Europa und Afrika

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Georg Kreis (Hrsg.)

Europa und Afrika Betrachtungen zu einem komplexen Verhältnis





Europa und Afrika Betrachtungen zu einem komplexen Verhältnis

herausgegeben von Georg Kreis

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften Académie suisse des sciences humaines et sociales Accademia svizzera di scienze morali e sociali Academia svizra da scienzas moralas e socialas Swiss Academy of Humanities and Social Sciences

Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel

Abbildungen auf dem Umschlag: Europakarte von 1911; Afrikakarte von 1885; Afrika- und Europa-Allegorien von Giovanni Battista Tiepolo, Ausschnitte aus dem Deckenfresko im Treppenhaus der Residenz Würzburg (1752/53).

© 2010 by Schwabe AG, Verlag, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Iris Becher, Schwabe Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2593-3 www.schwabe.ch


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Kreis Von der Dekolonisation zum Neokolonialismus. Ein historischer Rückblick zur politischen Gegenwart . . . . . . . . . . . . . .

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Hartmut Leser «Wir nannten sie Wilde»: Europäische Afrikabilder aus geographischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lucius Caflisch Europäische Grenzziehungen in Afrika: Kasikili/Sedudu und andere Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Till Förster «Greener Pastures»: Afrikanische Europabilder vom besseren Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Laurent Goetschel Europäische Afrikahilfe: Von den Kolonien zur Partnerschaft? . . . . . .

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Patrick Harries / David Maxwell Europäische Missionare und afrikanische Christen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mohomodou Houssouba Afrikanische Blicke auf Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133



Vorwort

Die vorliegende Sammlung ist, wie die analogen Bände der früheren Jahre, aus einer universitären Vortragsreihe des Basler Europainstituts hervorgegangen und in diesem Jahr dem Verhältnis Europa – Afrika gewidmet. Wie kann man dieses Verhältnis charakterisieren? Es gehört zu unserem Allgemeinwissen, dass die beiden Kontinente sozioökonomisch und kulturell weit auseinander liegen und doch eng miteinander verknüpft sind. Man kann nicht sagen, dass sich Europa bisher zu wenig für Afrika interessiert hat. Es besteht ein Interesse seit langem und in den verschiedensten Formen: ein vielleicht harmloses Interesse für Afrikas Geographie, nicht nur harmlos für seine Fauna und Flora, kaum selbstlos für Afrikas Rohstoffe; sodann gutgemeinte und andere Interessen von kirchlicher Seite, schließlich ein Interesse aus politischen Motiven, zumal sich immer auch andere – kolonial und imperial – für Afrika interessierten. Das Interesse dieses Buches gilt weniger Afrika in direkter Weise als den europäischen Blicken auf Afrika. Es bietet eine multidisziplinäre Bündelung von Fachperspektiven, die sich aus historischer, geographischer, ethnologischer, völkerrechtlicher und politologischer Sicht mit dem afrikanischen Kontinent beschäftigen. Wie es kein einziges und einiges Europa gibt, gibt es auch Afrika nicht im Singular. Und so gibt es auch nicht den afrikanischen Blick auf Europa. Wichtig ist, dass unter diesen Beiträgen auch die umgekehrte Perspektive sichtbar wird und neben den europäischen Afrikakennern mit Mohomodou Houssouba wenigstens ein afrikanischer Autor zu Wort kommt. Basel, im Mai 2009

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Von der Dekolonisation zum Neokolonialismus. Ein historischer Rückblick zur politischen Gegenwart Georg Kreis

Die hier angestellten Überlegungen haben in gewissem Sinn Einführungscharakter und wollen den historisch-kolonialen Hintergrund unserer Thematik ansprechen und aufzeigen. Ein erster Abschnitt soll auf die Ursachen jenes Prozesses eingehen, der von der Kolonialzeit in die Zeit der vermeintlichen oder tatsächlichen Dekolonisation geführt hat. In einem zweiten Abschnitt sollen die Zusammenschlüsse europäischer wie afrikanischer Staaten zu multilateralen Einheiten betrachtet und auf die Frage hin untersucht werden, inwieweit beide Zusammenschlüsse zu einem Abbau des Kolonialismus geführt haben. Und in einem dritten Abschnitt wird von der neokolonialen Kontinuität die Rede sein. Dies alles kann hier nur in sehr allgemeiner Weise geschehen, das heißt ohne Ausführungen zu einzelnen Vorgängen und Verhältnissen. Die kritischen Bemerkungen zur französischen Politik richten sich dabei nicht speziell gegen Frankreich, sondern charakterisieren allgemeine Tendenzen des europäischen und amerikanischen Nordens.

1. Die Dekolonisation als bilateraler und globaler Vorgang Lassen Sie mich zunächst rekapitulieren: Afrika ist im 19. und 20. Jahrhundert vollständig von europäischen Mächten kolonisiert worden. Hauptkolonisatoren waren Frankreich und Großbritannien. Formelle Kolonialherrschaften konnten in kleinerem Ausmaß aber auch von Belgien, Spanien, Portugal, Italien und Deutschland geschaffen werden. Diese Entwicklung kam im 20. Jahrhundert in Etappen zu einem Ende. Innert kürzester Zeit erfolgte eine Reduktion der unter formaler Fremdherrschaft lebenden Erdbevölkerung von 33 auf 0,1%. Wie ist das zu erklären?1 Wir müssen zunächst unterscheiden zwischen den zahlreichen Nebenvarianten von Abdankungen im Rahmen der sich über das ganze 20. Jahr1

John Springhall, Decolonization since 1945. The Collapse of European Overseas Empires, Basingstoke 2001, S. 1.


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hundert erstreckenden Beendigungen der deutschen, italienischen, spanischen und portugiesischen Kolonialherrschaft und den auf die Zeit um 1960 konzentrierten Hauptvarianten des französischen, belgischen und englischen Rückzugs aus den Kolonien. Ist von einer Preisgabe der Kolonialherrschaft die Rede, müsste übrigens auch benannt werden, was denn damit genau preisgegeben wurde – wobei hier jedoch nicht breit ausgeführt werden kann, was Kolonialismus war. Kurz gesagt, es wurde auf aktuelle Einflussnahme in Form direkter Verfügungsgewalt verzichtet. Was dagegen nicht einfach «beendet» werden konnte, war das Erbe der Kolonialherrschaft insbesondere in Form der eingetretenen kulturellen Entfremdung der kolonisierten Bevölkerung. Man könnte von der Kolonialgeschichte – wie von der Geschichte des Genozids an den europäischen Juden – sagen, dass sie eine Vergangenheit ist, die nicht vergehen will.2 Dies insofern, als die Folgen der Vergangenheit weiterwirken. Im Bewusstsein lebt Vergangenheit aber nur nach, wenn man sie am Leben hält, was voraussetzt, dass es Kräfte gibt, die sie in der Diskussion halten oder gar erst in diese hineinbringen wollen. Die Dekolonisation ist neben den beiden Weltkriegen das zwischenstaatliche Hauptereignis des 20. Jahrhunderts. Bisher hat sie aber noch nicht den ihrer Bedeutung entsprechenden Platz in unserem historischen Bewusstsein eingenommen. Entsprechend dürftig ist denn auch unser Verständnis zu diesem Vorgang.3 2

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Nach dem Titel des Artikels von Ernst Nolte, «Vergangenheit, die nicht vergehen will», in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juni 1986, vgl. auch Ernst Nolte, Das Vergehen der Vergangenheit: Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit. Berlin 1987. So ist auch die allgemeine (nicht auf Einzelfälle ausgerichtete) Literatur zur Dekolonisation bescheiden. Zu nennen sind insbesondere in chronologischer Ordnung: Muriel E. Chamberlain, Decolonization. The Fall of the European Empires, Oxford 1985. – Raymond F. Betts, Decolonization (The Making of the Contemporary World), New York / London 1994 (und neuere Ausgaben). – John Springhall, Decolonization since 1945. The Collapse of European Overseas Empires, Basingstoke 2001. – Bernard Droz, Histoire de la Décolonisation auch XXe siècle, Paris 2006. – Deutsche Literatur findet sich kaum: Wolfgang J. Mommsen / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Imperialism and after. Continuities and discontinuities, London/Boston/Sydney 1986; dort ist jedoch viel von Imperialismus die Rede und nur wenig vom Danach. Als einziger Autorenname unserer Zeit ist Jürgen Osterhammel zu nennen: Jürgen Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: Neue Politische Literatur 37, 1992, S. 401–426. – Wichtig, wenn auch auf das Gegenstück des Kolonialismus konzentriert, ist die kleine Publikation wiederum von Jürgen Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, in der bekannten Reihe Beck Wissen von 1995 (und spätere Ausgaben). In welchem Maß unterentwickelt die Thematik in der deutschsprachigen Wissenschaft ist, zeigen die Publikationen aus dem Fischer Taschenbuch Verlag, besonders krass die noch


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Warum kam es um 1960 zu dem markanten Wandel im Verhältnis zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten? Theoretisch lassen sich drei Erklärungen unterscheiden: 1. die Mutterland-Theorie (oder metropolitan theory), 2. die Domino-Theorie (oder international theory) und 3. die Befreiungstheorie (oder peripheral theory).4 Die Domino-Theorie ist unproblematisch und entsprechend wenig umstritten: Man sieht dabei in der Dekolonisation vor allem einen großen, von der Vorbildwirkung Indiens (Ende der britischen Kolonialherrschaft im Jahre 1947) ausgehenden und sich selbst verstärkenden, jedoch nicht planmäßig verlaufenden Trend, der unterstützt wurde von den erstarkenden Flügelmächten USA und UdSSR, die sich antikolonialistisch gaben (das heißt den old-style-colonialism ablehnten), aber ihren je eigenen Imperialismus betrieben. Die beiden anderen Theorien konkurrenzieren sich: Ist es bloß aufgrund der Schwächung des kolonisierenden Zentrums oder im Gegenteil wegen des Erstarkens der kolonisierten Peripherie zur Dekolonisation gekommen? Die Mutterland-Theorie beruft sich auf zwei Vorgänge: Einerseits sind dies die von neuen Bedürfnissen ausgehenden strukturellen Anpassungszwänge. Staatliche Mittel wurden statt für Kolonien für die eigene Wohlfahrtspolitik gebraucht, das heißt etwa für das Spital- und Schulwesen oder die Subvention von Häuserkäufen der neuen europäischen Mittelschicht.5 Hinzu kam, dass nach 1945 die Liberalisierung der Weltwirtschaftsordnung einsetzte und in Europa die Agrarproduktion wieder ausgebaut wurde. Plötzlich wurden die Kolonialkosten wichtig, und es wurde – etwa von Raymond Cartier im «Paris Match» vom August 1956 – vorgerechnet, dass die Kolonialausgaben die Kolonialeinnahmen übersteigen würden.6 Dabei berief man

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immer vertriebene Darstellung von David Kenneth Fieldhouse, Die Kolonialreiche seit dem 18. Jahrhundert, seinerzeit ein Pionierwerk, nach 40 Jahren aber doch veraltet, ebenso wie Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, der 1966 einmal modern war und bis in die 80er Jahre bei dtv stets neu aufgelegt wurde. Zur deutschsprachigen Literatur gehört auch Wolfgang J. Mommsen (Hrsg.), Das Ende der Kolonialreiche: Dekolonisation und die Politik der Großmächte, mit Beiträgen von Rudolf von Albertini et al., Frankfurt a.M. 1990. Jürgen Osterhammel, Spätkolonialismus und Dekolonisation, in: Neue Politische Literatur 37, 1992, S. 408. – John Springhall, Decolonization since 1945, a.a.O., S. 4ff. Im Falle Großbritanniens spielte auch die Währungspolitik eine Rolle: Durch die freie Konvertibilität gewann der Sterling an Bedeutung im globalen Rahmen, darum war die Metropole sekundär weniger auf Kolonialgebiete angewiesen. Springhall, Decolonzation since 1945, a.a.O., S. 15. Vgl. Frederick Cooper, Decolonization and African society: the labor question in French and British Africa, Cambridge 1996, S. 402.


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sich auf die Niederlande, die nach der 1949 endlich erfolgten Aufgabe Indonesiens einen Wachstumsschub erfahren hätten. Andererseits trat auch ein Wandel in der öffentlichen Meinung ein; man war mehrheitlich gegen die Weiterführung der Kolonialherrschaft. Mit Wolfgang Mommsen kann man abgekürzt sagen, dass die Weiterführung der Kolonialherrschaft «weder politisch durchsetzbar noch ökonomisch sinnvoll» gewesen sei.7 Stark ins Gewicht fallend bis sogar entscheidend war die Einsicht, dass der Kolonialismus zu teuer und entbehrlich sei: zu teuer, weil die Kredite, wie gesagt, nun eher in die moderne Sozialpolitik gepumpt und für neue Rüstung gebraucht wurden (im Falle Frankreichs insbesondere für die Atomwaffe); und entbehrlich, weil die maßgeblichen wirtschaftlichen Kräfte angesichts der schon in den 1950er Jahren sich rasant verstärkenden Globalisierung den territorial definierten Protektionismus aufzugeben bereit waren.8 In der Literatur spiegeln sich diesbezüglich wiederum zwei Varianten: Eine orthodoxe Sichtweise versteht die Dekolonisation als Preisgabe der Kolonien aus der freien Einsicht, dass die Institutionalisierung der Ungleichheit nicht mit den modernen Prinzipien vereinbar sei. Dagegen geht eine revisionistische Sicht davon aus, dass man aus struktureller Schwäche zur formellen Preisgabe gezwungen war und dass man es vorgezogen habe, mit informellem Neokolonialismus weiterzufahren, um auf diese Weise mehr Gewinn aus den früheren Kolonien zu ziehen. Die Befreiungs-Theorie sieht die Erklärung für die Dekolonisation im antikolonialen Nationalismus und der wachsenden Opposition in den Kolonien selbst beziehungsweise darin, dass die Bereitschaft der Eliten zur Kollaboration zurückging. Sie pflegt die Überzeugung, dass dies der «primary factor» gewesen sei, primär vielleicht hinsichtlich Gewicht, primär aber auch in zeitlicher Hinsicht; dies als eine zur Selbstüberschätzung neigende Theorie der kolonialen Selbstbefreiung.9 Ein Element des Selbstbefreiungsvorgangs war, 7 8

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Wolfgang J. Mommsen, Europa und die außereuropäische Welt, in: Historische Zeitschrift, Bd. 258, 1994, S. 661–695, zit. S. 691. Der komplexe Vorgang der Dekolonisation lässt sich freilich nicht auf diesen einen Punkt bringen, er ist das Resultat eines differentiellen Zusammenwirkens von Prozessen auf drei verschiedenen Ebenen: 1. der intra-imperialen Ebene (Verhältnis Kolonie-Kolonialland), 2. der sub-imperialen Ebene (innerhalb der Kolonie) und 3. der supra-imperialen Ebene (Weltpolitik und Weltwirtschaft). Diese Unterscheidung gibt den Vorgängen innerhalb des Mutterlands keine eigene Position, muss also unter Punkt 1 subsumiert werden. – Zur Globalisierungsthese vgl. etwa Raymond F. Betts, Decolonization, a.a.O., S. 67. – Zur innenpolitischen (metropolitan/domestic) Erklärung vgl. etwa John Springhall, Decolonization since 1945, a.a.O., S. 23ff. Springhall, ebd. Aber eines ist zutreffend: «Nationalist political disturbance clearly had


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dass die einheimischen Eliten den Bann des europäischen Überlegenheitsanspruchs durchbrachen und den Kampf um die kulturelle Hegemonie aufnahmen. Dies geschah in doppelter Weise: einerseits durch die Übernahme und Umkehrung europäischer Ideen, der Selbstbestimmung, der Nation, der Demokratie, andererseits durch ein Entgegenhalten von «einheimischen», teils wiederbelebten, teils erfundenen Traditionen.10 Hierher gehören Léopold Sédar Senghors Theorie von der «Négritude»11 oder Frantz Fanons «Les damnés de la terre».12 Drei Erklärungsansätze zum Verstehen der Dekolonisation: In manchen Fällen wird man dem komplexen Vorgang am besten gerecht, wenn man von einer Kombination von mehreren Theorien ausgeht und sich dann fragt, welche Anteile sie im Einzelnen haben. Zum Verständnis des Neokolonialismus ist es indes besonders wichtig, die in der Mutterland-Theorie berücksichtigte Tendenz zur Weiterführung des Alten in neuem Kleid zu sehen.

2. Die Zusammenschlüsse europäischer und afrikanischer Staaten Es besteht die gängige Meinung, dass Europa durch den Zweiten Weltkrieg zwei Dinge gelernt habe: erstens die stark im Vordergrund stehende Lektion, dass der europäische Nationalismus überwunden werden müsse, und zweitens die etwas weniger klare Lektion, dass den europäischen Kolonien die Unabhängigkeit zu geben sei. Doch beide Lektionen wurden nicht sogleich gelernt. Und wie dank des Kalten Kriegs der Zusammenschluss zu einer europäischen Gemeinschaft in den 1950er Jahre schließlich doch stattfand, so war es zugleich wegen des Kalten Krieges offenbar schwierig, den Kolonien die Unabhängigkeit zu geben, weil sie in die Hände der Kommunisten hätten fallen können. Jedenfalls war es 1956/57 einigermaßen klar, dass das französische Kolonialreich in die EWG einbezogen werden sollte. Man kann sich nur darüber the capacity to promote colonial self-government to the top of the political agenda in various European capitals.» (Ebd., S. 9.) 10 Osterhammel meint, dass dieser doppelte Prozess «unweigerlich» als historischer Moment habe kommen müssen. Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, a.a.O., S. 118. 11 Vgl. etwa Léopold Sédar Senghor (Hrsg.), Anthologie de la nouvelle poésie négre et mangache, Paris 1948. 12 Frantz Fanon, Les damnés de la terre, Paris 1961; deutsche Ausgabe: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 1966 (und spätere Ausgaben).


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streiten, was wofür die Voraussetzung war: Betrieb Frankreich eine ReEuropäisierung seines Wirkungsfeldes, weil es merkte, dass die Kolonialära zu Ende ging? Oder war es nur darum für die Europäische Gemeinschaft zu haben, weil es glaubte, mit ihrer Hilfe seine Kolonien behalten zu können? Die zweite These ist die wahrscheinlichere. Frankreich hoffte zunächst sogar, mit Hilfe der europäischen Bundesgenossen den Algerienkrieg gewinnen zu können. Hinzu kam, dass es mit seinem afrikanischen «Besitztum» ein Gegengewicht zur unheimlich schnell wieder erstarkenden Bundesrepublik und bis zu einem gewissen Grad auch zu den USA schaffen wollte. In beiden Römischen Verträgen – EWG und EAG vom März 1957 – wurde in kolonialer Manier über die Kolonien verfügt.13 Die Römischen Verträge wurden im Sommer 1957 in der französischen Ratifizierungsdebatte mit den Worten gerechtfertigt: «Ils redonnent à la France sa véritable vocation: celle de mettre en contact, grâce à son génie universaliste, l’Europe et l’Afrique.»14 Bemerkenswert ist, dass die fünf anderen Staaten bei diesem neokolonialistischen Projekt mitmachten. Vier von ihnen waren eben ihrerseits noch immer Kolonialmächte oder hatten eine erst seit kurzem hinter sich gelassene Kolonialvergangenheit. Mit der Regelung von 1957 versuchte man auch, wie Karl W. Deutsch 1972 bemerkte, dem erstarkenden Emanzipationsnationalismus in den Kolonien mit dem wieder gehobenen Prestige des vereinigten Europa entgegenzutreten und die Kolonien «zur Akzeptanz eines Platzes in einem wesentlich von Europa bestimmten und beherrschten System zu zwingen».15 13 Der eigentliche Assoziierungsartikel, dessen Details erst drei Wochen vor Vertragsunterzeichnung (am 20. Februar) geregelt wurden, schuf analog zu den europäischen Landwirtschaftsprodukten ein Präferenzzollsystem und einen Entwicklungsfonds von insgesamt 581 Millionen Dollar, in den die Vertragspartner unterschiedliche Anteile einbezahlten und aus dem sie Mittel für ihre Kolonialgebiete bezogen. 14 So Chefunterhändler Maurice Faure, zitiert nach René Girault, La France entre l’Europe et l’Afrique, in: Enrico Serra (Hrsg.), La relance européenne et les traités de Rome, Brüssel 1989, S. 351–378, zit. S. 376. Dies ist im Grunde nichts anderes als das Dependenzprogramm, was man nachher wiederum bestritt, als es von kritischen Historikern wie Paul Bairoch als solches auf den Punkt gebracht wurde: Paul Bairoch, Historical Roots of Economic Underdevelopment: Myths and Realities, in: Mommsen/Osterhammel (Hrsg.), Imperialism and after, a.a.O., S. 191–216. 15 Karl W. Deutsch, Auf dem Weg zur westeuropäischen Integration – eine Zwischenbilanz, in: Abraham Ashkenasi / Peter W. Schulze (Hrsg.), Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, Düsseldorf 1972, S. 185–199 (zit. S. 187). – Thomas Moser, Europäische Integration, Dekolonisation, Eurafrika. Eine historische Analyse über die Entstehungsbedingungen der Eurafrikanischen Gemeinschaft von der Weltwirtschaftskrise bis zum Jaunde-Vertrag, 1929–1963, Baden-Baden 2000 (Diss. Bern 1997), S. 65.


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Das Bestreben Frankreichs, die eigene Afrikapolitik im Verbund mit anderen Europäern zu betreiben, hat in jüngerer Zeit eine Fortsetzung erfahren: Dem französischen Staatspräsidenten Chirac gelang es beim 24. französisch-afrikanischen Gipfeltreffen in Cannes im Februar 2007, die deutsche Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Eigenschaft als EU-Ratspräsidentin ganz im Stil von «1957» ins halb neo-, halb postkoloniale Boot zu holen.16 Zugleich steht die EU im Begriff, mit militärischen Mitteln (mit der EUFOR) Frankreichs Präsenz im Tschad zu sichern.17 Vor der europäischen Öffentlichkeit wird dieses Engagement damit billig gerechtfertigt, dass man auf solche Weise größeren Fluchtbewegungen nach Europa zuvorkomme.18 Die Regelung von 1957 war auf fünf Jahre angelegt. Nach 1960 musste sie auch darum neu ausgehandelt werden, weil von ihr berührte Gebiete inzwischen ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Das Ergebnis der weiteren Verhandlungen ging als Vertrag von Jaunde 1963 und – nach dem Beitritt Großbritanniens mit seinem exkolonialen Anhang – als Vertrag von 1973 in die Geschichte ein. Beide Verträge bildeten die Basis für die Entwicklungshilfe der EG.19 Man kann an diesen Abkommen würdigen, dass sie aus einer «Association octroyée» eine «Association négociée» gemacht sowie mindestens formale Gleichberechtigung eingeführt haben und dass sie das «umfassendste Kooperationsabkommen zwischen Nord und Süd der Menschheit» darstellen.20 Zugleich muss man aber auch festhalten, dass die Verhandlungsmacht sehr ungleich verteilt war und dass es sich darum um ein typisches «unequal bargaining» handelte. Der Süden war tendenziell auch 1963 weitgehend Befehlsempfänger. Es stimmt nachdenklich, dass die spätere Hilfe einer Haltung entsprang, welche zunächst vor allem den Einfluss der Europäer auf ihre Kolonialgebiete in die nachkoloniale Zeit hinüberretten wollte 16 Neue Zürcher Zeitung vom 15. und 16. Februar 2007. 17 Wegen der Lage vor Ort wurde die Entsendung von Österreichern und Iren im Februar 2008 gestoppt. 18 Vgl. etwa den kritischen Kommentar des EU-Parlamentariers Tobias Pflüger (PDS) vom 24. April 2006. 19 Die Bedeutung, die von der EG und speziell von Frankreich den ehemaligen Kolonien und insbesondere Frankreich gegeben wurde, wird in den Arbeiten von Sophie Huber deutlich. Vgl. ihre unpublizierte Dissertation: Polyphonie sur l’identité européenne. Aux origines d’un discours identitaire 1962–1973, Genf 2008, Kap. 7, S. 243ff. sowie ihren im Druck befindlichen Aufsatz für Relations Internationales: Dialogue avec le Tiers Monde: l’Europe communautaire à la recherche d’une identité postcoloniale. 20 Moser, Europäische Integration, Dekolonisation, Eurafrika, a.a.O., S. 415 und 469.


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und eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung, zum Beispiel in Form eines rein afrikanischen Supranationalismus, ausschloss.21 Was man «transfer of power» nannte, fand im Falle der britischen Kolonien im Rahmen des Commonwealth statt und führte zu einer Mischung von weitgehender Selbstbestimmung und lockerer Gemeinschaftspolitik. Ghana war 1957 die erste britische Kronkolonie, die in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Dies missfiel Frankreich in hohem Maße. Der französische Innenminister, ein gewisser François Mitterrand, erklärte damals kategorisch: «L’Afrique française ne veut pas l’indépendance.»22 Im Falle der französischen Kolonien führte das sich abzeichnende Ende der formalen Kolonialherrschaft paradoxerweise vorübergehend zu einer noch stärkeren Anbindung an das Mutterland. Im Referendum von 1958 zogen die konsultierten Kolonien (außer Guinea) eine weitere Anbindung der völligen Eigenständigkeit vor. Zwei Jahre später kam es dann doch zur formalen Unabhängigkeit der zwölf französischen Kolonien. Was «Unabhängigkeit» bedeutete, erklärte Premierminister Debré im Juni 1960 unmissverständlich am Beispiel Gabuns: «On donne l’indépendance à condition que l’Etat une fois indépendant s’engage à respecter les accords de coopération singnés antérieurement. Il y a deux systèmes qui entrent en vigueur simultanément: indépendance et les accords de coopération. L’un ne va pas sans l’autre.»23 Das heißt, die im Zustand der Abhängigkeit eingegangenen Kooperationsverpflichtungen hatten den gleichen Stellenwert wie die Unabhängigkeit. Die Kooperationszwänge galten vor allem den Bereichen Verteidigung, innere Sicherheit und meistens auch der Finanzpolitik. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass auf afrikanischer Seite das Bedürfnis aufkam, etwas Ähnliches wie die EWG auch für den eigenen Kontinent zu haben. Die panafrikanische Idee ist sogar älter als die paneuropäische, die sich vom panamerikanischen Projekt inspirieren ließ. In der Zwischenkriegszeit und am Ende des Zweiten Weltkrieges fanden in Paris, London, New

21 Gestützt auf jüngste Arbeiten hält der französische Historiker Gérard Bossuat fest, dass die Gemeinschaft es anfänglich überhaupt nicht besser gemacht habe («fait mieux») als die einzelnen Kolonialstaaten. Schlusswort Bossuat, in: Marie-Thérèse Bitsch / Gérard Bossuat (Hrsg.), L’Europe unie et l’Afrique. De l’idée d’Eurafrique à la Convention de Lomé I, Brüssel 2005 (Bd. 10 der Groupe de liaison des Historiens des Communautés), S. 465. 22 Michel Brot, Mitterrand et l’Afrique en 1957, in: Politique africaine, n. 58, juin 1995, S. 53. Zitiert nach Christopher Walsch, Die Afrikapolitik Frankreichs 1956–1990. Ideen, Strategien, Paradoxien, Bern 2007, S. 51. 23 Walsch, Die Afrikapolitik Frankreichs 1956–1990, a.a.O, S. 60.


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York, Manchester mehrere panafrikanische Kongresse statt. In den 1950er Jahren machte sich der in den USA ausgebildete ghanaische Politiker Kwame N’Krumah mit nur mäßigem Erfolg zum Wortführer der gesamtafrikanischen Bewegung. N’Krumah wurde deswegen von Andrew Cordier, einem amerikanischen Spitzenbeamten der UNO, um 1960 als «Mussolini Afrikas» und als «kleiner Hitler» bezeichnet.24 Die panafrikanische Bewegung hatte die Barrieren zwischen der anglophonen, frankophonen und arabischen Sprachgemeinschaft zu bekämpfen, noch gravierender waren aber die politischen Lagerbildungen, einerseits in der blockfreien oder prokommunistischen Casablanca-Gruppe mit drei arabischen und drei schwarzafrikanischen Regierungen (Marokko, FLNAlgerien, Ägypten, Ghana, Guinea, Mali) und in der homogeneren westorientierten Monrovia-Brazzaville-Gruppe. Wichtig ist die Feststellung, dass sich letztlich nicht das Gemeinschaftsprinzip, sondern das Nationalstaatenprinzip durchsetzte – dies obwohl ein Zusammenschluss auch die Problematik der willkürlichen Kolonialgrenzen entschärft hätte. Das Kolonialerbe war jedoch eine schlechte Voraussetzung für die Realisation eines Gemeinschaftsprojekts: Endlich unabhängig, wollten die einzelnen Exkolonien ihre Souveränität nicht sogleich wieder aufgeben. N’Krumahs Selbstverständnis als «Redeemer» (Erlöser/Heiland) des Kontinents, in Kombination mit einer prononciert antiimperialistischen Ideologie, war nicht dazu angetan, die Mitwirkung der anderen, als «Marionetten» angeprangerten Regierungen zu gewinnen. Die Bildung einer starken Union wäre aber sicher auch nicht im Interesse der ehemaligen Kolonialherren gewesen. Außer N’Krumah hatten sich auch andere afrikanische Führungskräfte für die Schaffung von größeren Einheiten mindestens innerhalb der Frankophonie starkgemacht, zum Beispiel Senghor mit der Parole, dass eine «Balkanisierung» des französischen Empire vermieden werden müsse.25 Das Mutterland aber zog es aus naheliegenden Gründen vor, eine Vielzahl von bilateralen Beziehungen zu schaffen. Die 1963 von 29 afrikanischen Staaten gegründete Organization of African Unity (OAU) bildete bloß einen lockeren internationalen Verband; dieser wurde 2002 von der African Union / Union africaine (AU) abgelöst,

24 Pierre Michel Durand, Leçons congolaises, in: Relations Internationales, 127, hiver 2006, S. 59. 25 Katharina Heitz, Decolonisation and national construction in Senegal, LizentiatsArbeit Universität Basel, März 2008, S. 48. – Walsch, Die Afrikapolitik Frankreichs 1956–1990, a.a.O., S. 84.


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welcher nun supranationale Institutionen anstrebt. Während die Organization of African Unity ein politisches intergouvernementales Gebilde sein wollte, das auch wirtschaftliche und soziale Fragen berührte, will die African Union eine primär der wirtschaftlichen Integration und sozialen Entwicklung dienende Architektur sein, die gelegentlich zur politischen Einheit führen soll; dies mit einer gemeinsamen Bank und Währung, einem gemeinsamen Gericht, gemeinsamen Parlament, gemeinsamen Streitkräften und einer Eingreiftruppe mit eigenem Sicherheitsrat. Letztere haben soeben zum ersten Mal in ihrer Geschichte im Falle der Komoren-Inseln nach gescheiterten Mediationsversuchen erfolgreich eingegriffen.26 Man will sich frei an der EU orientieren und das Rad nicht neu erfinden, und trotzdem: «it should be something new, with the emphasis on being an African experience».27 Ein wichtiges Motiv ist, gegen den Globalisierungsdruck gemeinsam antreten zu können, zumal Afrika nur zu 2% am Welthandel beteiligt ist.

3. Die neokoloniale Kontinuität Wenn gemäß einer wesentlichen Aussage der Mutterland-Theorie die Kolonien einzig deshalb preisgegeben wurden, weil eine informelle Herrschaft mit bloß ökonomischer Präsenz günstiger ist als die formelle Herrschaft mit einem kolonialen Verwaltungsapparat, dann ist davon auszugehen, dass die unvollständige Dekolonisation eigentlich nichts Außerordentliches, sondern eher der Normalfall der postkolonialen Situation ist. Der Neokolonialismus, wie diese Erscheinung bezeichnet wird, beruht auf drei bis vier zentralen Gegebenheiten: 1. auf der Abhängigkeit der Investoren des globalen Nordens, 2. auf einer Welthandelsordnung, welche den Zustand des billigen Rohstoffexports und teuren Industriegüterimports perpetuiert und die europäischen Agrarmärkte abschottet und 3. auf Militärabkommen, welche politische und finanzielle Einflussnahmen auf die ehemaligen Kolonien gestatten. Als vierter Punkt ist wohl auch die von den Eliten vor Ort kontrollierte Entwicklungshilfe zu nennen. Dies alles setzt voraus und verstärkt zugleich die Kollaboration zwischen nationalen Kolonialeliten und internationalen Akteuren. Die Kolonialmächte konnten sich zum Teil auf Leute stützen, die in den «Mutterländern» ausgebildet worden waren. Schon vor der Erlangung der Unabhängigkeit 26 Vgl. Tagespresse vom 26. März 2008. 27 www.africa-union.org/root/au/index/index.htm.


Von der Dekolonisation zum Neokolonialismus

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gab es in der anglophonen Variante sogenannte «Yes-Men» und in der frankophonen (nicht nur der algerischen) Variante die sogenannten «Beni-ouioui». Man wirft den afrikanischen Gesellschaften vor, dass sie (in Kombination mit tribalistischen Attitüden) klientelistisch eingestellte Eliten aufweisen, was egoistische Bereicherungen und grobe Vernachlässigung des Gemeinwohls zur Folge habe. Ohne dies zu vertiefen (denn ich bin kein Spezialist für diese Frage), sei darauf hingewiesen, dass der Klientelismus, der eine wichtige Voraussetzung für die neokoloniale Kontinuität darstellt, kein spezifisch afrikanisches Phänomen ist, sondern auch in Europa eine starke Tradition hat, und dass die europäische Präsenz in der postkolonialen Ära den afrikanischen Klientelismus verstärkt. Im Falle beispielsweise des französischen Ölunternehmens Elf-Aquitaine paaren sich innerfranzösische und französisch-afrikanische Caméraderie. Vielleicht ist das Wort Caméraderie in Hinblick auf die französisch-afrikanische Verbandelung nicht der treffende Begriff. Es handelt sich eher um eine sogenannte Amitié auf pseudoegalitärer Ebene zwischen weißen Patrons (de Gaulle, Mitterrand, Giscard, Chirac) und schwarzen Vasallen, die je nach Haltung paternalistisch bestraft oder belohnt werden und sich im eigenen Revier als Despoten aufführen können.28 Es gibt eine bemerkenswerte Kontinuität der französischen Afrika-Politik, unabhängig davon, ob die Rechte oder die Linke an der Macht ist. Gemäß zuverlässigen Presseberichten hat Sarkozy sich am Rande des erwähnten Lissabonner Gipfels vom Dezember 2007 sehr dafür eingesetzt, dass sein Jachtfreund Vincent Bolloré beim Hafenausbau von Lomé berücksichtigt wird. Frankreich unterhält noch mit 20 Staaten südlich der Sahara militärische Kooperationsabkommen, und in acht Fällen enthalten diese Geheimabkommen.29 Eine kürzlich erschienene Schrift des Zeithistorikers Christopher Walsch hält fest: «Die Staatshaushalte von Gabun, Kongo-Brazzaville oder Kamerun sind mehr von französischen Erdölgesellschaften abhängig als von ihrer eigenen Bevölkerung […] Die Folge davon war, dass das reich fließende Ölgeld aus Frankreich vormoderne Formen von Politik ohne jede demokratische Kontrolle fortsetzte und die Achtung von

28 Etwa im Falle Joseph-Désiré Mobutus (Kongo) oder Jean-Bédel Bokassas (Zentralafrika). 29 Jacqueline Hénard, unter anderem mit Berufung auf eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik vom Dezember 2007, in: Tages-Anzeiger vom 9. Februar 2008. Zu Sarkozys Ankündigung einer neuen Militärpolitik vgl. auch Neue Zürcher Zeitung vom 29. Februar 2008.


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Georg Kreis Menschenrechten, eine etwaige Demokratisierung und das Entstehen einer politischen Opposition zum Ersticken brachte.»30

Ob die neue gesamtafrikanische Gemeinschaft diesem unheilvollen Bilateralismus entgegentreten kann, wird sich weisen. Es fragt sich auch, ob das bereits 2001 geschaffene Instrument der NEPAD (New Partnership for Africa’s Development) diesem Einhalt zu gebieten vermag (was bedeuten würde: Schaffung eines guten Investitionsklimas und Öffnung der Agrarmärkte) oder im Gegenteil sogar den Weg für eine weitere Ausbeutung des Kontinents ebnet.31 Dass die Kollaboration zwischen Eliten des Nordens und Eliten des Südens vielfach im alten Stil weiterläuft, zeigen die erwähnten Kontakte während des Lissabonner Gipfels. Ich komme zum Schluss: Die Frage der Dekolonisation hat an Schärfe verloren. Zum einen ist das Engagement bereits dekolonisierter Gebiete zugunsten des Dekolonisationsprozesses, von dem sie selbst profitiert haben, stark zurückgegangen. Zum anderen ist die Forderung nach Unabhängigkeit auf Seiten der heute weiter bestehenden Kolonialgebiete schwächer geworden. Die formelle staatliche Unabhängigkeit hat an Wert eingebüßt, und damit hat auch das Streben nach Unabhängigkeit nachgelassen. Das Recht auf Selbstbestimmung wird mehr und mehr dazu verwendet, sich für ein Verbleiben beim Mutterland aussprechen zu können; wichtig sind dabei die Personenfreizügigkeit und der Zugang zu den Sozialsystemen. Die Globalisierungsdebatte hat die Kolonialgeschichte überdeckt, ja beseitigt, bevor sie sich überhaupt richtig im historischen Bewusstsein etablieren konnte.32 Auch auf der politischen Ebene ist die tiersmondistische Gegenbewegung der Globalisierungsgegner inzwischen selbst globalisiert und richtet sich vor allem gegen die globale Beherrschung und kaum mehr gegen ehemalige Kolonialmächte. Globalisierung bedeutet auch Aufhebung von kontinentalen Grenzen und Relativierung der Gegenüberstellung von Norden und Süden. In der Zwischenkriegszeit konnte, wie die British Empire Exhibition von 1924 in London und die Exposition coloniale von 1931 in Paris zeigten, noch 30 Walsch, Die Afrikapolitik Frankreichs 1956–1990, a.a.O., S. 135. Das Buch erscheint allerdings eine Spur zu antifranzösisch. 31 www.weltpolitik.net/Regionen/Afrika/Regionale%20Organisationen/NEPAD.html 32 Auf die Dekolonisationsproblematik eingehend der kurze Panelbeitrag des im Januar 2007 verstorbenen polnischen Schriftstellers Ryszard Kapuscinski in: Krzysztof Pomian / Henri Dupuis (Hrsg.), De l’Europe-Monde à l’Europe dans le Monde, Brüssel 2004, S. 185–191.


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