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Einleitung
Bei der hier vorgelegten Publikation handelt es sich nicht um eine klassische Einführung in ein Gebiet der Literaturwissenschaft. Von einer solchen würde man u. a. eine ( weitgehend neutrale) Darstellung der verschiedenen Forschungsansätze erwarten, die auf diesem Gebiet anzutreffen sind. Im Folgenden wird es demgegenüber nur um einen theoretischen Zugriff gehen. Die Leser*innen haben es mit der Darstellung einer bestimmten Theorie der Kinder- und Jugendliteratur zu tun, die aus noch darzulegenden Gründen wiederum aus einer Theorie der kinder- und jugendliterarischen Kommunikation entwickelt und hergeleitet wird. Dabei soll der theoretische Ansatz nicht bloß vorgestellt, sondern auch in extenso durchgeführt werden – mit dem Ziel, dessen Fruchtbarkeit zu erweisen.
Bei aller Konzentration auf den hier verfolgten theoretischen Ansatz soll die Publikation doch auch den Charakter eines Studienbuchs besitzen. Es soll mit anderen Worten nicht nur dem exklusiven Gespräch unter Fachtheoretiker*innen dienen ( wie in so mancher Fußnote), sondern auch einem weiteren Interessentenkreis eine differenzierte Darstellung des Themas und Gegenstands ‹Kinder- und Jugendliteratur› bieten. Mit Rücksicht auf diesen Leserkreis werden einzelne Aspekte und Themen ausführlicher dargestellt, für die aus Expertensicht wenige Andeutungen genügt hätten. Insofern haben wir es doch mit einer ( gegenstandsbezogenen) Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur zu tun. Zum Charakter eines Studienbuchs gehören nicht zuletzt auch die an verschiedenen Stellen gegebenen Hinweise auf weiterführende Literatur.
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Eine Gesamtdarstellung der Kinder- und Jugendliteraturforschung im deutschsprachigen Raum einschließlich ihrer zahlreichen Teilgebiete zu bieten, übersteigt die Möglichkeiten eines einzelnen Wissenschaftlers bzw. einer
einzelnen Wissenschaftlerin.1 Selbst die bereits erschienenen Handbücher der Kinder- und Jugendliteratur2 weisen mitunter größere Lücken auf. Noch selektiver gehen die aktuell angebotenen Einführungen in die Kinder- und Jugendliteratur vor.3 Nach den üblichen definitorischen Eingrenzungen des Gegenstands und einem knappen oder ausführlicheren Blick in dessen Geschichte werden lediglich ausgewählte Gattungen wie auch ausgewählte Themen geboten, in einem Fall gar nur «Einzelanalysen repräsentativer Werke».4 Nach einem wie immer gerafften Überblick über sämtliche Abteilungen des Feldes der Kinder- und Jugendliteratur sucht man vergebens. So erfährt man auch nicht, was unbeachtet geblieben und mit welchen Gründen es ausgeblendet worden ist.
Auch die hier gebotene Darstellung erwähnt ganze Teilgebiete der Kinder- und Jugendliteraturforschung, wenn überhaupt, dann nur am Rande, ohne sie angemessen berücksichtigen zu können. Dies betrifft die Bilderbuchforschung, die Illustrationsforschung, die Comic- und Graphic NovelForschung, die Forschung zu den dramatischen Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur sowie die Forschungen zum Hörspiel, zum Kinder- und Ju-
1 Im Rahmen dieser Publikation wird das Gendern mit Sternchen auf die Bezeichnung von Personengruppen beschränkt, die sich aus beiden Geschlechtern zusammensetzen, was damit ausdrücklich hervorgehoben werden soll ( bspw. Autor*innen, Vermittler*innen, Leser*innen). Im Fall nicht gegenderter Funktions- bzw. Rollenbezeichnungen sind stets beide Geschlechter gemeint. 2 Gerhard Haas (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Ein Handbuch. 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart: Reclam 1984; Malte Dahrendorf (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Material. Berlin: Volk und Wissen 1995; Günter Lange (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. 2 Bde., Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2000; Günter Lange (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010, 2. Aufl. 2012; Tobias Kurwinkel u. a. (Hgg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart u. a.: Metzler 2020. 3 Gina Weinkauff, Gabriele v. Glasenapp: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn: Schöningh 2010 (UTB 3345; StandardWissen Lehramt); Bettina Kummerling-Meibauer: Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 2012; Marja Rauch: Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Methoden, Unterrichtsvorschläge. Seelze Velber: Klett Kallmeyer 2012; Carsten Gansel: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht. 5. Aufl., Berlin: Cornelsen 2014. 4 Kümmerling-Meibauer ( siehe Anm. 3 ), S. 84–132.
gendtheater, zum Kinder- und Jugendfilm, -fernsehen und -computerspiel, zur kinder- und jugendliterarischen Übersetzungspraxis und zur Didaktik der Kinder- und Jugendliteratur. Außen vor bleiben musste auch die Erforschung der kindlichen und jugendlichen Literaturrezeption wie der freizeitlichen Lesepraktiken und -gewohnheiten von Kindern und Jugendlichen. Letztere tauchen hier nur in der Rolle der Adressaten und Empfänger kinderund jugendliterarischer Botschaften auf. Unberücksichtigt bleibt schließlich auch die in Restbeständen noch vorhandene mündliche Kinderfolklore, wie sie vornehmlich unter Schülern der mittleren Klassen noch anzutreffen ist. Geboten wird im Folgenden eine kinder- und jugendliterarische Grundlagenforschung, die von Relevanz für alle Teilgebiete der Kinder- und Jugendliteratur sein dürfte – auch für diejenigen, die hier nicht ausführlicher zur Sprache gelangen können.
Ausgegangen wird von einem Sender, der eine literarische Botschaft an Kinder und Jugendliche adressiert. Diese wird von einer Vielzahl anderer Kommunikatoren aufgegriffen und in modifizierter, transponierter oder übersetzter Form weitergeleitet, von weiteren Akteuren sodann in Sendebzw. Distributionskanäle eingespeist und ausgesendet und damit einem nicht vorherbestimmbaren unbegrenzten Publikum zugänglich gemacht. Bevor die Botschaft bei einem intendierten oder nicht-intendierten Empfänger anlangt und konsumiert wird, passiert sie eine Vielzahl weiterer Instanzen, die ihren Verlauf regulieren und Weichenstellungen vornehmen. Der erste Teil wird von den Besonderheiten des etappenreichen kinder- und jugendliterarischen Kommunikationsprozesses und der Vielzahl der daran Beteiligten handeln und dessen bzw. deren Einflussnahmen auf die Beschaffenheit der kinderund jugendliterarischen Botschaften als solche verfolgen.
Mit der massenkommunikativen Verbreitung und Bewertung von kinder- und jugendliterarischen Botschaften ist ein relativ komplexes Handlungssystem befasst, das aus Verlagen, Buchhandlungen, Bibliotheken und vielfältigen Auswahl-, Auszeichnungs- und Bewertungsinstanzen besteht und dem im Rahmen eines buch- und medienwissenschaftlichen Studiums eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, was im zweiten Teil dieses Buchs erfolgen wird. In den allgemeinen Literaturwissenschaften sind in den letzten beiden Jahrzehnten zahlreiche neue Ansätze zur Erforschung des
sog. Literaturbetriebs und der Literaturkritik entwickelt worden.5 Parallel dazu hat im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturforschung eine wiederholte Beschäftigung mit dem sog. kinder- und jugendliterarischen Handlungssystem stattgefunden. Die Lücken meiner eigenen früheren Ansätze6 habe ich mit der hier vorgelegten Beschreibung zu beseitigen versucht und darüberhinausgehend den Wandel der einschlägigen Distributionskanäle im digitalen Zeitalter verfolgt.
Der Folklore wird gemeinhin ein ‹Sitz im (Alltags‐)Leben› zugesprochen. In Übernahme dieser schönen Wendung könnte bezüglich der Kinderund Jugendliteratur von einem Sitz in einer speziellen, vom Alltagsleben abgesonderten zwischenmenschlichen Kommunikation die Rede sein, genauer gesagt dem Sitz in einer modernen, technisch vermittelten eigenräumlichen Massenkommunikation. Nimmt man ( wie im zweiten Teil) deren praktische Umsetzung in den Blick, dann könnte man von einem ‹Sitz im Literaturbetrieb› sprechen, zu dem letztlich auch die kindlichen und jugendlichen Leser gehören – als Schlusspunkt gewissermaßen. Der Sitz im Literaturbetrieb ist nicht ohne Einfluss auf die in ihm verhandelte Literatur; auch dort, wo literarische Traditionen fortgeführt werden, greift der Betrieb modifizierend ein.
Nun spielt in der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung der jeweilige zeitgenössische Literaturbetrieb keine, allenfalls eine marginale Rolle. So sehr er den Zeitgenossen vor Augen gestanden haben mag, so wenig haben spätere Epochen noch eine plastische Vorstellung davon. Verantwortlich dafür sind die hier herrschenden Überlieferungs- und Archivierungspraxen, die auf die literarischen Werke als solche beschränkt sind und dabei deren Verwurzelung im jeweiligen epochalen Literaturbetrieb ausblenden. Als denkbarer Lebensraum bleibt dann nur noch der ‹Sitz in der Literatur› übrig, worunter ein rein intertextuelles Gefüge im Sinne einer innerliterarischen Evolution von literarischen Techniken, Motiven und Themen zu verstehen wäre. Die unter dem Schlagwort einer ‹Sozialgeschichte der Literatur› ange-
5 Auf die einschlägige Sekundärliteratur wird in den Fußnoten des zweiten Teils verwiesen. 6 Vgl. Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. München: Fink 2000 (UTB 2124), S. 41–92; ders.: Literatur für Kinder- und Jugendliche. 2., überarb. u. aktualisierte Ausgabe. Paderborn: Fink 2012, S. 85–133. Die als zweite Ausgabe deklarierte Publikation stellt eine weitgehend neu geschriebene Abhandlung dar.
tretene Literaturgeschichtsschreibung hat den jeweiligen Literaturbetrieb vergangener Epochen wieder in den Blick gerückt.7 Dessen Rekonstruktion stellt aufgrund der wenigen überlieferten Spuren allerdings eine Herausforderung dar. So nimmt es nicht wunder, dass die neuere Literaturbetriebsforschung sich bevorzugt der Gegenwart zuwendet.
Ein jeder Literaturbetrieb kommt nicht ohne den permanenten Rückgriff auf bestimmte literarische Normen und Konzepte, auf Kodierungs- und Dekodierungsregeln, auf Normen der Textverwendung, der Textübersetzung und -überlieferung aus. Für die Gesamtheit dieser Normen, Konzepte und Regulationen hat sich die – aus Linguistik und Semiotik übernommene –Kategorie des Symbolsystems eingebürgert. Eine Darstellung aller Teilgebiete des kinder- und jugendliterarischen Symbolsystems unter gleichzeitiger Berücksichtigung seines historischen Wandels übersteigt den hier gesteckten Rahmen bei Weitem. Bereits in meinen Publikationen von 2000 und 2012 wurde eine Auswahl getroffen: Dort ging es um grundlegende kinder- und jugendliterarische Normen und Konzepte. Damit sollte eine methodische Grundlage für die Aufarbeitung historischer und gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteraturtheorien geboten werden. Eine der grundlegenden Normen –die Kind- und Jugendgemäßheit – muss allerdings auch in dieser Publikation noch einmal aufgegriffen werden.8 Ansonsten aber sollen andere ( zuvor nicht behandelte) Aspekte des kinder- und jugendliterarischen Symbolsystems zur Sprache kommen – und zwar solche, die für die Analyse historischer wie aktueller literarischer Werke von Relevanz sind. Doch musste auch hier eine Auswahl getroffen werden.
Herausgegriffen wurden zwei zentrale Aspekte, deren theoretische Erfassung durch die aktuelle Kinder- und Jugendliteraturforschung m. E. nur bedingt zufrieden stellen kann. Es soll zunächst um die expliziten und impliziten Wirkungsintentionen historischer wie aktueller Kinder- und Jugendliteratur gehen.9 Zu sehr geistern noch die historisch frühen, laut proklamierten Kommunikationsziele in den Köpfen der Beteiligten herum, während bezüglich der neueren Kinder- und Jugendliteratur weitgehend Unsicherheit
7 Zu dieser Forschungsrichtung sind auch die hier vorliegende Arbeit und die in Anm. 6 genannten früheren Publikation von mir zu zählen. 8 Siehe Teil 3, Kapitel 3.1. 9 Siehe Teil 3, Kapitel 3.2.
herrscht. In einem noch beklagenswerteren Zustand befindet sich m. E. die kinder- und jugendliterarische Gattungsforschung, speziell was die belletristischen Genres betrifft.10 Diese hat das breite Spektrum kinder- und jugendliterarischer Gattungen aus den Augen verloren, um sich stattdessen auf wenige ( und immer dieselben) Gattungen zu konzentrieren. Sie ist weit davon entfernt, das nach wie vor existierende breite kinder- und jugendliterarische Formenspektrum zu berücksichtigen, und geht so an weiten Teilen des Marktangebots vorbei. Darüber hinaus vermag sie dem erfassten schmalen Ausschnitt nur mit der – mit Verlaub: unsäglichen – Unterscheidung von ‹realistisch› und ‹phantastisch› beizukommen, dabei unfähig, gattungsanalytische und wertende Gesichtspunkte auseinanderzuhalten. Es ist, dessen bin ich mir bewusst, ein riskantes Unternehmen, ein umfassendes Panorama der belletristischen Gattungen der historischen wie gegenwärtigen Kinder- und Jugendliteratur zu entwerfen. 11 Ich hoffe dennoch, mit diesem und dem vorangegangenen Kapitel, die umfangsmäßig immerhin die Hälfte des vorliegenden Buchs einnehmen, einen fruchtbaren Beitrag zur Grundlegung der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft geleistet zu haben.
10 Phantastik und Fantasy wie auch Jugend- und Adoleszenzroman bilden hier Ausnahmen. 11 Siehe Teil 3, Kapitel 3.3.