Der urbane Trickster
Eine vormoderne Figur zwischen elementarem Weltwissen und religiöser Intelligenz
Hans Jürgen Scheuer
Eine vormoderne Figur zwischen elementarem Weltwissen und religiöser Intelligenz
Hans Jürgen Scheuer
Eine vormoderne Figur zwischen elementarem
Weltwissen und religiöser Intelligenz
Schwabe Verlag
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ISBN Printausgabe 978-3-7574-0137-5
ISBN eBook (PDF)978-3-7574-0138-2
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In Erinnerung an
Barbara Köhler (1959–2021)
«‹Alle Kreter lügen›,gesagt von einer KreterinWas ändert das?» und
Peter Czerwinski (1944–2021)
«Weißt Du, wer der größte Trickster war?
Christus:
tat – Gott und Mensch –, was kein Gott, kein Mensch je getan hatte, und brachte gerade so Gott und Menschen zur Einheit (Normensetzung durch Normenverletzung).»
II. Formgeschichte der Trickster-Vita
A. Der Trickster als Denkfigur
1. Entfernte Verwandte:Der Trickser – Der Listige –
B. Logos und Bios:
und Lebensform in der antiken Biographie (Homer – Äsop).
1. «Aber hüte dich vor dem Rätselwort kleiner Jungs!»:
2. «Nicht geschaffen fürs
C. Der Trickster betritt die Polis (Odysseus – Sokrates).
1. «Worte winterlichem Schneegestöber gleich»: Homers Odysseus und die Wirkung der Trickster-Rede
2. «Aufwärts und abwärts ziehe ich meine Bahn»: Platons
als urbaner Trickster.
Kynische Radikalisierungen urbaner Rede (Diogenes – Menippos)
1. «Die gängige Münze ungültig machen»:
2. «Mit Hilfe des Stricks sein Leben ändern»: Menippos als rasender Äsop und Anti-Diogenes .. .. .. ... 77
B. Hagiographische Transformationen des Tricksters (Apollonius von Tyana – Jesus von Nazareth). ...
1. «Wie schillernd er war und bald so, bald anders und kaum zu fassen und wie er alles zu wissen und vorauszuwissen schien»: Philostrats Apotheose des Tricksters Apollonius ....
2. «Noch nie hat ein Mensch so geredet»: Jesus im Licht der spätantiken Vita ...
C. Trickstertumals kollektive Lebensform (Wüstenväter – Martin von Tours – Franz von Assisi). ..
1. Fluchtliniendes Nicht-Integrierbaren:Trickster-Netzwerke außerhalb des urbanen Raums in den Vitaspatrum .. ..
2. VomIntelligenztyp zum Heiligkeitstyp –Die Legendarisierung des Tricksters
IV. Transformationen des urbanen Tricksters in Mittelalter und Früher
A. Vomurbanen zum kurialen Trickster und wieder zurück (Âmis, Keîe, Tristan, Morolf, Ulenspiegel). ..
1. wer der erste man wære, /der liegen und triegen an vienc: Der Pfaffe Âmis und einige seiner Verwandten aus der Lineage höfisch-klerikaler Trickster ..
2. wer da nüt hat, dem sol man geben, und der etwas hat, dem sol man etwas nehmen: Ulenspiegels Radikalität ..
B. Der Trickster als Glückskind und frühkapitalistischer Abenteurer (Fortunatus,Faust). ..
1. Fortunat &Söhne: Die Firma als Trickster ....
2. Der Magier als (anti‐)göttlicher Trickster. Das ‹Faust-›/‹Wagner-Buch› zwischen Philosophen-Vita und Gegen-Evangelium
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C. Utopie und menippeische Satire (Atlantis – Utopia – Laleburg). ...
1. Fabulae aniles, quas narrare solent ancillae –«Ammenmärchen»für Wissende:
2. Utopus me dux ex non insula fecit insulam – «Utopus hat mich aus einer Nicht-Insel zu einer Insel gemacht»: Wissensorganisation im Nirgendwo und Überall. Thomas Morus und der Ort der Utopie in der Enzyklopädik
3. vnd war kein Lale vnter allen Lalen /der da nit hette woellen ein eygen Loch: Die Polis als Trickster. Das ‹Lalebuch› in der Tradition der Topik
A. Der Trickster an der Schwelle zur Philologie (Lukian, Wieland).
B. Der Schelm, ein naher Verwandter? – Überlegungen zum
Dank-Parcours oder:Kurzer Bericht überdie Reisewege
Stubborn,das englische Wort für die Haltung halsstarrigen Eigensinns, ruft, wörtlich genommen, ein feinsinniges Denkbild auf: stub bezeichnet den morschen Baumstumpf, aus dem – born – ein frischer Spross austreibt.1 Wider Natur und Erwarten insistiert so das sich erneuernde Leben, wo nur mehr tote Materie vorhanden zu sein schien. An eine solche stubbornness dachte offenbar Max Weber, der Theoretiker der Gesellschaft, als er in einem Brief vom 19. Februar 1909 an Ferdinand Tönnies,den Theoretiker der Gemeinschaft, zu seinem Verhältnis gegenüber dem Religiösen Stellung nahm:
Denn ich bin zwar religiös absolut ‹unmusikalisch› und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen ‹Bauwerke› religiösen Charakters in mir zu errichten – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin nach genauer Prüfung, weder antireligiös noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verkrüppelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen, sich damit – um nicht in romantischen Schwindel zu verfallen – abzufinden, auch nicht – als einen Baumstumpf, der hie und da noch auszuschlagen vermag –,mich als einen vollen Baum aufzuspielen. Aus dieser Attitüde folgt viel.2
Die Formel von der religiösen Amusikalität kennen wir alle. Sie hat seither eine große Karriere gemacht. Jeder intellektuelle Mensch, der etwas auf seine Aufgeklärtheithält und seine Distanz zum religiösen Gefühl als sicheren Ausweis derselben versteht, zitiert sie gerne. Keine Frage auch, dass aus jener Attitüde viel folgt:InForm eines säkularen Bekenntnisses – ich kann nicht, ich will nicht – leugnet sie jegliche Empfänglichkeit und Empfindlichkeit fürs Bekenntnisreligiöser Provenienz. Das schützt Wissenschaft und Ethik vor dem sacrificium intellectus und zerlegt den Stoff der Tradition dennoch nicht zum Kleinholz der Atheisten.Mit der Typologie von Baumstumpf und
vollem Baum ruft sie vielmehr ein Heilsexempel auf, das in christlicher Ikonographie eine prominente Rolle spielt:die Legende vom Paradies- und Kreuzholz. In einem providenziellen Rhythmus von Latenz und Emergenz wächst aus seinen Sprösslingen das Baumaterial, das Seth am Grab seines Vaters Adam anpflanzt, das Salomon in seinem Tempel zu Jerusalem vergeblich zu verbauen versucht, aus dem dann, als die Zeit sich erfüllt, das Kreuz des Kruzifixus gezimmertwird und das später, von Kaiser Konstantins Mutter Helena im Heiligen Land wieder aufgefunden, vom persischen Großkönig Cosroe usurpiert, vom byzantinischen Basileus Heraklios restituiert, schließlich fragmentiertinder Welt verstreut wird, darin verlorenzugehen droht und doch in Splittern überall ein Zeugnis der Erlösung und des ewigen Lebens hinterlässt:Kaum ein Reliquienschatz des Mittelalters, der nicht einen Span davon vor den Augen der Gläubigen auszustellen wüsste.3
Nur, dass der religiös Unmusikalische jene bildgewordeneVerheißung modern umdeuten muss. Max Weber jedenfalls kann sie sich nicht mehr als Reliquie eines aktiven Schöpfungs- und Erlösungszusammenhangs denken, sondern nur mehr als Relikt einer kulturellen Prägung, die sich durch stubbornness auszeichnet. Was darin stur und störrisch insistiert, ist der letzte Rest einer Lebenskraft, deren überraschendes Ausschlagen bloß bestätigt, dass der einstmalslebendige Stamm der Religion inzwischen hohl und abgestorben ist, so dass kein Weg zur alten Blüte zurückführt. Moderne Analysen des gesellschaftlichen Zusammenlebens tun deshalb gut daran, sich taub zu stellen gegenüber den angeblichen Renaissancen der Religion und ihrem eschatologischen Sirenengesang. Es ist ja kein Ast mehr da, auf dem der Soziologe oder sonst ein Wissenschaftler mit seinem methodischen Besteck sitzen und von dem er, sich selbst absägend, herabstürzen könnte. Der Sturz ist längst schon erfolgt und hat jenen Krüppel zurückgelassen, als den Weber sich selbst beschreibt.Der aber macht mit den Prothesen seiner Rationalität allemal größere Fortschritte, als würde er versuchen, das Gras bzw. den sich immer noch regenden Trieb wachsen zu hören oder gar nach der alten Pfeife von Kirche und Konfession zu tanzen. Zugleich besteht das Ethos des Weber’schen Wissenschaftlers darin anzuerkennen, dass seinem diskursiven Vorgehen Grenzen gesetzt sind. Sie schließen ihn von Fülle, Vollmacht und einem entsprechenden priesterlichen Sendungsbewusstsein unwiderruflich aus. Wer’sanders praktiziert, fliegt als Scharlatan auf.
Was mich bei meinen folgenden Überlegungen über den Trickster als vormoderne Denkfigur an der Schwelle von Weltwissen und Transzendenz antreibt, ist freilich die Frage, was aus dem allzu oft gehörten,zuumstandslos aufgenommenen Echo des Weber’schen Topos für uns folgt. Ist die Beteuerung, religiös unmusikalisch zu sein, gut hundert Jahre nachdem sie erstmals formuliert und als säkulares Mantra nachgebetet wurde, immer noch geeignet, den Raum der Wissenschaft gegen die Zumutungen der Religion und ihres Gefolgschaftszwangs abzuschirmen?Oder ist nicht vielmehr die ostentative Unsensibilität gegenüber religiösen Obertönen, die auch in Webers Metaphern anderes sind als bloßer Nachhall – nach wie vor nämlich das Holz, aus dem Argumente der Legitimationund Pathosformeln des Bekenntnisses fabriziert werden –,ist also jene habitualisierte Harthörigkeitgegenüber dem Irrationalismus des Glaubens inzwischen nicht eher Ausweis eines «religiösen Analphabetismus» (Navid Kermani)?4 Vergessen die gängigen Haltungen des aufgeklärten Bewusstseins, das meint, Religion wie die eigene Kinderstube überwunden zu haben, nicht, dass Aufklärung vor allem Aufklärungüber Religion ist, also ohne Bezug auf die fortlebenden Denkund Handlungsweisen religiösen Ursprungs gar nicht zu haben?Zwar wäre es dann immer noch möglich, dass sie zu dem Schluss kommt, Religion sei das zu überwindendefalsche Bewusstsein. Doch in dem Augenblick,indem sie meldete:Baum tot – mission accomplished,würde sie dem bloßen Schein ihrer Rationalitäterliegen, ihren eigentlichenGegenstand verlieren und in trübe Unaufgeklärtheit zurückfallen.5
Wenn das aber den Stand der Dinge – the state of affairs – repräsentiert, dann kommt es darauf an, sich nicht länger dem Religiösen gegenüber zu desensibilisieren, sondern im Gegenteil das ungeübte,durch Nicht-Gebrauch in Vergessenheitgeratene Sensorium von Neuem freizulegen, wiederaufzubauen und erinnernd, urteilend, imaginierend sich den Formen seiner unerledigten stubbornness zuzuwenden. Das ist kein Appell, man möge sich dem Aufbau «seelische[r] ‹Bauwerke› religiösen Charakters»neu verschreiben, disziplinäre Denkfreiheiten für Glaubenswahrheiten aufgeben oder gar im Gewand säkularer Wissenschaft oder Kunst eine propaganda fidei betreiben. Denn es geht dabei nicht um konfessionelle Inhalte, sondern um Denkformen religiöser Intelligenz. Wenn es eine solche gibt und sie sich in charakteristischen Formen ein- und entfaltet, dann wäre sie in polytheistischen Religionen nicht weniger anzutreffen als in heno- oder monotheistischen, in
indigenen ebenso wie in solchen mit universellemGeltungsanspruch. Sie ließe sich im weitesten Sinne verstehen als die Bedingung der Vielfalt des Religiösen. Solche Vielfalt wäre im Sinne des griechischen ποικιλία zu denken: als schimmernde Buntheit innerweltlichen Wissens und Handelns, die ihren Ausdruck in einem klugen, wendigen Gebrauch der Sprache fände, wenn sie das artikuliert,bewertet und verhandelt, was diesseits und jenseits des Sprechens liegt:hier die Welt, dort die Transzendenz.6 Solch ein Sprechen zwischen den Polen der stummenNatur und der hermetischen Sphäre des Numinosen muss deswegen listig agieren, weil es einem paradoxen Umstand Rechnung zu tragen hat:dass es nämlich mit keiner der beiden außerlinguistischen Sphären je in direkten Austausch treten könnte, ja der Möglichkeit zu unmittelbarer Kommunikation geradezu im Wege steht und doch das einzige Mittel des Menschen ist, sich zu Welt und Transzendenz seiner Vernunft gemäß zu verhalten.
Für die vormodernen Denkformen, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigenmöchte, ist jener sprachbasierte Widerspruch konstitutiv. Er scheint so prägend, dass er sich nicht ohne wesentliche Verluste in systemtheoretischer Manier auf die Paradoxie «religiöser Kommunikation»reduzieren lässt. Denn deren kybernetisch-verwaltungstechnisches Modell klammert ja gerade den Aspekt der menschlichen Sprache aus.7 Deshalb gehört die Luhmann’sche Redewendung von der «Unverfügbarkeit des Heiligen»,8 die regelmäßigaufgerufen wird, sobald die Versprachlichung der Leitunterscheidung zwischenImmanenz und Transzendenz zur Debatte steht, dem religiös Amusischen an. Sie missrät schnell zu einer Form schlechter Theologie, wenn sie mit der Sprachlichkeit religiösen Wissens zugleich auch das Weltwissen als Raum sprachlicher Produktion sozialer Verbindlichkeit aus den Augen verliert. Beides aber gehört zum Bedeutungsspektrum des lateinischen Wortes fides,dem, wie ich meine, Leitbegriff religiöser Intelligenz. Noch bevor fides nämlich unter dem Einfluss von Paulus’ semiotischer Konstruktion der πίστις zum theologischen Konzept «Glaube»wird,9 zielt das Wort nach Ciceros Etymologie aus ‹De officiis› I,7,23 auf die menschliche Sprache im Gebrauch. Im Sprechen begründet fides die soziale Verbindlichkeit, die sicherstellt, dass «geschehe, was gesagt worden ist».10 Cicero macht das anhand der Buchstabenfolge seiner Definition ersichtlich: quia fiat, quod dictum est. Fi-d-es bezeichnet also das Vertrauen darauf, dass zwischen einem Wort und dem, was es aussagt, ein gültiger, verlässlicher und wirksamer
Bezug bestehe, der in paganer Sprachpraxis oft durch Eid und Schwur bei den Göttern berufen und bekräftigtwird:
Beim Eid geht es also nicht um die Aussage als solche, sondern um die Garantie ihrer Wirksamkeit, nicht um die semiotische oder kognitive Funktion der Sprache als solcher, sondern um die Gewährleistung ihrer Wahrhaftigkeit und ihrer Verwirklichung.11
Genau hier setztdie Arbeit all jener Tricksteran, dieuns im Folgendenvielzu denken gebenund unsere religiöseIntelligenzwecken undübensollen. Denn ihre Streiche und Torheiten, auch ihre Untatenund Verbrechen,die siebegehen, weil siestets dasWortmetaphorischverstehen undjedeMetapherwörtlich nehmen, operieren, bald listigodertölpelhaft, bald asozialoderkriminell in denGrenzbereichender fides: zur Naturhin,die vorder menschlichen Sprache stumm bleibt,wie zur Transzendenzhin,die sich nicht geradlinigin menschlicheSprache übersetzenund verstehen lässt, bissie zuletztals fatum eintrifft undunausweichlich fatalwird. ZumStudium solchenSprachgebrauchs, derandie Wurzelaller Verbindlichkeitrührt,bedarfeseinesbesonderenIntelligenz-, später auch Heiligkeitstyps, dersicheherin(apokryphen, variantenbildenden)Historien-und Viten-Narrativen zeigtals in (heiligen, liturgiegebundenen und daherdem festenBuchstabenverpflichteten)Priesterschriften, weil dervolatileGebrauch der Sprachesicheherinder Linearitätder historia und im abduktiven Schlussverfahren desExempels12 entfaltet alsim hymnischen oder homiletischen Formular.DennseinFeldist dasjenigedes innerweltlichenOrientierungswissensund derpraktischen Klugheit.13 In diesem Kontextmanifestiertsichreligiöse Intelligenzvor allemimSpruch(λόγος als Sphäre der Sprache)und wächstsichdurch Sammlung undVariation zurVita (βίος alsSphäredes Handelns,der gesta wie derGesten) einesSprechersaus, dessen Praxis mitRücksicht aufdie menschlichen unddie göttlichen Belange beispielhaft erscheint.Mit derFormeldes Thukydides
ώπινα – diegöttlichen und die menschlichen Angelegenheiten – aber umreißtdie antike Zivilisation denRaumdes Politischen, in demdie Bindekräfteder Sprachhandlungenallererst ihre volle Wirksamkeitentfaltenkönnen.14 Einsolches Zusammenspiel von λόγος und βίος stehtvon dem, was manschlechthin mitReligionund religiöser Rede identifizieren würde, ab wie dergrüne Spross vomschwarzen Baumstumpf.15
Mein Buch beschäftigt sich mit dem Trickster, nicht jedoch mit jeder Art von Trickstertum. Da das Interesse der Studie kein primär ethnographisches, psychohistorisches, mythographisches, soziologisches oder religionswissenschaftliches ist (auch wenn jene und andere Aspekte durchaus in Betracht kommen), sondern ein entschieden literaturwissenschaftliches, möchte ich eine Linie verfolgen, die sich zuerst formgeschichtlich an der antiken Biographie und ihrer Urbanität sowie an ihrer hagiographischen Transformation orientiert, um an diversen Beispielen die lange Dauer des urbanen Tricksters – im Kernbereich vom 2. bis ins 16. Jahrhundert – auf den Umwegenphilologischer Erkenntnis16 zu erkunden. Unter Urbanität soll nicht notwendig die gesellschaftliche Verortung der Trickster-Figurinder städtischen Lebenswelt verstandensein, sondern eine rhetorische und epistemologische Qualität der Sprache im Gebrauch.17 Die meisten Trickster, die uns unter jenem Rubrum begegnen werden, sind nämlich durch eine niedere Geburt außerhalb der Stadt gezeichnet, von einer bürgerlich sesshaften Existenz durch Aussehen, Verhaltensweise und sprachliche Auffälligkeiten ausgeschlossen bzw. an den Rand der Polis oder ins Exil gedrängt und daher ohne festen Wohnsitz dauerhaft auf Reisen. Gerade das aber prädestiniert sie dazu, von außen in anderswo bestehende Ordnungen einwandernd und sie nach kurzer Zeit wieder verlassend, die Muster des Wissens, Denkens und Handelns von den Grenzen her anzugehen und in ihrer Begrenztheitvorzuführen, gelegentlich gar aufzubrechen oder, angereichert durch ein Wissen über die Nichtigkeit ihrer Selbstgewissheit, neu zu konstituieren.Kein Spruch, keine Geste, die dabei nicht eine Wende und Inversion hervorrufen würden, um im Hohen das Niedere, im Niederen aber das Hohe zum Vorschein zu bringen. Solch grundstürzendeOperationen helfen, in der Lektürevon Trickster-Viten ei-
nen doppelten Blick auszubilden und zu schärfen,der es erlaubt, die Dimension von fides als pragmatische und religiöse Form ethischen(Nicht‐)Wissens zu erkunden.
1. Entfernte Verwandte:
Der Trickser – Der Listige – Der Störenfried – Der Heilige
Wäre der Trickster nicht mehr und nichts anderes als ein Trickser, müsste man nicht viel Aufhebens von ihm machen. Dann wäre er schlicht, wofür die Berliner Verkehrsbetriebe ihn halten, wenn sie auf ihren Fahrkartenautomaten warnen:«Beware of tricksters!» – eine Alltagserscheinung großstädtischer Straßenkriminalität. Ein Trickbetrüger dreht Reisenden für einen Euro gebrauchte Tickets an, einer vom Schlage der Taschendiebe oder Hütchenspieler schaltet mit manuellem Geschick den Verstand der Passanten aus und unterläuft ihre Wachsamkeit, erleichtert sie in aller Öffentlichkeit um kleine Münze. Dadurch ärgern die Trickser ihre Opfer, provozieren den Spott der Davongekommenen über die Unachtsamkeit oder Leichtgläubigkeit der Ausgetricksten, während die Polizei auf solche Übergriffe, wenn überhaupt, mit Platzverweisen reagiert. Alles in allem:eine Bagatelle, trostlos und bettelarm.
Oder sollte man den Ort des Tricksters am anderen Ende des gesellschaftlichen Spektrums vermuten:inden höchsten Rängen der Politik, wie jener Herr, der mich nach einem Vortrag über ‹Göttliche Trickster› fragte, ob ich Merkel, Trump, Putin &Co. zur Familie der Trickster zählte?Das führt von der handwerklichen zur klugheitsgesteuerten Variante des Austricksens eines Rivalen oder Feindes durch Witz, Schlitzohrigkeit und Verschlagenheit im Macht- und Ohnmachtsspiel der politischenWinkelzüge: traditionell eine Königsdisziplin in Gestalt avancierter Bauernschläue. In seiner Abhandlung ‹VomKriege› hat Carl von Clausewitz solchem Listhandeln ein eigenes Kapitel gewidmet voll trefflicher Einsichten in die Marginalität jenes Phänomens für eine moderne, politisch wie kriegstechnisch ins Gewicht fallende Auffassung von Strategie und Taktik.18 Sie beruhen auf einer so strikten Ökonomie des Umgangs mit zeitlichen und räumlichen,materiellen und menschlichen Ressourcen,dass ihre Effizienz dem aufwendigen, ja verschwenderischen und letztlich doch unkalkulierbaren «Spiel schlauer Beweglichkeit»widerstrebt. Im zehnten Kapitel des dritten Buches fasst Clause-
witz daher die List als eine abwegige strategischeOption auf. Zugleich hebt er ihren engen Bezug zur Sprache hervor:
List setzt eine versteckte Absicht voraus und steht also der geraden, schlichten, das ist unmittelbaren Handlungsweise entgegen, so wie der Witz dem unmittelbaren Beweise entgegensteht. Mit den Mitteln der Überredung, des Interesses, der Gewalt hat sie daher nichts gemein, aber viel mit dem Betruge, weil dieser seine Absicht gleichfalls versteckt. Sie ist sogar selbst ein Betrug, wenn das Ganze fertig ist, aber sie unterscheidet sich doch von dem, was schlechthin so genannt wird, und zwar dadurch, daß sie nicht unmittelbar wortbrüchig wird. Der Listige läßt denjenigen, welchen er betrügen will, die Irrtümer des Verstandes selbst begehen, die zuletzt in eine Wirkung zusammenfließend, plötzlich das Wesen des Dinges vor seinen Augen verändern. Daher kann man sagen:wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen.19
Als «Taschenspielerei mit Handlungen», die stets an das Verhalten des Sprechers in einer gegebenen Redesituation gebunden ist, zeigt sich List vor allem in Form okkasionellen Sprachhandelns. Es basiert, wie die Bemerkung zum Trug ohne Wortbruch bezeugt, wesentlich auf dem Wortlaut und WörtlichNehmen der gesprochenen Sprache, die so wirken soll, als realisiere sie unmittelbar, was sie sagt. Ihrer zeigenden und deutenden Natur gemäß kann sie freilich niemals mit den Taten oder Dingen, auf die sie zeigt und die sie deutet, kongruieren, sondern vermag Bezüge zwischenWörtern (verba)und Sachen (res)immer nur im Modus permanenter Übertragung, also:metaphorisch/allegorisch, herzustellen. Sie signifiziert – mit anderen Worten – nie geradlinig,sondern immer in gekrümmter Bahn, ohne schlichtweg zuzutreffen. Sie ist insofern nicht, was sie sagt und benennt, sondern Gleichnis des Gezeigten und Benannten.20 Doch mit dem Vergessen oder Vergessenmachen solch durchgängiger, ostentativer Allegorizität von Sprache gegenüber ihrer Umwelt verändert sich «plötzlich das Wesen des Dinges»vor dem Auge desjenigen, der dem Wort Folge leistet, sei es, um andere zu überlisten, sei es mit der Konsequenz, dass er sich dadurch selbst übertölpelt, wie Trickster es gelegentlich tun. Akteur oder Opfer einer List zu sein, erweist sich so als Vorder- und Rückseite derselben Münze, deren Währung die Sprache selbst ist.
Konzentriertester Ort der Prüfung ihres Wertes ist die kleine, prägnante Form:der Spruch, das Rätsel, die Fabel, die Chrie oder Anekdote, der
Schwank. Als Topoi können sie in Argumentationen eingesetzt und nach Bedarf rekontextualisiert werden,sodass sie gegenüber dem, was schlicht der Fall ist, den Listcharakterder Sprache sichtbar machen und im wendigen Sprachspiel zur Geltung bringen. Deshalb kann sich in jeder derartigen Form der Intelligenztypdes Tricksters besonders gut verdichten:die Gewandtheit, aber auch Verstricktheit seines Denkens, Redens und Handelns. Umgekehrt heißt das freilich auch:Ohne die Formen des pointiert an der Schwelle zum zugreifenden Handeln artikulierten Wortes vermag der Trickster nicht zu existieren. Erst sein Bezug zur Sprache im Gebrauch, ihrem πρᾶγμα und Gestus, sichert ihm in einer Entscheidungssituation den Bewegungsspielraum. Der dürfte ihn zwar in Realität kaum aus der Bedrohung retten – wie es angesichts übermächtiger Zwänge allenfalls dem politischenHasardeur zuzutrauen wäre –,erlässt ihn aber im Gleichnis durchaus dem unmittelbar tödlichen Zugriff entkommen,wie wir später noch an der Verschlagenheit des Odysseus, seiner πολυτροπία,sehen werden. Dass sein Entrinnen kein wirkliches und anhaltendesist, sondern einen listigen Aufschub des Unentrinnbaren im Feld sprachlicher Operationen der Übertragung darstellt, das macht den Unterschied zwischen dem polytropen Trickster und dem bloß geschickt agierenden Trickser aus.
Dasselbe gilt in einem umfassenderen sozialen und kommunikativen Sinn für die folgende Begebenheit, deren Zeuge ich 2016 bei einer Veranstaltung des ICI Berlin ‹In Search of the Modern Trickster› wurde. Eine Reihe von kunsthistorischen, kultur- und literaturwissenschaftlichen Referaten sollte eine Ausstellung subversiver russischer Gegenwartskunst unter dem Titel «Balagan!» eröffnen und begleiten. Gerade hatte der Kurator damit begonnen, in das Thema einzuführen,als sich aus dem Auditorium seltsame Geräusche, erst ein Rumoren, dann ein Murmeln und lautes Schmatzen, vernehmen ließen. Plötzlich springt ein hagerer Mann in Straßenkleidung und mit Strickmütze auf das Podium, auf dem alles für die Abschlussdiskussion vorbereitet steht, fläzt sich auf die Sitzmöbel, trinkt schlürfend aus sämtlichen Gläsern. Gleich darauf fällt er dem irritierten Redner ins Wort und steigert seine Interventionen bis zur massiven Beschimpfung. Der unflätigen Verbalattacke folgt die unflätige Aktion:Wer wissen wolle, was ein Trickster sei, solle sich nicht um den beschissenen Kunstkram scheren, sondern ihm jetzt einmal zusehen. Dabei kehrt er dem Publikum seine Rückseite zu, lässt die Hose herunter und streckt uns seinen nackten Hintern entgegen. Die Si-