ERICH NEUMANN
DIE WURZELN DES JÜDISCHEN BEWUSSTSEINS
ANN CONRAD LAMMERS (HG.)
Erich Neumann
Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins
Herausgegeben von Ann Conrad Lammers
Schwabe Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Chaja Stiftung, FrankfurtamMain.
Die Publikation wurde unterstützt durch Recollections, LLC.
BibliografischeInformation der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel „The Roots of Jewish Consciousness“ bei Routledge, Abingdon u. New York.
© 2025 Schwabe Verlag Berlin GmbH
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronischverarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.
Abbildung Umschlag:Aquarell, © Erich Neumann, Datum unbekannt. Mit freundlicher Genehmigung der Erich Neumann Estate.
ÜbersetzungEinleitung und Herausgebertexte:Manfred Weltecke, Dublin
Korrektorat:Teresa Keller, Schwabe Verlag Berlin
Cover:icona basel gmbh, Basel
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:CPI books GmbH,Leck
Printed in Germany
ISBN Printausgabe 978-3-7574-0143-6
ISBN eBook (PDF)978-3-7574-0144-3
DOI 10.31267/978-3-7574-0144-3
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Erhöhung der Moschehgestalt und die Einführung des
als Kompensation für das Volk
Wirksamkeit in der Zeit
Die Zeitkomponente als Wirkungsebene des Unbewussten
186 Schicksal als Möglichkeit archetypischer Erfahrung
Der Messias als vereinigendes Symbol der Himmel-Erdspannung
Kapitel 3Das Ende der JHWH-Erdspannung als
1. Das Auseinanderbrechen der JHWH-Erd-Spannung
Die gnostische Gefahr
2. Die Schrumpfung der JHWH-Erd-Spannung
Ausschluss der inneren Erfahrung
Rabbinismus.
3. Der heimliche
Zweiter Teil Der Chassidismus und seine psychologische Bedeutung für das Judentum
2.
3.
4Esra
Abriss
Apok &Pseudepig
Baader
Bab Tlm
„Bescht“
Beziehungen
Birnbaum
Bischoff
Briefe J-N
B&R
Siglenverzeichnis
Das vierte Buch Esra (spätes 1. Jahrhundertn.d.Z.). Kautzsch (Hg.), Apok &Pseudepig, S. 331–401, übers. von Hermann Gunkel.
Julius Wellhausen, Abriss der Geschichte Israels und Juda’ s (1884).
Emil F. Kautzsch (Hg.), Die Apokryphen und Pseudepigraphendes Alten Testaments, Bd. 2: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments (1900).
Franz Baader, Franz von Baaders Vorlesungen und Erläuterungen zu Jacob Böhmes Lehre, hgg. von Julius Hamberger (1855).
Der BabylonischeTalmud, übers. von Lazarus Goldschmidt, Bde. 1–12 (1928–1936).
Samuel A. Horodezky, „Baal-Schem-Tob (ט"ש ), Israel ben Elieser“ , Enc Jud, Bd. 3(1929).
C. G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten (1928)(GW 7,2).
Salomo Birnbaum, Leben und Worte des Balschemm nach chassidischen Schriften (1920).
Erich Bischoff, Die Elementeder Kabbalah, Erster Teil:Theoretische Kabbalah (1913).
C. G. Jung und Erich Neumann:Die Briefe 1933–1959. Analytische Psychologie im Exil,hgg. von Martin Liebscher (2015).
Martin Buber &Franz Rosenzweig, Die Schrift. DeutscheÜbersetzung des Pentateuch, der geschichtlichen Bücher und der großen und kleinen Propheten(1930/1934).
CharlesworthJames H. Charlesworth(Hg.), Old Testament Pseudepigrapha,Bde. 1–2(1983).
Chassid Büch
Dreifuss
Martin Buber, Die chassidischen Bücher (1928).
Gustav Dreifuss, „Erich Neumanns jüdisches Bewusstsein“ , Kreativität des Unbewussten:Zum 75. Geburtstag von Erich Neumann (1905–1960). AnalytischePsychologie, Bd. 11, 3–4, hgg. von H. Dieckmann und C. A. Meier (1980).
Energetik
EJ
Enc Jud
Franck
Geheimnis
Gnosis
Großer Maggid
C. G. Jung, Über die Energetik der Seele (1928).
Eranos-Jahrbuch,-bücher (Sammlungen der Beiträge zu den jährlichen Eranos-Tagungen), hgg. von O. Fröbe-Kapteyn u. a. (1933–).
Encyclopaedia Judaica (Jüdische Enzyklopädie), Bde. 1–10:A–Lyra (1928–34).
Adolf Franck, Die Kabbala, oder die Religions-Philosophie der Hebräer. Aus dem Französischen übers., verb. und verm. von Adolf Gelinek (1844/1913).
C. G. Jungund RichardWilhelm, Geheimnisder goldenen Blüte (1929).
Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil I: Die mythologische Gnosis (1934).
Samuel A. Horodezky, ה" " שו ו Torat ha-magid mi-Mezerits ve-sihotav (Die Lehren des Maggid von Meseritz und seine Gespräche)(1923).
GW Die Gesammelten Werke von C. G. Jung, hgg. von Marianne NiehusJung, Lena Hurwitz-Eisner, Franz Riklin,Lilly Jung-Merkerund Elisabeth Rüf, Bde. 1–20 (1958–).
Haeussermann
Hauptströmungen
Jacob &Esau
Jakob &Esau
J-N Letters
Königtum Gottes
Kyrios
Molitor
Müller
Friedrich Haeussermann, Wortempfang und Symbol in der alttestamentlichen Prophetie:Eine Untersuchungzur Psychologie des prophetischen Erlebnisses (1932).
Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957;englische Ausgabe, Major Trends in Jewish Mysticism,1941).
Erich Neumann, Jacob and Esau:Onthe Collective Symbolism of the Brother Motif, hgg. von Erel Shalit, übers. von Mark Kyburz (2015).
Erich Neumann, Jakob und Esau (unveröffentlichtes Typoskript, 1934).
Analytical Psychology in Exile:The Correspondence of C. G. Jung and Erich Neumann, hgg. von Martin Liebscher (2015).
Martin Buber, Königtum Gottes, Bd. 1: Das Kommende (1932/1936).
Wolf Wilhelm Friedrich von Baudissin, Kyrios als GottesnameimJudentum und seine Stelle in der Religionsgeschichte,Bde. 1–4(1929).
Franz Joseph Molitor, Philosophieder Geschichte oder über die Tradition in dem alten Bunde und ihre Beziehung zur Kirche des neuen Bundes. Mit vorzüglicher Rücksichtauf die Kabbalah, Bd. 3(1839).
Ernst Müller (Hg.), Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala, nach dem Urtext herausgegeben (1932).
Neue Ethik
New Ethic
Priester der Liebe
Psych &Rel
Puech
R. Nachman
Reich der Seele
Roots I, II
Sagen
Seelenprobleme
Sinai &Garizim
Tannaiten
Typen
Unterweisung
Ursprungsgeschichte
Volz
Wandlungen und Symbole
Erich Neumann, Tiefenpsychologie und Neue Ethik (1949).
Erich Neumann, Depth Psychologyand aNew Ethic (1969/1990).
Chajim Bloch, Priester der Liebe:Die Welt der Chassidim (1930).
C. G. Jung, Psychology and Religion:The Terry Lectures (1938) (GW 11.1).
Henri-Charles Puech, „Der Begriff der Erlösung im Manichäismus“ , EJ 1936 (1937).
Samuel Horodezky, ינ ןב . Torat Rabi Nahman mi-Bratslav ve-sihotav (Die Lehren des Rabbi Nachman von Bratzlaw und seine Gespräche)(1923).
Gustav Richard Heyer und Friedrich Seifert (Hg.), Reich der Seele:Arbeiten aus dem Münchenerpsychologischen Arbeitskreis, Bde. 1–2 (1937).
Erich Neumann, The Roots of Jewish Consciousness, hgg. von Ann Conrad Lammers, übers. von Mark Kyburz und Ann Conrad Lammers, Bde. 1–2(2019).
M. Bin Gorion, Sagen der Juden,Bd. 1: Vonder Urzeit (1913); Bd. 5: Juda und Israel:jüdische Sagen und Mythen (1927).
C. G. Jung, Seelenprobleme der Gegenwart (1931).
M. Bin Gorion, Sinai und Garizim:Über den Ursprung der israelitischen Religion (1926).
Nahum N. Glatzer, Untersuchungen zur Geschichtslehre der Tannaiten (1933).
C. G. Jung, PsychologischeTypen (1921) (GW 6)
M. Buber, Des Baal-Schem-Tow UnterweisungimUmgang mit Gott (1927).
Erich Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins (1949).
Paul Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeindeimneutestamentlichen Zeitalter (1934).
C. G. Jung, Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens (1912/1925). Rev. und erw., Symbole der Wandlung (GW 5)
Wirklichkeit
Wurzeln
C. G. Jung et al., Wirklichkeit der Seele (1934).
Erich Neumann, Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins, hgg. von Ann Conrad Lammers (2025).
Mein Interesse am Werk Erich Neumanns geht auf die Anfänge meiner jungianischen Ausbildung zurück, als man mich mit den Schriften Erich Neumanns bekannt machte. Sofort erkannte ich nicht nur seine Brillanz und die Klarheit seines Denkens, sondern auch seine einzigartige Fähigkeit, sich über das Gefühl in die weibliche Wesensart hineinzuversetzen, eine Erfahrung, sich in der Gegenwart von Eros aufzuhalten. Als Denktyp bewegt sich Neumann leicht in die Richtung der Abstraktion, doch kehren seine Schriften recht bald zu einem eher von Gefühl und Empfindung betonten Fundament zurück. Neumann zu lesen gleicht einem Wechselspiel zwischendiesen beiden Gegensätzen. Was ich später in seinen aktiven Imaginationsbildern in Wasserfarbe entdeckte, war ein gutes Beispiel für diese Verbindung. Es sind nachdenkliche und doch spontaneBilder von bunter, fließender Qualität, die seinenIndividuationsweg wiedergeben und gleichzeitig seine gelebte,persönliche und gefühlteErfahrung mit ihnen ausdrücken. Die Bilder sind sowohl kollektiv als auch persönlich, indem sie sowohl die Archetypen als auch deren weltliche Entsprechungen, die Komplexe, widerspiegeln.1 In Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins2 bewegt sich Neumann auf gekonnte Weise in dieses gefühlsbetonte Gebiet hinein und daraus wieder heraus, insbesondere im zweiten Teil, wo das Weibliche in seiner Diskussion der jüdischen Mystik im Vordergrund steht.
Da ich Erich Neumanns bedeutenden Beitrag zur Analytischen Psychologie sehr schätze, konzentrierte ich mich um 2006 auf die Veröffentlichungvon The Correspondence of C. G. Jung and Erich Neumann3,die schließlich 2015 zustande kam. Im selben Jahr gründete ich zusammenmit Erel Shalit ein Unternehmen namens Recollections,das es sich zum Ziel machte, die unveröffentlichten Schriften Jung’scher Analytiker der ersten Generation auf Englisch und in anderen
1 Nancy Furlotti, Eternal Echoes:Erich Neumann’sTimeless Relevance to Consciousness, Creativity, and Evil (2023), S. 8–23.
2 Hiernach: Wurzeln.
3 Der von Martin Liebscher herausgegebene Briefwechsel erschien 2015 auf Englisch und Deutsch. Zuerst erschien er auf Englisch: Analytical Psychology in Exile:The Correspondence of C. G. Jung and Erich Neumann (hiernach: J-N Letters), anschließend auf Deutsch: C. G. Jung und Erich Neumann:Die Briefe 1933–59. Analytische Psychologie im Exil (hiernach: Briefe J-N).
Sprachen herauszugeben. Wir konzentrierten uns zunächst auf die unveröffentlichten Texte Erich Neumanns, um das Interesse an den Schriften dieses brillanten Mannes wiederzubeleben. Unsererstes Projekt war Jacob and Esau. Das Werk wurde 2015 veröffentlicht. Herausgegeben wurde es von Erel Shalit und ins Englische übersetzt von Mark Kyburz.4 Unser zweites Projekt war das vorliegende Manuskript, das seit 2019 in englischerSprache in zwei Bänden unter dem Titel The Roots of Jewish Consciousness vorliegt. Herausgegeben wurde es von der Jungianerin Ann Conrad Lammers und ins Englische übertragen von Mark Kyburz und Ann Lammers.5 Als Chefredakteur von Recollections beaufsichtigteErel Shalit das Projekt und steuerte seine wertvolleLeitungsowie seine Kenntnisdes alten und zeitgenössischenHebräisch, der komplexen Etymologie der Wörter und der ihnen zugrunde liegendenSymbolik, seine Kenntnisder heiligen jüdischen Texte, der allgemeinen Mythologie, der Folklore, der Philosophie und insbesondere seine ureigene Weisheit dazu bei. Wie Erich Neumannstarb auch er zu früh. Dank der kompetenten Übersetzung und redaktionellen Arbeit von Tamar Kron und David Wielerwurde Wurzeln inzwischen auf Hebräisch veröffentlicht. Mit der vorliegenden Ausgabe ist es nun auch auf Deutsch und somit in der Sprache des Originalmanuskripts verfügbar.
Erel Shalit und ich sind Neumanns Kindern, Professor Micha Neumann und Rali Neumann-Loewenthal, für ihrekontinuierliche Unterstützung und Ermutigung bei diesen Veröffentlichungen zu großem Dank verpflichtet. Ein besonderer Dank geht an das engagierteTeam, das diese Projekte zur Veröffentlichung gebracht hat. Für diese neueHerausgabe möchte ich besonders der Chaja Stiftung für ihr Interesse am vorliegenden Werk danken. Sie erkannte dessen Bedeutung und den Wert einer Veröffentlichung in deutscher Sprache. Außerdem danke ich Christian Barth vom Schwabe Verlag dafür, dass er sie ermöglicht hat.
Erich Neumann begann mit der Arbeit am Wurzeln-Manuskript, nachdem er 1933 aus Berlin emigriert war und für acht Monate in Zürich Halt machte, um bei C. G. Jung eineAnalyse zu machen. Noch in Zürich begann er mit der Planung des Manuskripts. Er schickte seine Familie nach Palästina voraus und blieb zunächst zurück, um ihr dann später nachzureisenund sich in seiner neuen Heimat niederzulassen,woerwährend des gesamten Zweiten Weltkriegs weiter an den Wurzeln arbeitete. Es war keine leichte Aufgabe, das Geburtsland, Familie und Freunde zu verlassen und gleichzeitig den Schatten des Bösen zu erkennen, der sich spürbar ins kollektive Lebeneinmischte und in die Realität des Alltagslebens eindrang. Außerdem war das Leben in Palästina/Israel prekär. Krieg und Tod umgaben ihn von überall. Rommel rückte von Südenher immer näher. Eine
4 Erich Neumann, Jacob and Esau:Onthe Collective Symbolism of the Brother Motif (2015) (hiernach: Jacob &Esau).
5 Erich Neumann, The Roots of Jewish Consciousness (2019)(hiernach: Roots I, Roots II).
Abb. 1: Erich Neumann auf seinem Balkon in Tel Aviv mit Blick auf das Mittelmeer, unbekannter Fotograf. Mit freundlicher Genehmigung der Erich Neumann Estate.
solch chaotische, zerstörerische Realität stellt uns vor die Frage, wie wir dem Sinnlosen einen Sinn verleihen können.
Für Neumann war die Übersiedlung nach Palästina von Deutschland aus, wo er und viele andere Juden den jüdischen Glauben nicht praktiziert hatten, eine Rückkehr zu seinen Wurzeln, zu seiner Identität als Jude, mit dem Wunsch, seine Verbundenheit mit dem Boden seines neuen Landes und all jenem herzustellen, was es für ihn bedeutete – dem Grund seines wahren Seins. In das Studium des Judentums einzutauchen war eine Möglichkeit, dies zu tun. Er gewann sich selbst zurück. Neumann konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die Beziehung der Menschheit zu Gott, zur Offenbarung, zum Bewusstsein sowie zur Natur von Gut und Böse. Er tat dies auf eine Weise, die für ihn als Juden und Jung’schen Analytiker Sinn machte;ererforschte die Entwicklungder jüdischen Religion von den frühen heiligen Texten über den Chassidismus und die jüdische Mystik und wendete schließlich die Sichtweise eines psychologischen Verstehens an, um der wechselseitigen Abhängigkeit von Mensch und Gott und der Erfahrung einer inneren Wirklichkeit neue Bedeutung zu verleihen.
Der Abstieg in die Introversion im Alter von 28 Jahren war für Neumann eine nicht unähnliche Reaktion wie die von C. G. Jung vor dem Ersten Weltkrieg. Wie gehen kreative,brillante, introvertierte Menschen mit dem Ansturm des Grauens um?Eine Möglichkeit besteht darin, sich auf eine innere Reise zu begeben, auf der sie versuchen, einen Sinn darin zu sehen und zu verstehen, warum Gott dies zulässt. Jeder wurde von einer anderen Stimme des Gewissens geleitet und drückte seinenAbstieg auf andere Weise aus, beide kamen jedoch zu einem mystischen Verständnis der Beziehung zwischenMensch und Gott:Jung durch das Christentum,die östlichen Religionen, den Gnostizismus und die Alchemie, Neumann hingegendurch das Judentum, den Chassidismus und die Kabbala –und beide aus der Perspektive der Jung’schen Theorie. Gegen Ende von Jungs Lebenwiesen seine Träume auf das Wissenund die Erfahrung der jüdischen Mystik hin. Beide Männer, ein Christ und ein Jude, fanden ihren Weg zu einem tiefen Verständnis des Wesens der Psyche und zur Beziehung und Verantwortung des Menschen gegenüberdem Wesen dessen, was wir von Gott als dem Urbild von Sinn und Ganzheit zu verstehen vermögen. In Neumanns Schrift „Der mystische Mensch“ von 1948 fasst er sein Verständnis mit den folgendenWorten zusammen:
begegnen sich jetzt Mensch und Gottheit im Offenen. Der Einheitsaspekt, von dem aus die Welt sich um die geeinte Persönlichkeit rundet … Das Unerklärbare, daß die Mitte des Menschen als ein unbekannt Schöpferisches in ihm lebt und in immer neuen Gestalten und Wandlungen ihn formt, dies Geheimnis, das ihn sein Leben hindurch begleitet, begleitet ihn auch in den Tod und über ihn hinaus. So schließt sich der Kreis, und der Mensch endet, wie er begonnen hat, als ein homo mysticus.6
Die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins war das Ergebnis von Neumanns Abstieg. ObwohlNeumanninseiner Korrespondenz mit C. G. Jung auf dieses zweiteilige Manuskript,das auf einen möglichen dritten Teil ausgelegt war, Bezug nahm, legte er es nach dem Krieg beiseite, ohne die Absicht, es zu veröffentlichen. 1949 veröffentlichte er jedoch Tiefenpsychologie und Neue Ethik. Ein Großteil des Materials in diesem Buch stammt aus seinerArbeit am Wurzeln-Manuskript. In Wurzeln lässt sich leicht die Entwicklung seiner Gedankenerkennen, die zu seiner Ausarbeitung der neuen Ethik führten, in der gezeigt wird, dass die Menschen für ihren eigenen unbewussten Schatten und die Ausdrucksformen des Bösen verantwortlich sind, statt „andere“ zum Sündenbockzumachen oder auf sie zu projizieren. Diese neueEthik erfordert einen Übergang von einer kollektiven Moral, oder der alten Ethik, zu einer neuen Haltung der individuellen Verantwortung für das eigene Handeln.Dieser Wandel betrifft nicht nur den Einzelnen, sondern auch die gesamte Menschheit. Die Bewusstmachungdieses
6 Erich Neumann, „Der mystische Mensch“ , Eranos-Jahrbuch 1948, S. 374. Das ursprünglich im Rhein Verlag erschienene Eranos-Jahrbuch wird im Folgenden als EJ zitiert.
Prozesses wirkt sich letztlich auch auf die Beziehung zwischen den Menschen und Gott selbst aus, wie dies in Neumanns Diskussion über die jüdische Mystik beschrieben wird.
Neumanns Neue Ethik wurde jedoch von den Jungianern in Zürich nicht freundlich aufgenommen. Man war der Meinung, dass sie über Jung hinausgehe, zu intellektuell sei, neue Konzepte und eine neue Terminologie einführe und dass sie einegefährliche neue Idee darstelle, die versuche, die kulturelle Stabilität zu zerstören. Zweifellos gab es noch zahlreiche andere Gründe, wie z. B. eine persönliche Abneigung gegen Neumann, vielleicht aus Eifersuchtwegen seiner besonders engen Beziehung zu Jung. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, die Erfahrung war für Neumannnicht sehr angenehm und er zog sich aus der Zürcher Gruppe zurück. Sein bekanntestes Buch, Ursprungsgeschichte des Bewusstseins,erschien im selben Jahr und wurde positiveraufgenommen. Dieses Buch behandelte Themen, die weniger bedrohlich und universaler waren. Angesichts dieser Realität des Schattens im Hintergrund der Jung’schen Gemeinschaft ist es kein Wunder,dass er sich gegen die Veröffentlichung von Wurzeln entschied. Da es sich um ein jüdischesManuskript handelte, wäre es möglicherweise nicht besonders willkommen und ziemlich angreifbar gewesen. Bei dieser Entscheidung spielten zweifellos auch andere Faktoren eine Rolle. Neumann fühlte sich nicht als gelehrter Judaist und er stützte sich weitgehend auf Martin Buber. Auch Jung beschloss, sein Rotes Buch7 nicht zu veröffentlichen, weil er befürchtete, es könne als die Tirade eines Verrückten angesehen werden. Doch für beide Männer dienten diese wertvollen Werke als prima materia ihrer künftigenErkenntnisse über das Wesen der Psyche.
Auffallend ist die Einführung neuer Jung’scher Konzepte, die aus Neumanns Verständnis der Psyche hervorgingen, wie dies in Wurzeln dargelegt ist. Neumann war z. B. der erste, der den Begriff der „Ich-Selbst-Achse“ beschrieb und verwendete. Außerdem ging seine in Tiefenpsychologie und Neue Ethik dargestellte Arbeit über das Wesen von Gut und Böse und die Beziehung des Menschen zu Gott Jungs Antwort auf Hiob voraus, die mit ähnlichen Themen ringt. Neumanns Arbeit über das Weibliche und die Seele war richtungsweisend. Später veröffentlichte er Die große Mutter und Amor und Psyche,indenen er den Archetyp des Weiblichen untersuchte;außerdem wurde nach seinem Tod eine einzigartig umsichtige Zusammenstellung seiner Vorträge veröffentlicht, darunter auch „Die Angst vor dem Weiblichen“8.Seine Beschäftigung mit Kreativität, Kunst und Mythologie ist äußerst umfangreich. Sein letztes Buch, Das Kind9 , sollte der Ursprungsgeschichte als Abschnitt über Kinderpsychologie hinzugefügt
7 C. G. Jung, Das Rote Buch – Liber Novus (2009).
8 Neumanns Essay „Die Angst vor dem Weiblichen“ wurde ursprünglich herausgegeben in Die Angst, Studien aus dem C. G. Jung-Institut, Bd. 10 (1959), S. 67–112.
9 Erich Neumann, Das Kind. Struktur und Dynamik der werdenden Persönlichkeit (1963).
werden. Leider war es in Teilen unvollendet, als er 1960 starb;seine Frau Julia hat es jedoch fertiggestellt und als eigenständiges Buch veröffentlicht. Es bleibt ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung des Kindes.
Andere Konzepte,die in seinem Denken auftauchten, sind erst in jüngster Zeit aktuell geworden, wie etwa das Leben im Augenblick oder das, was man gemeinhin als Achtsamkeit bezeichnet. Neumann nimmt die Verschiebung hin zu einer Konzeptualisierung der Idee des Transindividuellen vorweg, wenn er feststellt:
Während früher, und auch noch in der Kabbala, die Ehe als Verbindung zweier Geschlechtspole zu einem hermaphroditischen, aber aus zwei Personen bestehenden Überindividuum gedacht war, kommt es im Einungsweg der Seelenteile zu einer Introjektion dieses Prozesses innerhalb eines Individuums. Hier verbindet sich, nach dem Vorbild des Adam Kadmon,Männliches und Weibliches in einem Individuum zu einer Ganzheit …. (Wurzeln,Teil 2, Kap. 3, S. 374)
Dies sollteein wichtiges Thema im dritten Teil von Wurzeln sein, der bedauerlicherweise nie vollendet wurde.
Es ist leicht zu verstehen, warum Neumannals Jungs brillantester Schüler und enger Freund bezeichnet wurde. Er blieb immer er selbst, stand auf seinem eigenen Seinsgrund, forderte Denken und Theorie mit neuer Erfahrung heraus und ebnete neue Wege für uns alle, die wir danach streben, die Realität, die Seele und den Geist unseres eigenen psychischen Urgrunds zu verstehen – um dem Sinn zu geben, was für uns wahr ist.
Nancy Swift Furlotti, 2023