht, führt zum Ziel.

wann zur Mitte zu gelangen. Sie entsprechen einer Auffassung, dass der Mensch einem durch Autoritäten gesetzten Weg schlicht zu gehorchen hat, um alles richtig zu machen und ans Lebensziel zu gelangen. Dieses Labyrinth ist seit über 4000 Jahren im Mittelmeerraum anzutreffen, es findet sich im alten Skandinavien, in Fernost und sogar bei den Pima-Indianern.

Abb. 3 „Man in the Maze“ der Pima-Indianer in Form ei­ ner Brosche.

Um 1420 zeichnete der venezianische Arzt Giovanni Fontana einen neuen LabyrinthTyp: den Irrgarten. Darin gibt es zahlreiche Weggabeln und Sackgassen, der Weg zum Ziel muss in mühsamer Suche gefunden werden. Dies entsprach dem neuen Menschenbild der Renaissance: der Mensch entdeckte sich als selbstbestimmtes Wesen, das nicht in blindem Gehorsam, sondern in eigener Verantwortung über seinen Lebensweg entscheidet. Fortan liegt es bei ihm, ob er Erfolg hat oder scheitert.

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Das verrückte Labyrinth Abb. 4 (links): Schema eines Irr­ gartens von Giovanni Fon­ tana um 1420

Abb. 5 (unten): Vom 15. bis zum 18. Jh. wurden viele Schriftlabyrinthe herge­ stellt, meistens mit religi­ ösem Inhalt. Hier ein aus­ wegloses Labyrinth.

Abb. 6a

Dieser Labyrinthtyp ist zwischenzeitlich in tausenden von gezeichneten und begehbaren Irrgärten realisiert worden. Von England bis Japan haben jährlich ungezählte Menschen Vergnügen daran, durch solche Labyrinthe hindurch zu finden. Auch ich hatte schon als Schüler Freude an der Lösung von Irrgärten. Doch was mich störte, war die Beobachtung, dass jeder Irrgarten sein Geheimnis verliert, sobald man den Weg gefunden hat. Also machte ich mich daran, ein Labyrinth zu konstruieren, das sich verändern lässt, immer neue Aufgaben stellt und so seinen Reiz bewahrt. Nach vielen Versuchen mit Drehtüren und anderen Mechanismen verfiel ich 1983 auf die Möglichkeit, durch die Kombination von festen und beweglichen Elementen ein leicht zu veränderndes Wegenetz zu schaffen. Darin gibt es nicht ein Ziel, sondern viele, und jeder Spieler verfolgt seine eigenen.

Dieser neue Labyrinthtyp passt, wie dem Autor im Nachhinein deutlich wurde, in vielfacher Hinsicht in unsere heutige Zeit. Es entspricht dem Wissen darum, dass wir uns nicht in einer festgefügten Welt bewegen, sondern dass sie sich ständig wandelt. Es entspricht dem Umweltgedanken, dass jeder Einzelne mit seinem Tun diese Veränderungen mit beeinflusst. Und es entspricht der Tatsache, dass es nicht mehr allgemein verbindliche Lebensziele gibt. Vielmehr muss Jeder seine eigenen Ziele herausfinden und sich bemühen, sie zu erreichen. Das letzte Ziel ist der gleiche Ort, von dem man hergekommen ist; wer will, kann auch darin eine tiefere Symbolik sehen.

Literaturhinweis:

Max J. Kobbert (2010): Kulturgut Spiel. Daedalus, Münster

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Abb. 6b

Abb. 6c

Abb. 6a-6c: Der Spielplan besteht aus 16 festen und 34 losen Weg­ stücken. An dem Prototyp, den Max J. Kobbert 1983 entwi­ ckelte, sieht man das Prinzip des Spiels: Die Spielfigur (rechts unten) soll zum Gespenst, aber kein Weg führt dorthin (6a). Durch Einschieben des außen liegenden Teils wird das Wege­ system so verändert, dass die Figur zum Ziel gelangen kann (6b und 6c).

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Ein (Ex-) Statistiker auf Reisen

Angkor Wat – eigentlich unbeschreibbar Ernst-Joachim Richter, Oberhausen

Angkor Wat Foto: Ernst-Joachim Richter

Viele Minenopfer

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Dezember 1996: Das Land ist sichtbar gekennzeichnet von der Terrorherrschaft unter Pol Pot und 20 Jahren Bürgerkrieg. Selbst im Zentrum der Hauptstadt Phnom Penh sind viele Straßen nicht gepflas­tert. Der Anblick der vielen teilweise aggressiv bettelnden Minenopfer, insbesondere der Kinder, denen Arme oder Beine abgerissen wurden, ist nur schwer zu ertragen. Von Busfahrten über Land bei Dunkelheit wird wegen der häufigen Raubüberfälle, meist ausgeübt von Soldaten, denen seit Monaten kein Sold mehr gezahlt wurde, dringend abgeraten. In abgelegenen Landesteilen sind etwa drei Millionen Minen eine alltägliche Bedrohung für die Bevölkerung. Nordöstlich von Angkor kontrollieren die Roten

Khmer noch immer die Grenzgebiete zu Thailand. 14 Jahre später wird der Reisende in Kambodscha meist nur noch in Museen mit all den Schrecken der jüngeren kambodschanischen Geschichte konfrontiert. Die Vergangenheit ist für die wenigsten Kambodschaner ein Gesprächsthema mit Fremden, nicht verwunderlich bei einem Durchschnittsalter von 21,9 Jahren. Wer heute auf dem modernen internationalen Flughafen von Siem Reap landet, dem Ausgangsort für einen Besuch der Tempel von Angkor, erlebt eine lebendige asiatische Stadt mit über 150.000 Einwohnern, die heute (2010) von 2,5 Millionen Touristen besucht wird. 1996 zählte Siem Reap 50.000 Einwohner und erwartete den „Ansturm“ von 260.000 Reisenden. Um diese rasante Entwicklung zu verdeutlichen, zwei Vergleichszahlen: Indien – fast 1,2 Milliarden Einwohner – wurde 2006 von 4,4 Millionen Touristen besucht. Vietnam hat seine Touristenzahl von 1,6 Millionen (1996) auf 4,3 Millionen (2008) gesteigert. Seit 1996 hat sich die damals beschauliche Kleinstadt Siem Reap zu einer boomenden Touristenmetropole mit 5-SterneHotels und einer Vielzahl preiswerter und angenehmer Guest Houses entwickelt. Die Verän-

derungen im Preisniveau sind entsprechend: 1996 kostete das teuerste Zimmer im legendären Grand Hotel noch 80 $, heute sind es 500 $. Hautnah erlebt der Reisende heute den Touristenboom beim Besuch der Tempel. Bereits um fünf Uhr, noch in tiefster Dunkelheit, bewegt sich eine Karawane von Bussen, Taxis, Tuk Tuks, Mopeds, Taxen und Fahrrädern (die 1996 noch aus Sicherheitsgründen nicht benutzt werden durften) auf den Checkpoint zu, an dem die Tickets verkauft werden. Jeder Reisende wird fotografiert und erhält sein Ticket mit Foto. Geisterhaft bewegen sich die Frühaufsteher in Richtung Angkor Wat, dem größten sakralen Bauwerk der Erde, um hier den Sonnenaufgang zu erleben. Ein grandioses Erlebnis, wenn der Himmel nicht wie so oft bewölkt ist. In diesem gewaltigen Bauwerk, erbaut in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, verliert sich schnell der Touristenstrom. Eng wird es nur an der steilen Treppe zum mittleren Turm, dem höchsten Heiligtum, zu dem nur der König und der höchste Priester Zugang hatte. Heute werden die wartenden Besucher von Aufsehern kritisch gemustert, allzu freizügig gekleideten Besucherinnen wird der Zutritt verwehrt. Leider ist die Aufenthaltsdauer

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Angkor Wat – eigentlich unbeschreibbar dort auf 20 Minuten begrenzt. Angkor Wat, die bedeutendste Tempelanlage des Landes, fasziniert auch nach mehrmaligen Besuchen neben seiner ungeheuren Größe durch die geometrisch exakte Anordnung der einzelnen Bauelemente sowie durch die wunderbaren Skulpturen und die 800 Meter langen Flachreliefs. Die Symbolkraft dieses Heiligtums für die Kambodschaner verdeut­ licht die Nationalflagge, deren Mittelpunkt die fünf Türme von Angkor Wat bildet. Hauptanziehungspunkte neben Angkor Wat sind die Stadt Angkor Thom, der teilweise von den Wurzeln mächtiger Bäume umklammerte Tempel Ta Prohm und Banteay Srei, auch „Die Zitadelle der Frauen“ genannt. Die früher befestigte Stadt Angkor Thom, in der im 12. Jahrhundert etwa 1 Million Menschen lebten, umfasst eine Vielzahl eindrucksvoller Bauwerke: Der Bayon mit seinen etwa 200 gewaltigen Steingesichtern, der aufwändig restaurierte fünfstufige Tempelberg Baphoun, die Elefantenterrasse, die Terrasse des Leprakönigs mit wunderbar feinen Halbreliefs von Apsaras (Tänzerinnen), Dämonen und Schlangen, um nur einige zu nennen. Der Flachtempel Ta Prohm, mit dem wohl beliebtesten Fotomotiv in Angkor – einem von den Wurzeln einer Würgefeige umklammerten Eingangstor –, wurde zunächst so belassen, wie ihn seine Entdecker vorfanden: Ein wildes Durcheinander von Wurzeln und Steinbrocken. Aus Sicherheitsgründen hat man inzwischen ungefährliche Wege durch dieses Labyrinth angelegt. Mein persönlicher Lieblings­ tempel ist Banteay Srei. Ihn 1996 zu besuchen, war nicht

ganz einfach, da er damals noch im Sperrgebiet lag, in dem die Roten Khmer noch aktiv waren. Für die Erlaubnis dorthin mit einem Taxi zu fahren, kassierte die Armee die horrende Summe von 40 $. Offensichtlich war alles gut organisiert, denn mein Fahrer zahlte an mehreren Kontrollstellen, an wen, das habe ich nicht erfahren können. Heute besuchen Tausende jeden Tag dieses einmalige Bauwerk, damals waren wir vier! Dieses kleine aus rotem Sandstein Ende des 10. Jahrhunderts erbaute Heiligtum mit seinen hervorragend erhaltenen filigranen Steinmetzarbeiten kann nur mit „unglaublich schön“ beschrieben werden. Einige der Figuren (Tänzerinnen, Wächter und Dämonen) sind nur handgroß, trotzdem ist jede Einzelheit der Kleidung, Haare und Gesichter im Detail herausgearbeitet. Die Vielzahl unvergleichlicher Tempel und Anlagen in Angkor machen den heutigen Touristenandrang verständlich, der vieles verändert hat. Wo früher meist nur Kinder und junge Mädchen den vergleichsweise wenigen Besuchern Getränke, Kekse und einige wenige Souvenirs meist recht lautstark anboten, stehen heute Restaurants und lange Reihen von Andenkenständen. Nur wenige Kilometer von den Hauptanziehungspunkten lässt sich aber auch Ruhe und Beschaulichkeit beim Besuch vieler sehenswerter Heiligtümer und eindrucksvoller Anlagen finden und ein Eindruck von der dörflichen Umgebung gewinnen. Viel wurde in Angkor im Laufe der Jahrhunderte durch die Natur und Plünderer sowie in jüngerer Zeit durch organisierten Kunstraub zerstört oder gestohlen. Vieles wurde aber

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auch, gerade in den letzten Jahren mit internationaler Hilfe, auch von Deutschland, restauriert Trotz aller Zerstörungen ist Angkor auch heute noch das eindrucksvolle Zeugnis einer über tausend Jahre alten Hochkultur, die den heutigen Besucher ehrfürchtig staunen lässt. Ein wahres Weltkulturerbe der Menschheit.

Foto: Ernst-Joachim Richter

Foto: Ernst-Joachim Richter

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Neue VDSt-ler stellen sich vor

Mit Statistik in die Spielbank Martin Schlegel, Hagen

Es ist immer wieder interessant, wie Neumitglieder auf die Halbsätze reagieren, die sie mit der Bitte bekommen, ein paar davon zu ergänzen. Die einen machen nichts, lassen die Bitte an sich vorbeirauschen. Mich würde schon interessieren, warum eigentlich. Ist denen so etwas etwa zu läppisch? Ich werde es nie erfahren. Andere dann wählen – wie gebeten – einige Halbsätze aus und machen was draus. Sie lassen sich einiges einfallen und geben so schon mal einen kleinen Blick auf die Person. Lesen Sie selbst.

Klaus Frank, Stadtverwaltung Kaiserslautern, Referat Organisationsmanagement Statistik und Wahlen, klaus.frank@kaiserslautern.de

Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie nicht auf Anhieb als Statistik zu erkennen ist. Die Statistik will mithelfen, die Welt zu verbessern oder Schäden von ihr abzuwenden. Eine gute Tabelle ist eine kleine Tabelle oder die Zusammenfassung und Analyse von Massenerscheinungen auf kleinstem Raum. An der Statistik gefallen mir die Möglichkeiten der Präsentation und die verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten. Letzteres gefällt allerdings den Kritikern nicht. Die liebste Statistik ist für mich die, die Vorurteile abbaut oder meine Vorstellungen bestätigt. Meine größte Angst liegt darin, dass die Zeit zum Nachdenken immer geringer wird … Statistik ist für mich Bestätigung und Motivation. Im nächsten Jahr möchte ich in der Spielbank Bad Dürkheim Black Jack nach statisti­ schen Grundsätzen spielen. Die Statistik steht vor dem Problem der Überfrachtung und Schnelllebigkeit. Ein Computer ist für mich das Gelbe vom Ei. Und davon brauche ich viel.

Renée Junghans, Zwickau, SB Wahlen und Statistik, Einwohner- und Standesamt; Statistik und Wahlen, renee.junghans@zwickau.de

Statistiken liefern wichtige Informationen, aber es kommt auf die Vergleichbarkeit an. Der Aussagewert von Statistiken hängt ab von der Art und Weise der Datengewinnung.

Dr. Axel Stender, Statistikstelle der Stadtverwaltung Moers, axel.stender@moers.de

Der zu einer Statistik gehörende Text greift die Besonderheiten heraus und lädt zur eige­ nen Betrachtung der Tabelle bzw. Grafik ein. Statistik ist für mich, aus Zahlen Soziales zu erkennen. Umfragen nützen dem, der mit den Ergebnissen etwas bewegen kann. Ohne Statistik ist die Welt weniger objektiv zu fassen. Ein Tag ohne Statistik … Ist schon Wochenende? Ein Computer ist für mich das wichtigste Arbeitsmittel. Wer ohne Zahlen argumentiert, hat schon die höhere Stufe der Transzendenz erreicht. Korrelations-, Cluster- und Diskriminanzanalyse sind für mich wie Küchenmaschinen, mit denen einzelne Zahlen zu einem Teig verknetet werden. Auf gute Zutaten ist zu achten. Der Datenschutz ist für mich ein wichtiges Bürgerrecht. Der Aussagewert von Statistiken ist relativ.

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Vor dem Beginn Martin Schlegel, Hagen

4. Dezember 2010, 20.00 Uhr, Joe Cocker in der Arena im Oberhausener CentrO. Aber so weit sind wir noch nicht. Die 70 km von Hagen aus sind nicht gerade erfreulich: Schneetreiben, eine eingefrorene Scheibenwaschanlage, und das Radio verkündet halbstündlich für die Nacht bevorstehende Schneemassen, verbunden mit Glatteisgefahr. Ich erreiche Oberhausen rechtzeitig; die letzten 2 km sind stop and go, das ist hinnehmbar. Dankenswerter Weise informiert ein Schild, dass in den Parkhäusern 1 und 2 kein freier Platz mehr ist. Die nächste Tafel sagt, dass auch 8, 9 und 10 voll sind. Also nicht rechts ab fahren, sondern weiter geradeaus. Dort ist auch weniger los. Das stop and go ist nun plötzlich in der Gegenrichtung, wie ich erschreckt feststelle. Irgendetwas habe ich falsch gemacht, ich entferne mich vom Ziel. An der nächsten Ampel ist der Weg nach links ausgeschlossen, also nach rechts. Kein Hinweis zum CentrO ist mehr zu sehen. Bei nächster Gelegenheit noch mal rechts ab, das muss doch klappen. Kein Schild hilft, die Zeit läuft davon. Dann taucht eine Autobahn auf, sie will mich nach Dortmund leiten. Da will ich

nun wirklich nicht hin. Auch Arnheim ist im Angebot. Es nervt, bei besch... Sicht in einer fremden Stadt umherzukurven, dem Ziel ganz nah zu sein, es aber nicht zu erreichen. Die Autobahnangebote schlage ich aus, unterquere die BAB und biege schleunigst wieder rechts ab. Die Straße wird schma­ ler, die Schneedecke dicker und die Ortsschilder sagen mir überhaupt nichts mehr. Einen Namen habe ich noch im Kopf: Osterfeld. Doch ob ich dort war oder nur auf dem Weg dorthin, ich weiß es nicht. Und ich will es auch nicht wissen. Plötzlich sehe ich ein Schild neben mir: „CentrO 1,4 km“. Es ist ein Fußweg. Ich lasse den Wagen stehen und erreiche die Arena kurz vor 20.00 Uhr. Pünktlich geht es los – mit einem Ein-Mann-Vorprogramm. Den größten Applaus bekommt der Vorsänger nach einer halben Stunde, als er sein letztes Lied ankündigt. Nun kommt Joe Cocker – aber nicht sofort. Hier wird ein Mikrofon umgestellt, dort ein Instrument

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verschoben. Der Umbau ist abgeschlossen, was fehlt ist der Rock-Barde. Ärgerliche Pfiffe aus dem Publikum. Könnte ich so grell pfeifen wie die, ich würde mitmachen. Die Pfiffe werden wütender, völlig zu Recht. Noch ein Lied vom Band – und noch eines. Hinter mir quengeln Leute. Vor mir auch. Mein Sitznachbar bestätigt mir, dass das Warten-Lassen eine Frechheit ist. Kurz nach 21.00 Uhr gehen die Musiker an ihre Plätze. Auf einer Leinwand läuft ein Film; Joe Cocker, von hinten aufgenommen, geht durch die Katakomben in Richtung Bühne. Dann sehen wir ihn und hören „With a little help from my friends“. Die Welt ist wieder in Ordnung.

Pfiffe

Schneetreiben

Start

Mount Rainier Andreas Hämer, Großrosseln

Federnde Tritte auf nadelndem Grund, achtsame Schritte und Füße fast wund. Gleißendes Licht, eiskalte Luft, herrliche Sicht. Unhörbar ruft Weite und Leben. Schimmerndes Blau: Augen erheben: Zart-ferne Schau.

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Plötzlich reich?

Unwahrscheinlich wahrscheinlich Hubert Harfst, Hannover

Millionen auf dem Konto

Eigentlich unerwartet und unwahrscheinlich, aber eine meiner ersten Begegnungen mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung war ermutigend, weil leicht. Die Wahrscheinlichkeitsaufgabe in der Statistikübung war einfach und lösbar. Nach 41 Berufsjahren zurückblickend war damals eine Berufslaufbahn als Statistiker, obgleich im Sternbild der Jungfrau geboren und nach der Astrologie fürs Rechnen prädestiniert, eher sehr unwahrscheinlich. Aber so ist das mit den Wahrscheinlichkeiten im Leben: Relativ unwahrscheinlich, an einem Freitag, dem 13. geboren zu werden. – Bin ich!

Höchst unwahrscheinlich, dass ein Elefant in unseren Breiten ein Wahllokal blockiert. – Ist bei den letzten Kommunalwahlen in Hannover passiert! Von anderen eigentlich unwahrscheinlichen Ereignissen dagegen kann man in der Regel nur träumen. Sechs Richtige im Lotto. – Nichts! Plötzlich einige Millionen auf dem Konto vorfinden. – Schöne Geschichte, aber meist erfunden! Und dann war es wie mit dem Elefanten – sie waren plötzlich da, die Millionen. Genau 99.999.999,99 Euro. Einfach so in einer Mitteilung der BHW

Bausparkasse aus Hameln. Die Freude dauerte aber nur ganz kurz. Da stand kein Plus von den Millionen, sondern ein dickes Minus. Wir haben „Ihre einmalige Zahlungsverpflichtung auf 99.999.999,99 EUR verringert“, so stand es da unmissverständlich. Und der verminderte Betrag sollte zum nächstmöglichen Zeitpunkt gezahlt und ein Dauerauftrag gegebenenfalls entsprechend geändert werden. Erst dachte ich, mach das per Internet, denn meine sonst immer freundliche Kundenberaterin bei der Sparkasse hätte sicher kein besonders „freundliches“ Lächeln aufgesetzt. Also entschied ich mich, die Sache auszusitzen. Mal sehen, ob und wie das BHW die Millionen eintreibt. Nichts mit Eintreiben – sie haben mich einfach vergessen. Vielleicht meinen sie, ich wäre kein städtischer, sondern ein griechischer Beamter und haben die Forderung längst abgeschrieben. Und so habe ich gelernt: Nichts ist wahrscheinlicher als Unwahrscheinliches! Eine Anregung an die Kolleginnen und Kollegen auf den Statistiklehrstühlen. Wahrscheinlichkeitsrechnung einfach vergessen, im Endeffekt gibt es nur die Nullkommafünf‑Wahrscheinlichkeit, die Eintrittswahrscheinlichkeit: Es passiert oder es passiert nicht!

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Subhastationen – Kriegswirtschaft – Krebs-Statistik

Rückblick 1911 – 1936 – 1961 Martin Schlegel, Hagen

Die erste Statistische Woche fand 1879 in Berlin statt, damals hieß die Veranstaltung noch „Conferenz der Direktoren der statistischen Bureaux deutscher Städte“. Mit Ausnahme der Kriegszeiten trafen sich die Städtestatistiker seitdem jedes Jahr zu einer größeren Versammlung. Worüber haben die Kollegen – Frauen waren zu Anfang Mangelware – sich damals ausgetauscht?

1911 – Dresden Vor 100 Jahren tagte die „Konferenz der Vorstände Statistischer Ämter Deutscher Städte“ in Dresden – und zwar im Sommer, vom 15. bis 17. Juni. Die Tageordnung war relativ übersichtlich, nur 12 Themen wurde behandelt. Ein Ausschnitt: • Ermittlung der Arbeitsbedingungen der Betriebe mit 20 und mehr Beschäftigten. • Periodische Lohnermittlungen für einzelne Gruppen der städtischen Arbeiterschaft. • Vergleiche der Größe einer Wohnung und ihrer Belegung • Statistik der Säuglingssterblichkeit und Säuglingsfürsorge • Statistik der Subhastationen • Die Methoden der Fortschreibung der Bevölkerung

1936 – Braunschweig Braunschweig war Gastgeber für das 43. Treffen, das am 23. und 24. Juni stattfand. Die Nazi-Diktatur hatte auch bei den Statistikern erhebliche Spuren hinterlassen und einige Themen besetzt. In nur zwei Tagen wurde ein enormes Tempo vorgelegt, gab es doch 49 Punkte auf der Tagesordnung. Eine kleine, nicht repräsentative Auswahl: • Die Statistik der Kunstpflege in den deutschen Gemeinden • Vererbung, erbbiologische Karteien und Statistik • Kommunalstatistik im Dienste der Wehrmacht • Die gesundheitsstatische Auswertung der Musterungsergebnisse • Preisstatistik und Indexerweiterung • Die Krankenkassenstatistik als Maßstab zur Beurteilung der Arbeitslage • Statistik in der Kriegswirtschaft • Statistik der Ortsstraßen und Ortsdurchfahrtsstraßen • Reichsfürsorgestatistik • Wohnungszählung und Luftschutz • Statistik der Leistungen der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ • Die NS-Kulturgemeinde

1961 – Saarbrücken Zur 61. „Tagung des Verbandes Deutscher Städtestatistiker“ traf man sich am 17. und 18. Oktober in Saarbrücken. 30 Berichte standen auf der Tagesordnung und deckten ein breites Spektrum ab. Ein Überblick: • Wachsen unsere Städte noch? • Der Bevölkerungszuwachs in den Großstädten der alten und neuen Welt. • Wandlungen der Großstadtmitte in der Gegenwart. • Neuberechnung des Baukostenindex und ihre Problematik. • Eine soziologische Untersuchung von Theaterabonnenten • Statistische Möglichkeiten zur methodischen Beobachtung des Besuchs der Real- und höheren Schulen. • Bonner Krebs-Statistik Stadtforschung und Statistik 2/ 2011

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Autorenverzeichnis Bredl, Sebastian, Diplom-Volkswirt, Justus-Liebig-Universität Gießen, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie, Sebastian.Bredl@wirtschaft.uni-giessen.de Bukowski, Jens, Dipl.-Soz., Fachbereich Sozialwesen, Universität Kassel, bukowski@uni-kassel.de Dohnke, Jan, Diplom-Geograf, Doktorand, Freie Universität Berlin, jan.dohnke@fu-berlin.de Eichhorn, Daniel, Diplom-Ingenieur, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V., Forschungsbereich „Monitoring Siedlungs- und Freiraumentwicklung“, D.Eichhorn@ioer.de Elsner, Petra, Malerin und Publizistin im Atelier an der Schorfheide, Kurtschlag, www.atelier-elsner.de, petraelsner@gmx.de Frank, Klaus, Referat Organisationsmanagement, Statistik und Wahlen, klaus.frank@kaiserslautern.de Hämer, Andreas, Pfarrer i.R., a.haemer@web.de Harfst, Hubert, Diplom-Sozialwirt, Städt. Direktor, Fachbereich Zentrale Dienste – Bereich Wahlen und Statistik der Stadt Hannover, hubert.harfst@hannover-stadt.de Iwanow, Irene, Diplom-Mathematikerin, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V., Forschungsbereich „Monitoring Siedlungs- und Freiraumentwicklung“, i.iwanow@ioer.de Klein, Alexandra, Stuttgart, Verwaltungswirtin und Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Doktorandin an der Universität Tübingen, alexandra.klein@uni-tuebingen.de Kobbert. Prof. em, Dr. Max J., Professor für Wahrnehmungspsychologie, Spieleautor, Münster, max.kobbert@t-online.de Kötschau Kerstin, Diplom-Agraringenieurin, Hanse Parlament, Hamburg Monz, Annetraut, Gießen Oertel, Holger, Diplom-Geograph, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V., Forschungsbereich „Monitoring Siedlungs- und Freiraumentwicklung“, H.Oertel@ioer.de Stender, Dr. Axel, Statistikstelle der Stadtverwaltung Moers, axel.stender@moers .de Richter, Dr. Ernst-Joachim, Oberhausen, ejochen.richter@arcor.de Scharf, Sophie, Stadt Mannheim, Kommunale Statistikstelle, Studentin für Politikwissenschaften, so.scharf@googlemail.com Schlegel, Martin, Diplom-Kaufmann, Amtsleiter a.D., Hagen, me.schlegel@t-online.de Schlichting, Karl, Bremen, schlichting@nord-com.net Schmidt, Dr. Ruth, Leipzig, Amtsleiterin, Amt für Statistik und Wahlen, ruth.schmidt@leipzig.de Schubert, Eberhard, Erfurt, Diplom-Physiker, Amtsleiter a.D., schubert.erfurt@t-online.de Schulmeyer, Rudolf, Diplom-Volkswirt, Amtsleiter, Bürgeramt, Statistik und Wahlen, rudolf.schulmeyer@stadt-frankfurt.de Schultz, Andrea, Diplom-Geographin, Amt für Statistik und Wahlen, Leipzig, andrea.schultz@leipzig.de Seidel-Schulze, Antje, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Deutsches Institut für Urbanistik, Berlin, Arbeitsbereich Wirtschaft und Finanzen, seidel-schulze@difu.de Siegrist, Univ.-Prof. Dr. Johannes, Institut für Medizinische Soziologie, Heinrich Heine-Universität Düsseldorf, siegrist@uni-duesseldorf.de Winker, Prof. Dr. Peter, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Statistik und Ökonometrie, Justus-Liebig-Universität,

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