Philosophie der Praktischen Vernunft

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Heinrich Barth

Philosophie der Praktischen Vernunft Herausgegeben und eingeleitet von Armin Wildermuth






Heinrich Barth

Philosophie der Praktischen Vernunft Herausgegeben und eingeleitet von Armin Wildermuth

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

© 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des vorliegenden Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Dani Berner, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2567-4 www.schwabe.ch


Inhaltsverzeichnis

Einleitung: HinfĂźhrung zur Praktischen Vernunft Zu dieser Ausgabe

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Heinrich Barth: Philosophie der Praktischen Vernunft

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Anmerkungen des Herausgebers

Verzeichnis der verwendeten Siglen Bibliographie

Personenregister

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Einleitung Hinführung zur Praktischen Vernunft Ausgang und Anspruch Der Anspruch der Philosophie der Praktischen Vernunft Heinrich Barths geht über eine Exegese von Kants Kritik der praktischen Vernunft weit hinaus. Letzterer spricht Barth eine Sonderstellung in der Geschichte der Philosophie zu, die bis anhin verkannt worden sei. Kritisch legt er ihre Grundlagen frei, um auf ihnen aufbauend seine eigene Systematik zu entwickeln. Deutlich bezeichnet er seinen philosophischen Standpunkt, den er mit seinen Lehrern, den Marburger Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp, teilt, als «kritischen Idealismus». Er erklärt ihn zu seinem eigenen Standpunkt und verfolgt ihn konsequenter als seine genannten Lehrer. Insofern er Kant selbst, wie auch den damals herrschenden kritischen Idealismus grundsätzlicher zu erfassen sich anheischig macht, darf man ermessen, dass es Barth um einen Neuansatz in der Philosophie, ja um deren Erneuerung geht. Vorteil und Nachteil des Interpreten, der aus geschichtlicher Distanz an ein Werk aus dem Jahr 1927 herantritt, bildet sein Wissen um dessen Stellung im Gesamtwerk des Autors, aber auch um dessen bisherige Rezeption und dessen historischen Kontext, in den es einzuordnen wäre. Von der Dissertation über Descartes’ Begründung der Erkenntnis aus dem Jahr 1913 über die zweibändige Philosophie der Erscheinung von 1947 und 1959 bis zum postum erschienenen Werk Erkenntnis der Existenz von 1965 zeichnet sich, wie die Titel verraten, eine Entwicklung vom «kritischen Idealismus» zur Zeit des sogenannten Neukantianismus zur Philosophie der Existenz ab. Erstaunlich ist aber, dass sich diese Entwicklung, aus nachträglicher Sicht, ohne scharfe Brüche, eher im Sinne einer Vertiefung und Erweiterung vollzogen zu haben scheint. So erkennt Barth immer deutlicher, dass Kants Begriff der Praktischen Vernunft in der Kontinuität einer Philosophie der Existenz steht, die sich bis zu Sokrates und Platon zurückverfolgen lässt. Ein solches traditionsbewusstes Existenzverständnis irritiert. Wohl deshalb hat Heinrich Barth in der philosophischen Rezeptionsgeschichte, anders als sein Bruder Karl in der theologischen, keine tiefen Spuren hinterlassen. Mit einem gewissen Wohlwollen wird sein Name im Zusammenhang mit der «Dialektischen Theologie» erwähnt, seine frühe


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Philosophie unter die Rubrik eines ethischen Neukantianismus gesetzt und gekennzeichnet als das epigonale Denken eines Adepten Hermann Cohens. Das hier neu herausgegebene Werk mit dem Titel Philosophie der Praktischen Vernunft (PPV; im Folgenden ohne Sigle) verdient eine Würdigung, die sich auf Barths eigenständigen Hauptgedanken konzentriert. Heutigen Lesern mag sein Duktus und Stil etwas sperrig anmuten. Fast gewaltsam verfolgt Barth einen einzigen systematischen Grundgedanken, den er in seinen Konsequenzen erprobt. Kraft seiner Tiefenlage greift er aber auf alle Gebiete menschlichen Denkens und Handelns aus, was die grundlegende thematische Enge mehr als kompensiert. Bewusst werden im vorliegenden Werk ganze Themenbereiche, die unter die Ägide des praktischen Lebens gehören, ausgeschlossen, so die Ästhetik, die Regionen des Unbewussten mit ihren mythischen Verdichtungen, aber auch die Theologie oder die philosophische Gotteslehre. Der strenge Einheitsgedanke der Erkenntnis, die nicht nachlassende Suche nach den Grundlagen des «Wirklichkeitsproblems überhaupt» (96), die steten Anläufe, die Autonomie der Praktischen Vernunft zu erweisen, sind begleitet von einem hellen Bewusstsein für Abgrenzungen und unterschiedliche Wirklichkeitsweisen. Leitend ist eine Art von Grundintuition in das «Lebensereignis», das heißt in die irreduzible Fülle der phänomenalen Lebenswelt, die Barth im transzendentalen Durchgriff nach ihrer «Begründung» befragt. So zeichnet sich eine große Dialektik ab zwischen der manifesten Weltfülle, die sich offenbart, und der Weltbegründung, die sich durch ihren «anderen Ordnungs-Ursprung» entzieht. Noch ein Wort zu der letzten «Wirklichkeit», die als unfassbarer Bezug alle Untersuchungen zur Praktischen Vernunft leitet. Sie wird als «echte Transzendenz», später klarer als «transzendentale Transzendenz» bezeichnet. Damit ist auch gesagt, dass der Begriff «Wirklichkeit» keineswegs ungeschützt verwendet werden darf. Transzendentale Wirklichkeit ist weder auf Sein noch auf Absolutes noch auf Wirklichkeit als dem Verwirklichten noch sogar auf Gott zurückzuführen, weil sie als das Jenseits von allem und als Ur-Sprung jeder besonderen Erkenntnis diesen Größen vorangeht, sie begründet und im Sinne der kreativen Kontingenz «erschafft». Dies bedeutet wiederum nicht, dass hier eine bloße via negationis angemessen ist oder ein kausaler Schöpfungsgedanke eingeschoben werden darf. Echte Transzendenz bleibt trotz diesen bekannten Einwänden erkenntnisfähig für den auch inkarnierten subjektiven Logos, der


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sie als «Idee aller Ideen» am äußersten Rand seiner Denkfähigkeit zu benennen vermag. Allein dadurch kann er es wagen, von der Erkenntnis-Zugewandtheit und ursprünglichen Lebendigkeit – wie sie auch bei Platon an einem bekannten Ort im Sophistes (Soph. 248 e; SP 261ff.; Heidegger 1992 480ff.) in seine Ideenlehre einbricht – vorsichtige Aussagen zu formulieren. Für den in den Glaubenswirklichkeiten eingelassenen Gläubigen kann hier der Ausdruck «lebendiger Gott» sinnvoll verwendet werden. Philosophie und Christ-Sein Barth hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Philosoph und zugleich gläubiger Christ sei. Dies erweckt noch heute gleicherweise bei Philosophen wie Theologen Misstrauen. Man vergesse nicht: Heinrich Barth entstammte einem protestantischen Elternhaus, sein Vater, Fritz Barth, war Professor der Theologie an der Universität Bern, seine beiden Brüder wurden Theologen. Es ist also anzunehmen, dass ihm die christlichen Glaubenswahrheiten von seiner Jugend an wohl vertraut waren und einen Bestandteil seines Lebens und seines Denkens bildeten. Wie bedeutsam dieser war, ist sowohl an seinem letzten, un­ vollendet gebliebenen Werk über «Biblische Hermeneutik» (AH 253ff.) als auch an den Texten, die er als gläubiger Bibelleser ausgewählten Partien der Briefe des Paulus und des Johannes widmete, zu ermessen. Diese Dokumente wurden 1967 veröffentlicht. Erst von diesen her ist einzusehen, wie das Thema des Erscheinens, das ihn während der Dreißigerjahre zunehmend beschäftigte, sein theologisches und philosophisches Denken leitete. Es war Hermann Diem, der die Doppelführung des Barth’schen Denkens, des gläubig-christlichen und des philosophischen, erkannte und würdigte. In seiner Schrift Kritischer Idealismus in theologischer Sicht. Eine Auseinandersetzung mit Heinrich Barth aus dem Jahr 1934 zeigt er auf, dass zwischen Barths Philosophie und Theologie Abgrenzungen und Übergänge bestehen, die genau zu beachten sind (vgl. Diem 1934 68ff.). Vor allem ist der Fehlschluss zu vermeiden, den Ursprungsgedanken der Philosophie mit der Ursprungsmacht des lebendigen Gottes, wie er sich in den biblischen Texten offenbart, zu identifizieren. Philosophie – im Barth’schen Sinne des kritischen Idealismus – stellt eine abstrakte Engführung dessen dar, was sich einerseits im konkreten Alltagsleben und andererseits in der Begegnung mit den Glaubenswahrheiten ereignet – philosophisch immer indirekt artikulierbar, in einer oratio obliqua oder, Kierkegaard’sch, einer «indirekten Mitteilung». Dies betrifft auch den philosophischen Gedankenkomplex, der «Gott» genannt wird.


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Diesem Hinweis muss noch einige Aufmerksamkeit gewidmet werden. Philosophie ist für Barth neben Theologie, Glaubensleben, Religion, Kunst, Literatur, Wissenschaft, Politik und Lebenserfahrung nur ein bestimmter Zugang zur Erkenntnis des Lebensereignisses, das sich praktisch selbst beglaubigt, und der sich in allen Lebensmanifestationen offenbarenden und zugleich entziehenden Wirklichkeit als solcher. In all diesen Bereichen geschieht, in der ihnen jeweils einwohnenden Grundintention, «Gotteserkenntnis», wie er es in seinem Aarauer Vortrag von 1919 zu erläutern versucht hat (vgl. GE 251ff.). Dies bedeutet nichts weniger, als dass alle diese Erkenntnisbereiche in Bezug auf die Wirklichkeit als solcher im Status der Abschattung oder der Projektion stehen, vergleichbar mit Platons Schattenbildern an der Höhlenrückwand, Paulus’ Schauen des Antlitzes durch den getrübten Spiegel oder Novalis’ unerreichbarem Bildnis zu Sais (vgl. 105). Zwei Bibelstellen seien hervorgehoben, die für Heinrich Barth bedeutsam waren: In einem Brief an Emil Brunner vom 29. November 1921 schreibt er: «Es darf keine Enthusiasten des Ursprungs geben. ‹Wir sehen wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, hernach aber …› Das ist für mich die Grundkorrelation von allem.» (IET 45). Das Zitat bezieht sich auf Vers 3,18 aus dem Zweiten Korintherbrief. Und in einem Vortrag über Kapitel 4 desselben Briefes, den Barth 1933 in Düsseldorf gehalten hat, wird das Problem der Erscheinung auch mit einem Hinweis auf Vers 1,12 aus dem Titusbrief verdeutlicht: «Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen …» Doch der zentrale Gedanke der Spätphase von Barths Denken ist ausgesprochen in Vers 1,2 aus dem Ersten Brief des Johannes: «Und das Leben ist erschienen. Und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, welches bei dem Vater war und uns erschienen ist.» Diesem Bibelwort widmet Barth im Jahr 1941 intensives Nachdenken (vgl. AH 243ff.). Mit diesen beiden Bibelstellen ist die Spanne des Barth’schen Denkens zu ermessen; sie reicht von der Ferne echter Transzendenz zur Epiphanie des Erscheinens als sich leiblich aktualisierender «Existenz». Eine andere Schwierigkeit bildet Barths hoher geschichtlicher Anspruch an die Philosophie als solche. Höchster Maßstab ist nicht Kant, sondern Platon. Darin kommt zugleich die große Bedeutung Paul Natorps (vgl. Natorp 1961) für Barth zum Ausdruck. Ein etwas verborgener Evolutionsgedanke der Erkenntnis spannt sich als großer Bogen der Philosophiegeschichte von Platon zur Existenzphilosophie, von der ontologisch konzipierten Metaphysik zur


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Subjektphilosophie der Moderne. Die Berechtigung zu dieser kühnen Konstruktion bildet der «Altmarburger Topos», Platon und Kant als idealistische Transzendentalphilosophen zu deuten. Ihre Ideenlehren werden zueinander in Beziehung gesetzt. So gelingt es, Platons «Idee des Guten», dieses «Jenseits des Seins», in den Horizont der Praktischen Vernunft hineinzuholen. Das «Vorausschreiten des Logos» oder das ursprüngliche Systemprinzip Barth spricht vom «Vorausschreiten des Logos». Diese etwas gestische und dynamische Metapher steht für sein Verständnis von Kants Transzendentalphilosophie, die er neu als «Kritizismus» oder «kritischen Idealismus» und als seinen «Standpunkt» denkt, obwohl die Kant’schen Positionen als bekannt gelten und keiner weiteren Deutung bedürftig zu sein scheinen. Damit distanziert sich Barth von neukantianischen Philosophen, die Letztere unter dem Eindruck der im 19. Jahrhundert mächtig gewordenen Naturwissenschaften auf die Vernunft der Wissenschaft reduzieren wollten. So galt allgemein: Vom «Faktum der Wissenschaft» müsse ausgegangen werden. Transzendentale Reflexion habe sich demnach primär auf die apriorischen Voraussetzungen der Wissenschaft qua Naturwissenschaft zu konzentrieren. Die neukantianische Parole, man müsse nun «vom Denken ausgehen», ist missverständlich, nimmt sie doch oft unreflektiert das «Denken» als eine anthropologische Konstante an. Barth tritt diesen Verengungen entgegen und ist entschlossen, die Ebene der Transzendentalphilosophie tieferzulegen. Das Vorausschreiten des Logos ist dafür mehr als nur ein Indiz. Der Logos, Synonym für Vernunft oder Erkenntnis als solche, steht in der Linie von philosophischen Begriffen wie «transzendentale Begründung», «echte Transzendenz», «ursprüngliches Systemprinzip», «Ursprung», «Ursprungsordnung», «Ursprungsphilosophie» oder «Ursprungsbedeutung der Idee». Alle diese Begriffe haben mit dieser Tieferlegung zu tun, ohne dass sie aber eine neue Metaphysik begründen würden. Gegenüber allen bisherigen Vernunftauslegungen hält Barth an der kritischen fest, nämlich «daß sie in eindeutiger Weise den Logos als begründendes Prinzip aller Erkenntnis und alles Seins anerkennt» (22). Rein formal könnte man hier eine neuplatonische Denkform entdecken, übersteigt doch das Eine und Absolute Plotins sowohl Erkenntnis als auch Sein. Es erscheint zudem als widersprüchlich, den Logos von allen Erkenntnissen und allem Seienden abzuheben. Gemeint ist aber ein Unterschied der Ordnung: Der Logos ist die Voraussetzung aller besonderen


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einzelnen Erkenntnisakte. Insofern Sein ebenfalls eine Erkenntnis ist, gewinnt der Logos über das Sein das Primat. Er ist von «anderer Ordnung» und dem «Sein» vorausgesetzt! Barth ist darum erklärter Gegner jeder Ontologie, die die Ursprungsdimension der Erkenntnis zu usurpieren sucht. Ontologie gilt ihm als die «Ruhe des Todes» (366). Heutiges standpunktloses philosophisches Denken ist mit dem Einwand rasch bereit, nach dem Ursprung dieses Logos zu fragen. Immer tiefere Schichten des Denkens oder der Ur-Gründe, aus denen neue Erkenntnis auftauchen könnte, werden wie in der Physik angenommen, die, wie es den Anschein hat, ins Unabsehbare des Universums vorstößt. Doch die Frage, wie die Vernunft als solche zu begründen sei, ist unsinnig. Eine Kritik der Vernunft kann alle ihre Urteile in Frage stellen, aber ein Vorbehalt ist auch für sie unumstößlich: «Sie hat nicht das Recht, nach dem Grunde des Logos zu fragen; denn sie entdeckt, daß nicht nur in aller inhalterfüllten Aussage, sondern schon in der kritischen Frage … der Logos selbst in seiner begründenden Kraft wirksam ist.» (23). An dieser fundamentalen Einsicht hält Barth in aller Strenge fest. Er artikuliert sie als das «ursprüngliche Systemprinzip». Jede Erkenntnis ist, so muss man folgern, nicht nur mit innerweltlichen Sinnzusammenhängen verknüpft, sondern immer auch mit dem unfassbaren, vorausschreitenden und stets präsenten Logos. Dies ist beschlossen in der «Idee der Erkenntnis» (24; 34; 68f.; 75 u. a.). Als transzendentaler, unüberholbarer Logos beansprucht er gegenüber allen Erkenntnissen einen besonderen Status. Auch der Erkennende, der Mensch, ist erst in der Ausrichtung auf dieses transzendentale Grundprinzip als solcher erkannt. Der einzelne Mensch verändert im «Angesicht» dieser Erkenntnis auch sein eigenes Dasein. Die «Unabhängigkeit von Himmel und Erde» und der Sinn der Ursprungsphilosophie Entgegen allen ontologischen, psychologischen und anthropologischen Deutungen der Vernunft hält Barth an der Einsicht Kants fest, dass der Ursprung aller praktischen Erkenntnisse in der Vernunft als «Selbsthalterin ihrer Gesetze» (GMS 425; 131, Anm. 2) liegt. Praktische Vernunft, die Lebenserkenntnis ist und später «Existenz» genannt wird, kann ihre «Lauterkeit», «Unabhängigkeit» und auch «Freiheit» nur bewahren, insofern sie sich selbst im Diesseits als ein Jenseits erkennt und in dieser Erkenntnis lebt. Wie ist die Realität dieser besonderen Erkenntnisordnung zu fassen? Man könnte sie mit unterschiedlichen


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Titeln belegen, die aber alle Anleihen bei innerweltlichen Gegebenheiten und Begriffen aufnehmen. Dazu einige Vorschläge: «selbsteigene» Wirklichkeit, unvergleichliche Seinsweise, Ursprünglichkeit oder praktisches Lebensereignis. Lapidar heißt es auch: ‹Der Mensch ist die Idee.› (Vgl. 142f.; 145). Damit ist angezeigt, dass wir es mit einer höchst dynamischen, ideellen Lebenswirklichkeit zu tun haben. Diese Lebendigkeit ist ernst zu nehmen. Ein untergründiger Lebensgedanke bricht besonders in den letzten Partien des Werkes durch, wo der Autor kaum genug Doppelsubstantive mit dem Begriff «Leben» bilden kann – allerdings fehlt der heute inflationär gebrauchte Begriff der «Lebenswelt». Dieses Leben, gnoseologisch und deontologisch durchsetzt, ist seinem Wesen nach auf «Verwirklichung» und «echte Transzendenz» bezogen. Es unterscheidet sich radikal von den Lebensbegriffen der «Lebensphilosophien». Im Hintergrund stehen bei Barth zwei machtvolle, allerdings vergessene Einsichten in die «jenseitige» Dignität des Lebens, nämlich das unsterbliche Leben der Seele bei Platon und das ewige Leben in den biblischen Texten. In dieser Situation findet sich, wie Kant meint, «die Philosophie in der That auf einen mißlichen Standpunkt» gestellt (GMS 425). Woran soll sie sich nun halten? Ist die Ausrichtung auf das Transzendentale nicht von schwindelerregender Offenheit und Leerheit? Zwar ist von dem auf die Selbsthaltung gerichteten «Gesetz» der Vernunft die Rede, doch handelt es sich dabei nicht um ein bestimmtes Gesetz, sondern vielmehr allein um die Quelle des Gesetzes in seiner reinen Form und Funktion als Aufforderung zur Vorzüglichkeitsentscheidung. Trotz dieser Misslichkeit löst Barth mit seiner Philosophie der Praktischen Vernunft jenes Versprechen ein, das er in seinem Vortrag mit dem Titel «Gotteserkenntnis» gab, nämlich eine Philosophie zu entwickeln, die den Ursprung zum «archimedischen Punkt» (GE 238) aller Erkenntnisse setzen werde. Was aber diesen Standpunkt immer misslich erscheinen lässt, ist die außerordentliche Schwierigkeit, den «Ursprung» begrifflich zu formulieren und im Netz der Sprache einzufangen. Das Transzendentale verlangt, um es überhaupt wahrnehmen zu können, eine Umkehrung des Denkens und einen veränderten Status des Menschseins. Dazu ist der Einstieg in die selbsteigene Wirklichkeit der Ursprungsbezogenheit alles Erkennens erforderlich. Dies geschieht methodisch durch einen Akt radikaler Negativität, der bei Hermann Cohen ebenfalls vorgezeichnet ist. Dieser spricht von einem Abenteuer des Denkens, um das Etwas aus dem negierenden Denken entspringen zu lassen: «Auf dem Umweg des Nichts stellt das Urtheil


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den Ursprung des Etwas dar.» (Cohen 1902 69). Einen analogen Akt, der zwar nicht Erzeugung aus dem Nichts bedeutet, sondern vielmehr eine privative Negierung alles Gegebenen provoziert, stellt Edmund Husserls – dem antiken Skeptizismus entlehnter – Begriff der «Epoché» dar: Die Epoché bewirkt methodisch die Aushebelung der als selbstverständlich geltenden Weltwirklichkeit. Wie Barth einen revolutionären Anspruch in der Gegebenheitsnegierung der Ursprungsphilosophie proklamiert (vgl. GE 236; 238), lässt sich auch Husserl hinreißen zu einer Prophetie über die Tragweite der epochalen ­Weltdistanzierung: «Vielleicht wird es sich sogar zeigen, daß die totale phänomenologische Einstellung und die ihr zugehörige Epoché zunächst wesensmäßig eine völlige personale (exis­ tenzielle) Wandlung zu erwirken berufen ist, die zu vergleichen wäre zunächst mit einer religiösen Umkehrung, die aber darüber hinaus die Bedeutung der größten existenziellen Wandlung in sich birgt, die der Menschheit als Menschheit aufgegeben ist.» (Husserl 1962 140; 526).

Diese Wandlung erzeugt zwar vorerst den neutralen phänomenologischen «Betrachter», doch besitzt dessen Standpunkt offenbar auch existentielle Bedeutung. Barth relativiert den für Husserl zentralen Bezug zu einer betrachtenden «transzendentalen Subjektivität», die die «ausgeklammerte» Welt in ihrer eigenen Phänomenalität bestehen lässt. Wichtiger ist für Barth Kants – eigentlich «medial» zu verstehende – «ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption» in der «Transzendentalen Deduktion», in und durch welche Vernunft sich selbst aktualisiere. Erst durch diesen Aktualisierungsvollzug träten «Objekt» und «Subjekt» korrelativ auseinander. Dies bedeute, dass durch den methodischen Akt der Negierung aller Gegebenheiten zugleich das negierende Subjekt seine Selbstsicherheit und Selbstzentriertheit verliere. Um dieser Barth’schen Interpretation eine Hilfestellung zu gewähren, sei hier ein Hinweis aus Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode zitiert: «indem sich das Selbst zu sich selbst verhält und es selbst sein will, gründet es, sich selbst durchsichtig, in der Macht, die es setzte» (Kierkegaard 1949 19). Der Verweis auf Kierkegaard ist berechtigt, denn neben Kant und Platon bildet der dänische Philosoph eine weitere Gewährsinstanz für das frühe Barth’sche Denken. Im Jahr 1926 veröffentlicht er vier Vorlesungen mit dem Titel Kierkegaard, der Denker (KD 194–234). Allerdings findet sich bei ihm, trotz seiner christlichen Gläubigkeit, keine verborgene Strategie, den philosophischen Leser ins ChristSein zu überführen.


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Das «Umgreifen eines unsichtbaren Zentrums» und das «Hinüberblicken zu der Konkretion des Lebens» Einige irritierende Formulierungen müssen vom Leser vorerst bewältigt werden. So stößt er etwa auf Aussagen wie: Die Praktische Vernunft sei «a-theoretisch» und als solche «unsagbar»; ihr Logos sei wie die Natur «vorgefunden», ihr «Formalismus» das Tor zur Konkretion und zum «transzendenten Logos»; sie sei Sollen und Wollen zugleich; sie könne nur im Vollzug erfasst werden und sei nur dann als solche existent, wenn zum Mindesten sich einige Muskeln anspannten; weiter sei zu beachten, dass eine normativ in Regeln artikulierte «Ethik» sich fast unweigerlich korrumpiere, ja sogar, dass das Zentrum jeder formulierten Ethik außerhalb ihrer selbst liege; so verfüge der «gemeine Mann» über sie ohne Theorie; und nochmals sei die Formel erwähnt: Der Mensch selbst ist Idee. – All dies glaubt Barth aus Kant herauslesen zu können, der sich seinerseits an Rousseau orientiere: «Rousseau hat ihn Kant, A. W. zurechtgebracht. Seine Bewertungen greifen über die engherzigen Maßstäbe einer professoralen Geisteskultur hinaus. Einmal von Kant ins Auge gefaßt, wird die Tatsache des praktischen Lebens nicht mehr außer acht gelassen werden. Seine begrifflichen Entwicklungen umgreifen nun ein unsichtbares Zentrum, das irgendwie den vollendeten Gehalt, das entscheidende Wort zu verbergen scheint. Das Gebaren des Philosophen ist jetzt durch die sich bescheidende Haltung eines aufmerksamen, fragenden Hinüberblickens zu der Konkretion des Lebens bezeichnet.» (119f.).

Was Barth in diesem Sinne für Kants Praktische Vernunft formuliert, ist vorerst für sein eigenes Hinüberblicken zur Lebenswirklichkeit «bezeichnend». Doch ist zu ergänzen, dass es ihm um mehr als um ein Blicken über den Gartenzaun der Philosophie geht, will er doch, gleichsam von innen her, den Vollsinn der lebendigen Praxis als Sollen und Handlungsverwirklichung zur Darstellung bringen. Die eigentümliche Mischung aus Idealität, konkretem Leben und leibhaften Zuständen kennzeichnet die Seinsweise der Praktischen Vernunft in ihrer materialen, menschlichen Erscheinung. Wir können sie kaum besser als durch den Begriff der «Inkarnation» bezeichnen – etwas massiv ausgedrückt: als Inkarnation des Logos in die leiblich-menschliche Subjektivität. Doch gerade eine solche spekulative Beschreibung, die sich so leicht zur Rezeption eignet, muss sogleich zerstört werden. Es darf nicht sein, dass stillschweigend ein Standpunkt bezogen wird, von dem aus der transzendentale Logos und der material inkarnierte Logos von außen betrachtet werden, so als könnte man sie auf der gleichen Denkebene irgendwie in ein abstraktes Verhältnis zueinander setzen.


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Der Philosophierezipient muss sich hier bescheiden und – sofern er sich selbst überhaupt ernst nimmt – bedenken, dass seine Interpretation bereits schon Erkenntnis, also den Logos, voraussetzt. Zurück auf den Boden der praktischen Wirklichkeit führt der Hinweis Barths: «Praktische Vernunft ist nicht auf Praxis hinbezogen, so wie sich irgendein Begriff auf sein Anwendungsfeld hinbezieht; denn sie selbst ist Praxis.» (106). Kants «grundsätzliche Sonderstellung in der Reihe der großen ­Systematiker» Mehrmals wurde bereits auf Kant verwiesen. Dennoch ist die «grundsätzliche Sonderstellung» (116) noch nicht deutlich genug geworden, die Barth Kants Kritik der praktischen Vernunft zuerkennt. Ihm geht es nicht darum, eine nur bei Kant, sondern vielmehr eine bislang überhaupt verkannte Entdeckung der Philosophie ans Tageslicht zu bringen. Der Anspruch ist hoch angesetzt. Nicht zuletzt darum sollte diese neue Sicht eine Erneuerung der Philosophie einleiten (vgl. 3; 15). Barth schreibt: «Kants Philosophie der ‹Praktischen Vernunft› darf wohl als eine Entdeckung von einzigartigem Gewichte und unvergleichlicher Tragweite bezeichnet werden. Diese Beurteilung bestände zu Recht, auch wenn sich in der geschichtlichen Tat der kritischen Begründung der Ethik nicht die ganze Wucht dieser neuen Erkenntnis auswirken würde. Im Verhältnis zur Reichweite seiner Folgerungen tritt dieser in seinem durchgreifenden Radikalismus so einzigartige Systemgedanke Kants vielleicht allzu unscheinbar und anspruchlos auf den Plan, als daß er in der Folge der spekulativen Konzeptionen die ihm gebührende, beherrschende Stellung hätte behaupten ­können.» (88f.).

Übertreibt Barth? Ist er selbst dieser Entdeckung gewachsen? Vergegenwärtigen wir uns, worin sie bestehen könnte! Was Kant seit Generationen als Versagen und Schwäche vorgeworfen wird, nämlich sein angeblicher «Formalismus» in der Ethik, verwandelt Barth in dessen Stärke und in den Erweis seiner radikalen Konsequenz. Der durchgehende transzendentale Systemgedanke verbietet der Praktischen Vernunft und der in ihr begründeten Ethik jede Anleihe im empirischen Bereich. Zentral ist hier die «Begründung» und nicht die «Beschreibung» der menschlichen Praxis, die bereits «Phänomene» und verdunkelnde «Gegebenheiten» voraussetzt. Darum bietet sich Max Scheler als Gegenposition an. In ausführlichen Anmerkungen (vgl. u. a. 69f., Anm. 1) setzt sich Barth mit dessen Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913–1916) auseinander. Nicht nur die phänomenologische «Materialität» und die Streichung eines transzendentalen Subjektes, sondern auch die «Wertontologie»


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verwirft er als Irrwege. Ebenfalls mit Nicolai Hartmann (102ff., Anm. 1) geht er ins Gericht, vor allem mit dessen ebenfalls Husserls Phänomenologie und der Wertontologie verpflichteten Ethik (1926). Ein eigenständiges Sein von Werten, das Objektivität beansprucht, lehnt Barth folgerichtig ab. Im Formalismus Kants findet er geradezu den Einstieg in die positive, a-theoretische Wirklichkeit der Praktischen Vernunft. Er bildet ihm die Gewähr, dass dem begründenden Logos kein spekulativer Missbrauch widerfährt. Er schließt jeden Versuch aus, in objektivierender Weise den Logos in ein spekulatives Ur-Prinzip zu verwandeln, wie es in den nachkantischen Philosophien des spekulativen Idealismus der Fall ist. Barth geht es nicht um eine Philosophie, die sich in einer narrativen Konstruktion oder Spekulation genüge tut, sondern um die philosophische Erschließung der praktisch-ethischen Wirklichkeit selbst. An ihre Stelle darf keine metaphysische Hypostase treten. – Um die Tragweite dieser Aussage besser abwägen zu können, sind einige weitere grundsätzliche Klärungen notwendig. Der «radikale Unterschied zwischen Theorie und Praxis» und die Ferne der «Idee des Guten» als Zentrum der Barth’schen Philosophie In sträflicher Weise wird von den meisten Kant-Interpreten der «radikale Unterschied» zwischen theoretischer und praktischer Vernunft (vgl. 88f.; 90; 95, Anm. 1) missachtet. Für Barth hingegen spielt er eine zentrale Rolle. Wird diese Differenz nicht wahrgenommen, fällt der ganze Sinn seiner Philosophie dahin. – Irrelevant sind für Barth alle Versuche, die den Schwerpunkt von Kants Praktischer Vernunft in den ethischen Normen oder im Ansatz einer Handlungstheorie bestimmen. Die üblichen Synthesen von theoretischer und praktischer Vernunft gelten Barth als leichtfertig, wobei er nicht ausschließt, dass ein neuer Naturbegriff diese Synthese einmal ermöglichen könnte (vgl. 95, Anm. 1). Man muss vorgreifend beifügen, dass er selbst durch seine spätere Erscheinungsphilosophie eine solche Synthese durchführen wird (vgl. EE 611–682). Doch hier konzentriert er sich streng auf den Sinn der Praktischen Vernunft und sieht ihren Ursprung, zugleich aber auch ihre Verkennung, in Platons Durchbruch zur «Idee des Guten» (88, mit den Anmerkungshinweisen auf Politeia 506 d–e; 515 eff.; 517 c; vgl. GE 245). In seinem Platon-Buch zeichnet Barth den Aufstieg der Seele zu dieser letzten Idee nach (vgl. SP 70–104; GE 240). Fatal ist, dass durch den Begriff «agathon» in den üblichen Übersetzungen als «Gut» oder «höchstes Gut» die Ethik zu dominieren scheint, so dass deren Sinn als Ursprung, Begründung und Schöpfung (vgl. SP 294f.) vernachlässigt wird. Bei Platon liest man es


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anders. Dieser führt mit den Metaphern von Sonne und Licht, die für die «Idee der Ideen» einstehen, eine Wirklichkeitsdimension ein, die Wahrnehmung und Seiendes übersteigt und diese als nichtkausale Verursachung – bezeichnet als «aitia» (Philebos 25 bff.; vgl. SP 299ff.) – begründet und erschafft. Dass diese letzte Idee, bezeichnet als ein «Jenseits des Seienden» (Politeia 509 b), im Sinne der Theoretischen Vernunft scheitert und für sie in die «Ferne» rückt, ist für Barth das Indiz dafür, dass bei Platon «neben der Theoretischen Vernunft eine Vernunft wirksam ist, der ihrer Sonderart zufolge das Prädikat der ‹Praxis› beigelegt wird» (91). Diese Praktische Vernunft wird von Barth auch als «a-theoretische» Vernunft bezeichnet, um den Unterschied zur Theoretischen, der letztlich «betrachtenden» und distanzierenden, zu kennzeichnen. Das Scheitern der Theoretischen Vernunft an dieser Zentralidee beglaubigt sich nach Barth in der Metapher der Blendung des Augenlichts, so wie sie im Höhlengleichnis beschrieben wird. Trotzdem ist festzuhalten: Auch durch die Blendung bleibt die Idee des Guten eine Idee – aber eben in einem anderen, einem alle Praxis leitenden, also transzendentalen Sinne. Die Konsequenz dieser Einsicht bedeutet, dass die Theoretische Vernunft eigentlich in eine sekundäre Stellung gegenüber der ungebrochenen, realitätsschwangeren Praktischen Vernunft gerät, obwohl es unumgänglich ist, auch die Lebendigkeit der Praxis in theoretischen Begriffen zu artikulieren. Dies ist eine bleibende Einsicht Heinrich Barths, die er vollständig in seine spätere Existenzphilosophie überführt. Darum darf man seine Philosophie, auch auf das Ganze seines Lebenswerkes bezogen, mit gutem Recht als einen «transzendentalen Platonismus» bezeichnen. Vor allem ist diese Bezeichnung gerechtfertigt, insofern Barth Platons «Idee des Guten» (112) mit Kants Gedanken der «Pflicht» in eine Linie setzt und sie aus den luftigen Höhen eines angeblich transzendenten Über-Seins in das Zentrum existentiellen Entscheidens und Herausgefordert-Seins einholt – dies ist ebenfalls ein Grundgedanke, der sein Opus magnum Erkenntnis der Existenz durchgehend leitet. «Wahrheit und Verwirklichung» als die leitenden Intentionen von ­Wissenschaft und Handlung Die Barth’sche Formel sei hier festgehalten: «Wirklichkeit wird erfahren; Verwirklichung aber wird gewollt.» (97). Anderswo sagt er: Theoretische Vernunft sei ausgerichtet auf Wahrheit, Praktische Vernunft auf Verwirklichung. Als paradigmatisches Beispiel gilt: Der «Logos der Praxis wird am Begriffe der ‹Handlung› aufgedeckt.» (92; vgl. GE 241). Handlung aber ist geprägt durch


Einleitung: Hinführung zur Praktischen Vernunft   XIX

Sinn, Zweck und Sollen. Was so dürftig als Handlung deklariert wird, ist bezogen auf einen umfassenden Sinnzusammenhang. Er verbindet alle einzelnen Handlungen einer Person, aber ebenso alle Interaktionen ganzer Kollektive. Ein Blick zurück ins Platon-Buch erinnert daran, dass auch der antike Kosmos als «Handlung» erfahren wurde (vgl. SP 294). Der Handlungs-Sinn darf jedoch nicht so verstanden werden, als würde er den Handlungen zusätzlich verliehen, nicht so, als ob sie einen Mechanismus darstellten, dem eine Intention oder ein Sinn beigefügt werden könnte. Thomas Hobbes versuchte, den Handlungssinn aus dem Naturmechanismus herzuleiten und durch die Formel des «Krieges aller gegen alle» einsichtig zu machen. Die Diskrepanz zwischen dem theoretischen Rationalismus, der sich in Modellen konzentriert, und der Praxis des Alltagslebens, das von Kontingenzen geprägt ist, versetzt zum Beispiel die Ökonomie als Wissenschaft in einen Zustand der dauernden Probe und des Risikos des Scheiterns. Von diesen Modellvorstellungen muss Abstand genommen werden. Die Handlung ist die Inkarnation der Praktischen Vernunft, und diese ist, wie Kant schon formulierte, selbst praktisch. Deshalb sind eigentlich alle soziologischen und anthropologischen Versuche, Handlung zu bestimmen, von theoretischer Natur und deshalb unangemessen, weil sie gar nicht in den Blick bringen, worum es in der aktuell vollzogenen Handlung tatsächlich geht. Die Handlung im aktuellen Vollzug ist ihrem Wesen gemäß immer ein SollSein, und zwar derart, dass sie den Bezug zur Verwirklichung bereits als einen Wirklichkeitsmodus, den Modus der Wirklichwerdung oder des Noch-nichtvollendet-Seins, in sich enthält. Dies bezeichnet einen tief greifenden «ontologischen» Unterschied zum theoretischen Denken, dessen reflexives Wesen eine Distanz zum Erkenntnisgegenstand bewahren muss und gegenüber dem Vollsinn der Wirklichwerdung eine Art von Schattenwirklichkeit bildet. Dem theoretischen Erkennen ist der Vollsinn der Handlung transzendent. Diese Differenz zum praktischen Erkennen macht noch einmal deutlich, dass theoretisch formulierte Handlungstheorien etwa auch jene des «sozialen Handelns» von Max Weber (Weber 1956 1–30) und die weiterentwickelte von Alfred Schütz (Schütz 1974) nicht an diesen deontologischen Sinn des aktuellen Handelns heranreichen. Ebenfalls praktisch-deontologisch defizitär bleiben alle «Ethiken», weil sie konstant davon bedroht sind, ins Statisch-Theoretische abzudriften. «Nur in indirektem Sinne ist Praktische Vernunft am ethischen Denken – auch an demjenigen des Kritizismus – beteiligt: insofern auch das Denken eine Handlung ist und in dieser Bestimmtheit als Sinnverwirklichung


XX   Einleitung: Hinführung zur Praktischen Vernunft

betrachtet werden kann.» (105). Dieser Gedanke der «Sinnverwirklichung» in und durch Denken wird von Barth nicht weiter ausgeführt, doch wäre er es wert, gründlicher reflektiert zu werden. Grundsätzlich aber bleibt: Ethische Erkenntnis erreicht nie den Vollsinn der Praktischen Vernunft. Dies führt zu einer nie zu überwindenden Unsicherheit in allen theoretisch gefassten Entscheidungen, auch wenn sie einen allgemein anerkannten ethischen Standard erfüllen (vgl. 233f.). Barth legt durch seine Sollensphilosophie eine Basis, die alle Ethiken unterläuft. «Ethische» Klarheit besteht allein dadurch, insofern die Begrenzung des Ethischen durch ihre Theoriegebundenheit bewusst bleibt. Nur so kann sie der Erstarrung in einen Dogmatismus oder eine Gesinnungsethik entgehen. Die «Transzendentale Deduktion» als das «Herzstück der Kritik der reinen Vernunft» Mehrmals analysiert Barth die «Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe» aus der Kritik der reinen Vernunft. Er bezeichnet sie als das «Herzstück» des kritischen Werkes. Obwohl innerhalb der Theoretischen Vernunft abgehandelt, konzediert er ihr auch für die Praktische Vernunft eine hohe Bedeutung. In unterschiedlichen Hinsichten erfolgen die Analysen (vgl. 35–58; PE II 443–450 und EE 214–223). Das Ergebnis ist stets klar: Kant entdecke zwar die Subjektivität der Vernunft, ohne dass er versucht gewesen wäre, dem Subjekt eine systembegründende Funktion zuzuerkennen. Im Hinblick auf den transzendentalen Systemgedanken interpretiert Barth die bereits erwähnte «ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption» in ihrem dynamischen Aspekt, nämlich als Aktualisierung der Vernunft. In dieser sich generierenden Bewegtheit kristallisiere sich die Subjektivität, die in der Gegenstandskonstituierung ihr Korrelat finde. Das, was Subjektivität oder auch einfach Subjekt genannt werde, sei kein Absolutes und kein factum brutum, vielmehr sei es zu verstehen als eine sich manifestierende Erkenntnis im Vollzug der Vernunft, die sich selbst bewusst werde und ihr Bewusstsein in ihrem Werden besitze. Das Ergebnis der Analyse der «Transzendentalen Deduktion» gilt auch für die Praktische Vernunft: «es liegt am Tage, daß es auch für die Praktische Vernunft die Konsequenz einer Ueberwindung der subjektivistischen Fassung des idealistischen Systemgedankens besitzt. – Nicht das praktische Subjekt, vielmehr der Logos Praktischer Vernunft ist das transzendentale Begründungsprinzip.» (107). Die Implikationen dieser Einsicht zwingen zu einem ­radikalen


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