Jonas Cantarella, Dina Emundts, Michael Gamper: Zeiten der Alltäglichkeit

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Zeiten der Alltäglichkeit

Eine schwer fassbare Erfahrung in den Künsten und der Philosophie

Jonas Cantarella, Dina Emundts, Michael Gamper (Hg.)

Zeiten der Alltäglichkeit

Eine schwer fassbare Erfahrung in den Künsten und der Philosophie

Schwabe Verlag

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ISBN Printausgabe 978-3-7574-0128-3

ISBN eBook (PDF)978-3-7574-0129-0

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Jonas Cantarella,Dina Emundts, Michael Gamper: Zeiten der Alltäglichkeit – Einleitung. ...

Dina Emundts: Darstellungder Alltäglichkeit. Überlegungen dazu, wie und warum das AlltäglicheGegenstand der Kunst wird 19

Dirk Quadflieg: Heuteist nicht alle Tage. Zur differenziellen Zeitlichkeit des Alltäglichen

Holmer Steinfath: Die Zeit der Alltäglichkeit zwischen mechanischer Routine und gelungenem Gegenwartsvollzug 53

Martin von Koppenfels: Die Woche des Alonso Quijano. Zum Verhältnis von Abenteuer und AlltaginCervantes’ Don Quijote

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Britta Hochkirchen: Vielfältige Wiederholungen. Temporalitäten der Alltäglichkeit in Jean Siméon Chardins Genremalerei 85

Jonas Cantarella: Karl Philipp Moritz’ Blick auf das alltägliche Leben. Zur Wahrnehmung und Gestaltungeiner Zeiterfahrung um 1780 ...

Livia Kleinwächter &Nicolas Pethes: «Exotik des Alltags». Siegfried Kracauers feuilletonistische Soziologie des verwaltetenAngestelltenlebens

Johanna-Charlotte Horst: Zufällige Augenblicke. Erinnern des Alltäglichen bei Virginia Woolf und Annie Ernaux

Barbara Bausch: Alltag der Gewalt und Gewalt des Alltäglichen.

Gisela Elsners Die Riesenzwerge als Reflexion des Verhältnisses von Literatur und Alltäglichkeit

Heike Klippel: Unterm Gummibaum.Auszeiten von der Alltäglichkeit

Andreja Novakovic: Zur endlosen Wiederholung der Hausarbeit bei Beauvoir, Federici und Akerman

Agnieszka Hudzik: Alltag und Krise im Gegenwartstheater: Life and Times des Nature Theater of Oklahoma

Michael Gamper: Das Journal als Alltäglichkeitsgenre.

Wolfram Lotz’ Heilige Schrift I als Beispiel

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Inhalt
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Friedrich Balke: «Nivellierte Jetztfolge»und «ekstatische Erstrecktheit».

Medien und Zeit nach Heidegger .. ... .. ..

Bernhard Stricker: Die Nachträglichkeit des Alltäglichen. Stanley Cavells Ethik der Implikation. .. ...

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6 Inhalt
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Zeiten der Alltäglichkeit –

Das Alltägliche ist zunächst einmal das alle Tage Notwendige und Gebräuchliche. Es fordert ein diesseitiges Denken heraus, das auf die Bewältigung dieser Erfordernisse gerichtet und bisweilen als ‹bon sens› und ‹sensus communis› positiv konnotiert ist, oft und verstärkt seit dem späten 18. Jahrhundert aberauch, wegen seiner mundanen Orientierung am Oberflächlichen, als banal und monoton abgewertet wird.1 Gegenüber dieser Deutungstradition soll in diesem Band eine andere Dimension des Alltäglichen ins Zentrum gerückt werden, nämlich eine, die sich aus der Beobachtungergibt, dass das Alltägliche als das Selbstverständliche,Offensichtliche, Bekannte sowohlder Wahrnehmung als auch der begrifflich-konzeptuellen Erfassung entgeht. Dreierlei Gründe für diese paradoxale Konstellation von Nähe und Entzug lassen sich nennen:Erstens mag dies so sein, weil das Alltägliche in einer Art Automatisierung sich dem Bewusstsein entzieht;zweitens,weil es jenseits des allgemein Repetitiven bei konkreter Betrachtung stets die Tendenz zur individualisierenden Spezifizierung und damit zur inkommensurablen Vervielfältigung aufweist;und drittens, weil es einer allgemeinen Geringschätzungverfällt und damit der weiteren Aufmerksamkeit aus (Be)Wert(ungs)-Gründen nicht würdig zu sein scheint. Es sind Autor:innen wie Karl Philipp Moritz, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein, Agnes Heller, Georges Perec oder Michel de Certeau, bei denen solcheund ähnliche Diagnosen zu finden sind und die das Grundproblem formulieren, dass das Alltägliche gerade wegen seiner Oberflächlichkeit das Verdeckende und das Verdeckte zugleich sei.

Exemplifiziert werden kann diese Haltung kurz und knapp an Maurice BlanchotsÜberlegungenaus La parole quotidienne von1962.2 Dort heißteszunächst:«Dans unepremièreapproche, le quotidien, c ’estceque nous sommes en

1 Peter Jehle:Art. «Alltäglich/Alltag», in:Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hrsg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/Weimar 2000–2005, Bd. 1, 104–133, hier 110 f.

2 Siehe hierzu auch Michael Sheringham:Everyday Life. Theories and Practices from Surrealism to the Present, Oxford 2006, der ausgehend von Blanchot die bedeutende französische Linie des Nachdenkens über das Alltägliche erschließt und sie auch in Beziehung setzt mit Überlegungen von Lukács, Heidegger, Heller und Adorno.

Einleitung

premier lieu et le plus souvent».3 Aberbei genaueremHinsehen, so Blanchot, zeigt sich eine irritierende Eigenaktivitätdes Gegenstands:«Il échappe.»4 DasAlltägliche istdeshalb stets auch «seltsam» («étrange»), undesunterhält eine eigentümliche Beziehungzur Bedeutungsproduktion:Es gehört «zum Bereich der Belanglosigkeit» («à l’insignifiance») undbesitzt deshalb weder «Wahrheit»(«verité»), «Realität»(«réalité») noch «Geheimnis» («secret»), istdadurchaber auch «der Ort aller möglichenBedeutung» («le lieu de toutesignification possible»).Esist mithin «le familier qui se découvre (mais déjase dissipe)sous l’espècedel’étonnant».5 Diese fundamentalenErfahrungen der «ambiguité» desAlltäglichen zwischen der durchschnittlichen Existenz und derUtopie,6 diese gegensätzlichen, in verschiedene Richtungen strebenden und kaum zusammen denkbaren und fassbaren Charakteristiken, die Blanchot in seinemEssay in immer neuen Wendungendurchspielt, sind es auch, diedas Erkenntnisproblem des Alltäglichen begründen, dasBlanchot bereits im Eröffnungssatz seines Textesadressiert:«Le quotidien:cequ’il ya de plus difficileàdécouvrir.»7 – dasAlltäglichealsoals das,was am schwierigstenzuentdecken sei.

Aus diesem Problemaufrissergibt sich ein gewendetes, nicht-triviales Bild des Alltäglichen, das diesem Eigenschaften verleiht, die sich mit spezifischen methodischenSchwierigkeiten bei seiner Erfassung verbinden und die ein dezidiert epistemisches Interesse hervorrufen:sodas Abgleiten in einen Bereich des InfraÄsthetischen,des nicht mehr (bewusst)Wahrnehmbaren;die Tendenz zur Verstreuung von Qualitäten und Semantiken;weiter die komplexen Allianzen mit anderen Begriffen und Konzepten wie etwa dem Gewöhnlichen, dem Normalen, dem Durchschnittlichen und dem Mittelmäßigen. Blanchot betont aber auch, dass dem Gewohnten («le familier») ein Erstaunliches («l’étonnant») anhänge, das auch eine intellektuelle Neugier anstachle, es aufzusuchen und zu ergründen, unter andereminseiner Verknüpfung mit sozialen Sphären (mit Häuslichkeit und Privatheit)sowie mit spezifischen Dimensionen des Sinnlichen und Ästhetischen (v.a.mit bestimmten Formen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit).

Beschrieben werden kann das Alltägliche so nochmals neu als ein Zusammentreten verschiedenereigentümlicher Faktoren in Dingen, Artefakten, Vorgängen, Ereignissen und Handlungen, die Ausschnitte und Aspekte des Alltäglichen verdichtet ansichtig werden lassen, ohne es je als Ganzes repräsentieren zu

3 «Bei einer ersten Annäherung ist das Alltägliche das, was wir selbst an erster Stelle und am häufigsten sind.» Maurice Blanchot:Laparole quotidienne, in:ders:L’entretien infini, Paris 1969, 355–366, hier 355. Die Übersetzungen von Blanchot von den Verf.

4 «Erentwischt.» Ebd., 357.

5 «das Vertraute, das sich offenbart (oder gar sich vergeudet)inder Art des Erstaunlichen»; ebd.

6 Ebd., 356.

7 Ebd., 355.

8 Jonas Cantarella,Dina Emundts, Michael Gamper

können, weil ‹das Alltägliche› sich in den pluralen Facetten des ‹Alltags› verstreut. Die Analyse des Alltäglichen wiederum hat die Aufgabe, diese Verdichtung von Faktoren in ihrer Spezifität zu erkennen, zu beschreiben und zu reflektieren. Als beispielhaftfür dieses Vorgehen kann Rita Felskis Ansatz in ihrem Aufsatz The Invention of Everyday Life gesehen werden. Bei ihr konstituiert sich Alltäglichkeit, mit einer deutlichen Gender- und Class-Schlagseite, welche die hinter dem Konzept stehende ideologische und reale Machtverteilung offenlegt, durch Formen der zeitlichen Wiederkehr,der häuslichenRäumlichkeiten und der habituellen Gewohnheiten.8 Dabei geht es Felski darum, diese oft pejorativ gesehenen Charakteristiken des Alltäglichen in Auseinandersetzungv.a.mit der Position von Henri Lefebvre als Motoren des Modernismus und als politischemanzipatorisches Potenzial freizulegen.

In diesem Band fragen wir nun spezifisch nach Felskis erstemKriterium, nach den Temporalitäten der Alltäglichkeit.9 DieserFokus berücksichtigt den bereits etymologisch vorliegenden Zusammenhang von ‹All-Tag› und Zeit, der auf je unterschiedliche Weise für die Strukturierungen, Erfahrungenund Darstellungen des Alltäglichen kennzeichnendist. So handeltessich bei dem spätmittelhochdeutschen ‹altac› um eine Zusammenrückung von ‹all› und ‹Tag›,die im Sinne von ‹täglich› Werktag wie Festtag gleichermaßen inkludierte.10 In ebendiesem Sinne liegt der Bedeutungsakzent in den deutschsprachigen Wörterbüchern zwischen dem 15. Jahrhundertbis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zumeist auf der Zeitlichkeit. Noch im 18. Jahrhundertfinden sich Varianten des Adjektivs ‹alltäglich› oftmals nicht als eigenständige Einträge, sondern als Derivate des Begriffsfeldes des Tages. So zählt etwa Christoph Ernst Steinbach in seinem Vollständigen Deutschen Wörter-Buch (1734)das Adjektiv ‹alltägicht› lediglich unter dem Überbegriff ‹tägicht› auf und zwar neben Begriffen wie ‹achttägicht›, ‹dreytägicht›, ‹eintägicht›, ‹sechstägicht›.Damit leitet er es von einer Zählung der Tage ab.11

8 Rita Felski:The Invention of Everyday Life (1999), in:dies.: Doing Time:Feminist Theory and Postmodern Culture, New York 2000, 77–104. Zugrunde gelegt ist diese Orientierung auch dem literaturwissenschaftlich ausgerichteten Band von Vanessa Briese, Christopher Busch, Alexander Kling, Timea Mészáros (Hrsg.): Alltag!Zur Literaturgeschichte eines Theoriereservoirs, Göttingen 2023, 8.

9 Diese Zuspitzung unterscheidet den vorliegenden Band auch von demjenigen von Bernhard Groß, Valerie Dirk (Hrsg.): Alltag. Ästhetik, Geschichte und Medialität eines Topos der Moderne, Berlin 2022, dessen Beiträge auch einen Fokus auf Moderne und ästhetische Darstellung legen, hierbei aber prononcierter nach den gesellschaftspolitischen Dimensionen der Thematik fragen.

10 Siehe Friedrich Kluge:Art. «Alltag», in:ders:Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Auflage Berlin/Boston 2012, 34.

11 Siehe Christoph Ernst Steinbach:Art. «Tag», in:ders.: Vollständiges Deutsches WörterBuch, Breslau 1734, Bd. 2: M–Z, 790–794, hier:793.

Zeiten der Alltäglichkeit – Einleitung9

Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts akzentuieren die Wörterbücher ergänzend zur temporalen Bedeutung einemodale Konnotation des Wortfeldes. Besonders deutlich zeigt sich das an Johann Christoph Adelungs Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart (1774–86, 21793–1801), der mit ‹alltägig› und ‹alltäglich› zwei Variantendes Adjektivs anführt. Während er ‹alltägig› als das Produkteiner Tageszählung betrachtet, führt er die Bildung von ‹alltäglich› dagegen auf eine qualitative Spezifizierung nach dem Muster «täglich, festtäglich u. s. f.» zurück. Damit kommt dem

Adjektiv laut Adelung auch eine figürliche Bedeutung zu im Sinne von «gewöhnlich, gemein, niedrig, im Gegensatze dessen, was selten, ausgesucht, vortrefflich ist».12

Vonraren, in ersterLinie lexikografischen Textbelegen abgesehen war ‹alltägig› gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber bereits ungebräuchlich geworden. Die Verdrängung legt nahe,dass die temporale Bedeutung von ‹alltägig› bereits in das Bedeutungsspektrum von ‹alltäglich› eingemeindet war. Die semantische Reichweite des Adjektivs ‹alltäglich› dokumentiert damit einen sprachgeschichtlichen Zusammenhang zwischen den temporalen und den modalen Konnotationen des Wortfelds,zwischen einer gleichmäßigen, an der Einheit des Tages orientierten Taktung von Zeit und qualitativen Zuschreibungen wie «gewöhnlich, gemein, niedrig». Insgesamt lässt sich am Verlauf der Wörterbucheinträge nachverfolgen, wie modale Zuschreibungen zu einer temporalen Ausgangsbedeutung hinzutreten und diese schließlich sogar dominieren. Damit geht eine Vervielfältigung der Verwendungsmöglichkeiten einher, die Alltäglichkeit zunehmend als abstrakte Daseinsverfassung erscheinenlassen.13

Auch wenn die pejorativen Konnotationendes Begriffsfelds um 1800 bis heute keineswegs unangefochten geblieben sind, so lässt sich etwas allgemeiner festhalten, dass Alltäglichkeit einen spezifischen Modus der Erfahrung impliziert. Felski spitzt diesen Befund zu, indem sie das Alltägliche als «a way of experiencing the world»14 bestimmtund betont, dass es sich eben nicht um eineintrinsische Eigenschaft bestimmter Handlungen, Personen oder Dingehandle. Folgt man dieser Bestimmung, so sind nicht allein die Erfahrungsweisen des Alltäglichen ambivalent – je nach Position aktiv oder passiv, beschützend oder bedrückend, ermöglichend oder einschränkend –,sondern selbst die Frage, ob ein

12 Sämtliche Zitate des Absatzes:Johann Christoph Adelung:Art. «alltägig oder alltäglich», in:ders.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Erster Theil, von A–E, 2. Auflage, Leipzig 1793, 218.

13 Das hier verkürzt anhand der Wörterbucheinträge entwickelte Narrativ wird von historisch nachweisbaren Wortverwendungen des Begriffsfeldes der Alltäglichkeit unterstützt. Siehe dazu die Dissertation von Jonas Cantarella zur Genealogie der Alltäglichkeit in der Literatur des 18. Jahrhunderts, die voraussichtlich 2024 erscheinen wird.

14 Felski (Anm. 8),95.

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spezifischer Daseinsbereich oder Handlungszusammenhang überhaupt als alltäglich wahrgenommen wird, wärevom historischen und kulturellenKontext sowie von der betreffenden Person und deren gesellschaftlicher Position abhängig. Alltäglichkeit wäredemzufolge keine anthropologische Konstante. Während die Zyklik der Körperfunktionen (Schlaf, Nahrungsaufnahme )oder der Lauf der Sonne immer schon Anlass zu einem Zeitmanagement gaben, das Routinen im Tagesrhythmus verstetigte, werden diese folglich nicht zu jederZeit und nicht für alle Menschen auf dieselbe Weise als Alltäglichkeitserfahrung diskursiviert.

Sowohl die temporalen Strukturen selbst als auch ihre jeweilige Verbindung mit dem Alltäglichen sowie den damit einhergehendenBewertungen sind historisch wandelbar. Demgemäß wäre nicht alles, was täglich wiederkehrt, für jede:n zu jeder Zeit alltäglich.Oder anders formuliert:Das tägliche Wiederholte kann, muss aber nicht als alltäglich erfahren werden. Terminologisch kann es deshalb sinnvoll sein, zwischender Lebenswelt bzw. dem Alltag(‐sleben)und Alltäglichkeit zu unterscheiden.15

Ausgehend von diesen genealogischen Einsichten werden im vorliegenden Band historische Positionen und Konstellationen sowie systematische Entwürfe diskutiert, die zur Ergründung derjenigen Zeitlichkeiten und Erfahrungsweisen beitragen, welche die Bereiche des Alltäglichen und ihre Repräsentationen auszeichnen. In den Blick rücken damit zum einen die Bild-, Schrift-, Schreib- und Darstellungszeitlichkeiten, welche die Beschäftigungmit dem Alltäglichen hervorrufen. Zum andern werden die komplexen, mit und zwischen Linearität, Zyklik und Rekursion sich bewegenden (eigen‐)zeitlichen Figuren thematisiert, die sich in den Gegenständen, Handlungen, Ereignissen,Verfahrenund Szenarien des Alltags ergeben. Und es sind vor allem die Wechselbeziehungen dieser beiden Dimensionen des Zeitlichen, die Interesse hervorrufen.

Die Beiträge beschäftigen sich mit der Darstellung und Reflexion des Alltäglichen und untersuchen die epistemischen, ethischen und ästhetischen Bestimmungen, die sich dabei zeigen. Ausgangspunkt der Überlegungen war, dass es philosophische und literarische Texte sind, die besonders reichhaltig und mit unterschiedlichen Gewichtungen die Bestimmungen in ihren Aussagen und ihrer Diktion, in Inhalten und Formen zum Ausdruckbringen. Andere Künste, die nicht in der Sprachlichkeit ihr primäres Ausdrucksmedium haben, ergänzen dies wesentlich durch ihre ausgeprägte materielle Involvierung und alternative semiotische Qualitäten ihrer Zeichenpraktiken, weshalb sich hier Malerei, Film und Theater (andere Sparten und Gattungen könnten dies erweitern)als unabdingbar erwiesen.

Der Band beginnt mit drei Texten, in denen die mit der Zeitlichkeit zusammenhängenden Grundzüge des Alltäglichen thematisiert werden. Dabei teilen die drei Beiträge die Annahme, dass es sich besonders lohnt, die Art der Wieder-

15 Siehe dazu ebenfalls die Dissertation von Jonas Cantarella.

der
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Zeiten
Alltäglichkeit

holung zu analysieren, die für das Alltäglichekonstitutivist. Der Beitrag von DINA EMUNDTS widmet sich unter besonderer Berücksichtigung der Zeitlichkeit den Fragen, wie man Alltagund Alltäglichkeit auf der Bühne darstellen, in einem Buch zum Thema machen oder sonst in einekünstlerische Form bringen kann und was mögliche interessante Motive für diese Darstellungen sind. Die Frage der Darstellbarkeit wird vor dem Hintergrund einer Ausführung zum Alltäglichen behandelt, in der die Wiederholungsstruktur des Alltäglichen als positiv und negativ erlebbar entwickelt wird. Mit dem Fokus auf die Motive für die Darstellung rücken politische Dimensionen in den Blick, für die auszuloten ist, wie sich die Wirkungen der Vermittlungen des Alltäglichen in der Kunst von realen Alltagserfahrungen unterscheiden und wie sich die philosophische These der Unfassbarkeit des Alltäglichen zu diesen gelungenen Darstellungen von Alltäglichkeit verhält

In dem anschließenden Beitrag entwickelt DIRK QUADFLIEG – anhand von zwei Filmbeispielen – die These, dass die Thematisierung des Alltäglichen in der Moderne auf deren Begründungsproblem antwortet. Dem scheint zu widersprechen, dass das Alltägliche negativ konnotiert ist. Diese negative Konnotation wird zunächst auch in naheliegender Weise so als begründbar dargestellt, dass die Wiederholungsstruktur zirkulär sei und dem Fortschritt entgegenzustehen scheine. Demgegenüber arbeitet Quadflieg heraus,dass es sich gar nicht um einfache Wiederholungen handelt, sondern immer zugleich auch um Modifikationen. Das Alltäglicheunterliegt, so die These, einer «differenziellen Zeitlichkeit». So wird verständlich, wieso die Zuwendung zum Alltäglichen eine Antwort auf das Begründungsproblem der Moderne enthält, indem das Alltäglicheweniger als Raum der unterschiedslosen Wiederholung denn als Ort der Freiheit verstanden werden kann.

Bei HOLMER STEINFATH steht die Analyse der Wiederholung und ihrer Zeitstruktur im Mittelpunktder Überlegungen. Zwei Formen der Wiederholung, die mechanische Routine und ein gelungener Gegenwartsvollzug, werden entwickelt. Steinfath bezieht diese Formen der Wiederholung auf ethische Fragen zum guten Leben, indem er die Differenz von gutem und schlechtem Alltag unter Rückgriff auf die temporale Struktur des Alltäglichen erläutert. Gelungener Gegenwartsbezug und Routine werden aber nicht einfach gegenübergestellt, sondern in ihrem Zusammenhang und ihrer ‹Dialektik› dargestellt. Die Analyse des möglichen Umschlagens des guten in schlechten Alltag erweistsich als zentral für die ethische Frage nach dem guten Leben. Bezugspunkt bei der Entwicklung der zwei Arten der Wiederholung ist Kierkegaards Entweder-Oder,wodurch sich für dieses Werk eineneue Interpretationsperspektive ergibt.

Die folgendendrei Beiträge gehen der Thematik in nun stärker hervortretenden geschichtlichen Zusammenhängen nach.Über weite Strecken der europäischen Kulturgeschichte war das Alltägliche aus den Bereichenvon Kunst, Literatur, Philosophie oder Wissenschaft zumeist ausgeschlossen. Ganze

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Gattungen definierten sich dadurch, dass sie das Außerordentliche und Besondere, eben das alles Alltägliche Überschreitende behandelten. Besonders prägnant gilt das im Bereich der Literatur etwa für die Hymne und die Tragödie oder im Bereich der Kunst für die Historienmalerei. Vordiesem Hintergrund stellen die Aufsätze mit Blick auf Darstellungen des Alltäglichen von der Frühen Neuzeit bis zur Epochenschwelle um 1800 die Frage, in welchenKontexten und auf welche Weisen Alltäglichkeit in der Literatur erzählbar, in der Kunst sichtbar und in den Wissenschaften reflektierbar gemacht werden konnte.

Ausgehend von diesem Befund rückt MARTIN VON KOPPENFELS eineLektüre der berühmten ersten Seite von Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605)ins Zentrum seines Beitrages. Der Beginn des Romans verortet seinen Protagonisten im Rahmen einer alltäglichen Existenz,deren monotone Zeitordnung der Rhythmus der Woche bestimmt. Für den Romanhelden ist sein Alltagsleben unhaltbar, weil es in ihm nichts zu erzählen gibt, und so bricht er, getrieben vom Begehren nach Erzählbarkeit, in mehreren Anläufen aus der statischen Ordnung seines Alltags aus. Die Welt der Abenteuer, deren literaturhistorischen Hintergrund Koppenfels mit Blick auf die hochmittelalterliche Erzählkultur der aventure beleuchtet, ist für Don Quijote allerdings nur noch vermittelt durch den Wahn zugänglich. Dieser eröffnet jedoch nicht allein den Weg ins Abenteuer, sondern er wirft gleichzeitig auch ein Licht auf jene alltägliche Welt, an der er sich reibt und von der er sich abzustoßen gezwungen ist. Nur über den Umweg dieses narrativen Wahns werde die Alltagswirklichkeit im Don Quijote in neuer Deutlichkeit darstellbar.

Mit der Genremalerei Jean Siméon Chardins nimmt BRITTA HOCHKIRCHEN gewissermaßeneine Gegenbewegung in den Blick:Nicht die fiktive Flucht aus dem Alltag, sondern die Einverleibung von realistischen Alltagsdarstellungen in bürgerliche Haushalte rückt bei ihr ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Beitrag geht vom Befund aus, dass Alltäglichkeit in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts inhaltlich und formal als Gattungskriterium der Genremalerei bestimmt wurde. Anhand zweier als Pendantangelegter Genregemälde Chardins –Die fleißigeMutter und Das Tischgebet (beide um 1740) – stellt Hochkirchen die Frage, wie es den Kunstwerken gelingt, etwas so Unscheinbareswie das Alltägliche wiedererkennbardarzustellen. Motivisch sind die Gemälde durch ihre Hinwendung zu den Ritualen des bürgerlichenhäuslichen Lebens auf Wiederholbarkeit angelegt,und dieser Aspekt wird durch die formale und kompositionelle Gestaltungder Szenen hervorgehoben. Zugleich inszenieren die Gemäldeaber kleine Abweichungen, die die ansonstenroutinierten Praktiken ex negativo überhaupt erst augenfällig werden lassen. Durch ihre Vervielfältigungen in Form von Pendants, Repliken und Reproduktionsgrafiken konnte das erstarkende Bürgertum sich seiner selbst in ihnen vergewissern, und auf diese Weise trugen die Genrebilder dazu bei, die von ihnen thematisierten Rituale des Alltags zu formieren.

Zeiten der Alltäglichkeit – Einleitung13

Der Beitrag von JONAS CANTARELLA untersucht im Anschluss daran die Problemwerdung von Alltäglichkeit im Kontext der empirischen Psychologie, die sich im deutschsprachigen Raum im letzten Dritteldes 18. Jahrhunderts herausbildete. Anhand von Beiträgen von Karl Philipp Moritz, Carl Christian Erhard Schmid, ImmanuelDavid Mauchartund Jacob Friedrich Abel zeigt der Aufsatz, dass der Bereich des Alltäglichen für die empirische Erforschung des Seelengeschehens ein besonderes Erkenntnisversprechenbarg:Dieses ergibt sich gleichermaßen aus der angenommenen Relevanz und der schwierigen Beobachtbarkeit des Alltäglichen. Vordem Hintergrund der wissenschaftlichen Beiträge liest Cantarelladen Artikel Ein Blick auf das alltägliche Leben (1786)von Karl Philipp Moritz als Beobachtung zweiter Ordnung, der die Emergenz von Alltäglichkeit als epistemisches Ding reflektiert. Gemeint ist damit eine undifferenzierte Zeiterfahrung, die sich im Zuge der psychologischen Selbstbeobachtung überhaupt erst bemerkbar macht und die gleichzeitig zugunsten der Wahrnehmung individualisierter Augenblicke zu überwinden ist. Sofern Erfahrungen von Alltäglichkeit um 1800 also greifbar werden, zielt, wie sich zeigt, ihre Thematisierung zumeist auf ihre Umwertung ab.

Seit der Wende zum 20. Jahrhundert hat sich Alltäglichkeit nachhaltig als zentrales Diskursmoment mit beträchtlichem Innovationspotenzial in den verschiedenstengesellschaftlichen und disziplinären Feldern installiert, wesentlich ermöglicht durch die mit den gesellschaftlichen, epistemischen und ästhetischen Modernen einhergehenden Umbrüche. Die terminologische und diskursive Etablierung hatdie Dringlichkeit der Fragen nach den darstellerischen Qualitäten und der reflexiven Durchdringungdes Phänomens verstärkt und insbesondere den Künsten und der Philosophie einen für die inhaltlichen Verhandlungen und die Formenbildung äußerstproduktiven Gegenstand verschafft, der in den verschiedenstenKonstellationen und Verästelungender Thematik verarbeitet wurde – und von denen im vorliegenden Band zwar nur einige, aber durchaus wichtige und prominente Beispiele in den Blick genommen werden können.

Am Anfangsteht dabei einer der herausragenden Autor:innen der Alltagsbeobachtung im frühen 20. Jahrhundert. LIVIA KLEINWÄCHTER und NICOLAS PETHES befassen sich mit Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten (1929/1930), die das Alltagsleben einer in den 1920er-Jahren rasant wachsendenGruppe der arbeitenden Bevölkerung erschließen soll. Sie fokussieren sich dabei auf die rhetorischen und medialen Strategien des Schreibens und Veröffentlichens und analysieren zu diesem Zweck die Texte und Kontexte des Erstdrucks der Studie, die zunächst in zwölf Artikeln der Frankfurter Zeitung erschien. Ihnen geht es dabei um das Verhältnis und die spezifischen Temporalitäten von dargestelltem Alltag und Alltagsdarstellung,die wesentlich vom Medium der Tag für Tag erscheinenden Zeitung geprägt sind. Dabei wenden sie sich auch dem Problem des Zusammenhangs der im zeitlichen Abstand erschienenen Artikel zu, der sich nur als komplexes Ganzes, als ‹Mosaik›,herzustellen vermag.

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Kracauer ist auch für den Beitrag von JOHANNA-CHARLOTTE HORST eine wichtige Referenz, hier nun aber als Fotografie-Theoretiker. Horstsetzt sich mit Figurationen der Erinnerungdes Alltäglichen bei Virgina Woolf und Annie Ernaux auseinander und stellt dabei in den Mittelpunkt, dass für beide Autorinnen Fotografien wichtige Ausgangspunkte ihrer literarischen Erinnerungsarbeit sind. Herausgegriffen werden mit The Years und Les années zwei in ihren Titeln nur lingual differierende Texte, die beide auf die zunächst repetitive Aneinanderreihung von ‹Jahren› referieren, diese aber in unterschiedlicher Weise durchbrechen und literarisch gestalten. Gezeigt wird, wie so Mosaiken alltäglicher Szenen entstehen, die ein intrikates Spannungsverhältnis zwischen beliebigenAugenblicken und historischen Großereignissen herstellen. Dass hier das ‹Mosaik› erneut als Terminusfür die spezifische Kohärenz der Texteverwendet wird, verbindet die Alltagsdarstellung der beidenAutorinnen mit der zunächst scheinbar ganz anders gelagerten Problemstellung bei Kracauer.

Der Beitrag von BARBARA BAUSCH führt dann in die Adenauer-Ära und thematisiert die zwanghaften Dimensionen der Alltäglichkeit der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. An Gisela ElsnersDebüt Die Riesenzwerge von 1964 zeigt sie auf, wie über die Darstellung von typischenSituationen in typischen Umständen ein Aspekt des zeitgenössisch Authentischen in Alltagssituationen gewonnen werden soll. Elsners ‹grotesker Realismus› rückt dieser Zielsetzung entsprechend den Alltag einer Kleinfamilie ins Zentrum der Aufmerksamkeit und stellt sich so die Aufgabe, Alltäglichkeit als omnipräsentes und banales, aber auch flüchtiges und unter der Wahrnehmungsschwelle liegendes Phänomen literarisch zu ‹fassen›– und entwickelt dabei ein literarisches Verfahren, das in der Monstrositätdes geschilderten Alltags auch die Kontinuitäten mit der NS-Vergangenheit aufscheinen lässt.

Mit der Problematik der medialen Darstellbarkeit setzt sich auch, nun orientiert am Medium Film, der Aufsatz von HEIKE KLIPPEL auseinander, der von den Überlegungen zum Exotismus des Alltags bei Kracauer ausgeht und so methodisch-theoretisch eng an den Text von Kleinwächter und Pethes, historisch und phänomenal an denjenigen von Bausch anschließt. Im Zentrum steht bei ihr Elfie Mikeschs Film Ich denke oft an Hawaii (BRD 1977/78), an dem sie eine zweifache Darstellungsabsicht aufzeigt:Einerseits verfolgt die Kamera die Härte des Arbeitsalltags der dargestellten Personen, dieser wird aber andererseits zu einer bekannten und zugleich fremden Welt stilisiert, da deren Bewohner:innen Elemente des Exotischen in ihren Alltag einbinden. Der Film lässt sich aufgrund der Klassenzugehörigkeit der Protagonist:innen zu Kracauers Ideologiekritik in Bezug setzen, gehört aber zum kulturgeschichtlichen Umfeldder westdeutschen 1970er-Jahre mit ihren Aspirationen auf Individualität und Besonderheit. Klippel analysiert weiter,wie die filmische Gestaltung, sowohl visuell wie auch auditiv, immer wieder Zeitlichkeit in den Blick nimmt, und zwar diejenige der alltäg-

Zeiten der
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Alltäglichkeit

lichen Notwendigkeiten wie auch diejenige von Gegenbewegungen, die als Auszeiten von jenen aufgefasst werden können.

Ebenfalls auf die Deutungs- und Gestaltungskraft eines filmischen Beispiels zielt ANDREJA NOVAKOVIC in ihrem Beitrag zur Hausarbeit. Sie kontrastiert dabei das düstere Bild, das Simone de Beauvoir von der Hausarbeit zeichnet, mit aus der Mitte der 1970er-Jahre stammendenPerspektiven auf diesen räumlich und zeitlich eng restringierten Praxisbereich, die, durchaus auch geschlechterpolitisch engagiert,neue, andere und kontroverse Perspektiven auf die häusliche Alltagsbeschäftigung eröffnen. Zum einen geht es dabei um die Schriften von Silvia Federici, die als Aktivistin, Wissenschaftlerin und Gründungsmitglied der Kampagne ‹Wages for Housework› dafür eintrat, der Hausarbeit einen sozialen Wert zuzuerkennen, der auch einen Lohn verdiene. Zum andern wird an Chantal Akermans Film Jeanne Dielman über eine belgische Hausfrau gezeigt, welchen persönlichen Wert die aufmerksame Verrichtung der Hausarbeit haben kann, inwiefern sie den Geist beschäftigt und Halt gibt. Durch eine Analyse der Hausarbeit in verschiedenen Phasen des Films, die sich durch Ereignisse, die hintergründig passieren, unterscheiden, kann der Wandelder Bedeutung der Hausarbeit vor Augen geführtwerden.

Dezidiert auf gegenwartskulturelle Phänomene zielen zwei weitere Fallbeispiele zur künstlerischen Reflexion der Alltäglichkeitstemporalitäten. AGNIESZKA HUDZIK wendet sich dabei dem Theater zu und widmet ihren Beitrag dem Theaterprojekt Life and Times des Nature Theater of Oklahoma, das eines der einschlägigsten aktuellen Beispiele der Künste zu dem Themades Bandesdarstellt. Hudzik legt anhand der verschiedenenPhasenund Repräsentationsformen des Projekts, den Bucherscheinungen ebenso wie den Aufführungen, mögliche künstlerischeStrategien im Umgang mit dem Alltag und vor allem auch den Krisen des Alltags frei. Nachgezeichnet wird beispielsweise, wie das Scheitern der Darstellung selbst noch in der Darstellung thematisiert und so ein Teil von ihr wird. Der Vergleich mit Charlie KaufmannsFilm Synecdoche,der ebenfalls das Scheitern einer monumental angelegten Alltagsdarstellung verhandelt, profiliert die krisenaffine Ästhetik zeitgenössischer Alltagsinszenierungen. Die Künste, so Hudziks These, reflektieren also, dass viele Krisen heute als dauerhaft und global erfahren werden und daher auch Teil der Alltagsstruktur sind, und sie entwickeln in der Auseinandersetzung mit diesen Krisen Verfahren, die Erfahrungen des Scheiterns, der Prekarität und Unsicherheit explizit zum Gegenstand der Alltagsdarstellungmachen.

Im folgendenBeitrag entwickelt MICHAEL GAMPER an Wolfram Lotz’ Heilige Schrift I die Affordanzen des Genres ‹Journal› für die Alltäglichkeitsthema. Das knapp 1000-seitige Werk von Lotz zeichnet sich dadurch aus, dass es deutlich macht, wie das Genre Journal nicht bloß als Medium dient, um den Alltag und das Alltägliche zu verarbeiten, sondern wie darüber hinaus die Alltäglichkeit Grundlage und Voraussetzung für ein formorientiertes, aber formoffenes Jour-

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nal-Schreiben ist, das nach einer neuen, ‹realistischen›, ‹authentischen› und ‹adäquaten› Zugangsweise zur Wirklichkeit sucht. Lotz entfaltet in seinem täglichen Schreiben,dass vor allem in den privaten und beruflichen Routinen und ihren spezifischen Kontingenzenklar hervortrete, wie sich die sprachliche Formwerdung in der Auseinandersetzung mit den kleinen Dingen entfaltet und wie gerade in der Verstreuung des täglichen Schreibens über die Dinge des Tages sich im Journal das realisiert, worum es im Schreiben eigentlich und überhaupt geht.

Den Abschluss bilden zwei Beiträge, die jeweils von konkreten historischen philosophischen Positionen aus allgemeine bzw. aktuelle Aspekte der Temporalitäten des Alltäglichen herausgreifen. BERNHARD STRICKER beschäftigtsich in seinem Beitrag mit einem der für das Themader Alltäglichkeit wichtigsten Philosoph:innen, mit Stanley Cavell. Er rekonstruiert dessen Position und vor allem dessen Thesezur Nicht-Thematisierbarkeit des Alltäglichen, indem er sie zunächst von der Ordinary Language Philosophy herleitet, dann besonders durch einen Vergleich mit Freuds psychoanalytischem Unbewussten beleuchtet und schließlich mit Blick auf Shakespeares Hamlet weiter ausführt.Entwickelt wird hier die These, dass Alltäglichkeit sich genuin durch Nachträglichkeit auszeichne – also, dass man sich immer erst nachträglich auf sie beziehen könne. Dies wird auch als temporale Bestimmungerläutert. Durch diese Eigenart der Nachträglichkeit wird das Evasive und Ambivalente des Alltäglichen verständlicher, insbesondere weil die Nachträglichkeit nicht nur in der Deutung des Alltäglichen liege, sondern dem Alltäglichen selbst zukomme. So kann auch verständlich werden, wieso gerade in der Philosophie des Alltäglichen bei Cavell eine eigene Position zu den Themen ‹Freiheit› sowie ‹Aussagekraft der Künste› gefunden werden kann. Wie Stricker an Cavells Hamlet-Essay Hamlet’sBurden of Proof nachvollzieht, analysiert dieser die Künste als Medien der Reflexion der menschlichen Daseinsweise.

FRIEDRICH BALKE deckt in seinem den Band abschließenden Beitrag auf, dass die auf Alltäglichkeit und Zeit bezogenen Problemstellungen der aktuellen Medienwissenschaft keineswegserst mit den digitalen Medieninden Fokus gerückt sind. Vielmehr, so seine These, lassen sich die aktuellen Formen der Zeitorganisationinden sozialen Medienmit Martin Heideggers Analysen in Sein und Zeit in Zusammenhang bringen. Dies erkläre sich auch dadurch, dass Heideggers zeitkritische Behandlung des Seins ihrerseits einen sehr konkreten medientechnischen Hintergrund habe, der sich nicht in der berühmten und vielkommentierten Rundfunkstelle in Sein und Zeit erschöpfe, sondern sich durch die Auseinandersetzungmit dem zeitgenössischen Film ergeben habe. Der Beitrag führt weiter vor Augen, wie man mithilfe von Heideggers Begrifflichkeiten auch digitale Medieninihren Strukturen und Funktionsweisen erhellen kann. So werden zunächst die Zeit des Films und dann der Screenshot auf ihre (nichtvulgäre)Zeitlichkeit hin analysiert.

Zeiten der Alltäglichkeit – Einleitung17

Dieser Sammelbandgeht zurück auf eine Tagung, die am 10./11. Oktober2022 an der FU Berlin stattfand. Der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der FU Berlin danken wir für die finanzielle und organisatorischeUnterstützung, ebenso wie Claudia Ziegler und Ilona Anders,die den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung ermöglicht haben. Unsere Beschäftigung mit dem Themawurde wesentlich befördert durch einen Lesekreis, der sich 2021 und 2022 regelmäßig getroffen hat und an dem zahlreiche der Beiträger:innen dieses Bandesbeteiligt waren, ebenso wie durch ein Seminar im WS 2020/21, in dem die Diskussion mit den Studierenden uns wertvolle Anregungen gegeben haben. Danken wollen wir auch Mona Kammer, Tobias Krüger, Ronja Liebenrodt, Clara Plantiko und Florian Völker für die Unterstützung bei den redaktionellen Arbeitenandiesem Band.

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Darstellung der Alltäglichkeit

Überlegungen dazu, wie und warum das Alltägliche Gegenstand der Kunst wird

Zu den Verfahren, die Annie Ernaux in Mémoire de fille beschreibt, um sich an sich selbst als junge Frau zu erinnern und deren Alltag freizulegen, gehören Tagebucheinträge in einem Kalenderjahr, das dem des Jahres,das erinnert werden soll, parallel ist:

Je ne suis jamais allée au-delà de quelques pages, sauf une fois, une année où les calendrier correspondait jour pour jour àcelui de 1958. Le samedi 16 août 2003, j’ai commencé d’écrire: ‹samedi 16 août 1958. J’ai un jean racheté 5000 francs àMarieClaude qui l’avait eu chez Elda àRouen pour 10000, et un pull sans manches bleu et blanc àrayures horizontales. C’est la dernière fois que j’ai mon corps.› J’ai continué d’écrire tous les jours, rapidement, en tâchant de faire coincider exactement la date du jour où j’écrivais avec celle du jour de 1958, dont je consignais en désordre tous les détails qui resurgissaient.1

Diese Idee impliziert Aspekte der Zeitlichkeit, welche mit der Darstellung von Alltäglichkeit eng verbunden sind und um die es im Folgenden unter anderem gehen wird:Das Alltäglicheist in aufeinanderfolgende Tage gegliedert, und das Tagebuch oder tagebuchähnliche Schreiben ist daher eine seiner naheliegenden Darstellungsformen. Zudem sind die Aneignung und die Darstellung anderer oder der vergangenen eigenen Alltäglichkeiten oft mit Techniken der zeitlichen Verschiebung verbunden:der Gleichzeitigkeit von etwas, das auseinanderliegt.2

1 Annie Ernaux:Mémoire de fille, Paris 2016, 17–18. Übersetzung:«Ich bin nie uber wenige Seiten hinausgekommen, außer einmal, in einem Jahr, als der Kalender auf den Tag genau dem von 1958 entsprach. Am Samstag, dem 16. August 2003 begann ich zu schreiben: ‹Samstag, 16. August 1958. Ich trage eine Jeans, die bei Elda in Rouen 10 000 Francs gekostet hat und die ich Marie-Claude fur5000 abgekauft habe, und einen armellosen Pulli mit blau-weißen Querstreifen. Ich bin zum letzten Mal im Besitz meines Korpers.› Ich schrieb jeden Tag, sehr schnell, ich bemuhte mich, alles aufzuschreiben, was mir von dem entsprechenden Tag des Jahres 1958 einfiel, alle Einzelheiten, vollig ungeordnet.» Erinnerung eines Mädchens, übers. von Sonja Finck, Frankfurt a. M. 2018, 15.

2 Dieser Text ist im Austausch mit vielen Menschen entstanden. Besonders danke ich EvaMaria Baumeister, mit der ich seit längerem ein Gespräch zur Darstellung von Alltäglichkeit führe. Sie verfolgt in unserem Gespräch sowie in ihren Bühnenarbeiten besonders die Idee, dass man zum Aufzeigen alltäglicher Ungerechtigkeit verschiedene Alltage überlagernd darstel-

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