Nietzsches Kulturkritik

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B EITRÄGE

ZU

F RIEDRICH N IETZSCHE

Carlo Gentili

Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie

S CHWABE





Beiträge

zu

Friedrich Nietzsche

Quellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches

herausgegeben von David Marc Hoffmann und Dani Berner

Band 13

S chwabe Verlag B asel


Beiträge

zu

Friedrich Nietzsche

Carlo Gentili

Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie Aus dem Italienischen von Leonie SchrĂśder

S chwabe Verlag B asel


Die italienische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Nietzsche bei der Società editrice Il Mulino in Bologna.

© 2001 Società editrice Il Mulino, Bologna Für die deutsche Ausgabe: © 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des vorliegenden Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Dani Berner, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2436-3 www.schwabe.ch


«Die Wahrheit steht hier ganz auf dem Kopf, was für die Wahrheit besonders unschicklich ist.» Friedrich Nietzsche



I nhaltsverzeichnis I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs: von den Lehrjahren zur Kritik an den «Bildungsanstalten» 1. 2. 3.

4. 5. 6. 7. 8.

Philologie und Philosophie Schulpforta Neue Aufgaben der Philologie und Philosophie: der Begriff der historischen Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher Kritik am Universitätswesen Die Idee einer «Ästhetische[n] Erziehung» «Erste» und «zweite» Natur Germanische und griechische Welt «Fatum und Geschichte»

II. Der Satyrgesang gegen den Bildungsphilister: Zivilisations- und Kulturkritik von der Geburt der Tragödie bis zu den Unzeitgemässen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Philosophische Ambitionen Auf dem Weg zu Dionysos Der Satyr Geburt und Tod der Tragödienform Philosophie und Kritik: zur «Unzeitgemäßheit» des Genius Gegen David Friedrich Strauss: für eine Kritik an der «Bildungsphilisterei» «Stil» und «großer Stil» – ein Exkurs Die «historische Krankheit» Formen des Mahnrufs an die Deutschen: die dritte und vierte Unzeitgemässe Der Philosoph im Spiegel der Vorsokratiker: ein Abschied von den Griechen?

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41 41 44 54 56 73 77 82 88 102 117


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Inhaltsverzeichnis

III. Nietzsche als «Aufklärer»: die Funktion der Wissenschaft und die Moralkritik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

ruch oder Kontinuität? Kritische Anthropologie, B historische Genealogie, Ideologiekritik Ein kontinuierliches Interesse an der Philosophie Ueber Wahrheit und Lüge: sprachliche Voraussetzungen der Zerstörung der Moral Nietzsches Auseinandersetzung mit der historischen Aufklärung Figuren der Befreiung: der «freie Geist», der «Wanderer» und der «Schatten» « P h i l o s o p h i e d e s V o r m i t t a g e s » und neue Wissenschaft Zerstörung und Schaffung von Werten Die fröhliche Wissenschaft: neue Fahrt aufs offene Meer

IV. Die Mythologisierung der Theologie: Nietzsche wider das Christentum 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

ott als Prämisse: die Paradoxa G von Monotheismus und Schöpfung Der Mensch als Prämisse Gottes «Gott ist todt!» Christentum, Metaphysik, Nihilismus Das fünfte «Evangelium» «Seht, ich lehre euch den Übermenschen!» Der Ring der Wiederkunft Ewige Wiederkunft und Zeitenende Die ästhetische Rechtfertigung der Welt Jesus gegen Paulus

V. Höhepunkt und Rekapitulation: der Wille zur Macht 1. 2. 3. 4.

Selbstauslegung und «Hauptwerk» Was ist «Wille zur Macht»? Eine unvollkommene Systematik: Löwith, Baeumler, Jaspers Die «große Politik»

123 123 142 147 155 162 173 174 180 187 187 192 196 204 222 232 238 246 252 255 267 267 275 284 296

Verzeichnis der verwendeten Siglen

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Verzeichnis der zitierten Literatur

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Personenregister

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I. Nietzsche und die R eform des Bildungsbegriffs : von den L ehrjahren zur K ritik an den «Bildungsanstalten» 1. Philologie und Philosophie Die meisten Darstellungen von Nietzsches Denken beginnen mit seinem ersten Buch, Die Geburt der Tragödie, das im Januar 1872 im Verlag von Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig erschien, in dem auch Wagner publizierte. Dieses Werk, so die gängige Meinung, schaffe den Irrtum vom philologischen Selbstverständnis Nietzsches aus der Welt und gebe ihm jene poetische Inspiration zurück, die bereits seine Jugend gekennzeichnet habe. Gleichzeitig werte Nietzsche seine nicht allzu ausgeprägte dichterische Ader dadurch auf, dass er sie für die ästhetische Reflexion durchlässig mache. Von hier aus habe sich dem Autor schließlich der Weg zur Philosophie eröffnet, die augenscheinlich sein eigentliches Schicksal gewesen sei. Sein wahres, absolut «originelles» Gepräge erhalte das Werk zudem durch das Begriffspaar apollinisch/ dionysisch, das er auf bewundernswerte Weise herangezogen habe, um die überkommene Interpretation des Griechentums zu überwinden und eine Deutung desselben zu liefern, die jenseits von und gegen jegliche Klassizismen aller Zeit endlich für die Gegenwart nutzbar gemacht werden konnte. Aus diesen, hier zwangsläufig in aller Kürze zusammengefassten, Gründen wurde Die Geburt der Tragödie einhellig als philosophisches Erstlingswerk Nietzsches betrachtet, das sich aus seiner Loslösung von der Philologie ergab. Doch erweist sich dieses gleichermaßen durch die Forschungstradition wie durch editorische Initiativen überlieferte, weithin konsolidierte Bild heute wenn nicht als falsch, so doch zumindest als unvollständig und partiell. Hervorzuheben gilt es zunächst, dass Nietzsches Interesse an der Philologie nach der «philosophischen Wende» keineswegs erlosch. Vielmehr ging die Entwicklung seines Denkens von den vier Unzeitgemässen Betrachtungen bis hin zum Anti­ christ stets mit einer Reflexion über den Status und die Aufgaben der philologischen Forschung einher. Weiter ist anzumerken, dass Nietzsches Reflexion über Kunst in keiner ihrer Entwicklungsphasen auf


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

eine «Ästhetik» im Sinne einer Disziplin begrenzt werden kann, die Kunst und Kunstwerk zu ihrem ausschließlichen Gegenstand macht, wie schon sein größter Interpret, Martin Heidegger, klar erkannte und immer wieder betonte. Im Hinblick auf die dichterischen Versuche ist festzuhalten, dass diese nicht nur aus Nietzsches Jugendzeit stammen, sondern die Gedichtproduktion in der Spätphase – von den Idyllen aus Messina über die Gedichteinschübe in Die Fröhliche Wissenschaft und Also sprach Zarathustra bis hin zu den Dionysos-Dithyramben und den unveröffentlichten Gedichten – aus Nietzsche, wenigstens in quantitativer Hinsicht, den größten deutschsprachigen Dichter der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht. Schließlich darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Begriffspaar apollinisch/dionysisch durchaus keine absolute Neuheit in der deutschen Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Griechentums darstellte und schon Friedrich Schiller und Friedrich Schlegel den Maßstab für ihre Definition der Moderne geliefert hatte. Aufgrund dessen war die Philologie das Rückgrat der deutschen Kultur geworden, bevor der methodische Positivismus und Historismus sie zur Fachdisziplin erhob und in die exklusiven Räume der universitären Bildung verbannte. Die traditionelle Verortung der Geburt der Tragödie müsste zudem allein schon deshalb Zweifel aufkommen lassen, weil sie in der Tat mit der Ablehnung dieses Werkes seitens der akademischen Philologie im Einklang steht. In seinem ersten Verriss des Buches (der im Fahrwasser von dessen späterer Berühmtheit ebenfalls zu Ruhm gelangte) von 1872 wendet der damals blutjunge Philologe Ulrich von WilamowitzMöllendorff, dem eine glänzende Zukunft beschieden sein sollte, unter dem Titel ZUKUNFTSPHILOLOGIE! Nietzsches Polemik gegen eine zum bloßen «Schellengeklingel» (GT, «Vorwort an Richard Wagner», S. 24) herabgewürdigte Kunst am Ende boshaft gegen den Philosophen selbst: Wenn dieser sich lediglich mit «Schellengeklingel» habe unterhalten wollen, als er ein Werk der Ästhetik verfasste, in dem mehr von dichterischer Intuition als von der «historisch-kritische[n] methode» Gebrauch gemacht werde, die jegliche historische Erscheinung «allein aus den voraussetzungen der zeit, in der sie sich entwickelt»1, begreife, dann sei der orthodoxe Philologe gern bereit, den Kampf einzustellen. In einem Punkt aber könne er nicht nachgeben: «halte hr. N. wort, ergreife er den thyrsos, ziehe er von Indien nach Griechenland, aber steige er herab vom katheder, auf welchem er wissenschaft lehren soll»2. 1 2

Wilamowitz-Möllendorff, Ulrich von: ZUKUNFTSPHILOLOGIE!, S. 31 [8]. Ebd., S. 55 [32].


1. Philologie und Philosophie

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Sieht man Die Geburt der Tragödie ausschließlich aus der Perspektive der Loslösung von der Philologie, stimmt man damit de facto in die zitierte Rücktrittsforderung ein. Außerdem gerät das Buch durch eine solche Betrachtung zu einem in sich abgeschlossenen Gedankenwurf, der kaum noch auf spätere Werke (angefangen bei Menschliches, All­ zumenschliches) zu verweisen vermag, insofern die Zwischenstationen des Denkweges – die Basler Texte und Vorlesungsaufzeichnungen, die sechs Vorträge über die Bildungsanstalten, die vier Unzeitgemässen, die weitere Reflexion über die griechische Welt in der unveröffentlichten Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen – auf bloße Fragmente eines Scheiterns reduziert werden. Darüber hinaus kappt ein derartiger Ansatz die Kontinuitätslinie, die zum gedanklichen Hintergrund des Buches führt, wodurch dieses schließlich nur noch als exotische Frucht – Friedrich Ritschl, Nietzsches Philologielehrer an den Universitäten Bonn und Leipzig nennt die Geburt der Tragödie in einer Tagebuchaufzeichnung eine «geistreiche Schwiemelei» – einer philologischen Berufung erscheint, die sich, zu früh erfolgt, auf geheimnisvolle Weise gegen ihren eigenen Träger richtete. Will man eine andere Linie nachzeichnen, die Nietzsches Lehrjahre und jene Zeit zusammenzuhalten vermag, in der die Kritik an der Philologie und die Kulturkritik eine Verbindung eingingen, so muss man von einer der Formulierung nach geradezu banalen, den Antworten nach jedoch sehr komplexen Frage ausgehen, nämlich: Warum interessierte sich Nietzsche für Philologie? Oder, anders gewendet: Woher rührte das Interesse für die griechische Welt bei einem Sohn und Enkel protestantischer Pfarrer (mütterlicher- wie väterlicherseits)? Hinter dieser Frage steht eine andere von größerer Tragweite, und zwar: Welche Rolle spielte die Philologie in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in der deutschen Kultur? Das heißt: Aus welchem Grund erlag ein in der strengen Zucht des Gymnasiums Schulpforta erzogener Philologe verhängnisvollerweise der Faszination Richard Wagners? Diese Fragen lassen sich nur unter der Bedingung beantworten, dass man Nietzsches Schaffen von den Jugendjahren (deren dichterische und theoretische Versuche vom problematischen Bemühen zeugen, die griechische und die germanische Welt miteinander zu vereinbaren) bis zu jenem Zeitpunkt, als die beabsichtigte höchste Huldigung Wagners – die vierte Unzeitgemässe – Richard Wagner in Bayreuth – in Wirklichkeit den Bruch mit dem Meister ankündigt, als festgespannten, zusammenhängenden Bogen begreift. Kulturkritik und Kritik der Moderne sind die verbindenden Themen; im Mittelpunkt steht Die Geburt der Tragö­ die als Höhepunkt der theoretischen Ausarbeitung.


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

Die diesem Buch zugrunde liegende Neubestimmung des griechischen Vorbildes kann nicht von der Frage getrennt werden, welche Rolle dieses Vorbild im preußischen Bildungssystem spielte. Scheint die besagte Neubestimmung in der Geburt der Tragödie für sich zu stehen, quasi losgelöst von jedem Kontextbezug, so lässt die unmittelbar anschließende Ausarbeitung der Vortragsreihe, die später unter dem Titel Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten erschien, keinen Zweifel daran, dass Nietzsches allgemeine Zielsetzung eine radikale Kritik am Erziehungs- und Bildungskonzept war, auf dem das deutsche Schulsystem fußte. Es war der erste Keim eines Gedankenzusammenhangs, der sich später zu einem ausgereiften Programm der Kulturkritik entwickeln sollte. Dass die Themen Griechentum und Reform des Bildungsbegriffs für Nietzsche eng miteinander verknüpft waren, bezeugen mehrere Briefe, die er gleich nach Abschluss der Arbeit an der Geburt der Tra­ gödie schrieb. Um den 21. Dezember 1871 herum lässt er seinen Freund Erwin Rohde wissen: «Diese Weihnachten verlebe ich einsam in Basel und habe die Tribschener herzlichen Einladungen ausgeschlagen. Ich brauche Zeit und Einsamkeit, um über meine 6 Vorträge (Zukunft der Bildungsanstalten) einiges nachzudenken und mich zu sammeln.» (KSB 3, S. 255–258 [Nr. 177], hier S. 257). Wenig später, am 30. Januar 1872, teilt er seinem Lehrer Friedrich Ritschl mit (nicht ohne zunächst seinem Erstaunen darüber Ausdruck zu verleihen, kein Wort des Kommentars zur Geburt der Tragödie erhalten zu haben, die er jenem zugesandt hatte): «Denn die practische Consequenz meiner Ansichten werde i c h wenigstens nicht schuldig bleiben, und Sie errathen etwas davon, wenn ich Ihnen mittheile, dass ich hier [in Basel] öffentliche Vorträge ‹über die Zukunft unserer Bildungsanstalten› halte.» (KSB 3, S. 281f. [Nr. 194], hier S. 282). Nietzsche betrachtete seine Stellungnahme zum Bildungssystem somit als praktische Konsequenz der mit der Geburt der Tragödie geschaffenen theoretischen Voraussetzungen. Das kann kaum überraschen, denn in demselben Brief erklärt er, das Buch solle «hoffnungsvoll für unsere Alterthumswissenschaft» und «für das deutsche Wesen» sein; vor allem wolle er sich «der jüngeren Generation der Philologen […] bemächtigen», ja er hielte es für «ein schmähliches Zeichen» (ebd.), wenn ihm dies nicht gelänge. Doch in einem kurz zuvor, am 28. Januar, an Rohde geschickten Brief lässt sein Vorsatz einen noch ehrgeizigeren (gewissermaßen politischen) Interventionshorizont erkennen: – Ich kündige Dir, ganz verschwiegen und zur Verschwiegenheit auffordernd an, daß ich unter Anderem ein Promemoria über die Straßburger Universität, als Interpellation bei dem Reichsrath, zu Händen Bismark’s vorbereite: worin ich zeigen will, wie


2. Schulpforta

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schmählich man einen ungeheuren Moment versäumt hat, um eine wirkliche deutsche Bildungsanstalt, zur Regeneration des deutschen Geistes und zur Vernichtung der bisher. sog. «Cultur», zu gründen. – Kampf auf’s Messer! Oder auf Kanonen! (KSB 3, S. 278–280 [Nr. 192], hier S. 279f.).

Von diesem «Promemoria» gibt es keinerlei Spur, doch selbst wenn es bei der bloßen Absicht geblieben sein sollte, würde dies dennoch be­ legen, dass für den jungen Dozenten ein unauflöslicher Zusammenhang zwischen Kulturkritik und Kritik am Bildungswesen bestand. Nichts liegt also näher, als in diesen Betrachtungen eine bewusste Verarbeitung von Nietzsches eigener Erfahrung in Pforta zu sehen, die ihm die Dringlichkeit einer veränderten Rolle von Altertumswissenschaft und Philologie vor Augen geführt hatte. So formte der Zusammenhang von Bildungskritik und Kulturkritik nicht nur das Gerüst der sechs Vorträge über die Bildungsanstalten, sondern auch dasjenige der dritten Unzeitgemässen – Schopenhauer als Erzieher. 2. Schulpforta Was aber repräsentierte Pforta für Nietzsche? Auf persönlicher Ebene war es zumindest anfänglich das Trauma einer Trennung, obwohl die Schule nur eine knappe Wegstunde von Naumburg entfernt liegt, wohin der junge Nietzsche nach dem Tod seines Vaters, des Pastors Karl Ludwig, mit seiner Familie aus dem Geburtsort Röcken umgesiedelt war. Nietzsche wurde am 5. Oktober 1858 eingeschrieben. Aus dem gleich am 6. Oktober an seine Mutter Franziska geschickten Brief spricht die Bedrückung über die Trennung: «Bis jetzt befinde ich mich recht wohl, aber was ist an einem fremden Orte recht wohl?! […] Ueberhaupt werde ich mit der Zeit schon heimischer werden, aber lange wird’s sicher dauern. –» (KSB 1, S. 16f. [Nr. 21], hier S. 16). Von derselben Gemütsverfassung künden auch noch einige Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1859, in denen er sich entsprechend den Vorgaben seines Tutors, des Pastors Robert Buddensieg, Regeln aufzuerlegen versucht, um das Heimweh zu bezwingen. Die Waffen für diesen Kampf sind Studiendisziplin, der Gedanke an die Familienangehörigen und – was nicht überraschen sollte, auch wenn man an den künftigen erbitterten Feind des Christentums denkt – die Religion.3 Doch schon im Mai 1861, im dritten 3

«Wider das Heimweh. (n a c h P r o f . B u d d e n s i e g ) / 1) Wenn wir etwas tüchtiges lernen, wollen, können wir nicht immer zu Hause bleiben. / 2) Das wollen die lieben Eltern nicht; wir fügen uns deßhalb in den Willen der Eltern. / 3) Unsre lieben


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

Entwurf der autobiographischen Schrift «Mein Lebenslauf», scheint das Heimweh durch das Bewusstsein dessen überwunden zu sein, was Pforta als Tor zur Bildungsschicht für sein Leben bedeuten sollte: Schon früher hatte ich immer eine Zuneigung für Pforte gehegt, theils weil mich der gute Ruf der Anstalt und die berühmten Namen dort gewesener und dort seiender Männer anzogen, theils weil ich ihre schöne Lage und Umgebung bewunderte. Ich entschied mich schnell für die Annahme der Stelle und habe es nie bereut. Wenn auch die Trennung von Mutter, Schwester und lieben Freunden mir zuerst schwer fiel, so schwand dieses Gefühl doch sehr bald, und ich fühlte mich bald hier wieder zufrieden und wohl. Ich verkenne nicht, wie wohlthätig Pforte auf mich einwirkt, und ich kann nur wünschen, daß ich mich schon hier und noch mehr in spät’ren Zeiten immer als ein würdiger Sohn der Pforte erweise. – (10 [10], KGW I/2, S. 263).

Zu den «berühmten Namen dort gewesener […] Männer» zählten etwa Friedrich Gottlieb Klopstock, Johann Elias Schlegel, Johann Gottlieb Fichte und Leopold von Ranke. Unter Nietzsches Lehrern in Pforta befanden sich Persönlichkeiten von allererstem Rang wie die Philologen Karl Steinhart, Karl Keil, Wilhelm Corssen und der Germanist Karl August Koberstein; zu seinen Tutoren gehörten neben Buddensieg der Philologe Max Heinze und der Pastor Hermann Kleitsche. Rektor war in den Jahren, in denen Nietzsche die Schule besuchte, der Philologe und Historiker Karl Peter. Die wichtigsten Freundschaften, die er in Pforta schloss, waren fraglos jene zu Paul Deussen und Carl von Gersdorff, die ihn sein ganzes Leben lang begleiteten und die wie er eine herausragende Rolle in der deutschen Kultur spielen sollten. Wie sich unschwer erahnen lässt, war Schulpforta eine Institution, die der Heranbildung der preußischen Führungsklasse diente. In ihren Lehrplänen verband sie das Studium des Altertums mit dem Geist und der Praxis der lutherischen Religion. Ihr sinnbildlicher Name – die Pforte! – verweist auf den Zugang zur Karriere der hohen Staatsbeamten, denen es nicht an einer soliden humanistischen Bildung fehlen durfte. Pforta war, wie es Curt Paul Janz ausgedrückt hat, ein wahrer «Staat im Staate»4. Nach den Worten der 1843 vom damaligen Rektor Kirchner verfassten Festschrift war das «Eigentümliche der Pforta […], daß sie einen in sich geschlossenen Schulstaat bildet, worin das Leben der einzelnen in allen seinen Beziehungen völlig aufgeht»:

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sind in Gottes Hand; wir sind immer von ihren Gedanken begleitet. / 4) Wenn wir tüchtig arbeiten, so vergehen traurige Gedanken. / 5) Hilft das alles nicht, so bete zu Gott den Herrn.» (6 [77], KGW I/2, S. 98). Janz, Curt Paul: Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, S. 65. Zur Bedeutung von Janz’ Biographie für das Studium von Nietzsches Person und Denken vgl. Montinari, Mazzino: Nietzsche, S. 123–129.


3. Neue Aufgaben der Philologie und Philosophie

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Daher nehmen in der Regel alle Pförtner aus der Anstalt für das ganze Leben das bestimmte Gepräge einer gewissen kernhaften Tüchtigkeit mit, welches […] wie ganz von selbst mit innerer Notwendigkeit aus dem männlichen, strengen und kräftigen Geist der Disziplin, aus dem frischen Zusammenleben des Coetus zu einem bestimmten würdigen Zweck, aus dem von aller Berührung mit städtischen Zerstreuungen geschiedenen Ernst der klassischen und diesen verwandten Studien und aus der Methode dieser Studien selbst hervorgeht: […] Daß ihre Zöglinge ganze Menschen werden, daß sie an Gehorsam gegen das Gesetz und den Willen der Vorgesetzten, an Strenge und pünktliche Pflichterfüllung, an Selbstbeherrschung, an ernstes Arbeiten, an frische Selbsttätigkeit aus eigener Wahl […] gewöhnt werden, dies sind Früchte der hiesigen […] Erziehung.5

Die genannten Aufgaben waren gleichsam in den historischen Ursprung Pfortas und sozusagen in seine Mauern selbst eingelassen. Die Schule war nämlich 1543 aus einem Zisterzienserkloster hervorgegangen, und ihre Räume waren nach wie vor die Säle und Kreuzgänge des ehemaligen Klosters, in denen jetzt Erziehung und Freizeitaktivitäten der Schüler stattfanden. Wie Janz feststellt, wies Pforta letztlich eine gewisse Ähnlichkeit mit den preußischen Kadettenanstalten auf, «nur daß hier nicht Offiziere für das Heer, sondern Offiziere für die geistige Führung des Volkes ausgebildet werden sollten». Das höchste Ideal, auf das die Schüler getrimmt wurden, war die deutsche Einheit, und deshalb verband sich das Studium der klassischen Antike mit dem der deutschen Sprache und Literatur. Diese Synthese war getragen vom «Geist des Humanismus, wie ihn die deutschen Klassiker ausgebildet und die Philologie des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt hatte». Abgesondert von der Wirklichkeit der eigenen Zeit, ging die auserwählte Jugend, die dort unterrichtet wurde, «auf in der Welt von Hellas und Rom und in der Welt Goethes und Schillers»6. Kurzum, Pforta war die perfekte institutionelle Synthese der Ideale des Bildungsbürgertums. 3. Neue Aufgaben der Philologie und Philosophie: der Begriff der historischen Individualität bei Wilhelm von Humboldt und Schleiermacher Die Philologie bildete den zentralen Bezugspunkt jenes Bildungsprogramms. Erkenntnisinstrument für das Ideal der Antike, fungierte sie auf dessen Basis zugleich als Werkzeug für eine Neubestimmung der Aufgaben der Gegenwart. Dies entsprach nicht einfach dem Grund5 6

Zitiert bei Janz: Friedrich Nietzsche, Bd. 1, S. 65f. Ebd., S. 66f.


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

prinzip jeglichen Humanismus’, der dem Vorbild der Antike einen normativen Wert für die Gegenwart zuerkennt und die Philologie folglich als unverzichtbares Mittel ansieht, um über die Entzifferung obsolet gewordener Texte einen vermeintlich allzeit gültigen Wissensschatz erneut verfügbar zu machen. Die der Philologie jetzt zugedachte Aufgabe ergab sich vielmehr aus der neuen Geschichtsauffassung, die aus der theoretischen Verarbeitung der Erfahrung der Französischen Revolution hervorgegangen war. In den deutschen Staaten erlangte diese Verarbeitung nach dem Scheitern der Französischen Revolution und im Zusammenhang mit der napoleonischen Expansion wachsendes Gewicht und verband sich mit der Frage der Definition einer nationalen Identität. Das traditionelle Programm der humanistischen Philologie veränderte sich demnach vor allen Dingen, weil es jetzt einer neuen Geschichtsidee unterstand. Nicht länger reines Erkenntniswerkzeug, gewann «die klassische Philologie […] also nunmehr selbst den Status einer historischen Wissenschaft»7 und bildete die erste Stufe einer Entwicklung, die schließlich zur Begründung einer Altertumswissenschaft und einer allgemeinen Geschichtswissenschaft führte. Exemplarisch für diese veränderte Rolle der Philologie ist das pädagogisch-humanistische Ideal Wilhelm von Humboldts. Obwohl dieser die mit der Revolution erfolgte Behauptung eines universellen Freiheitsprinzips begrüßte, sah er ihre Schwäche und den Grund für ihr Scheitern im Vorherrschen abstrakter Prinzipien auf Kosten der historischen Individualität, deren Bestimmung den Mittelpunkt seines vom griechischen Vorbild inspirierten pädagogischen Ideals bildet. In seiner Schrift Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbe­ sondre (1793) erkennt Humboldt jeder Nation die Fähigkeit zu, einen individuellen Charakter auszubilden, doch geschehe dies in besonders eindrücklicher Weise, wenn die Einheit von Geist und Charakter sich sehr vielfältigen, reichen Formen aufpräge. Das sei das Charakteristikum der Griechen, und genau daran müsse sich die Moderne, der so etwas fehle, ein Vorbild nehmen. Die Griechen, so Humboldt in einer späteren Schrift, seien «uns nicht bloss ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal»; sie seien für uns, «was ihre Götter für sie waren; Fleisch von unserm Fleisch und Bein von unserm Bein». Ihre Vorzüge steckten in ihrer Unerreichbarkeit. Daraus beziehe unsere Nachahmung ihrer Werke einen Sinn und erlaube uns in unserer dumpfen, engherzigen Lage, zu ihrer Freiheit und Schönheit zurückzufinden. 7

Muhlack, Ulrich: «Zum Verhältnis von Klassischer Philologie und Geschichts­ wissenschaft im 19. Jahrhundert», S. 230.


3. Neue Aufgaben der Philologie und Philosophie

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Vor allen Dingen bestehe der charakteristische Vorzug der Griechen aber in der «Aufgabe, als Nation das höchste Leben darzustellen»8, das für Humboldt die menschliche Existenz selbst ist. Die griechische «Nation» repräsentiere lediglich die kohärente Entfaltung der schon im Individuum gegebenen Prämissen: Nichts komme in diesem vor, was nicht auch in jener zu finden wäre. Doch gerade die Einheit von Stil und Charakter sei in der Moderne verlorengegangen, so dass diese geradezu als «das Gegenbild» des Griechentums definiert werden könne. Der unsere Existenzbedingung kennzeichnende «Zwiespalt» herrsche nicht allein zwischen unterschiedlichen Nationen oder Individuen, sondern äußere sich sogar «in der eigenen Brust, im Anschauen, Empfinden und Hervorbringen»9. Will man die Aufgabe der Philologie definieren, so muss man sich nach Humboldt daher den Unterschied zwischen der Moderne und dem griechischen Vorbild vergegenwärtigen. Die Philologie hat sich das Griechentum zum Vorbild zu nehmen und sich folglich weiterhin mit dem humanistischen Philologieideal zu identifizieren, das die Tradition zwar als «historische Methode» bezeichnete, mit ihm jedoch keinerlei historischen Zweck verband, diesem Ideal jetzt aber einen spezifisch historischen Sinn zu verleihen. Hatte die Philologie mit anderen Worten bis dahin nur die Aufbereitung der Texte unter textkritischen und kommentierenden Gesichtspunkten als ihre Aufgabe betrachtet, während man bei der Analyse dieser Texte von jeder historischen Betrachtung absah, so muss Humboldt zufolge die Textanalyse künftig auch historischen Kategorien unterworfen sein: «ja, sie bildet für ihn geradezu den Hauptzweck der historischen Interpretation, dem die Aufbereitung der Texte selbst durchaus untergeordnet ist.»10 So erlangte die klassische Philologie im Rahmen der historischen Disziplinen eine derart herausragende Bedeutung, dass sie nur kurze Zeit später die Grundlage der von Friedrich August Wolf begründeten «Alterthums-Wissenschaft» bilden sollte.11 Die Merkmale der Individualität und der Einheit, die Humboldt dank der Philologie dem griechischen Vorbild entnahm, fanden ihre konkrete Anwendung bei der Gründung und im Programm der Berliner Universität, die wesentlich von Humboldt inspiriert waren. Dies entsprach der dringenden Notwen8 9 10 11

Humboldt, Wilhelm von: Ueber den Charakter der Griechen, S. 66f. Ebd., S. 70. Muhlack: a.a.O., S. 233. Von Friedrich August Wolf vgl. insbesondere: «Darstellung der Alterthums-­ Wissenschaft». Zu Wolf und seiner Beeinflussung durch Wilhelm von Humboldt vgl. Vercellone, Federico: Identità dell’antico, S. 91–117.


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

digkeit, der Konstruktion einer politischen und kulturellen Identität der Deutschen auch eine institutionelle Form zu verleihen. Zu einem Zeitpunkt, als «ein Theil Deutschlands vom Kriege verheert, ein anderer in fremder Sprache von fremden Gebietern beherrscht wird», komme der Errichtung einer neuen Universität in Berlin, so Humboldt, eine entscheidende historische Bedeutung zu. Die neue Universität werde «der deutschen Wissenschaft eine vielleicht kaum jetzt noch gehoffte Freistatt eröffnen»12. Aus zweierlei Gründen sei Berlin der ideale Ort für die Verwirklichung dieses Ziels. Zum einen sei die Stadt aufgrund ihrer geographischen Lage im Vergleich zu Königsberg oder Frankfurt eher imstande, ihren Einfluss über die eigenen Grenzen hinaus geltend zu machen;13 zum anderen – und dies war die Hauptsache – gebe es in Berlin bereits zwei Akademien, eine große Bibliothek, eine Sternwarte, einen botanischen Garten, zahlreiche Sammlungen und eine medizinische Fakultät. Es sei offenkundig, «dass jede Trennung von Fakultäten der ächt wissenschaftlichen Bildung verderblich ist», dass die Sammlungen und erwähnten Einrichtungen «nur erst dann recht nützlich werden, wenn vollständiger wissenschaftlicher Unterricht mit ihnen verbunden wird, und dass endlich, um zu diesen Bruchstücken dasjenige hinzuzusetzen, was zu einer allgemeinen Anstalt gehört, nur um einen einzigen Schritt weiter zu gehen nöthig war»14. Dieser Zusatz entspricht dem Universitätsgedanken selbst, der «von richtigen Ansichten allgemeiner Bildung ausgehend, weder Fächer ausschliessen, noch von einem höhern Standpunkt, da die Universitäten schon den höchsten umfassen»15 beginnen könne. Innerhalb dieses institutionellen Rahmens dient die Philologie für Humboldt einem zweifachen Ziel: Vom Modell der Antike übernimmt sie einen Bildungsgedanken als Konstruktion der Individualität; zugleich führt sie das für die Moderne kennzeichnende zersplitterte Universum der Disziplinen zu seiner ursprünglichen Einheit zurück. Vor allem in diesem letztgenannten Sinne ist die Philologie also in erster Linie Wissenschaft des Wortes und spielt als solche eine herausragende Rolle bei der Gedankenbildung, was sie zur Grundlage der Philosophie macht. Letzterer wird jedoch die Aufgabe zuerkannt, das Wissen als universale Instanz und regulierendes Prinzip zu setzen. 12 Humboldt, Wilhelm von: Antrag auf Errichtung der Universität Berlin, S. 114. Es ­handelt sich um die zweite, erweiterte Fassung einer früheren, dem König von Preußen am 12. Mai 1809 übermittelten Schrift; vgl. ebd., S. 29–37. 13 So im Antrag vom 12. Mai 1809; vgl. ebd., S. 30. 14 Ebd., S. 114f. 15 Ebd., S. 116.


3. Neue Aufgaben der Philologie und Philosophie

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Diese Gedanken finden sich beim anderen großen Inspirator des Berliner Projektes, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. In dessen Gele­ gentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn unterscheidet dieser klar zwischen dem Wesen und den Aufgaben der drei institutio­ nellen Ebenen, die mit Bildung und Wissensvermittlung betraut sind: die «Schule als das Zusammensein der Meister mit den Lehrburschen, die Universität mit den Gesellen, und die Akademie als Versammlung der Meister unter sich»16. Nach Schleiermacher hat der Besucher höherer Bildungsanstalten zwei Grundvoraussetzungen mitzubringen: «auf der einen Seite ein bestimmtes Talent, welches ihn an ein einzelnes Feld der Erkenntnis fesselt, auf der andern de[n] allgemeine[n] Sinn für die Einheit und den durchgängigen Zusammenhang alles Wissens», und dies ist «der systematisch philosophische Geist»17. Die Aufgabe der Schule besteht für Schleiermacher in der Verbindung von Intuition und Methode. Während der Gegenstand der Ersteren «die wissenschaftliche Form der Einheit und des Zusammenhanges» ist, hat Letztere dafür zu sorgen, «alle geistigen Kräfte» zugleich voneinander zu scheiden, damit «ihre verschiedenen Funktionen klar eingesehen werden»18 können. Im Verhältnis zur Schule erneuert die Akademie, jedoch auf höherer Ebene, das Verhältnis zwischen Einheit und Teilung des Wissens: In der Akademie, so Schleiermacher, «finden sich die Meister der Wissenschaft vereinigt», und daher muss sie die Einheit als Tatsache voraussetzen, jedoch in dem Bewusstsein, dass das Wissen ein aus Teilen bestehendes Ganzes ist und sich das akademische Studium deshalb in Abteilungen untergliedern muss: eine sich vervielfältigende «Verzweigung», die dennoch der «Einheit des Ganzen» nicht schadet und welche die Vorbedingung darstellt, damit das Wissen nicht «in eine leere Form» entartet. Wie Humboldt richtet auch Schleiermacher sein Augenmerk auf die Erziehung des Individuums als Lern- und Bildungsziel. Dank der inneren Gliederung des akademischen Studiums in die komplementären Ebenen des Allgemeinen und Besonderen vermag jedes Individuum «die Teilnahme an den Fortschritten des Ganzen und de[n] Eifer für sein besonderes Fach»19 miteinander zu verknüpfen. Wenn die Schule also darum bemüht ist, das organische Ganze des Wissens als Resultat tatsächlicher Kenntnisse entstehen zu lassen und im fortschreitenden Anwachsen der Letzteren ihr Hauptziel sieht, so setzt die Akademie 16 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, S. 550. 17 Ebd., S. 551. 18 Ebd., S. 551f. 19 Ebd., S. 552f.


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I. Nietzsche und die Reform des Bildungsbegriffs

ihrerseits die Einheit des Wissens als bereits erworbene Grundlage ­voraus. Der Abstand zwischen beiden Ebenen muss hingegen durch die Universität aufgeholt werden, deren Rolle darin besteht, «die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken». Wie Schleiermacher – wiederum übereinstimmend mit Humboldt – bemerkt, ist diese Aufgabe bereits im Begriff universitas enthalten. Das ihm zugrundeliegende Universelle soll den Universalitätsbegriff in seiner Entstehung sichtbar machen: Die «Gesamtheit der Erkenntnis soll dargestellt werden, indem man die Prinzipien und gleichsam den Grundriß alles Wissens auf solche Art zur Anschauung bringt, daß daraus die Fähigkeit entsteht, sich in jedes Gebiet des Wissens hineinzuarbeiten». Aus diesem Grund muss das universitäre Wissen enzyklopädischer Art sein, und zwar in einem Sinn, der als bewusste Umkehrung des aufklärerischen Unternehmens der Encyclopédie zu begreifen ist, obwohl er auf dieses Bezug nimmt: kein Wissenslexikon mehr, keine Interpretation des Wissens durch seine konstitutiven Stichworte, sondern Anerkennung der zyklischen Natur des Wissens selbst, das heißt «allgemeine Übersicht des Umfanges» und gleichzeitig «Zusammenhang»20. Nun ist nach Schleiermacher aber nur die Philosophie in der Lage, eine solche Integration von Einzeluntersuchung und Gesamtschau ­herzustellen und zu wahren, und genau deshalb «ist für die Universität allgemein anerkannt der philosophische Unterricht die Grundlage von allem, was dort getrieben wird»21. Gemäß einer Absicht, in der sich unschwer ein fortdauernder Einfluss Kants feststellen lässt, etabliert sich die Philosophie qua voll entfaltetes Sich-selbst-Wissen der Vernunft als Leitschnur und regulatives Prinzip des Universitätsstudiums. Wiederum im Sinne Humboldts und seiner Gleichsetzung von Individuum und Nation nach dem Vorbild des Griechentums stellt Schleiermacher fest, es gebe «unter einem Volke nur eine philosophische Denkungsart»22. Die dergestalt mit der außerordentlichen Blüte der Philosophie im Deutschland jener Jahre verknüpfte Universitätsfrage steht in engem Zusammenhang mit dem Problem der Konstruktion einer deutschen Nationalidentität. Die Vorstellung vom Wissensganzen als organischer Gesamtheit seiner Teile – denen gegenüber es einen Zweck darstellt, der sich nicht als bestimmte Kenntnis fassen lässt – spiegelt die Idee 20 Ebd., S. 554–557. Zum Enzyklopädiegedanken in der Kultur der Romantik und ­seinen Widerspiegelungen in der Entwicklung der Hermeneutik vgl. Vercellone: a.a.O., S. 9–15. 21 Schleiermacher: a.a.O., S. 558. 22 Ebd.


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