MITTELNIEDERDEUTSC HE BIBLIOTHEK
Bernd Bastert
Elisabeth de Bruijn (Hg.)
MITTELNIEDERDEUTSC HE BIBLIOTHEK
Bernd Bastert
Elisabeth de Bruijn (Hg.)
Edition, Übersetzung, Kommentar.
Mit einem Anhang zum ‚Trierer Floyris‘ und zu ‚Flors inde Blanzeflors‘
Herausgegeben von Andreas Bieberstedt, Jörn Bockmann, Franz-Josef Holznagel und Ingrid Schröder
Band 2
Edition, Übersetzung, Kommentar. Mit einem Anhang zum ‚Trierer Floyris‘ und zu ‚Flors inde Blanzeflors‘
Schwabe Verlag
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© 2025 bei den Autor:innen; Zusammenstellung © 2025 Bernd Bastert, Elisabeth de Bruijn, veröffentlicht durch Schwabe Verlag Berlin GmbH, Marienstraße 28, 10117 Berlin
Abbildungen Umschlag: Kungliga Biblioteket, Cod. Holm. Vu 73; Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1203 Helmst.; Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ms. Germ. 8o 186; Biblioteka Gdańska Polskiej Akademii Nauk, Ms. 2418; Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Fragm. 2 Umschlaggestaltung: icona basel gmbh, Basel
Layout: icona basel gmbh, Basel
Satz: Anika Meißner, Bochum
Druck: Hubert & Co., Göttingen
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7574-0063-7
ISBN eBook (PDF) 978-3-7574-0149-8
DOI 10.31267/978-3-7574-0149-8
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1.1BearbeitungenimdeutschsprachigenRaum..........10
1.2DiemittelniederländischeBearbeitung.............12 2ZurForschungsgeschichte........................13
3Dermittelniederdeutsche„FlosundeBlankeflos“............17
3.1DiemittelniederdeutscheBearbeitung.............17
3.2DiehandschriftlicheÜberlieferungvon„FlosundeBlankeflos“18
4DieripuarischenFragmentevon„FlorsindeBlanzeflors“(M).....24
5Der„Trierer(maasländische)Floyris“(T)................25 6ZurTextausgabe.............................27
DieerstenÜberlegungenfürdienunvorliegendenAusgaben,Übersetzungenund Kommentaredernieder-undmitteldeutschenVersionendes„FloireetBlanchefleur“StoffesgehenaufGesprächezurück,diediebeidenHerausgebervornunmehrüber einemJahrzehntgeführthaben.ImRahmeneinesWorkshopsanderUniversitätHamburg,beidemesumdieGründungderReihe‚MittelniederdeutscheBibliothek‘ging, habensichdieseGedankenspieledannspäterkonkretisiert.IndieTatumsetzenließen siesich,nachdemdieDFGdenAntragzurArbeitandieserAusgabeimMai2020positivbeschied.AufgrundderdamaligenEinschränkungendurchdieCorona-Pandemie verzögertesichderStartdesprojektiertenVorhabenszwareinwenig,dochdanach gingendieArbeitenzügigvoran.
EinwichtigesZielunsererAusgabebestandvonAnfangandarin,denmittelniederdeutschen„FlosundBlankeflos“,dermitfünfTextzeugeneineungewöhnlich breiteÜberlieferungaufweist,inderForschunggleichwohlwenigbekanntistund bislangnurseltenbehandeltwurde,ineinermodernenStandardsentsprechenden AusgabezupräsentierenunddurchdieBeigabedernhd.Erstübersetzungsowieeines KommentarsfürdieForschungwiefürdenakademischenUnterrichtattraktiver zumachen.DasGleichegiltfürdieebenfallswenigbehandeltenmitteldeutschen Versionen:den„Trierer(maasländischen)Floyris“,derdieälteste,aberleidernur fragmentarischerhalteneschriftlichüberlieferteFassungdeseuropaweitverbreiteten Stoffesüberhauptdarstellt,sowiedengleichfallsnurin,mittlerweileverschollenen, Fragmentenerhaltenenripuarischen„FlorsindeBlanzeflors“,derebenfallseinwichtigerTextzeugefürdiefrüheVerbreitungdesStoffesistundzudemeinegroßeRolle beidessenVerbreitungindenniederdeutschenSprachraumgespielthabendürfte.
UmderEinzigartigkeitallerÜberlieferungszeugenvon„FlosundeBlankeflos“ gerechtzuwerden,wurdeaufeinezwangsläufigatomisierendeundunübersichtliche Darstellungineinem‚klassischen‘ausführlichentextkritischenApparatverzichtet undnursemantischwichtigeLesarten,Plus-undMinusverse,Umstellungenund UmformulierungenindenübrigenHandschriftenverzeichnet.DierelativeKürze
derErzählungerlaubteesjedoch,ineinemAnhangalleTextzeugenineinersemidiplomatischenWiedergabesynoptischdarzustellen,sodasssämtlicheAbweichungen indenjeweiligenHandschriftenundFragmentenleichtmiteinanderverglichenwerdenkönnen(vgl.S.222–261).ÜberdiesgelangtmandurcheineQR-CodeaufS.221 zueinerSeitedesSchwabeVerlags,diedieAnsichtderSynopseingrößererSchrift undbessererLesbarkeitermöglicht,alsdiesinunsererAusgabeausdrucktechnischenGründenmöglichwar.DiplomatischeTranskriptionenderHandschriftenund FragmentehabenwirzudemdensieaufbewahrendenBibliothekenzurVerfügunggestellt,diesieimgünstigstenFallzusammenmitdenDigitalisatenonlinepräsentieren können.
BeiderArbeitandiesemVorhabenhabenwirHilfeundUnterstützungvonvielen Seitenerfahren.Fürdiegroßzügige,nichtnurfinanzielleUnterstützungmöchtenwir unsbeiderDFGbedanken,ohnederenFörderungeineRealisierungdesVorhabens kaummöglichgewesenwäre.DankgebührtebensodenBibliotheken,dieunsbereitwilligEinblickindieHandschriftenundFragmentegewährtenundDigitalisatezur Verfügungstelltenbzw.anfertigten:derKungligaBiblioteketinStockholm,derHerzogAugustBibliothekinWolfenbüttel,derStaatsbibliothekzuBerlin,derBiblioteka GdańskaPolskiejAkademiiNaukinGdansk(Danzig)sowiederStadtbibliothekTrier.
ImLaufederJahrehabenvielePersonenbeiderErstellungderEditionen,ÜbersetzungenundKommentaremitgeholfen.BeiFragenundProblemenzurdigitalenUmsetzungmitTranskribuskonntenwirunsanWouterHaverals(Antwerpen/Princeton) wenden.OhneAnikaMeißner(Bochum),derengeduldigeArbeitundingeniösenLösungenhättenwirdieUmsetzungundEinrichtungderTextefürdenDruckniemals bewältigenkönnen.MiriamKunna,GesaBlankemeyerundPilarGarciaDiazhaben inBochumunermüdlichLiteraturbesorgt,Editionen,ÜbersetzungenundKommentarekorrigiertundvielewertvolleHinweisegegeben.ChristinePutzo(Lausanne)und FrankWillaert(Antwerpen)warenunsstetskompetenteAnsprechpartnerinfachlichenFragen.Ihnenallendankenwirherzlich.Undschließlichgebührtauchdem SchwabeVerlagDankfürdieguteZusammenarbeit.
WenndieindenletztenJahrenentstandenenEditionen,Übersetzungen,KommentareundErschließungendazubeitragen,dass„FlosundBlankeflos“,der„TriererFloyris“und„FlorsindeBlanzeflors“zukünftiginUnterrichtundForschungstärkerberücksichtigtwürden,wäreunsereHauptabsichterreicht.
BerndBastertundElisabethdeBruijn,imJuli2024
Um1150/60entstandinFrankreicheineErzählung,dievonderunverbrüchlichen LiebeundTreuedesspanischen,unddasheißthiermuslimischen,KönigssohnsFloire zurchristlichenSklaventochterBlanchefleurhandelt,dieseineElternzuverhindern suchenunddeshalbdaswunderschöneMädchenverkaufen.Nacheinergefahrvollen Suche,beiderderPrinzeherseinenVerstandalsseineKörperkräfteeinsetzt,spürt erdieGeliebteendlichbeimHerrschervonBabylonaufundgelangtdurcheineList späterzuihr.DasPaarwirdjedochentdecktundzumTodeverurteilt,schließlichaber begnadigt.GemeinsamkehrensienachSpanienzurück,umdortdieHerrschaftzu übernehmenund,nachdemderneueKönigFloirezumChristentumkonvertiertist, dasLandzuchristianisieren.
DiefranzösischeErzählungistinzwei,inderälterenForschungstraditionmitden vonÉdélestandDuMéril(1856)geprägtenBegriffen‚versionaristocratique‘und‚versionpopulaire‘bezeichnetenVersionenüberliefert,dieseitKrüger(1938)meistneutraleralsVersionIundIIbezeichnetwerden.InderRomanistikwirdheuteeineUnterscheidungnachGattungsmerkmalenbevorzugt,wobeidieersteVersioninAnlehnung andiezeitgenössischenAntikenromaneals‚conte‘bezeichnetwird,währenddiezweiteaufgrundihresErzählverlaufsundderstärkerakzentuiertenritterlichenWerte,wie sieauchdiesogenannten‚romansd’aventures‘kennzeichnen,‚roman‘genanntwird (Obry2022).WirsprechenindieserEditionvonVersionIundII,womitjedochkeineswegseineHierarchiedesEntstehensimpliziertist.BeideVersionenstammenaus dem12.Jahrhundert,wobeiVersionIindreiHandschriftenausdem12.und13.Jahrhundert(sowieeinerKopieeinesdieserZeugenausdem15.Jahrhundert)erhalten
blieb.1 VersionIIistnurauseinerHandschriftausdemAnfangdes14.Jahrhunderts bekanntunddortleiderunvollständig,daderSchlussdesTextesfehlt.2
DiefranzösischenVersionenerlebteneinegewaltigeRezeptionsgeschichteundwurdensehrraschinvieleeuropäischenSprachenübersetzt.Nebendenfranzösischen Fassungenvon„FloireetBlancheflor“existierendeutsche,mittelniederländische(DiedericvanAssenede,„FlorisendeBlancefloer“,13.Jh.),mittelenglische(„Florisand Blancheflour“,Mitte13.Jh.),norwegische(„FloréssagaokBlankiflúr“,13.Jh.),schwedische(„FloresochBlanzeflor“,14.Jh.),dänische(„FloresocBlanzeflor“,um1500), spanische(„CrónicadeFloresyBlancaflor“oder„Chrónicacarolingia“,Ende13.Jh.), italienische(„CantaredeFiorioeBiancifiore“,toskanischum1300;Boccacios„IlFilocolo“,1338)undgriechische(„FlorioskaiPlatziaflora“,um1400)Fassungen.Im Drucksindzudemnocheinetschechische(„FloriazHispanij“,1519)sowieeinejiddische(„FlereBlankeflere“,17.Jh.)Fassungüberliefert.3 Diefürmanchemittelalterliche ErzählstoffezuhoheHürdedesBuchdruckskonntedieErzählunggleichinmehreren Volkssprachenüberwindenundging,infreilichveränderterForm,schließlichsogarin dieHochkulturderwestlichenModerneein,indemderStoffdasLibrettofürMozarts 1782uraufgeführtesSingspiel„DieEntführungausdemSerail“lieferte.4
1.1BearbeitungenimdeutschsprachigenRaum
ImdeutschsprachigenRaumwurdederStoffzwischendem12.und16.Jahrhundert nichtwenigeralssechsMalbearbeitet.VondiesenBearbeitungenhatdiemittelhochdeutschedurchKonradFleckinderForschungbeiweitemdiemeisteAufmerksamkeit gefunden.5 Seineum1220verfasste,als„FloreundBlanscheflur“bezeichneteFassung istmitrund8000VersenmehralsdoppeltsolangwiederfranzösischePrätext.VollständigüberliefertwirdsieallerdingsnurinzweiHandschriftendes15.Jahrhunderts.
1 A (Paris,BnF375,Bl.247vb–254va);B(Paris,BnF1447,Bl.1r–20v);C(Paris,BnF12562, Bl.69r–89r)(eineKopievonAausdem15.Jahrhundert)undV(Vatikan,palat.Lat.1971,Bl.85r–90v).WirzitierendieseVersionimFolgendennachderAusgabevonLeclanche(2003);einedeutsche Übersetzung,dieinderVerszählungallerdingsdifferiert,findetsichbeiKolmerschlag(1995).
2 D(Paris,BnF19152),Bl.193ra–205vc.WirzitierendieseVersionimFolgendennachderAusgabevonPelan(1975).
3 AusschnitteausallengenanntenWerkenundkurzeEinführungenzuihnenfindensichinder französischsprachigenAnthologievonLodèn,Obry(2022).
4 EinenkritischenÜberblickzureuropäischenStoff-undÜberlieferungsgeschichtebietetPutzo (2015,S.1–27),zurniederländischenunddeutschenStofftraditionvgl.Winkelman(2010).
5 WirzitierendieseFassungimFolgendennachderAusgabevonPutzo(2015),vgl.auchSommer (1846).
AufderGrundlagedermittelhochdeutschenFassungentstandimspäten15.JahrhundertinZüricheineindreiHandschriftenerhalteneKurzfassungnamens„Florusund Pantschiflur“,dieim„BuchvomHeiligenKarl“alsVorgeschichteeinerhagiographischenKarls-Darstellungdient.DieVerbindungzwischendiesen,aufdenerstenBlick ganzunterschiedlichenStoffbereichenergibtsichdaraus,dassFloreundBlanscheflur beiKonradFleck,ebensowieinvielenanderenBearbeitungendesStoffes,alsEltern vonBerta,derFrauKönigsPippins,undsomitalsGroßelternKarlsdesGroßenerscheinen.ImJahr1499erschienderStoffunterdemTitel„FlorioundBianceffora“bei KonradHochfederinMetzauchingedruckterForm;dieserDruck,derzahlreicheAuflagenerlebte,istdieQuellefürdieBearbeitungdesStoffesdurchHansSachs(„Florio, deskönigssonaußHispania“,1551).DieVorlagedesdeutschenDruckswarallerdings nichtFleck,sondernBoccaccios„IlFilocolo“undsomiterstmalsimdeutschsprachigenRaumeineFassung,dieeindeutigaufdieVersionIIzurückgeht.DieanderendeutschenBearbeitungenlassensich,derbisherigenForschungsmeinungzufolge,direkt oderindirektaufdieVersionIzurückführenoderlehnensichzumindeststarkansie an,wobeiineinigenBearbeitungenallerdingsauchMotiveausVersionIIbegegnen (s.u.).
Schonum1170undsomitnurwenigeJahrenachderfranzösischenVorlageentstandimmaasländischenRaum,wohlinderGegendumKrefeldundVenlo,dieerste deutscheBearbeitungdesStoffs.Erhaltenistsieheuteallerdingsnurnochinmehreren,auseinereinzigenHandschriftstammendenFragmenten,dievermutlichEndedes 12.JahrhundertsvoneinemhessischenAbschreiberkopiertwurden.Dieinsgesamt 369VersewerdennachihremEntdeckungs-undAufbewahrungsortals„Trierer“,aufgrundderOriginalsprachemanchmalaberauchals„maasländischerFloyris“bezeichnet(vgl.Abschnitt5).Im13.JahrhundertentstandimripuarischenRaum,vielleicht inKölnoderUmgebung,eineweiteredeutscheBearbeitung,diedenfranzösischen Prätextoffenbarkürzte.WiestarkdieseKürzungeninsgesamtwaren,lässtsichheute ebensowenigbeantwortenwiedieFragenachderVorlage,dadieripuarischeBearbeitung,diedenTitel„FlorsindeBlanzeflors“erhielt,nurinmehrerenkleinenPergamentstreifenerhaltenistbzw.war,dieinsgesamt184Verseumfassen.DieFragmente sindheuteverschollen.DieseripuarischeVersionscheintdieVorlagefüreinerund 1500VerseumfassendeniederdeutscheAdaptationmitdemTitel„FlosundeBlankeflos“gewesenzusein,dienochim14.Jahrhundertentstandenseinkönnte,dochnur ausHandschriftendes15.Jahrhundertsbekanntist(vgl.Abschnitt4).
NurwenigeJahrzehntenachderÜbersetzungKonradFlecksentstandvermutlichum dieMittedes13.JahrhundertseineflämischeÜbersetzungdesFloire-Stoffes:„Floris endeBlancefloer“ . 6 DerAutordieser,unabhängigvonderhochdeutschenFassungentstandenen,ebenfallsaufderfranzösischenVersionIbasierendenÜbersetzungnennt sichDiedericvanAssenede,dessenNameseit1262inUrkundenalsgräflicherBeamtererscheint.AuchwenndieseIdentifizierungnichtganzsicherist,passtderDichter dochindasProfileinesgebildetenGeistlichen,dernebenderVolksspracheauchFranzösischundLateinbeherrschte(Janssens,2015,S.139).Seine3974Verseumfassende ÜbersetzungfolgtdemfranzösischenOriginalziemlichgetreu,enthältabereinigeEingriffe,diedenlogischenAblaufderGeschichteverbessernundUnvollkommenheiten inderQuellekorrigieren.AußerdemhebtDiederichöfischeElementenochstärker hervoralsdiefranzösischeFassung,möglicherweiseweilerfüreinPublikumschrieb, dasdiehöfischenNormenundWertedesHochadelsnachahmenwollte.DiedericsBearbeitungistineinemFragmentausderZeitum1300undineinereinzigen,fastvollständigenSammelhandschriftausderZeitum1350erhalten.
DiedericsFassungbildetzugleichdieGrundlagefürdieProsabearbeitung,diezu Beginndes16.JahrhundertsinAntwerpenindenDruckgelangte:die„Historievan FlorisendeBlancefleur“.WährendinvielenandereneuropäischenSprachen,darunter auchimDeutschen,BoccacciosAdaptationalsVorlagefürDruckbearbeitungendiente,fanddermittelniederländischeVersromanDiedericsindenNiederlandendurch eineProsifizierungeinneuesPublikum.WieausdemProloghervorgeht,wendetsich derDruckunteranderemaneinPublikumvonjungenMännernundFrauen,dieausdrücklichaufgefordertwerden,sich(imangeblichenGegensatzzuFlorisundBlancefleur)vonderLiebezuGottleitenzulassen–eineBotschaft,dieinsostarkemWiderspruchzumunverändertenInhaltderErzählungsteht,dassderPrologalsMittelzur UmgehungeinermöglichenZensurverstandenwordenist(Winkelman1993).Vom frühestenbekanntenDruck(Antwerpen:JanvanDoesborch,um1517)istlediglich einFragmenterhalten.DenältestenvollständigenTextvon„FlorisendeBlancefleur“ kennenwirauseinemAntwerpenerDruckvonGuillaemvanParijs(1576).
6 Wir zitierendieseVersionimFolgendennachderAusgabevonWinkelmanundWolf(2015).
Einderartintensives,sichübermehrereJahrhunderteerstreckendes,inzahlreichen unterschiedlichenBearbeitungenundDialektenmanifestierendesInteresseaneinem weltlichenErzählstoffausderRomaniaistsingulärinderdeutschenLiteraturdes Mittelaltersundmanwürdeerwarten,dasssichdasauchindergermanistischenForschungwiderspiegelt.DochdasGegenteilistderFall.VondenangeführtensechsunterschiedlichenBearbeitungendesfranzösischenStoffesistbislangnurdiemittelhochdeutscheFassungdesKonradFleckstärkerindenFokusderForschunggeraten–und auchdas,nacheinemgewissenHöhepunktim19.undfrühen20.Jahrhundert,erst wiederindenletztenzehnbiszwanzigJahren.
WesentlichschlechteristesumneuereStudienundUntersuchungenzudendrei Bearbeitungenbestellt,dienichtdemoberdeutschenRaumentstammen.ImFallder beidennurfragmentarischerhaltenenWerkeliegtdasvorallemamnichtoptimalen Überlieferungszustand,dochspieltedabeisicherlichauchdieungünstigeEditionslageeineRolle.„FlorsindeBlanzeflors“warbisherlediglichineineranentlegenemOrt veröffentlichtenArbeitgreifbar(Schafstaedt1905/06).DiedabeiverfolgtenEditionsrichtlinienhatderHerausgebernichtdeutlichoffengelegt.Der„Trierer(maasländische)Floyris“wurdedurchSteinmeyer(1877/78),späternocheinmaldurchG.de SmetundM.Gysseling(1967)mehroderwenigerdiplomatischabgedruckt,wasdie Lesbarkeitnichtunbedingterleichterte.FürbeideschonaufgrundderEditionsweise,aberauchwegendesSprachstandesnichtganzeinfachrezipierbarenTextefehlte überdieslangeZeiteineneuhochdeutscheÜbersetzung,wasderenGebrauchzusätzlicherschwerthat;eineniederländischeÜbersetzungdes„Trierer(maasländischen) Floyris“findetsichbeiWinkelman2013;eineÜbersetzungvon„FlorsindeBlanzeflors“jetztbeiPutzoundBastert2024.DieBeschäftigungmitdiesenTextzeugenhat sicherlichgleichfallsnichtgefördert,dassdiebeidenWerkfragmente,genauwie„Flos undeBlankeflos“,ausden‚NiderenLanden‘,alsodemniederdeutschenbzw.demheutigenniederländisch/deutschenGrenzraumstammen.DenndiemittelalterlicheLiteraturdiesesRaumsstehtfastschontraditionellnichtimFokusderstarkaufdenoberdeutschenRaumfokussierendenmediävistischenGermanistik.Untersuchtwordenist derstoffgeschichtlichinteressante,frühhöfische,bereitsum1170verfasste,abernur fragmentarischerhaltene„Trierer(maasländische)Floyris“,derdieersteBearbeitung desStoffesinderGermaniadarstellt,dannauchindenletztenJahrzehnten–bisaufwenigehandbuchartigeArtikel(z.B.Tervooren2006)–ingrößeremUmfangganzüber-
wiegenddurchdieNiederlandistikbzw.durchniederländischeundbelgischeForscher (DeSmet1962–1995,Winkelman1977–2008,vanOostrom2006,S.175–178).„Flors indeBlanzeflors“istderinternationalenForschungsogutwieunbekanntgeblieben undauchdieGermanistikhatdieFragmentebisherlediglichregistriert,kaumjedoch untersucht;vgl.neuerdingsallerdingsPutzoundBastert(2024).
NichtsehrvielbessersiehtesmitderAufmerksamkeitfürdenmittelniederdeutschen„FlosundeBlankeflos“selbstaus,dermitfünfHandschriftennichtnurdasmit AbstandambestenüberliefertevolkssprachigeWerkdergesamtenmittelniederdeutschenerzählendenLiteraturüberhauptbildet.EineähnlichdichteÜberlieferungwie dermittelniederdeutsche„FlosundeBlankeflos“,dieaugenscheinlichfüreineintensiveRezeptiondiesesWerkesspricht,hatimgesamteneuropäischenRaumansonsten keineandereFassungdesStoffesaufzuweisen.GleichwohlfanddieseBearbeitungbislangnurwenigBeachtung.ZuBeginndes20.JahrhundertswurdederTextvorallemfürstemmatologischeÜberlegungenherangezogen.L.Ernst(1912)erstellteein, inzwischeninmehrerenPunktenumstrittenes,Stemmadereuropäischen„Floireet Blancheflor“-Überlieferung.Demnachdürftedieniederdeutsche/ripuarischeFassung von„FlosundeBlankeflos“,fürdiesichkeinedirektenAbhängigkeitsbeziehungenzu denübrigendeutschenundniederländisch-flämischenFassungenkonstatierenlassen, aufeinenichterhaltenefranzösischeVorlagezurückgehen,diedenflämischenund hochdeutschenBearbeitungennahesteht.DiemeistenÜbereinstimmungenweistsie mitderfranzösischenHandschriftB(Paris,BnF,1447)auf,dieVersionIrepräsentiert. DerunbekanntefranzösischePrätextvon„FlosundeBlankeflos“mussallerdingsauch mindestenseinePassageenthaltenhaben,dieinderPariserHandschriftBebensowie inderniederländisch-flämischenundderhochdeutschenFassungfehlt,jedochaus derfranzösischenHandschriftA(Paris,BnF375)sowieausderVersionIIbekannt ist.EshandeltsichumdieLöwengrubenszene,inderFlossichausTrauerumden vermeintlichenTodvonBlankeflosineinerArtTiergehegeamHofseinesVatersvor dieLöwenwirft,dochdurcheinWundervonihnennichtgefressenwird(vgl.auch denKommentarzuVv.471–501).OttoDeckerlegte1913eineAusgabevor,dieden VorgabenderLachmann’schenTextkritikvorbehaltlosfolgtundschonalleindeshalb nichtmehrdenaktuellenEditionserfordernissengerechtwird.Ererwogdabeiallerdings,dassdieniederdeutscheBearbeitungaufeinerfranzösischenFassungbasieren könnte,diewederVersionInochVersionIIentspricht,wasneuerdingsauchPutzo undBastert(2024)wiederdiskutieren.Die1941abgeschlossene,maschinenschriftli-
cheDissertationvonE.SchadbliebbislangdieeinzigegrößereArbeit,diesichgleichermaßenmitdermittelhochdeutschenwiemitdermittelniederdeutschenBearbeitungdesStoffesbeschäftigt.ÜberallgemeineErklärungsmuster,wiez.B.dieAnnahme,dassKonradFlecksBearbeitungfüreinhöfischesPublikumgeschriebenworden sei,währenddermittelniederdeutscheBearbeiter,denSchadfüreinen„westfälischen Kaufmann“hält(S.11),„unbeschwertvondenBegriffenderhöfischenEthik“(S.31), fürein„volkstümlichesPublikum“geschriebenhabe,dasvorallem„inbürgerlichen Kreisen“zusuchensei(S.17),gelangtdieVerfasserindabeifreilichkaumhinaus.Die ThesevondermittelniederdeutschenLiteraturals‚Hanseliteratur‘,diesichseitStammlers1919erschienenerStudie„DiedeutscheHanseunddiedeutscheLiteratur“durchgesetzthatteundvonDieperink(1939/40),Teske(1938/39)undKrogmann(1971) aufgenommenwurde,übernahm1977auchHartmutBeckersinseinerBesprechung derRomane„FlosundBlankeflos“und„ValentinundNamelos“,indemerpostulierte, dass„diefünfHss.,indenensieüberliefertsind,fastallenachweislichausdemBesitz hansischerKaufleutestammen,fürdieliterarischenInteressendesniederdt.Bürgertumsim14./15.Jh.[zeugen]“(Beckers1977,S.28).InspiriertwurdeBeckerszudieser AussagevermutlichdurchdieBesitzgeschichtedes„Hartebok“(Hamburg,Staats-und Universitätsbibliothek,102cinscrinio),das„ValentinundeNamelos“enthältundsich alseinzigederfünfHandschriftenwohlimBesitzdes‚Flandernfahrers‘und‚Aldermanns‘(d.h.nichteinesregulärenKaufmanns)JohannCoepbefand.7 Auchwenndie HansemöglicherweiseeinengewissenEinflussaufdieVerbreitungvonLiteraturhatte, istihreRollebeiderenProduktionwenigeroffensichtlich(Geeraedts1987).Darüber hinausgibteseinigeBeispielemittelniederdeutscherHandschriftenmiterzählender weltlicherLiteratur,diegerademitadeligenBesitzerninVerbindunggebrachtwerdenkönnen,wiedieStockholmerHandschriftvon„FlosundeBlankeflos“(s.u.),aber aucheineweitereStockholmerHandschrift(Stockholm,KB,Vu82)sowiederBurgsteinfurterCodex(FürstzuBentheimscheSchloßbibliothek,Hs.28[B37])mitdem niederdeutschen„BoecvanMerline“(vgl.DeBruijn2013und2021).AuchCieslik, dienoch1989BeckersAnsichtzustimmte,plädiertineinerjüngerenStudie(2019),in dersie„FlosundBlankeflos“mitErgebnissenderneueren„FloreundBlanscheflur“Forschungvergleicht,fürbreitereRezeptionskreise.
AussprachgeschichtlicherPerspektivewurdenzweimittelniederdeutscheSammelhandschriften,dieu.a.ebenfalls„FlosundeBlankeflos“enthalten,imspäteren20.Jahr-
7 BeckerskanntedamalswohldasFragmentAnochnicht,dasererst1980edierte.
hundertinzweiMünsteranerDissertationenuntersucht(Geeraedts1984zurStockholmerHandschrift;Krobisch1997zurWolfenbüttelerHandschrift;jeweilsmitTranskriptionendesgesamtenCodex).EineAusgabederBerlinerHandschriftliegtnur inFormeinerMagisterarbeitvor(Sporbeck1987)undistdaherschwerzugänglich.
MehrfachhatsichinderletztenZeitElisabethdeBruijnmitliteraturwissenschaftlichenbzw.buchhistorischenFragestellungenzu„FlosundBlankeflos“auseinandergesetzt(2011,2012a,2012b,DeBruijnundKestemont2013).AuchinihrerStudie ‚Verhalendeverzamelingen‘(2021),inderKontextualisierungsprinzipienmittelalterlicherCodicesuntersuchtwerden,dieüberwiegendweltlicheErzählliteraturenthalten, nimmt„FlosundeBlankeflos“einewichtigeStellungein.EineneueEinschätzungvon „FlosundBlankeflos“imRahmenderStoffgeschichtebietenPutzoundBastert(2024). InsgesamtabergiltfürdieAdaptationendesStoffes,dienichtdemoberdeutschenBereichzuzurechnensind,nochdeutlicherdas,wasPutzo(2015,S.33)alsForschungsaufgabefürKonradFlecksBearbeitungformulierthat:Siebleibenzuentdecken.
MitindiesenZusammenhanggehören,wiegesehen,auchdieheuteverlorenen Bruchstückevon„FlorsindeBlanzeflors“,dieeinevermutlichnochausdem13. JahrhundertstammenderipuarischeFassungrepräsentierten.DiegenaueBeziehung zwischendemmittelniederdeutschen„FlosundeBlankeflos“unddemripuarischen „FlorsindeBlanzeflors“kannaufgrunddesfragmentarischenCharaktersdesLetzterenzwarnichtganzgeklärtwerden,dochzeigeneinzelneÜbereinstimmungenauf derVersebene,dassdiebeidenVersionenoffenbardiegleicheFassungdesStoffesbieten(s.Kap.4sowiePutzoundBastert2024).ObschonderWortlautderfrühenripuarischenHandschriftteilweisedemdermittelniederdeutschenFassungentspricht, weichterinanderenPassagendochsostarkdavonab,dasssieindenknappenLesartenapparatunsererAusgabedesmittelniederdeutschenWerkesnichtgutintegriert werdenkonnte.„FlorsindeBlanzeflors“wurdedeshalbalseigenständigerTextbehandeltundediert,nichtzuletztauchdeshalb,weilerstoffgeschichtlichvoneiniger Bedeutungist.DenndieripuarischeBearbeitungdes13.Jahrhundertsbildetnach Beckers(1980a)dieVorstufeeinerverlorenenniederdeutschenAdaptationausdem 14.Jahrhundert,dieihrerseitsPrätextfürdiesämtlichdem15.Jh.entstammenden „FlosundeBlankeflos“-Handschriftenseinkönnte(füreineausführlicheDiskussion ihrerBeziehungvgl.auchPutzoundBastert2024).SomithättesichdieWanderung desStoffesvomfranzösischsprachigenRaum,vielleichtüberHandelswege,durchdas RheinlandnachNorddeutschlandvollzogen(vgl.Dieperink1939–40,Geeraedts1987,
Krobisch1997)undnichtunbedingt,wiediesdie(ältere)Forschungvermutete,durch VermittlungvonHansekaufleutenüberNord-undOstsee(vgl.Stammler1919und Teske1938/39).
DerInhaltvon„FlosundeBlankeflos“entsprichtimGroßenundGanzendemanderer westeuropäischerVersionen,allerdingsmiteinigenAbweichungenaufderEbeneder Details(vgl.dazuauchdenKommentar).SowirdderspanischeHerrscherhieralsKönigvon(vermutlich)NavarrakonkretisiertunddiegefangeneChristinistdieEhefrau undnichtdieTochtereinesfranzösischenGrafen.Andersalsindenmeistenanderen VersionenwerdenFlosundBlankefloszuOsternundnichtamPalmsonntaggeboren. UndalsderKönigmitdersichentwickelndenLiebezwischendenKindernunzufriedenist,entfernternichtFlos,sondernBlankeflosvomHof.Nachdemdiesnichtden gewünschtenEffekthat,wirdBlankeflos,imUnterschiedzudenanderenBearbeitungen,inRomstattineinerHafenstadtverkauft.ImGegensatzzuanderenVersionen fließtWasserindas(oderausdem)ScheingrabvonBlankeflos,wennesgeöffnetwird, ohnedassesdafüreineklareErklärunggäbe.RestederStofftraditionfindensichin derBemerkung,dassderPokal,fürdenBlankeflosverkauftwurde,‚vonTroja‘sei, d.h.SzenenausdemTrojanerkriegenthält,wieesz.B.inderniederländischenund mittelhochdeutschenTraditionausführlicherzähltwird.ZudenDetailabweichungen amEndegehörenunteranderemdieBemerkungen,dassdieLiebendenmit„presters bant“verheiratetwerdenunddassihrKindVredelingh(undnichtBerta)heißt.
StoffgeschichtlichvongroßerBedeutungistjeneSzene,inderFlossichausTrauer umdenvermeintlichenTodBlankeflossesnichtnurmiteinemSchwert(Hs.W)bzw. einemMesser(Hs.B)(undnichtmiteinemGriffelwieindersonstigenStofftradition) vergeblichdasLebenzunehmenversucht,sondernsichzusätzlichineineLöwengrubewirft.PutzoundBastert(2024)habendaraufhingewiesen,dasseinigestarkbeschädigteVersederripuarischenFassung(Vv.140–150)miteinigerWahrscheinlichkeit ebenfallsdieseLöwengrubenszenerepräsentieren.DamitwäredieältereAnsichtder romanischenForschung,dassderSuizidversucheineEigenheitderVersionIIunddie entsprechendeStelleinderfranzösischenHandschriftAsowieimmittelniederdeutschenRomaneineInterpolationsei,widerlegt.Esscheintvielmehrnaheliegend,dass
esBearbeitungengab,dieElementebeiderÜberlieferungenenthieltenundsomitAbweichungenzwischendenTextzeugenimwesteuropäischenRaumerklärenkönnen: „DererstaunlichenVariabilitätundzugleichvergleichsweiseschlechtenÜberlieferung desfranzösischen‚Floire‘-Romansim12.undbeginnenden13.Jahrhundert–fürdie auchdieniederländisch-deutschenFassungenmitihrenunterschiedlichen,durchweg nichterhaltenenfranzösischenVorlagensprechen–wirddasinderFrühzeitderForschungetabliertezweiteiligeModellnichtgerecht.“(PutzoundBastert2024).
Derniederdeutsche„FlosundeBlankeflos“umfasstindenüberliefertenTextzeugen nurca.1500Verse,wenigeralsdieHälftedesfranzösischenTexts.DurchdieKürzungenwurdedieErzählungbisaufdenKernreduziert.Innerhalbderniederdeutschen Literaturgehört„FlosundBlankeflos“indeszudenlängerenerzählendenTextenund wirddortnurvon„ValentinundeNamelos“(ca.2600Verse)anLängeübertroffen.8 Andersalsdiemhd.Fassung,die,soweitwirdasbeurteilenkönnen,offenbaralsEinzeltextüberliefertwurde,war„FlosundBlankeflos“inallenbekanntenFällenTeileiner größerenTextsammlung,sodassseineRezeptionindiesenHandschriftenzumTeil durchdieDynamikeinerVergesellschaftungmitanderenTextengeprägtwordenist.
3.2DiehandschriftlicheÜberlieferungvon„Flosunde Blankeflos“
DiefünfTextzeugenvon„FlosundeBlankeflos“deckendengesamtenniederdeutschenSprachraumab(vgl.Abbildung1).SiesindallesamtimTextverbundeinerSammelhandschriftüberliefert(s.o.),wasvermutlichzuihrerKonservierungbeigetragen hat.DreiderSammelhandschriftensindmehroderwenigervollständigerhaltengeblieben,zweianderenurfragmentarisch.IhrejeweiligenSiglenverweisenaufihren derzeitigenAufbewahrungsort.Nurdiezuletztentdeckten,1980vonHartmutBeckers herausgegebenenundebenfallsinBerlinaufbewahrtenDoppelblättererhieltendieSigleA.
Stockholm(S)(KungligaBiblioteket,Cod.Holm.Vu73)
DieStockholmerHandschrift(vgl.Abbildung2),dieLeithandschriftdervorliegendenEdition,istderältesteundbisaufdasfehlendeAußenblattdersechstenLageam vollständigstenüberlieferteTextzeuge.GenaueruntersuchtwurdesievonGeeraedts
8 AusgenommendasSteinfurter„BoecvanMerline“,dasallerdingseineniederdeutsche‚Umschreibung‘einesursprünglichniederländischenTextsbietet.
Abbildung1:Verbreitungder„FlosundeBlankeflos“-Handschriften (1984)undDeBruijn(2021).Sieentstandca.1420imNordendesniederdeutschen Raumes,vermutlichinderNähevonSzczecin(Stettin).Dieeinspaltigbeschriebene Papierhandschriftmisst202x141mm.SiewurdevonzweiHändenineinerordentlichenKursivschriftgeschrieben.DiesorgfältigeSchriftunddieTatsache,dassdie TextgrenzendieLagengrenzenüberschneiden,erweckendenEindruckeinerplanmäßigenKompositionderHandschrift.SieenthältdiefolgendenTexte:
Bl.1r–33r„ValentinundeNamelos“
Bl.33r–47r„Devorlornesone“
Bl.47r–67r„FlosundeBlankeflos“
Bl.67r–83r„Theophilus“
Bl.83v„DieBuhlschaftaufdemBaume“
Bl.84r–95v„Dedeifvanbrugghe“
Bl.96r–97v„Desegheler“
Bl.98vKostenübersicht
InhaltlichzeigtdieHandschriftInteresseanweltlichenerzählendenTexten,wobeidie längerenTexteamAnfangunddieKurzgeschichtenamEndestehen.„DieBuhlschaft aufdemBaume“istdereinzigeText,derzweispaltigaufeinerFolioseitegeschriebenwurde.AufgrundderTatsache,dassderSchreiberfürdieSchlusszeilenanden
Randausweichenmusste,hatdieserKurztextdenCharaktereinesspäterenEinschubs. DerKostenüberblickaufFol.98v,deraufdasDeckblattgeklebtist,istvermutlich demniederdeutschenErstbesitzerzuzurechnen.DaerseineAusgabenfüreineReise aufzeichnete,dieüberZiegenort,Altwarp,Anklam,Ranzin,GreifswaldundPolice (Pölitz)führte,wurdevermutet,dassereinKaufmanngewesensei(Meier1970).Noch im15.JahrhundertmussdieHandschriftaberindenBesitzdesschwedischenRitters undRatsherrnArendBentssongelangtsein,wieauszweiWappenhervorgeht,die mitdenBuchstaben‚A‘und‚B‘indasfreigelegteHolzdesEinbandsgeschnittensind (Geeraedts1984).AufgrundderengenVerbindungenzumdeutschenSprachraum unddesStatusdesNiederdeutschenalsZweitsprachederskandinavischenOberschichtverwundertesnicht,dassderschwedischeAdelzumRezipientenkreisder niederdeutschenLiteraturgehörte.EinederwenigenanderenerhaltenenniederdeutschenSammelhandschriftenmitweltlicherLiteratur(Stockholm,KB,Cod.Holm.Vu 82)enthältnichtnureinigeniederdeutscheTexte,sondernauchdiedänische„Karl MagnusKrønike“vondergleichenKopistenhand.Schließlichseidaraufhingewiesen, dassdiezweischwedischen„FloresochBlanzeflor“-Handschriften(Stockholm,KB,D 3undD4a)ebenfallsdenText„NämnlosundValentin“enthaltenundsomitInteresse andengleichenErzählstoffenbezeugen.
Wolfenbüttel(W)(HerzogAugustBibliothek,Cod.Guelf.1203Helmst.)
DieWolfenbüttelerHandschrift(vgl.Abbildung3)bietetnachderStockholmerHandschriftdenvollständigstenundzuverlässigstenTextzeugenvon„FlosundeBlankeflos“.
UntersuchtwurdedieHandschriftvonKrobisch(1997)undDeBruijn(2021).„Flos undeBlankeflos“stehtamBeginndeszweitenTeilseinesKonvoluts,dessenersterTeil zwischen1451und1457inOstfalen,nördlichvonGoslar,unddessenzweiterTeilin den1440erJahrenebenfallsinOstfalen,südlichvonBraunschweig,entstandensein dürfte.BeideTeilesindeinspaltigbeschriebenundmessen140x95mm.DieTexte deszweitenTeilswurdenbisaufdasEndedes„Theophilus“voneinunddemselben Kopistengeschrieben,dersichmitseinerKursivschriftvondenniederdeutschen HybridadeserstenTeilsunterscheidet.DiebeschmutztenAußenseitenderLagen zeigen,dassdieseeinigeZeitungebundengewesenseinmüssen,bevorsienochim 15.Jahrhundertszusammengebundenwurden.LetzteresgehtausdemEinbandhervor,denSchunke(1979)dembis1479tätigen‚BraunschweigerWebmustermeister‘ zugeordnethat.DiebeidenTeiledesKonvolutsdürftenalsozwischen1450und1479 imBraunschweigerRaumzusammengefügtwordensein.Angesichtsdesheterogenen
Inhalts(vertretensindeinHeiligenleben,eineMinnerede,einLiebeskommentar, eineTierallegorie,einHeldentopos,einProsa-Exemplum,eineLegendeundeine legendenartigeReiseerzählung)istesdurchausmöglich,dassdieTeileaufgrundihrer ähnlichenGrößezusammengestelltwurden.DieHandschriftenthältfolgendeTexte:
Bl.1r–37r„Zeno“
Bl.37v–41v„DesKranichhalsesneunGrade“
Bl.41v–44v„VruwenLoff“
Bl.44v–46v„RatderVögel“
Bl.46v–47r„DieNeunHelden“
Bl.47r–71v„VanAllexander“
Bl.72r–80v„Marina“
Bl.81r–107v„Brandan”
Bl.108r–142v„FlosundeBlankeflos“
Bl.143r–159v„Theophilus“
Bl.159v–160r„Carmenlatinum“
„FlosundeBlankeflos“bildetdabeidenerstenTexteinerneuenkodikologischen Einheit.Dasshier,wieauchinderStockholmerHandschrift,„FlosundBlankeflos“ von„Theophilus“gefolgtwird,deutetaufeinegemeinsameÜberlieferungderTextein einerälterenQuellehin.DaslateinischeSpottgedicht(„Carmenlatinum“)wurdevon einerspäteren,dochallemAnscheinnachkontemporärenHandindenleerenRaum unter„Theophilus“eingetragenundentstammtvermutlicheinemSchulkontext.
EineEigentümlichkeitdesWolfenbütteler„FlosundeBlankeflos“istdasVorkommenvonsogenanntenTrunkbittenimText.DerTextwirdvomErzählerviermalunterbrochenmitderBitte,ihmetwaszutrinkenzugeben(vgl.dieKommentarezuV.591, V.947,V.1253undV.1427).DadieTrunkbittendenErzählertextundzweimalsogar dieFigurenredeunterbrechenunddahereineneherarbiträrenEindruckerwecken, stelltsichdieFragenachderFunktionalitätdieserEinschübe.DasVorkommenähnlicherTrunkbitteninzeitgenössischerdeutscherErzählliteraturdeutetdaraufhin,dass wiresmiteinerliterarischenModeerscheinungzutunhaben.AuchdieKoexistenzmit „Theophilus“(bezeichnenderweiseeineLesefassungeinesSchauspiels)lässtvermuten, dassderKopistderWolfenbüttelerHandschriftdenEindruckeinerperformativenSituationhervorrufenwollte–ungeachtetdertatsächlichenRezeptionsweise(DeBruijn 2012a).
Berlin(B)(Staatsbibliothek PreußischerKulturbesitz,Ms.Germ.8o 186)
InLivland,dassichungefährmitdemheutigenEstlandundLettlanddeckt,entstand 1431dieBerlinerHandschrift(vgl.Abbildung4);vgl.dazuauchSporbeck(1987)und DeBruijn(2021).DierelativgenaueDatierungundLokalisierungverdankenwirdrei SchreiberkolophonenamEndederHandschrift,vondeneneinerauchdieJahreszahl angibt:„scriptuminlivoniapermanusjohannis1431“.ÜberdiesenJohanneswissen wiransonstennichts.DiebesonderskleinePapierhandschriftmisstnur136x102 mmundwurdeimLaufederZeitdurchWasserundandereSchädenangegriffen.An mehrerenStellenfehlenBlätteroderTeilevonBlättern,wodurchauchdieerstenVerse unddergesamteSchlussdes„FlosundBlankeflos“-Textesverlorengegangensind. InhaltlichzeichnetsichdieHandschriftdurchTextemitstarkminnedidaktischem Charakteraus;daruntersindMären,MinneredenundeinLiebesgedicht:
Bl.1r–14v;102r„SchulederMinne“
Bl.15r–20v„StreitgesprächzweierFrauenüberdieMinne“
Bl.21r–25v„Frauentreue“
Bl.26r–26v„DiebeidenRosen“
Bl.27r–42v„DietreueMagd“
Bl.43r–66r„DesMinnersAnklagen“
Bl.66v–67vMinnelied„Worherteleffanherteleuesarmelijt“
Bl.68rFragmenteinesunbekanntenGedichts,vermutlicheinMäre Bl.68v–101v„FlosundeBlankeflos“
MitAusnahmevon„FlosundeBlankeflos“weisendieTexteeineüberwiegendhochdeutscheHerkunftundVerbreitungauf.DiemeistendieserMinnetextefindensich auchinanderenhochdeutschenHandschriften,wosieebenfallsthematischund gattungsmäßigzusammengehörendeGruppen,sogenannte‚Minnekonstellationen‘, bilden.DieBerlinerHandschriftscheintalsoeinVertretereineshochdeutschenHandschriftentypszusein,beidem„FlosundeBlankeflos“eineSonderstellungeinnimmt. DieErzählungbildetdenkrönendenAbschlussdieseroffenbaranMinnekonstellationeninteressiertenSammlung,wobeidieVerfügbarkeitdesTextesimniederdeutschen RaumderGrundfürseineAufnahmegewesenseindürfte.EinigeverstreuteMarginalienzeigen,dassdieHandschriftintensivrezipiertwurde.EinfrüherBenutzerhat schlechtlesbarenTextbessersichtbarzumachenversucht,Wörterverbessertundeine Textgliederunghinzugefügt.Esistunklar,obdiesePersonauchfürdiedreidilettan-
tischenfigürlichenZeichnungenimLeerraumunterdenTextenverantwortlichwar, diedieBerlinerHandschriftzureinzigenillustriertenHandschriftimKorpusmachen (vgl.DeBruijn2021,332–345).Der„FlosundeBlankeflos“-Textselbstenthältkeine Illustrationen.
Gdansk(D)(Danzig)(BibliotekaGdańskaPolskiejAkademiiNauk,Ms.2418)
DiejüngsteAbschriftvon„FlosundeBlankeflos“findetsichinderteilsverstümmelten HandschriftD(vgl.Abbildung5),vgl.dazudeBruijn(2021).DerWortlautdiesesZeugenistdemvonWsoähnlich,dasshiereinegemeinsameVorlagevermutetwerden kann,obschondieMengederVariantenindenfünfTextzeugendieRekonstruktion derAbhängigkeitsverhältnisseansonstennichtzulässt.DieHandschriftwurde1462 ineinernordniedersächsischenoderostfälischenSchriftspracheverfasst.DasEntstehungsjahrwirdineinemKolophonamEndevon„FlosundeBlankeflos“erwähnt, indemsichderSchreiberalsnichtnäheridentifizierbarer„Tileman“vorstellt.Die Fragmentemessen210x142mmundlassensichindreiTeile(A,BundC)gliedern, wobeinichtklarist,obsiezuderselbenkodikologischenEinheitgehörten.BeiDe Bruijn(2021,S.34–39)findetsicheineRekonstruktionderBlättermitfolgendem Inhalt(allerdingsunterBerücksichtigungandererverlorenerTexte):
A.Bl.1r,3v,4r–22v„FlosundeBlankeflos“
Bl.1v,2r–3r„DasandereLand“
B.Bl.23r–24v„DesKranichhalsesneunGrade“
C.Bl.25r „Desottegratias“
Bl.25v–32v„DerMinneLeben“
ImVergleichmitderBerlinerHandschriftistdieHerkunftderTexteinDdeutlichnördlicher:DerTotentanz-Text„DasandereLand“unddieMinnerede„Der MinneLeben“stammenausdemniederländisch-deutschenGrenzgebietundhaben dortdiewichtigsteParallelüberlieferung.DasSpottgedicht„Desottegratias“istnur ausspäterenAntwerpenerDruckenbekanntund„DesKranichhalsesneunGrade“ isteineursprünglichmitteldeutscheMinneredemiteinerreichenÜberlieferungin diesemGebiet.EinwichtigesSelektionskriteriumbeiderZusammenstellungder HandschriftwardaherwohldieVerfügbarkeitderTexte.