Scheuchzer,"Wissenschaft - Berge - Ideologien.

Page 1

Simona Boscani Leoni (Hrsg. / a cura di)

Wissenschaft – Berge – Ideologien Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung

Scienza – montagna – ideologie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) e la ricerca naturalistica in epoca moderna






Simona Boscani Leoni (Hrsg. / a cura di)

Wissenschaft – Berge – Ideologien Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung

Scienza – montagna – ideologie Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) e la ricerca naturalistica in epoca moderna

Eine Publikation des Instituts für Kulturforschung Graubünden in Chur in Verbindung mit dem Laboratorio di Storia delle Alpi (Accademia di Architettura, Università della Svizzera italiana) in Mendrisio

Schwabe Verlag Basel


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, des Instituts für Kultur­forschung Graubünden, der Kulturförderung des Kantons Graubünden, der Literaturförderung der Stadt Zürich und des Laboratorio di Storia delle Alpi (Università della Svizzera italiana).

Abbildung auf dem Umschlag: Der Weg von der gestrandeten Arche zum Fossilienforscher, der auf seine Sintflutversteinerungen verweist, die aus dem Felsgestein geborgen wurden. – Frontispiz: Scheuchzer, Museum diluvianum, 1716. Zentralbibliothek Zürich, Sig.: NG 1888.

© 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2591-9 www.schwabe.ch


Inhalt / Indice

Simona Boscani Leoni Einleitung / Introduzione . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9/23

Johann Jakob Scheuchzer: der Naturforscher, der Gelehrte / Johann Jakob Scheuchzer: il naturalista, l’erudito Paola Giacomoni La teologia naturale di Johann Jakob Scheuchzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Ezio Vaccari La figura di Johann Jakob Scheuchzer nella storia delle scienze geologiche sulle Alpi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Monika Gisler Forschen in den «Eingeweiden der Erde». Johann Jakob Scheuchzers Erdbebenforschung zwischen Wissenschaft und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Urs B. Leu Johann Jakob Scheuchzer als Paläontologe . . . . . . . . . . .

89

Robert Felfe «Acarnan fecit» – Warum der Fossilienkundler sich als Künstler sah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Claude Reichler Paesaggi scientifici d’epoca barocca

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Michael Kempe «Bernischer officieren dapferkeit». Johann Jakob Scheuchzer als Kriegsberichterstatter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145


6  Inhalt / Indice

Thomas Maissen Die Bedeutung der Alpen für die Schweizergeschichte von Albrecht von Bonstetten (ca. 1442/43–1504/05) bis Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Guy P. Marchal Johann Jakob Scheuchzer und der schweizerische «Alpenstaatsmythos»

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

Naturwissenschaften und die Erforschung der Berge vom 16. bis 19. Jahrhundert / Scienze naturali e montagna dal Cinquecento all’Ottocento Ivano Dal Prete Valerio Faenzi e l’origine dei monti nel Cinquecento veneto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Christian Sieber «Enutritus sum in hac terra alpium» – Geographie, Geschichte, Bevölkerung, Sprache: Aegidius Tschudi (1505–1572) und die Erforschung der Alpen im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Hubert Steinke, Martin Stuber Hallers Alpen – Kontinuität und Abgrenzung . . . . . . . . 235 Marita Hübner Die geologischen Forschungsreisen Jean André Delucs (1727–1817) als protestantische Erinnerungskultur

. . . . . . . . . . . . . . . . .

259


Inhalt / Indice  7

Daniela Vaj Una biblioteca virtuale d’illustrazioni e testi di viaggio: le Alpi tra paesaggio, rappresentazioni scientifiche e immaginario culturale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Jon Mathieu Von den Alpen zu den Anden: Alexander von Humboldt und die Gebirgsforschung . . . . . . . . . . . . . 293 Uwe Hentschel Das Bild vom eigenen Land. Schweizer Aufklärer in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und der deutsche Philhelvetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Alessandro Pastore Natura, scienza e pratica sportiva nell’alpinismo italiano del secondo Ottocento . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Autoren / Autori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Personen- und Ortsregister / Indice dei nomi di persona e di luogo . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343



Einleitung* Wann nun alle Liebhaber der natürlichen Wüssenschafften / auch auf alle Sachen Achtung geben welche in weit entlegnen Orten sich zutragen/ wie vil mehr sol ein jeder in seinem eignen Vatterland / und wir in unserem genau Achtung haben auf alle diejenigen Begebenheiten / welche die Natur vorbringet / ja aus sonderbahrer Güte Gottes gegen uns reichlich dar­schüttet.1

Diese Betrachtungen waren die Einleitung zum Einladungs=Brief zu Erforschung natürlicher Wunderen so sich im Schweitzer=Land befinden, möglicher­ weise der erste Fragebogen, der dem Studium der Naturwissenschaften der Alten Eidgenossenschaft gewidmet war und 1699 in Zürich vom Zürcher Arzt und ­Naturwissenschaftler Johann Jakob Scheuchzer veröffentlicht wurde. Der Text, von dem es eine deutsche und eine lateinische Version gibt, enthielt rund zweihundert Fragen, die die Untersuchung der helvetischen Naturgeschichte vonseiten nicht nur der Gelehrten, sondern auch der einfachen «Neugierigen» leiten sollten. Der Zürcher wollte seinen Mitbürgern ein Mittel an die Hand geben, mit dem sie die Naturschönheiten ihres Heimatlandes erkunden konnten. Dabei folgte er dem Beispiel ähnlicher Fragenkataloge, die in Spanien wie in England veröffentlicht wurden mit dem Ziel, die Erkundung der neuen Terri­ torien, die Gegenstand des Interesses und der europäischen Kolonialisierung waren, anzuregen und gleichzeitig zu steuern.2 Das Zitat von Scheuchzer ist interessant, denn es enthält drei grund­ legende und gleichzeitig problematische Elemente, die den Ansatz des Zürcher Gelehrten an die naturwissenschaftliche Forschung beschreiben und allgemein dazu beitragen, einige tiefgreifende Probleme der Entwicklung der Naturwis­ senschaften in der modernen Zeit zu definieren. Diese Elemente sind wiederum * Übersetzung von Christiane Burklein. 1 Johann Jakob Scheuchzer, Einladungs=Brief / zu Erforschung natürlicher Wunderen / so sich im Schweitzer=Land befinden, Zürich 1699, S. 1, Abdruck in: H. Küster / U. Küster (Hrsg.), Garten und Wildnis. Landschaft im achtzehnten Jahrhundert, München 1997, S. 14–31. 2 Zu Spanien: Arndt Brendecke, Informing the Council. Central Institutions and Local Knowledge in the Spanish Empire, in: Wim Blockmans et al. (Hrsg.), Empowering ­Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300−1900, Aldershot 2009, S. 235−252. Für die Beziehung zwischen den englischen Fragebögen und jenem von Scheuchzer siehe: Simona Boscani Leoni, La ricerca sulla montagna nel Settecento sotto nuove prospettive: il network anglo-elvetico-alpino, in: Histoire des Alpes / Geschichte der Alpen, 2007, Vol. 12, S. 201−213.


10  Simona Boscani Leoni

mit der Konzept-Dreiergruppe «Wissenschaft – Berge – Ideologien» verbunden, die dem vorliegenden Band den Titel gibt, in dem die Beiträge gesammelt sind, die auf der Tagung über Scheuchzer im April 2007 am Monte Verità (Ascona) zusammengetragen wurden.3 Das erste signifikante Element ist der Hinweis auf die Notwendigkeit – eben als Folge der Entdeckung entfernter Welten – sich der Untersuchung des «Lokalen» zu widmen; das zweite ist die Überschneidung dieses Konzepts mit dem des «Vaterlands»; das dritte betrifft die enge Beziehung zwischen Religion und dem Studium der Naturgeschichte, was von Scheuchzer auf physikotheologische Weise gelöst wurde.4 Die Natur musste gemäss Scheuchzer und der anderen Physikotheologen zweifelsohne mit Hilfe der Methoden der neuen Wissenschaft untersucht werden, aber der Zweck dieser Analyse war immer noch und vor allem der Beweis der Existenz einer ersten Ursache – Gott – als Regent des Universums und der Natur.5

3 Der Titel der Tagung lautete: «Wissenschaft – Berge – Ideologien. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und seine Zeit»; sie hat vom 26. bis zum 28. April 2007 auf dem Monte Verità, Ascona (Schweiz) stattgefunden. Aus verschiedenen Gründen konnten Irmgard Müsch (Stuttgart), Philippe Mudry (Lausanne), Christoph Gros (Genf) und Philipp Felsch (Zürich) keine schriftliche Version ihres Vortrags liefern, auch wenn sie einen grossen Beitrag zur Konferenz geleistet haben. Eine vorhergehende Tagung, die dem Thema der Beziehung zwischen Wissenschaft und Gebirge gewidmet war, wurde vor einigen Jahren in Genf durchgeführt. Für die Akten siehe: Jean-Claude Pont / Jan Lacki (Hrsg.), Une cordée originale. Histoire des relations entre science et montagne, Chêne-Bourg/Genf 2000. 4 Über Scheuchzer und die Physikotheologie ist vor kurzem erschienen: Paul Michel, Physikotheologie. Ursprünge, Leistung und Niedergang einer Denkform, in: Neujahrs­ blatt auf das Jahr 2008, hrsg. von der Gelehrten Gesellschaft in Zürich, Zürich 2008. Simona Boscani Leoni, Zwischen Gott und Wissenschaft: Johann Jakob Scheuchzer (1672−1733) und die frühneuzeitliche Naturforschung, in: Aline Stein­brecher, Sophie Ruppel (Hg.), «Die Natur ist überall bey uns.» Mensch und Natur in der Frühen Neuzeit, Zürich 2009, S. 183–194. Zu diesem Thema allgemein: Kaspar von Greyerz, Religion und Kultur. Europa 1500–1800, Göttingen 2000. Im vorliegenden Band siehe den Beitrag von Paola Giacomoni. 5 Ein ausserordentliches Beispiel für den Versuch, die Bibel als Instrument der modernen Wissenschaft zu lesen, ist die letzte Anstrengung Scheuchzers, die Physica sacra, ein immenses Werk (2000 Seiten und über 700 Illustrationen), in dem er zum letzten Mal in seinem Leben versuchte, die Kompatibilität zwischen der Heiligen Schrift und den modernen Wissenschaften herauszustellen. Siehe Irmgard Müsch, Geheiligte Naturwis­ senschaft. Die Kupfer-Bibel des Johann Jakob Scheuchzer, Göttingen 2000; Robert Felfe, Naturgeschichte als kunstvolle Synthese. Physikotheologie und Bildpraxis bei Johann Jakob Scheuchzer, Berlin 2003.


Einleitung  11

Wissenschaft Die drei eben genannten Elemente (das «Lokale», das «Vaterland», «Gott») sind wiederum eng mit drei Konzepten verbunden, die der Tagung und dem Band den Titel gegeben haben. Das erste Konzept, «Wissenschaft», muss in weitestem Sinne verstanden werden, als «Wissen» und als Produktion, Diskussion und «In-Umlauf-Bringen» (neuer) Kenntnisse – einer der zentralen Aspekte, die das moderne Zeitalter kennzeichnen. Wissenschaft und Wissen müssen immer als dynamische Prozesse interpretiert werden, die in einem konstanten Dialog mit dem gesellschaftlichen Umfeld stehen, in das sie eingefügt sind und deren Ausdruck sie sind. Aus diesem Dialog entwickeln sich neue Formen der Kennt­ nis, neue Überzeugungen, und neue Methoden. Scheuchzer und seine gelehrten Zeitgenossen waren die wesentlichen Akteure dieses Prozesses.6 Sie waren Teil einer europäischen Kultur, die ihre eigenen geographischen Grenzen ausdehnte und sich auch neuen wissenschaftlichen Fragen öffnete. Die Entdeckung des Exotischen – ein wichtiger Moment in der Geschichte des Alten Kontinents – diente als Anreiz und führte zu einer parallel verlaufenden Entdeckungsbewe­ gung, nämlich zur Entdeckung des Regionalen, des Lokalen. Scheuchzer, seiner Ausbildung nach ein Arzt, aber mit lebhaftem Interesse auch für Astronomie, Mathematik, Physik, Geschichte und Geographie, war einer der Promotoren dieser Entdeckung des Einheimischen.7 Seine unermüdliche Forschungsarbeit, die er der Geschichte und der Naturgeschichte der Eidgenossenschaft widmete, stand an einem Wendepunkt zwischen Tradition und Neuerung. Seine Unter­ suchungen entwickelten sich innerhalb einer bereits etablierten Strömung der helvetischen naturwissenschaftlichen und historischen Studien, die ihre Wurzeln im Humanismus hatte und die von einer Reihe vorwiegend deutschsprachiger (wenn nicht direkt Zürcher) Gelehrter in der Mehrzahl reformierten Glaubens vertreten wurde wie Conrad Gesner (1516–1565), Josias Simler (1530–1576), Johannes Stumpf (1500–1574) und Aegidius Tschudi (1505–1572). Die Strömung setzte ausserdem die kulturellen Interessen fort, die Scheuchzers Lehrer und Vorgänger als Waisenhausarzt animierten, nämlich Johann Jakob Wagner

6 Dazu vgl. auch die Beiträge zu einem internationalen Kongress, der der Rolle des Wis­ sens und des Gelehrten als wesentlichen Akteurs und Produzenten von Wissen in der modernen Zeit gewidmet war: André Holenstein et al. (Hrsg.), Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century, Akten der in­ ternationalen Tagung, Leiden/Boston 2010 (Publikation in Vorbereitung). 7 Zu diesen Problemen z.B.: Alix Cooper, Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge, Mass. 2007.


12  Simona Boscani Leoni

(1641−1695), eine keineswegs zweitrangige Figur des Schweizer Kulturlebens der damaligen Zeit.8 Bei seiner Forschungsarbeit achtete Scheuchzer aber auf die neuen Methoden der von Bacon geprägten Wissenschaft und bewies eine grosse Sensibilität für die experimentelle Forschung und die Notwendigkeit einer Prüfung der eigenen empirischen Daten auf dem Terrain. Das Studium der Naturgeschichte der Alten Eidgenossenschaft, eine «terra incognita», wie er selbst gerne sagte,9 bedeutete häufige Reisen in diese Gebiete und in die verbündeten Länder (vor allem in die Drei Bünde) in Gesellschaft von Kollegen und Studenten und mit Hilfe einer fortschrittlichen wissenschaftlichen Ausrüstung (Barometer, Thermometer und andere Instrumente zur Messung der Berghöhe).10 Mit der Notwendigkeit einer konstanten Information war auch die Schaffung eines kapillaren Netzwerks aus Korrespondenten-Informanten in Europa, in der Eidgenossenschaft und vor allem in den Alpenregionen verbunden.11 Die Untersuchung des Lokalen, des «Einheimischen», bedeutete   8 Über Stumpf und Tschudi, siehe die Beiträge von Thomas Maissen und Christian Sieber in diesem Band. Wagner ist die Historia naturalis Helvetiae curiosa zu verdanken, die 1680 in Zürich veröffentlicht wurde und auf die Scheuchzer sich in grossem Umfang berief.   9 Siehe beispielsweise den von Scheuchzer am 13. November 1701 an den Kollegen, Freund und Medizinprofessor an der Universität Basel Theodor Zwinger III gerichteten Brief. Hier spricht der Zürcher von der Eidgenossenschaft als zu entdeckendem Gebiet. Siehe Marie-Louise Portmann (Hrsg.), Die Korrespondenz von Th. Zwinger III mit J. J. Scheuchzer, 1700−1724, mit Übersetzung ausgewählter Partien, Basel 1964, S. 49 und S. 225f. (deutsche Übersetzung des lateinischen Dokuments). 10 Scheuchzer veröffentlichte die Berichte über seine Alpenreisen in verschiedenen Aus­ gaben: Johann Jakob Scheuchzer, Ouresiphoitès helveticus, sive Itinera alpina tria, Londini 1708; ders., Ouresiphoitès helveticus, sive Itinera per Helvetiae alpinas regiones, Lugduni Batavorum [Leiden] 1723. Eine ins Deutsche übersetzte Version wurde nach seinem Tode von Johann Georg Sulzer herausgegeben: Johann Jacob Scheuchzers Natur=Geschichte des Schweitzerlandes samt seinen Reisen über die Schweitzerische Gebürge, Zürich 1746. Andere Texte, in denen sich ein Teil der während dieser Reisen gemachten Betrachtungen findet, sind z.B.: Johann Jakob Scheuchzer, Der Natur-Histori des Schweitzerlands, 3 Bde., Zürich 1716−1718 und die Seltsamer Naturgeschichten des Schweitzer-Lands wochentlich Erzehlung (veröffentlicht in Zürich von 1706 bis 1708). Von Itinera alpina wird derzeit eine französische Übersetzung vorbereitet, die Gegen­ stand des Vortrags von Philippe Mudry (Lausanne) auf der Tagung in Ascona war. Zu diesem Werk: Simona Boscani Leoni, Johann Jakob Scheuchzer (1672−1733) et la dé­ couverte des Alpes: les Itinera alpina, in: Christiane Demeulenaere-Douyère (Hrsg.), Explorations et voyages scientifiques de l’Antiquité à nos jours, Paris 2008, S. 81−100 sowie der Beitrag von Claude Reichler in diesem Band. 11 Zum Scheuchzer’schen Netzwerk (circa 800 Korrespondenten in der Eidgenossenschaft und im Ausland mit einem Nachlass von 7000 Briefen) erlaube ich mir zu verweisen auf: Simona Boscani Leoni, Scheuchzer und sein Netz. Akteure und Formen der Kommuni­


Einleitung  13

für Scheuchzer vor allem die Entdeckung einer stark von Unregelmässigkeiten (den Bergen) geprägten Landschaft und einer anthropologischen Entität, des Bergbewohners (homo alpinus), also zweier Elemente, die in seinem Werk eng mit der Idee des Vaterlands verknüpft sind.

Berge und Ideologien Das Konzept des Vaterlands regt zum Nachdenken an über das zweite Element der drei Begriffe, die im Buchtitel enthalten sind, nämlich den Ausdruck «Berge», der unauflöslich mit der Forschungstätigkeit des Zürcher Arztes verbunden ist: Scheuchzer wollte die (helvetische) Naturgeschichte erforschen, die Schönheiten der alpinen Natur und deren Nützlichkeit betonen und die Aufmerksamkeit der Gelehrten darauf zu richten.12 Die Berge stellten nicht nur eines der zen­tralen Elemente der eidgenössischen Landschaft dar, sondern waren (und sind) einer der Schlüsselpunkte, um die geologische Geschichte der Erde sowie die Funktion der meteorologischen und hydrologischen Mechanismen des Planeten zu verstehen. Die zahlreichen Fossilien, die in den Berggegenden gefunden wurden, und das Problem der Orogenese stellten den Gelehrten des 17. und 18. Jahrhunderts eine Reihe neuer Fragen, die nach klaren und umfassenden Antworten verlangten. Eben die Diskussion um den Ursprung der Berge und der Fossilien (von einigen als lusus naturae interpretiert, von anderen – wie auch von Scheuchzer selbst – als organische Reste alter Organismen) spielte eine zentrale Rolle in der Tätigkeit des Zürchers. Er folgte dabei den Theorien des englischen Arztes John Woodward (1665–1728), eines seiner treuesten Korrespondenten, und sah in den Fossilien die organischen Reste von Tieren oder Pflanzen aus der Zeit vor der Sintflut, die als determinierendes Ereignis in der geologischen Geschichte der Erde galt. So interpretiert, verwandelten sich die Fossilien zu Zeugnissen des Lebens vor der Katastrophe, sie bewiesen die wesentliche Ähnlichkeit der Welt vor und der Welt nach der Sintflut und wurden gleichzeitig zu einer Art Mahnung an die Menschheit und zu einem Verbindungselement

kation, in: Klaus-Dieter Herbst / Stefan Kratochwil (Hrsg.), Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M./Berlin/Bern 2008, S. 47−67. 12 Scheuchzer, Natur-Histori (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 3: In seinem Vorwort betont Scheuchzer die Notwendigkeit, die Natur zu kennen, um diese nützlich gebrauchen zu können: «[…] und überall dahin bedacht sein/ wie wir die natürliche Gaaben / so GOTT unseren Landen verliehen / nicht nur ansehen / und kennen / sondern auch nutzlich gebrauchen können […]» (Hervorhebung von SBL).


14  Simona Boscani Leoni

zwischen der biblischen Erzählung und dem Buch der Natur.13 Die damit herge­ stellte Verbindung zwischen der Welt vor und nach der Sintflut gestattete unter anderem, die Unregelmässigkeiten der Erdkruste als Werk der göttlichen Güte und Vorsehung und nicht mehr als Folge seiner strafenden Wut zu interpretieren. Auf diese Weise wurde eine Kontinuität zwischen der biblischen Geschichte und der Geschichte der Erde geschaffen und eine kritische Lektüre des Heiligen Textes vermieden, die dessen wissenschaftliche Inkongruenz aufgezeigt hätte.14 Die Berge und die in ihnen versteckten Fossilien waren also für Scheuchzer ein wichtiges Forschungsgebiet, der Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung der helvetischen Naturgeschichte und ein die nationale Identität der Eidgenos­ senschaft begründendes landschaftliches Element.15 Dieses Thema leitet über zum letzten Konzept: «Ideologien». «Ideologien» ist das dritte Element der Dreiergruppe und bezieht sich auf die moralische und patriotische Bedeutung der naturwissenschaftlichen Forschung bei Scheuchzer. Die wissenschaftliche Arbeit über die geographischen und naturalistischen Schweizer «Besonderhei­ ten» steht in Scheuchzers Texten in enger Beziehung zu den anthropologischen und politischen eidgenössischen Unterschieden. Bewegt von dem Willen, einen dem eigenen Land im kulturellen und politischen europäischen Umfeld ange­ 13 John Woodward, Essay toward a natural history of the Earth and terrestrial bodies, es­ pecially minerals, London 1695 (Scheuchzer übersetzte das Buch ins Lateinische: Specimen geographiae physicae …, Tiguri 1704). Siehe: Michael Kempe, Die Anglo-Swiss Connection. Zur Kommunikationskultur der Gelehrtenrepublik in der Frühaufklärung, in: Cardanus. Wissenschaftshistorisches Jahrbuch der Universität Heidelberg, Bd. 1: Wissen und Wissensvermittlung im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte der Naturwissenschaften zur Zeit der Aufklärung, hrsg. von Robert Seidel, 2000, Vol. 1, S. 71–91; ders., Sermons in Stone. J. J. Scheuchzer’s Concept of the Book of Nature and the Physics of the Bible, in: Klaas van Berkel / Arjo Vanderjagt (Hrsg.), The Book of Nature in Early Modern and Modern History, Löwen 2006, S. 111−120; ders., Wissen­ schaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) und die Sintflut­ theorie, Epfendorf 2003. 14 Siehe auch: Marjorie H. Nicolson, Mountain Gloom and Mountain Glory. The Develop­ ment of the Aesthetics of the Infinite, Seattle, London 1997 (1 Aufl. 1959); Martin J. Rudwick, The Meaning of Fossils, Chicago/London 21985; François Ellenberger, Histoire de la géologie, vol. 2: La grande éclosion et ses prémices, 1660–1810, Paris 1994. Zu diesen Aspekten wird auch auf die Texte von Robert Felfe, Urs B. Leu, Ezio Vaccari im vorlie­ genden Band verwiesen. 15 Das Thema der Beziehung zwischen nationaler Identität und Landschaft wurde von Oliver Zimmer (In Search of Natural Identity: Alpine Landscape and the Reconstruction of the Swiss Nation, in: Comparative Studies in Society and History, 1998, Vol. 40, S. 637–665; ders., A Contested Nation. History, Memory and Nationalism in Switzerland, 1761−1891, Cambridge 2003) und François Walter (Les figures paysagères de la nation: territoire et paysage en Europe, XVIe–XXe siècle, Paris 2004) untersucht.


Einleitung  15

messenen Stellenwert zu finden, insistierte er in seinen Werken auf der zentralen Lage der Alpen unter geographischen, orographischen und hydrographischen Gesichtspunkten und betonte die Rolle des Gotthardmassivs als mater fluviorum Europas. Die Wechselbeziehungen zwischen Umwelt und Ernährung – der dünnen Luft und dem hohen Verbrauch von Milch und von Milchprodukten – waren ebenfalls eines der Schlüsselelemente, die nicht nur den besonders gesunden und robusten Körperbau der Bergbewohner erklärten, sondern auch ihre angeborene Liebe zur Freiheit und Demokratie.16 Ein Beispiel hierfür ist die streng mechanistische Interpretation Scheuchzers über das Problem der Nostalgia, des Heimwehs. Er erklärte das Phänomen, unter dem vor allem die Schweizer Söldner im Dienste der ausländischen Mächte litten, mit der geringeren Reinheit der Luft und dem unterschiedlichen Luftdruck in der Ebene.17

Johann Jakob Scheuchzer: Zwischen Tradition und der Suche des Neuen Scheuchzer ist auch aufgrund seiner «Verwurzelung/Entwurzelung» im Vaterland eine interessante Persönlichkeit. Er lebte den Grossteil seines Lebens in Zürich und war gleichzeitig immer nach aussen orientiert, wie durch sein Briefnetzwerk bezeugt wird, das zur Hälfte aus schweizerischen Korrespondenten bestand und zur Hälfte aus Kontakten, die in ganz Europa verteilt waren. Nach den Studien in Deutschland und in den Niederlanden kehrte er bereits 1695 in seine Geburtsstadt zurück, wo er ein Berufsleben führte, das erst in den letzten Jahren von renom­ mierten Stellungen gekrönt wurde. Wenige Monate vor seinem Ableben wurde er zum Physikprofessor an der wichtigsten Schule der Stadt, dem Carolinum, bestellt, und er erhielt die Stellung als erster Stadtarzt erst, nachdem er lange Zeit als Arzt des Waisenhauses und als Mathematikprofessor gearbeitet hatte. Scheuchzer war schon als junger Mann sehr aktiv als Kurator der Bürgerbiblio­ thek (die erste Stadtbibliothek, die 1634 gegründet wurde) und der Kunstkammer, einer Sammlung unterschiedlicher Gegenstände und Besonderheiten, die als 16 Zum Bild des Gotthards als «mater fluviorum»: Guy P. Marchal, La naissance du mythe du Saint-Gothard ou la longue découverte de l’«homo alpinus helveticus» et de l’«Helvetia mater fluviorum» (XVe s.−1940), in: Jean-François Bergier / Sandro Guzzi (Hrsg.), La découverte des Alpes, Zürich 1992, S. 35−53 (Sonderausgabe von Itinera, 1992, Vol. 12). Diese Themen werden in der vorliegenden Publikation in den Beiträgen von Thomas Maissen und Guy P. Marchal behandelt. 17 Zu diesen Aspekten verweise ich auf die Beiträge von Guy P. Marchal, Hubert Steinke und Martin Stuber im vorliegenden Band.


16  Simona Boscani Leoni

das erste öffentliche Zürcher Museum und als eines der ersten Museen in der Schweiz gilt.18 Sodann war er Aktuar des Collegiums der Wohlgesinnten, einer halbgeheimen Gesellschaft, die aus Mitgliedern der Bildungselite bestand und in der die unterschiedlichsten Themen allgemeinen Interesses behandelt wurden, von der Wissenschaft bis zur Politik.19 Seine politischen Interessen bezeugt seine Teilnahme an den städtischen Unruhen von 1713 zugunsten einer Verfassungsre­ form, bei denen er als Sprecher der Zünfte hervortrat.20 Diese kurzen Hinweise auf das Leben des Zürcher Gelehrten ermöglichen es, einige Elemente herauszustellen, die das Interesse an seiner Person erklären: Scheuchzer war eine komplexe Figur, eine der interessantesten Persönlichkeiten des schweizerischen und europäischen Kulturlebens in der Zeit vor der Früh­ aufklärung. Er war ein auf seine Weise unbequemer Intellektueller, der an der Grenze zwischen der Notwendigkeit agierte, sich den von der religiösen Zensur auferlegten Einschränkungen seiner intellektuellen Arbeit anzupassen, und dem Willen, mit der modernen Wissenschaft Schritt zu halten – in einem ständigen Gleichgewicht zwischen Religion und Wissenschaft. Vielleicht wurde er gerade aus diesem Grund von der Geschichtsschreibung nur marginal behandelt, auch wenn ihm in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieses neue Interesse hängt mit den aktuellen Tendenzen der Geschichtsschreibung zusammen, mit den Themen der Kulturgeschichte und mit der Bewertung ikono­ graphischer Fragen, aber auch mit der Erforschung der Wissenschaftsgeschichte und der Formen der Wissenschaftskommunikation.21

18 Siehe: Claudia Rütsche, Die Kunstkammer in der Zürcher Wasserkirche: Öffentliche Sammeltätigkeit einer gelehrten Bürgerschicht im 17. und 18. Jahrhundert aus museums­ geschichtlicher Sicht, Bern 1997. 19 Für die Biographie von Scheuchzer: Rudolf Steiger, Johann Jakob Scheuchzer (1672– 1733). I. Werdezeit (bis 1699), Zürich 1927; Hans Fischer, Johann Jakob Scheuchzer, Naturforscher und Arzt, Zürich 1973 (Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich, Vol. 175); Michael Kempe / Thomas Maissen, Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich, 1679–1709, Zürich 2002. Urs B. Leu bereitet derzeit eine Biographie des Zürcher Arztes vor. Scheuchzer war auch Mitglied der an­ gesehenen Royal Society von London, der Academia Naturae Curiosorum von Schwein­ furt, der Preussischen Akademie der Wissenschaften von Berlin und der Accademia degli Inquieti von Bologna. 20 Siehe: Ernst Saxer, Die zürcherische Verfassungsreform vom Jahre 1713 mit besonderer Berücksichtigung ihres ideengeschichtlichen Inhaltes, Zürich 1938; Staatsarchiv des Kantons Zürich (Hrsg.), Kleine Zürcher Verfassungsgeschichte 1218−2000, Zürich 2000, S. 32f. Siehe auch den Beitrag von Michael Kempe in diesem Band. 21 Zu Beginn dieses Jahrzehnts wurden Scheuchzer drei Doktorarbeiten gewidmet: Müsch und Felfe (wie Anm. 5), Kempe (wie Anm. 13).


Einleitung  17

Dieser Band möchte somit eine Wiederaufnahme der Johann Jakob Scheuchzer gewidmeten Studien bewirken. Dazu soll auch ein laufendes Forschungsprojekt beitragen, das der Veröffentlichung eines Teils seines Briefwechsels dienen wird und – was vielleicht noch wichtiger ist – der Erstellung eines OnlineRepertoriums der Scheuchzer-Korrespondenz.22 Diese Publikation hat, wie auch die Tagung, die Ambition, generelle Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Naturwissenschaften und Studien der kulturhistorischen Alpen- und Gebirgsforschung zu präsentieren; sie ist aus diesem Grund in zwei Teile geglie­ dert: Im ersten Teil sind jene Beiträge versammelt, die sich direkt mit Scheuchzer befassen und die einen Überblick über den Stand der aktuellen Untersuchungen zu verschiedenen Aspekten seines Werks bieten. Im Vordergrund stehen die mit der Geologie und der Paläontologie verbundenen Themen, an denen Scheuchzer viel gelegen war. Es gibt aber auch allgemeine Betrachtungen über Scheuchzer als Physikotheologe, über den «Journalisten» Scheuchzer, den Illustrator und «Ideologen» der Alpen und des homo alpinus. Es wurden die Bedeutung des Zürcher Arztes als eines grossen Ordners und Verbreiters des Wissens sowie die zentrale Rolle seines Werks für die Aufwertung des Kultur- und Naturerbes der Schweiz hervorgehoben (Paola Giacomoni). Die Bedeutung seiner geologischen Forschungen «im Feld», sein Interesse für das Studium des Ursprungs der Erd­ beben, seine unermüdliche Tätigkeit als Sammler von Daten und Fossilien und als «wissenschaftlicher Zeichner» waren Gegenstand der Beiträge von Monika Gisler, Ezio Vaccari und Urs B. Leu. Dabei wurden sowohl seine originellen Aspekte als auch seine Bindung an die Tradition herausgearbeitet. Scheuchzer arbeitete in einer Zeit der starken Entwicklung der wissenschaftlichen Illustra­ 22 Das Projekt «Helvetic Networks: Science and Politics in the Correspondence of Johann Jakob Scheuchzer (1672−1733)», das von der Autorin koordiniert wird, sieht die Ver­ öffentlichung eines Bandes vor, der der schweizerischen Korrespondenz von Scheuchzer gewidmet ist, sowie die Schaffung einer Datenbank, die in die Datenbank des Albrecht von Haller (1708−1777) gewidmeten Projekts eingebunden wird, das, geleitet vom Insti­ tut für Medizingeschichte der Universität Bern, im Jahr 2003 abgeschlossen wurde. Eine weitere Einbindung erfolgt mit dem Projekt zur Oekonomischen Gesellschaft Bern, das am Historischen Institut der Universität Bern realisiert wird. Das Projekt «Helvetic Networks» wird vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaft­ lichen Forschung und dem Institut für Kulturforschung Graubünden (Chur) finanziert, dies in Zusammenarbeit mit dem Laboratorio di Storia delle Alpi (Accademia di Archi­ tettura, Università della Svizzera italiana, Mendrisio), der Universität und der Zentral­ bibliothek Zürich, den Universitäten von Luzern und Heidelberg. Siehe auch: Simona Boscani Leoni, Il progetto Helvetic Networks e la creazione di un repertorio on line della corrispondenza di Johann Jakob Scheuchzer, in: Maria Teresa Monti / Dario Generali / Ivano Dal Prete (Hrsg.), Le reti in rete. Per l’inventario e l’edizione dell’Archivio Valli­ sneri, Florenz 2010, S. 1–22.


18  Simona Boscani Leoni

tionen, und er selbst setzte die «Macht der Bilder» strategisch ein.23 Die Analyse einer Reihe unveröffentlichter Manuskripte mit von ihm selbst ausgeführten Collagen haben es gestattet, neue Fragen zum Problem der «material culture of science» aufzuwerfen und zu zeigen, wie innovativ Scheuchzer diesbezüglich war. Scheuchzer war ein Neuerer, der neue Perspektiven der ästhetischen Überlegung in den Naturwissenschaften eröffnete (Robert Felfe). Anhand der Landschaftsbilder der Itinera alpina konnte Claude Reichler einen Blick auf die verschiedenen Arten der Wahrnehmung und der Beschreibung der Landschaft werfen und dabei die Berührungspunkte zwischen der barocken Vorstellungswelt und der wissenschaftlichen Rationalität aufdecken – dies in engem Dialog zwischen dem Werk eines der produktivsten Barockautoren, Athanasius Kircher, und jenem des Schweizer Arztes Scheuchzer. Andere unveröffentlichte Handschriften hingegen zeigen das Bild Scheuchzers als eines aufmerksamem Beobachters der ihn umgebenden politischen Realität: Er erscheint als eine Art «embedded journalist» während des letzten inner­ schweizerischen Konfessionskriegs, des zweiten Kriegs im Toggenburg von 1712 (Michael Kempe). Diese Erfahrung scheint ein Wendepunkt in seiner Biographie zu sein, da er fortan aufgrund dieses Erlebnisses eine kritische Haltung gegenüber der Züricher Regierung einnahm, wie die Teilnahme an den städtischen Unruhen 1713 bezeugt. Zum Abschluss dieses ersten Teils bieten zwei weitere Aufsätze – ausgehend von unterschiedlichen Gesichtspunkten – eine ergänzende Lektüre der Rolle Scheuchzers bei der Entwicklung einer eidgenössischen Identitätsvorstellung, die auf der Alpenlandschaft basiert (Guy P. Marchal, Thomas Maissen). Auch in diesem Fall ist die Rolle Scheuchzers als Weiterführenden-Neuerers entscheidend: Er war in der Lage, bereits vorhan­ dene Ideen und Empfindungen aufzugreifen und umzuwandeln, die die Alpen zu einem zentralen Element von Überlegungen über die konstitutionellen und politischen Besonderheiten der Eidgenossenschaft gemacht hatten. Der zweite Teil des Buchs enthält eine Reihe von Beiträgen, die aus unter­ schiedlichen Sichtweisen das Problem der Beziehung zwischen Wissenschaft und Bergen behandeln, die Rolle der Landschaft als Identitätselement. Hier wird eine diachronische Übersicht geboten, die es ermöglichen soll, die Rolle Scheuchzers in diesem langfristigen Kontext besser zu verstehen. Es wurden dabei insbesondere einige Elemente der Kontinuität mit den humanistischen 23 Zum Thema z.B.: Barbara M. Stafford, Artful science: Enlightenment, Entertainment and the Eclipse of Visual Education, Cambridge, Mass. 1994 (Deutsche Übersetzung Amsterdam/Dresden 1998); David Freedberg, The Eye of the Lynx. Galileo, his Friends and the Beginnings of Modern Natural History, Chicago 2002; Wolfgang Lefèvre, Jürgen Renn, Urs Schöpflin (Hg.), The Power of Images in Early Modern Science, Basel 2006.


Einleitung  19

Gelehrten (beispielsweise mit Aegidius Tschudi, dessen Werk und Aufnahme von Christian Sieber analysiert wurde) und den Entwicklungen im 18. Jahrhundert hervorgehoben. Es finden sich Analogien und Unterschiede mit Intellektu­ ellen vom Rang eines Albrecht von Haller, der eine deutliche Zäsur mit dem physikotheologischen Ansatz von Scheuchzer markiert (Martin Stuber und Hubert Steinke). Die Rolle Scheuchzers und der anderen Schweizer Gelehrten wie Salomon Gessner und Jean-Jacques Rousseau wurde berücksichtigt, um deren Einfluss auf den Wandel der Wahrnehmung der Berglandschaft und der Eidgenossenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts zu erklären. In dieser Zeit wurde die raue Alpenlandschaft zum Symbol und fast zu einer Reinkarnation des Gartens Eden auf Erden: sie wurde zur Basis einer bis dahin unbekannten Gesellschaftskritik (Uwe Hentschel). Diese neue Wahrnehmung der Alpen und ihrer Landschaft ist auch eng mit der Entwicklung der Reiseliteratur verbunden, die im Werk Scheuchzers mit den Itinera alpina gut vertreten ist. Sie hängt mit der Entwicklung der topischen Darstellung von Landschaften und Menschen zusammen. Eine besondere Idealisierung inspirierte die Bilder, die die Urheber dieser Annäherung zwischen Mensch und Natur, die Bergsteiger-Wissenschaftler, prägten. Die Analyse der Illustrationen, welche die Besteigung des Mont Blanc durch Horace Bénédict de Saussure darstellen, verdeutlichen diesen Zusam­ menhang (Daniela Vaj). Die Überhöhung der Figur des Bergsteigers ist auch die Grundlage für die neue Rolle, die der Alpinismus als Sport im 19. Jahrhundert übernehmen wird, als Antriebskraft nicht nur der Entdeckung der ungezähmten Natur, sondern auch, und vor allem, der Entwicklung der wissenschaftlichen Beobachtungen im Hochgebirge (Alessandro Pastore). Das schwierige Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion, ein Problem, unter dem – aufgrund der Zensur – wiederholt auch das Werk Scheuchzers zu leiden hatte, steht im Mittelpunkt zweier Beiträge, die zwei unterschiedliche Epochen berücksichtigen: einerseits die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, durch die katholische Gegenreform geprägt, und auf der anderen Seite die Zeit um die Französische Revolution. Die Auswirkung des neuen kulturellen und religiösen Klimas am Ende des 16. Jahrhunderts auf die Unabhängigkeit der wissenschaftli­ chen Forschung in Norditalien ist in der Analyse eines pionierhaften Werks über den Ursprung der Berge deutlich zu sehen. Es war das erste seiner Art und wurde vom Dominikaner Valerio Faenzi publiziert (Ivano Dal Prete). Das Problem des Verhältnisses zwischen der wissenschaftlichen Forschung, dem politischen Einsatz und dem Glauben wird auch im Beitrag behandelt, das den geologischen Untersuchungen des Genfers Jean André Deluc (1727−1817) gewidmet ist. Dessen Untersuchungen sahen in der Erdkruste Zeichen unterirdischer Revo­ lutionen, die die Berge und die Kontinente hervorgebracht hatten – dies in der Absicht, eine Komposition aus Wissenschaft und Religion zu finden, die sich der


20  Simona Boscani Leoni

aufgeklärten Idee einer Trennung zwischen der göttlichen und der menschlichen Sphäre entgegensetzen konnte (Marita Hübner). Die Auswirkung der geographischen Entdeckungen und der Entdeckung des Exotischen, die Notwendigkeit einer globalen wissenschaftlichen Forschung sowie der grundlegende Wandel der aufgeklärten Forschung auf diesem Gebiet werden in idealer Weise von Alexander von Humboldt (1769−1859) verkörpert. Er machte sich zum Sprecher einer allgemeinen, auf die Bergwelt angewandten Forschungsperspektive, so wie sich eben auch die Reisemöglichkeiten zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert globalisiert hatten (Jon Mathieu). So weit in Kürze der Inhalt der veröffentlichten Artikel. Eine Akten­ publikation hat die Aufgabe, neue Denkanstösse zu geben, neue Fragen zu stellen, die Forschung anzutreiben und dabei unberührte Wege aufzuzeigen: Die vorgestellten Referate möchten einen originalen Beitrag leisten, um die Debatte über Scheuchzer und die Erforschung der Beziehungen zwischen Wissenschaft – vor allem den Naturwissenschaften – und der Bergwelt anzuregen und wieder zu eröffnen. Natürlich gibt es zahlreiche Themen, die in Zukunft zu vertiefen sind. So bleibt beispielsweise noch viel zu tun, um die Rolle Scheuchzers als Arzt und Naturalist zu verstehen (und – allgemein – die Rolle der Ärzte auf dem Gebiet der Wissenschaften der damaligen Zeit), um das Verständnis seines Briefwechsels zu vertiefen und dessen Funktion im Rahmen des «Labors» der Werke Scheuchzers zu erfassen.24 Ebenso müsste die Beziehung zwischen dem Studium der Geschichte und der Naturgeschichte analysiert werden, um nur einige der Aspekte zu nennen, die von den hier aufgeführten Referaten behandelt werden. Scheuchzer und die anderen Gelehrten, die Gegenstand der verschiedenen Beiträge waren, erhalten eine exemplarische Bedeutung als Produzenten und Verbreiter neuer Ideen, neuer Kenntnisse und neuer Praktiken der Wissensverarbeitung. Wir hoffen, mit dieser Veröffentlichung einen nützlichen Beitrag in dieser Richtung geleistet zu haben. Mit Clifford Geertz könnte man sagen, dass die Untersuchungen des Historikers und die des Ethnologen ein gründliches Ver­ stehen von Situationen und Problemen erlauben müssen. Die Untersuchungen 24 Über Scheuchzer als Arzt: Michael Kempe, Postalische Kommunikationen. Medizin in der Korrespondenz von Johann Jakob Scheuchzer (1672−1733), in: Hubert Steinke et al. (Hrsg.), Medical Correspondence in Early Modern Europe, (Gesnerus. Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences), Vol. 61, 2004, S. 177−197; Franz Mauelshagen, Neuerfindung einer medizinisch-politischen Kontroverse. Johann Jakob Scheuchzer und die Debatte der Kontagionisten und Antikontagionisten während der provenzialischen Pestepidemie von 1720−1722, in: André Holenstein et al. (Hrsg.), Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen, Heidel­ berg 2007 (Cardanus, 2007, Vol. 7), S. 149−185.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.