Wolfgang Rother
Verbrechen, Folter, Todesstrafe Philosophische Argumente der Aufklärung
Folterverbot und Abschaffung der Todesstrafe sind grundlegende Elemente rechtsstaatlicher politischer Kultur. Wie labil diese Errungenschaften der europäischen Aufklärung und ihres Kampfes für die Menschenrechte sind, zeigen die Reaktionen auf die aktuelle Bedrohung von Freiheit und Demokratie durch den Terrorismus. Der Schock von 9/11 hat zu einer theoretischen und praktischen Aufweichung des Folterverbots geführt. Und die Todesstrafe wird selbst im 21. Jahrhundert noch in Ländern vollstreckt, die sich als freiheitlich-demokratische Rechtsstaaten verstehen – ganz zu schweigen von den Stimmen, die nach spektakulären Kapitalverbrechen, Geiselnahmen und Terroranschlägen laut die Todesstrafe fordern. Angesichts solcher Reaktionen sind – im Sinne eines Beitrags zur gegenwärtigen Diskussion – die philosophischen Argumente der Aufklärung gegen Folter und Todesstrafe wieder in Erinnerung zu rufen. Die Protagonisten des Kampfes gegen grausame Ermittlungsmethoden und unmenschliche Strafen sind die heute im deutschen Sprachraum kaum mehr bekannten Mailänder Philosophen Cesare Beccaria und Pietro Verri. Beccarias 1764 erschienene Abhandlung Über die Verbrechen und die Strafen stellt zusammen mit Verris in den 1770er Jahren verfassten Beobachtungen über die Folter den Höhepunkt des aufgeklärten Strafrechtsdenkens dar. Beccarias Buch gehört zu den Bestsellern des 18. Jahrhunderts; es wurde sofort ins Französische, Deutsche, Englische und in viele andere Sprachen übersetzt und löste eine breite Debatte aus, die in vielen Ländern die Abschaffung der Folter und der Todesstrafe einleitete. Im deutschen Sprachraum war es der Leipziger Jurist Karl Ferdinand Hommel, der zur gleichen Zeit wie Beccaria gegen die Todesstrafe kämpfte – ein heute vergessener Denker, dessen Argumente so wenig wie diejenigen Beccarias und Verris an Aktualität und Bedeutung verloren haben.
Wolfgang Rother, geb. 1955, studierte Philosophie, Theologie und Germanistik in Marburg, Tübingen und Zürich. Er ist Lektor im Verlag Schwabe, Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich und Mitherausgeber des Grundrisses der Geschichte der Philosophie sowie mehrerer wissenschaftlicher Buchreihen.
Wolfgang Rother
Verbrechen, Folter, Todesstrafe Philosophische Argumente der Aufklärung Mit einem Geleitwort von Carla Del Ponte
Schwabe Verlag Basel
Schwabe reflexe 5 © 2010 Schwabe AG, Verlag, Basel Satz: Wolfgang Rother Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2661-9 www.schwabe.ch
Inhalt
Geleitwort ......................................................................
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Vorwort .......................................................................... 11 Die Protagonisten ............................................................ 14 Verbrechen und Strafe als Thema der Philosophie ............... 22 Cesare Beccaria: Über die Verbrechen und die Strafen .......... 27 Strafe und Gerechtigkeit .................................................. 35 Kritik an der Folter .......................................................... 49 Kritik an der Todesstrafe .................................................. 60 «Ein Buch, das der ganzen Welt gehört» ............................. 76 Der «deutsche Beccaria» ................................................... 101 Literaturverzeichnis ......................................................... 127 Nachweise ...................................................................... 141
Geleitwort Wolfgang Rother präsentiert uns hier eine ausführliche Studie über Folterverbot und Abschaffung der Todesstrafe, die uns als ehemalige Studierende der Rechtswissenschaften die philosophischen Erwägungen Beccarias in Erinnerung ruft. Wer diese Überlegungen dann später im juristischen Alltag bei der Anwendung des Strafrechts nicht mehr präsent hat, dem wird der vorliegende Text als gesunde Auffrischung dienen. Hinter diesem Buch steht eine gigantische Arbeit, die uns Zugang zu den Errungenschaften der Aufklärung und ihren Argumenten gegen Folter und Todesstrafe verschafft, uns die leider noch sehr aktuellen Themen bewusst macht und zu weiterer Reflektion anregt. Die Protagonisten sind Philosophen, die mit ihren Schriften über Strafe und Verbrechen die Zeit geprägt und Wichtiges zum materiellen Strafrecht und zur Strafprozessordnung beigetragen haben. Die interessierte und engagierte Lektüre ihrer Texte führt aber ohne Zweifel zu Gedanken über die aktuelle Situation, die der Autor des vorliegenden Buches ebenfalls im Vorwort anspricht. Wer kein Philosoph und kein Theoretiker des Rechtes ist, sondern wie ich tagtäglich nur mit der Anwendung des Strafrechts im nationalen und internationalen Kontext tätig war, stellt mit Erstaunen fest, wie aktuell diese Erwägungen für Praktiker des Strafrechts heute noch sind. In ihrer Kritik an der Folter gehen Pietro Verri und Beccaria von der Frage nach dem Nutzen und der Zulässigkeit der Folter aus. Als negativ ausfallende Antwort und gleichzeitig als Hauptargumente gegen die Folter führen beide Philosophen die Untauglichkeit und die Ungerechtigkeit der Folter an. In klaren Argumentationsschritten legen sie dar, dass die Folter einerseits als Instrument zur Wahrheitsfindung nicht taugt und andererseits unvereinbar ist mit den Prinzipien der Unschuldsvermutung und dem Recht auf Selbstverteidigung – Prinzipien die heute fest im Strafrecht verankert sind. Dennoch wird das allgemeine Verbot der Folter bisweilen auch heute noch in Frage gestellt, wie die Diskussion um die sogenannte Rettungsfolter zeigt. Der Zusammenhang, in welchem gefoltert wird, spielt jedoch keine Rolle.
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Geleitwort
Folter rechtfertigt sich unter gar keinen Umständen, denn Gewalttaten bleiben Gewalttaten. Sie sind als Verbrechen zu bezeichnen und als solche zu verurteilen. Natürlich hat man im Kampf gegen den Terrorismus versucht, solche Taten zu rechtfertigen, und erstaunlicherweise kam diese neue Theorie aus den USA, dem Geburtsort des Schutzes der Menschenrechte. Dank dem neuen amerikanischen Präsidenten können wir jedoch wieder die Hoffnung hegen, dass Folter nicht mehr toleriert und praktiziert wird. In Zukunft bleibt zu erwarten, dass alle Staaten der Welt dem totalen Verbot der Folter folgen werden und dass die UNO über die Einhaltung des Folterverbots wachen wird. Bei unseren Ermittlungen am Internationalen Gerichtshof in Den Haag sind wir mehrmals mit Folter konfrontiert worden, und es entspricht nun internationaler Rechtsauffassung, dass Folter als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit klassifiziert und als solches verurteilt werden kann. Der Gerichtshof in Den Haag hat ebenfalls die Definition der Folter im humanitären Völkerrecht verfasst und in diesem Zusammenhang festgestellt, dass Folterverbot jus cogens geworden ist und von diesem Prinzip nicht abgewichen werden darf. Die ethnische Säuberung, die in Ex-Jugoslawien vor sich ging, hat uns vor Augen geführt, dass die Sprache der Gewalt mehr Gewalt hervorruft. In der Foca-Anklageschrift werden die grausamen Foltertaten aufgezählt, die muslimischen Frauen durch serbische Soldaten zugefügt worden sind. Dies geschah von April 1992 bis Februar 1993. Diese Gräueltaten konnten natürlich nicht vergessen werden, und Muslime, die Opfer solcher Verbrechen geworden waren, nutzten jede Gelegenheit, um sich mit den gleichen grausamen Behandlungen an ihren Gegnern zu rächen. Gegen diese Täter wurde ebenfalls ermittelt; bei der Verurteilung und Festlegung der Strafe wurden Milderungsgründe akzeptiert. Wichtig ist die Tatsache, dass neben den bekannten Tatbestandselementen der Folter darunter neu auch die Erniedrigung fällt und diese ‘moderne’ Folterpraktik somit ebenfalls als Verbrechen gilt. Beccarias Kritik an der Todesstrafe stützt sich auf philosophische Argumente naturrechtlichen Ursprungs und auf utilitaristische Überlegungen. Zudem hinterfragt er den Geltungsanspruch
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Geleitwort
von Gesetzen, welche zwar Mord verbieten, jedoch mittels der Todesstrafe selber einen «öffentlichen Mord» anordnen. Schlussendlich bilden das Problem der Irreparabilität und die Verurteilung Unschuldiger infolge Justizirrtums einen der wichtigsten und auch heute noch oft vorgebrachten Kritikpunkte. Als Vertreter einer generalpräventiven Straftheorie und Befürworter der Strafmilde plädiert Beccaria gegen die Todesstrafe und stattdessen für die lebenslange Haft, welche er als milderes Mittel mit ausreichend abschreckender Wirkung erachtet. Im internationalen Recht wurden die ersten Bemühungen zur Abschaffung der Todesstrafe im Jahre 1948 untergenommen, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedete. Seit dieser Ratifizierung haben 118 Mitgliedstaaten der UNO die Todesstrafe durch entsprechende Gesetze oder zumindest in der Praxis abgeschafft. Die Erklärung hat aber keinen zwingenden Charakter, und somit bestand die Befürchtung, dass viele Länder diese Bestimmung trotz moralischen Drucks nicht vollumfänglich einhalten würden. Im internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte wurden die UNO-Mitgliedstaaten deshalb aufgefordert, die Todesstrafe abzuschaffen oder zumindest nur bei schwersten Straftaten anzuwenden. Die internationalen Gerichtshöfe haben die Todesstrafe abgeschafft. Lebenslängliche Haft ist die Höchststrafe. Dies wird in den Statuten der Einrichtung der internationalen Gerichtshöfe festgehalten und geht aus den Artikeln 3 und 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und ebenfalls aus Artikel 37 der UN-Kinderkonvention hervor. Schon Kofi Annan sagte im Jahr 2000 als Generalsekretär der Vereinten Nationen, dass man sich bei der Verhängung der Todesstrafe «selber auf die gleiche Stufe stellt wie ein Mörder». Die Todesstrafe ist die schnelle ‘Lösung’ des Problems, entgegen allen Prinzipien von Resozialisierung und Reue, die mit der Strafe verbunden sind und sein müssen. Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen hat weitere Resolutionen beschlossen, um die Rechte von zum Tode verurteilten Personen zu schützen. Neben der Einschränkung auf schwere Straftaten sehen diese Resolutionen noch andere Restrik-
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Geleitwort
tionen vor, wie die Berücksichtigung entsprechender Gesetze zum Zeitpunkt der Begehung der Tat, keine Todesstrafe für Täter unter 18 Jahren, das Urteil von einem zuständigen Gericht nach fairem Verfahren mit ausreichendem Rechtsbeistand, das Recht des Verurteilten, ein höheres Gericht anzurufen, und das Recht, um Gnade zu ersuchen oder eine Umwandlung der Strafe zu begehren. Es stimmt zwar, dass die Abschaffung der Todesstrafe von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde, aber leider sind nach wie vor Ausnahmen vorgesehen, insbesondere für schwerste militärische Verbrechen in Kriegszeiten. Die Erfahrung des Internationalen Gerichtshofes mit der Nichtanwendung der Todesstrafe zeigt sehr positive Auswirkungen. Angeklagte, die zu langen Strafen verurteilt werden, haben während der Dauer ihrer Strafe die Möglichkeit, sich ihres Verschuldens und ihrer Verantwortung bewusst zu werden und einen besseren Weg einzuschlagen, wenn sie dies wünschen. Der plötzliche Tod Slobodan Miloševićs, der kurz vor Ende seines Prozesses verstarb, zeigte ebenfalls, dass der Tod keine gerechte Strafe sein kann. Milošević wird seither von einigen als Held angesehen, für andere wurde er Opfer einer Verschwörung – dies, nachdem so viele auf seine Verurteilung gewartet hatten und darauf, dass endlich Gerechtigkeit walten würde. Um dieses höchste Ziel zu erreichen, dürfen Angeklagte nicht zum Tode verurteilt werden, sondern sie sollen ihre Strafe absitzen, und es soll ihnen damit die Möglichkeit gegeben werden, doch noch Reue zu zeigen. Carla Del Ponte, ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY)
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Vorwort Das Verbot der Folter und die Abschaffung der Todesstrafe sind Errungenschaften der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts und gelten heute als wesentliche Merkmale rechtsstaatlicher politischer Kultur. Unbestritten sind sie aber offenbar nicht. Angesichts der aktuellen Bedrohung von Freiheit und Demokratie durch den Terrorismus werden sie zusehends in Frage gestellt. Das Folterverbot, das in Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und in der UN-Antifolterkonvention unmissverständlich formuliert ist, 1 gehört zum Kernbestand der von der zivilisierten Weltgemeinschaft akzeptierten Rechtsprinzipien. Bis vor kurzen war die Folter im Rechtsstaat tabu. Doch der Schock von 9/11 hat zu einer pragmatischen Relativierung des absoluten Folterverbots, flankiert von theoretischen Relegitimierungsversuchen der Folter als Ermittlungsmethode, geführt. Guantanamo und Abu Ghraib sind zu Symbolen eines verhängnisvollen Abrückens von rechtsstaatlichen Prinzipien geworden. Der Zweck scheint die Mittel zu heiligen. Der modernen Rechtfertigung der Folter liegt ein einfaches Gedankenexperiment zugrunde: Darf ein mutmaßlicher oder überführter Verbrecher gefoltert werden, wenn auf diese Weise Aussagen erzwungen werden können, die dazu geeignet sind, Leid und Tod anderer Menschen abzuwenden? Dieses Gedankenexperiment stellte auch der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident im Jahr 2002 an. Der gefasste und schließlich auch geständige Entführer eines Kindes war nicht bereit, das Versteck der Geisel preiszugeben. Aus berechtigter Sorge um das Leben des Kindes ließ der Polizist dem gefassten Täter Folter androhen, worauf dieser angab, wo sich das Opfer, das er bereits getötet hatte, befand. Das Frankfurter Landgericht verurteilte den Mörder zu lebenslanger Haft und den stellvertretenden Polizeipräsidenten sowie den ihm untergebenen Kriminalhauptkommissar zu hohen Geldstrafen. Der Fall löste eine lebhafte öffentliche und rechtswissenschaftliche Diskussion über die Folter im Rechtsstaat aus, die von dem euphemistischen Begriff der ‘Rettungsfolter’ oder ‘Präventionsfolter’ geprägt war. 2
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Vorwort
Und wie steht es mit der Todesstrafe? Diese wird zwar in immer weniger Staaten angewendet, doch unter den Ländern, in denen auch heute noch Hinrichtungen vollstreckt werden, finden sich Nationen, die sich als freiheitlich-demokratische Rechtsstaaten definieren. 3 Und nach spektakulären Kapitalverbrechen, Geiselnahmen und Terroranschlägen mehren sich selbst in aufgeklärten und zivilisierten Ländern stets die Stimmen, die laut nach der Todesstrafe rufen. Das Verdienst, die Untauglichkeit von Folter und Todesstrafe philosophisch bewiesen zu haben, kann vor allem die Mailänder Aufklärung für sich beanspruchen. 1764 erschien in Livorno Cesare Beccarias Abhandlung Über die Verbrechen und die Strafen, die zusammen mit Pietro Verris in den 1770er Jahren verfassten Beobachtungen über die Folter den Höhepunkt des aufgeklärten Strafrechtsdenkens darstellt. Beccarias Buch wurde sofort ins Französische, Deutsche, Englische und in viele andere Sprachen übersetzt und verbreitete sich rasch in Europa und Amerika. Es löste eine auf verschiedenen Ebenen geführte Debatte aus, die in vielen Ländern die Abschaffung der Folter und der Todesstrafe einleitete. Im deutschen Sprachraum war es der Leipziger Jurist Karl Ferdinand Hommel, der zur gleichen Zeit wie Beccaria gegen die Todesstrafe kämpfte. Beccaria und Verri sind heute außerhalb Italiens kaum mehr bekannt, Hommel ist ein weitgehend vergessener Autor. Aber eine Auseinandersetzung mit diesen Denkern der Aufklärung ist auch heute noch fruchtbar und reizvoll – ihre Argumente gegen Folter und Todesstrafe haben nichts an Aktualität und Bedeutung eingebüßt.
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Text und Diskussion bei J. Schulz: Die Ausweitung des Folterbegriffs unter menschenrechtlichen Aspekten, 244. Vgl. z.B. A. Bahar: Folter im 21. Jahrhundert; G. Beestermöller, H. Brunkhorst (Hg.): Rückkehr der Folter; U. M. Fiechtner: Folter; H. Goerlich (Hg.): Staatliche Folter; M. Goldbach, Michael (Hg.): Die Wahl der Qual; M. Gromes: Präventionsfolter; K. Harrasser, Th. Macho, B. Wolf (Hg.): Folter;
Vorwort
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C. Horlacher: Auskunftserlangung mittels Folter; F. Lamprecht: Darf der Staat foltern, um Leben zu retten?; W. Lenzen Wolfgang: Ist Folter erlaubt?; M. Möhlenbeck: Das absolute Folterverbot; P. Nitschke (Hg.): Rettungsfolter; H.-J. Pieper, K. Schüttauf, Konrad (Hg.): «Die Wahrheit ans Licht!»; J. P. Polzin: Strafrechtliche Rechtfertigung der ‘Rettungsfolter’?; A. Stein: Das Verbot der Folter im internationalen und nationalen Recht. – In der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion überwiegen die Stimmen, welche die sogenannte Rettungs- oder Präventionsfolter ablehnen und für ein absolutes Folterverbot plädieren. Ein prominenter Kritiker des absoluten Folterverbots ist W. Brugger – vgl. z.B. seine Aufsätze: Darf der Staat ausnahmsweise foltern?; Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter? Vgl. A. Bojčević: Die Todesstrafe in noch 73 Staaten, 15.
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Die Protagonisten Die philosophischen Stimmen, die sich im 18. Jahrhundert gegen Folter und Todesstrafe erhoben, gehörten zwei Mailänder Adligen, Graf Pietro Verri und Marchese Cesare Beccaria, sowie einem Leipziger Gelehrten, Karl Ferdinand Hommel, dem das letzte Kapitel dieses Buches gewidmet ist. In Italien zählen Verri wie Beccaria zu den Denkern von nationaler Bedeutung, von beiden Philosophen werden gegenwärtig kritische Ausgaben besorgt. 1 Obwohl sie zu ihrer Zeit in ganz Europa bekannt waren, sind sie heute im deutschen Sprachraum nahezu in Vergessenheit geraten. Das gleiche gilt, obwohl er ein Denker deutscher Zunge war, für den sächsischen Philosophen und Juristen Karl Ferdinand Hommel. Alle drei Protagonisten werden deshalb zunächst kurz vorgestellt.
Pietro Verri Pietro Verri wurde am 12. Dezember 1728 als ältester Sohn der Gräfin Barbara Dati und des Juristen und späteren Senators Graf Gabriel Verri in Mailand geboren. Zwischen 1739 und 1749 besuchte er die Ordensschulen der Jesuiten in Monza und der Barnabiten in Mailand, das Collegio Nazareno in Rom, das jesuitische Collegio Brera in Mailand und das ebenfalls jesuitische Collegio dei Nobili in Parma. In Parma studierte er bei Pater Giambattista Roberti, der von Locke beeinflusst und dem er später freundschaftlich verbunden war. Insgesamt äußerte er sich aber negativ über seine Lehrer, deren Despotismus er beklagte. 2 Im Sommer 1749 kehrte er nach Mailand zurück. Sein Vater drängte ihn zu einem juristischen Studium und verschaffte ihm das Amt eines Gefangenenprotektors. Doch standen damals literarische Interessen im Vordergrund. Er wurde in die Accademia dell’Arcadia und die Accademia dei Trasformati aufgenommen, übersetzte zusammen mit der Herzogin Maria Vittoria Ottoboni Serbelloni, mit der ihn eine Liebesbeziehung verband, die Komödien von Philippe Néricault Destouches ins Italienische und pflegte Umgang mit Carlo Goldoni. In dieser Zeit entstanden verschiedene französi-
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sche Schriften, die sein Interesse an philosophischen Fragen belegen. Im Mai 1759 meldete er sich in Wien als Freiwilliger zum Dienst in der Armee und nahm als Hauptmann am Siebenjährigen Krieg teil; im Winter 1759/60 war er in Dresden. In Wien lernte er Henry Lloyd kennen, der ihn zu eingehender Beschäftigung mit ökonomischen Fragen ermutigte; in diese Zeit fällt die Abfassung der Elemente über den Handel. 3 Zurück in Mailand las er die Werke der zeitgenössischen englischen und französischen Philosophen und publizierte 1763 anonym sein erstes philosophisches Werk, die Meditationen über das Glück. 4 Im Winter 1761/62 gründete er die Accademia dei Pugni, zu der sein Bruder Alessandro, Cesare Beccaria und andere Mailänder Freunde zählten. Das Sprachrohr der Gruppe wurde die Zeitschrift Das Kaffee, deren erste Nummer im Juni 1764 erschien. 5 1765 verteidigte er Beccarias Abhandlung Von den Verbrechen und den Strafen in einer zusammen mit seinem Bruder Alessandro verfassten Antwort gegen die Angriffe Ferdinando Facchineis, 6 der ebenfalls Kritische Anmerkungen gegen die Meditationen über das Glück schrieb. 7 Nachdem Pietro Verri sich mit ökonomischen Schriften für ein Regierungsamt in der Lombardei empfohlen hatte, wurde er am 24. Januar 1764 zum Kaiserlichen Rat ernannt, mit der Durchführung der Reform des Systems der Generalpacht beauftragt und am 17. Dezember 1765 in den neu gegründeten Obersten Wirtschaftsrat berufen. Als Ergebnis seiner politischen Tätigkeit entstand 1769 eine Schrift, in der er die Freiheit des Getreidehandels verteidigte. 8 1771 wurde der Wirtschaftsrat durch den Finanzrat ersetzt und Verri zu dessen Vizepräsidenten ernannt. In der Lombardei war er maßgeblich für die Durchführung der politischen und ökonomischen Reformen verantwortlich, die mit dem Namen Maria Theresias verbunden sind. 1771 erschienen anonym Verris Meditationen über die politische Ökonomie. 9 Seine philosophische Trilogie vollendete er mit den 1773 ebenfalls anonymen Ideen zur Natur der Lust. 10 Bereits im Oktober 1770 hatte er die Beobachtungen über die Folter begonnen, die er 1776/77 fertigstellte, aber nicht veröffentlichte, weil sein Vater als Präsident des Mailänder Senats das Gutachten abgefasst hatte, aufgrund dessen das kaiserliche Dekret vom 2. Januar 1776 über die Abschaffung der Folter
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abgelehnt wurde. 1776 wurde er Präsident der neu gegründeten liberalen Società patriotica in Mailand, deren Ziel in der Förderung der Landwirtschaft, des Handwerks und der Manufakturen bestand. 1780 wurde er Präsident des Finanzrats. Nach dem Tod Maria Theresias im gleichen Jahr verschlechterten sich seine Beziehungen zum Hof. Seine Missbilligung der Politik Josephs II. fand ihren Niederschlag im 1782 verfassten Dialog zwischen Joseph II. und einem Philosophen. 11 1786 hob Joseph II. den Finanzrat auf; Verri verlor seine Stelle und erhielt nur ein Drittel seines Gehaltes als Pension zugesprochen. Er zog sich auf sein Landgut in Ornago zurück und setzte seine philosophischen, ökonomischen und historischen Studien fort. Er war ein entschiedener Anhänger der Französischen Revolution. 12 1791 wurde er als Deputierter in die von Leopold II. eingesetzte Provinzversammlung gewählt. Nach der Eroberung der Lombardei durch Napoleon (1796) wurde er in die provisorische Regierung berufen und kurz darauf zum Präsidenten des Bürgerrats ernannt. Am 28. Juni 1797 starb er während einer Nachtsitzung der Regierung an einem Schlaganfall. Sein Grab befindet sich in der Wallfahrtskirche von Ornago. – Verheiratet war er von 1776 bis 1781 mit seiner Nichte Maria Castiglioni (1753-1781) und von 1782 bis 1797 mit Vincenza Melzi (1762-1851), der Schwester des späteren Vizepräsidenten der Republik Italien, Francesco Melzi d’Eril. Mit seiner ersten Frau hatte er zwei Kinder, Maria Teresa (1777-1859) und einen früh verstorbenen Sohn; aus zweiter Ehe stammen neun Kinder.
Cesare Beccaria Cesare Beccaria Bonesana wurde am 15. März 1738 als erster Sohn des Marchese Giovanni Saverio Beccaria und dessen zweiter Frau, Maria Visconti di Saliceto, in Mailand geboren. Er besuchte zuerst die Ordensschule der Barnabiten in Mailand und von 1746 bis 1754 das jesuitische Collegio dei Nobili in Parma. Nach einem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Pavia, das er am 13. September 1758 mit dem Doktorgrad abschloss, kehrte er nach Mailand zurück und wurde Mitglied der Accademia dei Trasformati, an deren Zusammenkünften er wahrscheinlich bis
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Herbst 1760 teilnahm. Aus dieser Zeit stammen verschiedene literarische Versuche. 13 Seit Winter 1761/62 gehörte er der Accademia dei Pugni an. Ein wichtiges Selbstzeugnis für die geistige Entwicklung ist der Brief vom 26. Januar 1766 an André Morellet: 14 Die Lektüre von Montesquieu leitete 1761 seine «Konversion zur Philosophie» ein, und Claude-Adrien Helvétius habe die «Revolution» in seinem Denken «vollendet». Zu seiner Lektüre gehörten ebenfalls die Werke von Buffon, Diderot, Hume, d’Alembert und Condillac, mit dem ihn eine persönliche Freundschaft verband. Einer seiner engsten Freunde war Giambattista Biffi, den er während seines Studiums in Parma kennengelernt hatte und der anfänglich ebenfalls der Accademia dei Pugni angehörte. Die wichtigste Bezugsperson war Pietro Verri, der in ihm das Interesse an ökonomischen und finanzpolitischen Fragestellungen weckte und ihn zu seiner ersten Publikation, ermutigte, in der er sich mit den Problemen der Mailänder Geldwirtschaft auseinandersetzte. 15 Die Schrift erschien im Juli 1762 und entfachte eine Polemik, in deren Folge die Regierung Anfang 1763 eine Münzreform in der Lombardei in Angriff nahm, die 1778 unter Beccarias Mitwirkung abgeschlossen wurde. Die Diskussionen über das Rechtswesen, die in der Accademia dei Pugni geführt wurden und in Pietro Verris Lobrede auf die Mailänder Rechtswissenschaft (1763) 16 ihren ersten Niederschlag fanden, gaben ihm den Anstoß, sich eingehend mit den Grundlagen des Strafrechts zu beschäftigen. Von März 1763 bis Anfang 1764 arbeitete er Von den Verbrechen und den Strafen aus. Zwischen 1764 und 1766 gehörte er zu den Mitarbeitern der Zeitschrift Das Kaffee, schrieb aber nur sieben Artikel für das Periodikum. Am 2. Oktober 1766 reiste er mit Alessandro Verri nach Paris, wo er u.a. d’Alembert, Morellet, Diderot und d’Holbach traf. 17 Bereits auf der Reise von Depressionen und Heimweh geplagt, das sich auch in Paris nicht besserte, verließ er Paris Ende November und traf am 12. Dezember wieder in Mailand ein. In Paris hatte er sich als Autor der Antwort auf Ferdinando Facchineis Bemerkungen und Beobachtungen 18 ausgegeben; die wirklichen Verfasser, Pietro und Alessandro Verri, fühlten sich durch diese Anmaßung verletzt und brachen mit Beccaria. 19 Noch in
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Paris erreichte ihn die Nachricht über eine Einladung Katharinas II. an den Petersburger Hof, die er ausschlug. Am 22. Dezember 1768 wurde er auf den Lehrstuhl für Kameralwissenschaften an den Mailänder Scuole Palatine berufen; am 9. Januar 1769 hielt er seine Antrittsvorlesung. 20 Angeregt durch die Pariser Philosophen plante er ein Buch über den «Verfeinerung der Nationen», von dem er einige Stücke schrieb; die Fragmente betitelte er mit Ge-
danken über die Barbarei und Kultur der Nationen und den wilden Zustand des Menschen und Gedanken über der Sitten und Gebräuche. 21 Zwischen 1767 und 1769 verfasste er die Untersuchungen über die Natur des Stils, 22 mit denen sein literarisches Schaffen endete. Seine langjährige Tätigkeit als hoher Verwaltungsbeamter im Dienst der lombardischen Regierung (1771-1794) ist in rund 6500 Texten dokumentiert, die sich vor allem im Mailänder Staatsarchiv befinden. Am 29. April 1771 wurde er in den Obersten Wirtschaftsrat berufen, dem später Pietro Verri vorstand und der kurz darauf durch den Finanzrat ersetzt wurde. 1778 wurde er Provinzialmagistrat der Münze und Mitglied der Delegation für die Reform des Geldwesens. Im Zuge der Reformen Josephs II. wurde er am 1. Mai 1786 Vorsteher des III. Departements des Regierungsrats (Handel, Industrie, Landwirtschaft, Bergbau, Lebensmittel, Jagd, Schulen); Ende 1789 wechselte er ins II. Departement (Justiz, Polizei, Gesundheit). Zwischen 1787 und 1790 hatte er sich wiederholt mit Problemen der Seidenfabrikation in Como zu befassen: 1787/88 unterbreitete er Vorschläge zur Behebung der Arbeitslosigkeit, 1789 nahm er zu Schwierigkeiten in der Handelskammer und zu einem Bericht über die Disziplin der Seidenarbeiter Stellung. Als diese 1790 einen Aufstand organisierten, setzte er sich für die Verbesserung ihrer Lage ein. Am 17. Februar 1791 beauftragte Leopold II. eine Kommission mit der Reform des Zivil- und Strafrechts in der Lombardei und ernannte Beccaria zum Berichterstatter. Am 16. Juni 1791 wurde er ebenfalls in die Sonderkommission für die Reform des Straf- und Polizeiwesens berufen. Mitten in den Beratungen über eine Reform des Strafgesetzbuches starb er am 28. November 1794 in seinem Haus an der Via Brera an einem Schlaganfall und wurde auf dem Friedhof
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Porta Comasina beigesetzt. – Von 1761 bis 1774 war er mit Teresa Blasco (1745-1774) und ab 1774 mit Anna Barbò verheiratet. Den Ehen entsprangen vier Kinder: Giulia (1762-1841), die Mutter Alessandro Manzonis, Maria (1765-1788), ein Sohn (1767), der wenige Tage nach der Geburt starb, und Giulio (1775-1858), der den Nachlass des Vaters verwaltete.
Karl Ferdinand Hommel Karl Ferdinand Hommel wurde am 6. Januar 1722 als Spross einer aus dem schwäbischen Memmingen stammenden und seit dem 16. Jahrhundert in Sachsen ansässigen Gelehrtenfamilie in Leipzig geboren. Nach dem Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften in seiner Heimatstadt und in Halle sowie einer mehrjährigen Praxis als Advokat am Obergerichtshof (1744-1750) trat er in die Leipziger Juristenfakultät ein, der er bis zu seinem Tod am 16. Mai 1781 verbunden blieb. Er versah − als Kollege seines Vaters Ferdinand August Hommel (1697-1765), der ab 1734 der Fakultät angehörte − die außerordentliche Professur des Staatsrechts (1750-1752) und die ordentlichen Professuren des Lehnsrechts (1752-1756) und der Institutionen (1756-1763). 1763 wurde er Ordinarius der Dekretalen und Vorsteher der Juristischen Fakultät, nachdem der Vater, an den der Ruf zuerst ergangen war, zu seinen Gunsten verzichtet hatte. Hommel, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die führende Figur der Leipziger Juristischen Fakultät, entfaltete als Rechtslehrer eine reiche Publikationstätigkeit. 23 Neben den zahlreichen Disputationsthesen, juristischen Kompendien und rechtstheoretischen Werke ist die siebenbändige Rhapsodia 24 hervorzuheben, die «in Sachsen ein gesetzgleiches Ansehen erlangte». 25 Parallel zu seiner Hochschullaufbahn übernahm er einflussreiche Ämter im sächsischen Justizwesen. Mit seiner Berufung zum Ordinarius wurde er Leiter des Spruchkollegiums und erhielt den ersten Sitz auf der Gelehrtenbank des Obergerichtshofes; beiden Gremien hatte er schon zuvor in anderer Funktion angehört. Für die Rechtspraxis verfasste er unter dem Titel Teutscher Flavius eine Hinlängliche Anleitung so wohl bey bürgerlichen als peinlichen Fällen Urthel abzufassen (1763), die 1800 in vierter Auflage erschien.
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Zu Ansehen über die Grenzen Sachsens hinaus gelangte der Leipziger Ordinarius und Richter allerdings erst im Schatten des ihm geistesverwandten Autors der Verbrechen und Strafen: «Beccaria der Deutschen» nennt ihn Karl Gottlob Rössig in seiner Hommel-Biographie von 1787. 26 Dieser seither oft wiederholte Titel findet seine Begründung zum einen in Hommels Strafrechtsdenken vor seiner Beccaria-Lektüre, wie es sich in der Schrift Des Fürsten höchste Sorgfalt: die Gesetze von 1765 manifestiert, zum anderen in seiner Funktion bei der Verbreitung der Ideen Beccarias im deutschen Sprachraum: Einschlägig sind in dieser Beziehung seine Vorrede und Anmerkungen zu der 1778 in Breslau erschienenen, von Philipp Jacob Flade besorgten Neuübersetzung der Verbrechen und Strafen 27 wie auch die systematischere Darstellung des eigenen Rechtsdenkens in den Philosophischen Gedanken. Hommel starb am 16. Mai 1781 in Leipzig.
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Edizione nazionale delle opere di Cesare Beccaria (Milano 1984ff.); Edizione nazionale delle opere di Pietro Verri (Roma 2003ff.). Vgl. z.B. Pensées détachées (ca. 1760), in: Mario Schettini (a cura di): Milano in Europa (Milano 1963), 136. Elementi di commercio (1764/65), in: «Il Caffè» 1764-1766, a cura di Gianni Francioni, Sergio Romagnoli (Torino 1998), 30-38. Meditazioni sulla felicità (Londra [Livorno 1763]). Il caffè ossia brevi e varj discorsi distribuiti in foglj periodici (1764-1766), krit. Ausgabe: «Il Caffè» 1764-1766, a cura di Gianni Francioni, Sergio Romagnoli (Torino 1998). Risposta ad uno scritto che s’intitola Note ed osservazioni sul libro Dei delitti e delle pene. [Anderer Titel:] Apologia dell’opera dei Delitti e delle Pene, contro il P. D. Ferdinando Facchinei (Lugano 1765). Meditazioni sulla felicità, con un avviso e con note critiche [von Ferdinando Facchinei] [Venezia 1765]. Sulle leggi vincolanti principalmente nel commercio de’ grani. Riflessioni adattate allo stato di Milano coll’occasione che l’anno 1769. trattavasi di riformare il sistema d’annona, in: Opere filosofiche, III (Londra [Piacenza] 1801 [1802]). Meditazioni sulla economia Politica (Livorno 1771).