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Handwerk neu denken

Wir alle haben in den vergangenen Wochen gelesen, wie ambitioniert die Ziele der Bundesregierung in Sachen Energiewende und Klimaschutz sind. Zwar äußerte sich kürzlich ZDH-Präsident Jörg Dittrich optimistisch, dass das Handwerk die 500.000 geplanten Wärmepumpen im Jahr installieren könne. Doch was in diesem Zusammenhang jedem Politiker und Entscheidungsträger klar sein muss: Ohne weitere Fachkräfte im Handwerk werden viele wichtige Ziele nicht erreichbar sein. Die Gewinnung junger Menschen für das Handwerk ist

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PROZENT der Auszubildenden im Südniedersächsischen Handwerk hatten in einer neuen Phase angelangt. Die Bedingungen für Betriebe sind dabei wesentlich herausfordernder als noch in der Vergangenheit. So lassen sich Auszubildende nicht mehr ausschließlich in den Haupt- und Realschulen gewinnen – schon allein wegen der demografischen Entwicklung und einer immer größeren Abiturientenquote in Deutschland muss das Handwerk neue Zielgruppen erschließen.

2022 einen Migrationshintergrund.

Integration als Gesellschaftsaufgabe

„Das Handwerk hat sich in der Vergangenheit immer als Integrationsmotor bewiesen. Hier liegen bei der

Fachkräftegewinnung natürlich enorme Potentiale“, sagt Simon Kreipe, stellvertretender Hauptgeschäftsführer bei der Handwerkskammer. Und auch die aktuelle Ausbildungsbilanz zeigt, dass Geflüchtete als Fachkräfte im Handwerk eine immer stärkere Bedeutung einnehmen. So steigt die Zahl an Auszubildenden mit Migrationshintergrund seit Jahren an und liegt inzwischen bei rund 11 Prozent. Im Südniedersächsischen Handwerk sind inzwischen Auszubildende aus 66 Nationen angekommen. „Die Familie Handwerk ist bekannt für ihre Diversität und Vielfalt - stärker als vermutlich jeder andere Wirtschaftsbereich in Deutschland. Das ist ein Gewinn für alle“, ist sich Simon Kreipe sicher. Studien belegen immer wieder: Eine heterogene Belegschaft erweist sich in der Regel als leistungsstärker als eine homogene Belegschaftsstruktur. Und auch die betriebliche Praxis zeigt die Vorteile eines kulturell gemischten Teams, wie unsere Betriebe im Portrait in dieser Ausgabe belegen (S. 8-11).

Über den Tellerrand schauen Doch natürlich ist nicht nur die Integration von Geflüchteten eine Möglichkeit, um Fachkräfte für das Handwerk zu gewinnen. Betriebe sollten sich vor allem auch um Neu- und Quereinsteiger bemühen, wenngleich mittelfristig natürlich auch die Politik ihren Beitrag leisten muss, um das Fachkräfteproblem zu lösen. Dass das Handwerk Integrationsmotor des Landes ist, ist mit Blick auf die Aus- und Weiterbildung von geflüchteten Menschen vermutlich jedem klar. Allerdings sollte man den Begriff „Integration“ ganzheitlich betrachten und dabei verschiedene Zielgruppen für die Besetzung von z.B. Lehrstellen ausmachen. Denn letztlich geht es bei Integration nicht immer nur um Zugewanderte, die in unser Land eingegliedert werden sollen. Vielmehr sollte mit Integration jedem, der seinen Platz noch nicht gefunden hat, ein Weg in dieser Gesellschaft ermöglicht werden. Und da sind die Chancen im Handwerk grenzenlos!

Geflüchtete und Zugewanderte Oft haben Geflüchtete in ihren Heimatländern bereits schulische, berufliche oder akademische Abschlüsse gemacht und können damit einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. „Mit dem IHAFA-Projekt haben wir in Niedersachsen eine zentrale Anlaufstelle für Handwerksbetriebe und Geflüchtete“, erläutert Malte Diercks, Projektleiter bei IHAFA*. „Egal ob es um rechtliche Fragen, Sprache oder Integration im Betriebsalltag geht: Das IHAFA-Team steht Geflüchteten und Betrieben zur Seite.“ Für Diercks kommt es bei diesem Thema vor allem auf gute Netzwerke an. So empfiehlt er den Betrieben, neben den staat-

Kontakt

Sina Vornkahl ist Ihre Ansprechpartnerin für die Anerkennung von ausländischen (Berufs-)Abschlüssen. Sie steht Betrieben und Antragsstellern unter 05121 162-130 oder per Mail (sina. vornkahl@hwk-hildesheim.de) zur Verfügung.

Anerkennungsberatung

Die Handwerkskammer Hildesheim-Südniedersachsen bietet Betrieben und ausländischen Fachkräften eine umfassende Beratung zu den Anerkennungsmöglichkleiten von ausländischen Abschlüssen.

Nach der Erstberatung kann ein Antrag auf Gleichwertigkeitsfeststellung erfolgen. Die HWK überprüft anhand der eingereichten Unterlagen, ob wesentliche Unterschiede zwischen der vorliegenden Berufsqualifikation und dem deutschen Berufsabschluss bestehen.

Antragssteller erhalten dann einen Bescheid mit dem Ergebnis des Verfahrens. Ein deutsches Prüfungszeugnis wird nicht ausgestellt. Dieses erhält man nur, wenn man nach einer Ausbildung an der Prüfung teilnimmt.

Kosten des Verfahrens

Die Erstberatung zum Verfahren von Gleichwertigkeitsprüfungen ist kostenfrei. Das Verfahren zur Prüfung der Berufsqualifikation ist gebührenpflichtig. Die Kosten müssen vom Antragsteller selbst getragen werden.

Über die Höhe der Kosten informiert die Handwerkskammer in der Erstberatung.

Weitere allgemeine Informationen: www.anerkennung-in-deutschland.de lichen Institutionen (z.B. Kammern und Jugendberufsagenturen) auch Vereine wie z.B. den Asyl e.V. zu kontaktieren.

Ein großes Netzwerk ist hilfreich, wenn es um die Gewinnung von Fachkräften geht. Gerade die Online-Medien sind bei der Besetzung von Lehrstellen ein wichtiges Instrument.

Im direkten Kontakt sollten Betriebe vor allem zu Anfang Gelassenheit und Geduld mitbringen, aber auch offen und klar Erwartungen kommunizieren. „Betriebe sollten Geflüchtete vor allem bei der Sprache unterstützen, denn das ist oftmals die größte Herausforderung“, ergänzt Diercks.

Schüler ohne Abschluss

Im Handwerk kommt es darauf an, wo man hinwill, nicht wo man herkommt. Und aus diesem Grund sollten Betriebsinhaber auch offen dafür sein, Bewerber ohne erfolgreiche Schullaufbahn als potentielle Azubis in Betracht zu ziehen. Denn sehr häufig sind die Gründe für einen Schulabbruch nicht in den Fähigkeiten oder der Intelligenz zu finden, sondern oftmals auf besondere Umstände oder Schicksalsschläge im persönlichen Umfeld zurückzuführen.

„Betriebe sollten bestenfalls vor einer Entscheidung immer ein Praktikum vereinbaren. Denn dann kann sowohl der Betrieb, als auch der Bewerber schauen, ob Tätigkeit und Umfeld passen. Wenn beide Seiten dann zusammengefunden haben, steht einem Ausbildungserfolg nichts mehr im Weg“, erläutert Ausbildungsplatzmatcherin Susanne Bartels. Auch hier sind Netzwerke für eine Gewinnung von Auszubildenden entscheidend. Mit der Arbeitsagentur und Initiativen in den einzelnen Kommunen haben Betriebe starke Partner an ihrer Seite.

Abiturienten und Studienaussteiger

Schon längst sind Abiturienten im Handwerk angekommen. Und dennoch ist bei einer Abiturientenquote von rund 17% noch Luft nach oben. Einen arbeitslosen Handwerker wird es in der Zukunft vermutlich nicht geben. Als Berufszweig erfüllt die Wirtschaftsmacht von nebenan optimal die Lebensvorstellungen und Werte der jungen Generationen. Und auch Digitalisierung, Technik und Nachhaltigkeit sind die Trendthemen des Handwerks. Betriebe sollten daher vor allem auf eine zielgruppengerechte Ansprache achten. Dies gilt dabei genauso auch für Studienaussteiger. Wenn junge Menschen erkennen, dass sie im Handwerk hervorragende Voraussetzungen für eine spannende, sinnstiftende und herausfordernde Tätigkeit mit bester Perspektive haben, sind wir einen großen Schritt weiter.

Quereinsteiger

Viele erkennen die Liebe zum Handwerk erst auf den zweiten Blick, manchmal auch erst nach einer länge- ren beruflichen Karriere in einer anderen Branche. Lohnt es sich, auch im höheren Alter noch einmal umzusatteln und als Quereinsteiger ins Handwerk zu gehen? Vielleicht noch einmal eine Ausbildung machen?

TAUSEND Wärmepumpen sollen ab 2024 pro Jahr in Deutschland installiert werden. Für das Handwerk kein Problem - wenn es genug Fachkräte gibt.

In der Bildungspolitik müssen dringend die Weichen dafür gestellt wer und Werkunterricht - in allen Schulformen.

„Wir möchten Suchende aller Generationen ermutigen, sich bei uns zu melden! Gerne helfen wir bei der Berufswahl und bei der Suche nach Praktikums- und Ausbildungsplatz - egal wo und egal wie alt! Es ist nie zu spät, sein Hobby zum Beruf zu machen“, sagt Bartels, die selbst gelernte Fleischermeisterin ist. „Und ich bin mir sicher, jeder andere erden, dass wieder mehr junge Leute sich vom Handwerk begeistern lassen und eine Ausbildung beginnen. Doch dazu braucht es vor allem mehr Berufsorientierung kann ebenfalls seinen Platz im Handwerk finden!“

Betriebe sollten auch hier Offenheit für die Bewerber mitbringen und sie unterstützen. Gerade, wenn die Schul- und Lernzeit schon eine Weile her ist, fällt es älteren Azubis schwerer, wieder in den Lern-Modus zu kommen. Susanne Bartels ist sich sicher, dass der Erfolg dennoch garantiert ist. „Wer das lernt, was er liebt, wird so oder so zu einem hervorragenden Handwerker. Und davon profitieren letztlich alle Seiten!“

Wir alle sind gefordert

Egal, welche Zielgruppe bei der Fachkräftegewinnung infrage kommt: Es ist wichtig, bei der Bewerbung des Betriebs dahin zu gehen, wo auch die Zielgruppe „unterwegs“ ist. Und das sind natürlich vor allem die Sozialen Netzwerke und das Internet. Es ist daher wichtig, sich intensiv mit dem eigenen Online-Auftritt des Betriebs zu beschäftigen und Maßnahmen zu ergreifen.

Darüber hinaus kommt es immer wieder auch auf eine gute Vernetzung in der Region und der Handwerksorganisation an. „Jeder kann im Handwerk seinen beruflichen Erfolg finden. Wir unter- stützen Betriebe bei der Suche nach Auszubildenden, egal ob auf Berufsmessen oder in Beratungen“, macht Simon Kreipe klar.

„Doch leider müssen wir auch immer wieder erkennen, dass die Problemfelder die gleichen sind: Bürokratie und Fachkräftegewinnung. Und da wo Herausforderungen unweigerlich im Raum stehen, ist es an der Politik, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Kein Praktikumsplatz, kein Ausbildungsplatz darf an bürokratischen Hürden scheitern“, mahnt Kreipe.

Auch die Ausrichtung des deutschen Schulsystems muss bei der Fachkräftegewinnung hinterfragt werden. Nicht umsonst sagte der bekannte Philosoph Richard-David Precht: „Unsere Schulen bereiten nicht nur schlecht auf das Leben vor, sie zerstören sogar gezielt jene Potenziale an Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Kreativität.“ Das Handwerk steht genau für diese Attribute. Mit einem entschiedenen Handeln in der Bildungspolitik und der Gewinnung von Auszubildenden über alle Zielgruppen hinweg kann ein wichtiger Schritt zu mehr Fachkräften gemacht werden. Es ist höchste Zeit. W

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