Vom Tabu zum Thema?

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­G esamtheit in den Blick genommen. Das Buch untersucht die Entwicklung der Behandlungsmöglichkeiten, die Institutionalisierung der Krebsforschung sowie die Aufklärungs- und Präven­tionsarbeit der Krebsliga im Wandel der Zeit. Wie veränderte sich der Umgang mit den ­P atientinnen und Patienten und damit ihr Status? Mit welchen (meist furchterregenden)

Daniel Kauz

Erstmals wird die organisierte Krebsbekämpfung in der Schweiz von 1910 bis 2010 in ­ihrer

Daniel Kauz

Bildern und Fantasien wurde Krebs assoziiert? Wie gelang es, die lang andauernde Tabuisierung der Krankheit allmählich aufzubrechen? Und wie entwickelte sich die Krebsliga von einer kleinen Vereinigung ärztlicher Spezialisten zu einer professionellen, gesundheits- und wissenschaftspolitisch aktiven Non-Profit-Organisation? Diese und weitere Themen werden vom Autor

heit zu jener Zeit. Daniel Kauz, geb. 1971, lic. phil. I, studierte Geschichte, Deutsche Literatur und Philosophie an der Universität Zürich und ist Autor mehrerer historischer Publikationen. Seit 2004 arbeitet er bei der Fokus AG für Wissen und Organisation in Zürich. Die Krebsliga Schweiz ist eine nationale, gemeinnützige Non-Profit-Organisation. Sie berät und unterstützt Menschen mit Krebs und ihre Angehörigen, engagiert sich für die Prävention und Früherkennung von Krebs und fördert die industrieunabhängige Krebsforschung. Sie feiert 2010 ihr 100-jähriges Bestehen.

Schwabe Verlag Basel

EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG

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100 Jahre Krebsbekämpfung in der Schweiz 1910–2010

Aufklärungsfilm «Krebs ist heilbar» – ein eindrückliches Zeugnis für den Umgang mit der Krank-

Vom Tabu zum Thema?

aus medizinhistorischer Sicht beleuchtet. Der Publikation beigelegt ist der 1953 entstandene

Vom Tabu zum Thema? 100 Jahre Krebsbekämpfung in der Schweiz 1910–2010



Vom Tabu zum Thema? 100 Jahre Krebsbekämpfung in der Schweiz 1910–2010



Daniel Kauz

Vom Tabu zum Thema? 100 Jahre Krebsbekämpfung in der Schweiz 1910–2010

Krebsliga Schweiz Schwabe Verlag Basel EMH


Herausgegeben von der Krebsliga Schweiz aus Anlass ihres 100-jährigen Bestehens im Jahr 2010

© 2010 by Krebsliga Schweiz, Bern, Schwabe AG, Verlag, Basel und EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG, Basel Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung der Herausgeberin und der Verlage reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Projektleitung und fachlicher Support: Rolf Marti, Kurt Bodenmüller, Marie-Pierre Fauchère, Christoph Gasser, Krebsliga Schweiz Lektorat: Iris Becher, Schwabe Gestaltung: Thomas Lutz, Schwabe; Beat Felber, artbeat graphic design, Bern (Kapiteleinstieg) Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN Schwabe: 978-3-7965-2671-8 ISBN EMH: 978-3-03754-046-6 www.schwabe.ch www.emh.ch


Inhalt

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Geleitwort von Bundesrat Didier Burkhalter

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Vorwort von Jakob R. Passweg, Präsident Krebsliga Schweiz

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Einleitung

22 Die Formierung der Krebsbekämpfung: Institutionelle Gründungsgeschichte, Wissensfelder, Rahmenbedingungen 24

ie vermittelte Gründung der Schweizerischen Vereinigung D für Krebsbekämpfung 1910

28

Krebs: Die «Krankheitsgeissel unserer Tage»

31

Statistik und die «Sichtbarmachung» von Krebs

35

Klinik, Physiologie, Bakteriologie

42

Die Entwicklung der Krebschirurgie um die Jahrhundertwende

49

in «Epoche machender Zweig der physikalischen Heilmethoden»: E Die Entwicklung der Strahlentherapie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

54

Die «Radium-Frage» 1921–1924

57

« Dem Volk zum Nutz, den Medizinern zum Trutz»: Populäre Volksmedizin und Krise der Schulmedizin in der Krebsbehandlung

64 Von der Aufklärung zur Öffentlichkeitsarbeit: Historischer Wandel der Publikumsinformation 66

Die Öffentlichkeit sensibilisieren

68

Die «gemeinverständlichen Aufsätze» 1914–1930

73 Das «Wandermuseum» über den Krebs 1924–1932:  Aufklärung zwischen Belehrung und Schrecken 79

Die Filme «Kampf dem Krebs» (1945) und «Krebs ist heilbar» (1953)

84 Die Konzeptualisierung und Professionalisierung der Öffentlichkeitsarbeit  seit den 1970er Jahren: Information und Prävention


92 Die Krebsliga und die Krebskranken: Schritte auf dem Weg zur «Patientennähe»   94

Die Organisation der Krebsbekämpfung

95 «Genügt unsere bisherige Art der Krebsbekämpfung?»:  Regionale Entwicklungen bis in die 1950er Jahre   98

Die erste Kartenaktion 1955

100

Das Manifest einer neuen Krebsbekämpfung: Der «Plan Schinz»

106 Die Gründung kantonaler Ligen und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Anfangszeit 109

Über Krebs (nicht) sprechen: Die Kontinuität eines Tabus

111

Der Aufbau von ersten Fürsorgestrukturen um 1960: Konzeption, Alltag, Tabus

116

Anfänge und Kontexte der Psychoonkologie

121 Die Krise der Schulmedizin in der Krebsbehandlung und ihre Folgen:  Renaissance der Alternativmedizin und Weiterentwicklung psychosozialer Ansätze 128

Von der ersten Sammelstatistik zu den Krebsregistern

130

Friedrich Schmids Forderung einer detaillierten Statistik 1913

133

Wurzeln der medizinischen Statistik im 19. Jahrhundert

135

Statistische Untersuchungen zum Krebsvorkommen in der Schweiz 1900–1930

138

Die Sammelstatistik zum Brustkrebs in der Schweiz 1920–1930

143 Medizinische und mathematische Logik im Widerstreit: Diskussionen zu ­Statistiken im Kontext der Sammelstatistik 145 Krebsregister und Epidemiologie in der Schweiz seit den 1960er Jahren:  Zwischen föderaler Entwicklung und internationaler Standardisierung 152

Zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung

154

Krebsforschung wird zum Thema im Parlament

157 Experimentelle und klinische Forschung in der Nachkriegszeit  161 Institutionelle Entwicklungen der Krebsforschung:  Zwischen einer Vision vom «Laboratorium Schweiz» und föderalistischer Realität 164 Die Nationalliga sucht ihre Rolle im Forschungsgefüge 168 Eine «Schweizerische Krebskommission» 172

ine «Feuerwehrübung»: Die finanzielle Unterstützung der E Zentralstelle für klinische Tumorforschung


175 Die Motion Schaller zur Situation der klinischen Krebsforschung:  Schritte zur Anerkennung der Onkologie in der Schweiz 178 Eine zentrale Krebsklinik für die Schweiz? 183 Dekade der Revision und Integration: Die Reorganisation der Wissenschaftlichen Kommission der Krebsliga und die Gründung der Krebsforschung Schweiz 188 Föderalistisch geprägte Spannungsverhältnisse und Professionalisierung im Kontext aktueller Entwicklungen 190 Spannungsverhältnisse zwischen der Krebsliga und den kantonalen Ligen: Föderalismus und Forschungsfinanzierung 196 Revision der Mittelbeschaffung und Professionalisierung der Strukturen 199 Das «Haus der Krebsliga»  201 Integrationsdruck und Konzentrationsbestrebungen:  Die Gründung von Oncosuisse 1999 202 Ein nationales Krebsbekämpfungsprogramm 205 Schlussbemerkung 208

Anhang

210

Anmerkungen

230 Kurze Chronik zur Geschichte der Krebsbekämpfung  in der Schweiz 1910–2010 232 Präsidenten, Wissenschaftliche Sekretäre, Generalsekretäre  und Geschäftsleiter der Krebsliga 1910–2010 236 Krebstagungen 1965–2010 238 Krebspreis: Preisträger 1960–2010  241 Robert Wenner-Preis: Preisträger 1983–2010 243 Krebsmedaille: Preisträger 1991–2010 245 Quellen- und Literaturverzeichnis  2 61 Abbildungsnachweise 263 Personen- und Organisationsregister



Geleitwort Steinig war der Weg, den die Schweiz in der Krebsbekämpfung in den vergangenen 100 Jahren zurückgelegt hat. Doch zeigt sich im vorliegenden Rückblick sehr eindrücklich, welch immense Wegstrecke von 1910 bis 2010 ­bewältigt wurde. Vor 100 Jahren bedeutete die Diagnose «Krebs» praktisch ein Todesurteil. Heute kann dank der Forschungserfolge und der enormen Fortschritte in Früherkennung und Therapie rund die Hälfte aller Krebspatientinnen und -patienten erfolgreich behandelt werden. Betroffenen und ihren Angehörigen steht ein breites Informations- und Beratungsangebot zur Verfügung. Und sie sind umgeben von medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Betreuungsstrukturen, die je nach Bedarf das ganze Spektrum – von der Früherkennung bis hin zur Palliativmedizin – abdecken. Dennoch: Jahr für Jahr erkranken in unserem Land mehr als 35 000 Men­ schen an Krebs, und über 15 000 sterben an ihrer Krankheit. Durchschnittlich jede dritte Person entwickelt im Lauf ihres Lebens eine Tumorerkrankung, und jede vierte stirbt daran. Hinzu kommt, dass die demografische Entwicklung diese Problematik künftig weiter verschärfen wird. Unser Gesundheitssystem und damit unsere gesamte Gesellschaft stehen vor gewaltigen Herausforderungen, denen wir alle – Politiker, Behörden, Forschende und Mediziner, Pflegende, Industrie, private Organisationen, aber auch jeder Einzelne – nur gemeinsam erfolgreich begegnen können. Im Schweizer Gesundheitssystem spielen private, gemeinnützige Organisationen wie die Krebsliga Schweiz eine massgebliche Rolle. Seit 100 Jahren setzt diese sich für die Interessen der an Krebs erkrankten Menschen und ihrer Angehörigen ein. Sie bietet Unterstützung und Beratung, informiert die Bevölkerung über Prävention und Früherkennung und fördert die patientennahe, industrieunabhängige Krebsforschung. Damit übernimmt die Krebs­liga eine wesentliche, eigenständige und ergänzende Funktion innerhalb unseres Gesundheitswesens. Als Non-Profit-Organisation geniesst sie dabei zwei entscheidende Vorteile: ihre Unabhängigkeit sowie ihre Nähe zu den Betroffenen und deren persönlichem Umfeld. Angesichts der medizinischen, politischen und ökonomischen, aber auch der sozialen und menschlichen Dimension der Krankheit Krebs steht aus der Optik des Staates ein Aspekt ganz besonders im Fokus: die Prävention. Vorsorgen ist besser als Heilen, wie ein altes Sprichwort besagt. Wenn wir heute nicht in Prävention investieren, damit die Bevölkerung so lange wie möglich bei möglichst guter Gesundheit bleibt, riskieren wir eines Tages, es uns nicht mehr leisten zu können, krank zu sein. Mit Blick auf die stetig steigenden Gesundheitskosten besteht für eine komplexe sowie

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meist langwierige und betreuungsintensive Erkrankung wie Krebs die Notwendigkeit, in Prävention aber auch in Früherkennung zu investieren, in ­besonderem Masse. Gewiss, wir verfügen in der Schweiz über einen im internationalen Vergleich hervorragenden Forschungsplatz und eines der weltweit besten ­Gesundheitssysteme, wovon Patientinnen und Patienten entscheidend profitieren. Aber wir können und müssen unsere Anstrengungen noch stärker auf die Verhütung von Krankheiten fokussieren, indem wir die Aktivitäten von privaten Organisationen, Bund und Kantonen in der Prävention und ­Gesundheitsförderung besser koordinieren; nur so können wir Doppelspurigkeiten beseitigen, bestehende Lücken schliessen und die Qualität verbessern. Mit anderen Worten: Es geht nicht um mehr, sondern um bessere Prävention. Zum Schluss möchte ich der Krebsliga Schweiz zu ihrem runden Geburtstag gratulieren und der Organisation für ihr unermüdliches Engagement ­zugunsten von Menschen mit Krebs herzlich danken. Leider wird eine Gesellschaft ohne Krebs wohl für immer ein Traum bleiben. Nicht nur deswegen wäre eine Schweiz ohne Krebsliga unvorstellbar. Ich wünsche ihr weiterhin viel Erfolg beim Meistern der zahlreichen anstehenden Herausforderungen rund um die Krankheit Krebs.

Bundesrat Didier Burkhalter Vorsteher des Eidgenössischen Departements des Innern

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«Wir setzen uns ein für eine Welt, in der weniger Menschen an Krebs erkranken, weniger Menschen an den Folgen von Krebs leiden und sterben, mehr Menschen von Krebs geheilt werden und Betroffene und ihre Angehörigen in allen Phasen der Krankheit und im Sterben Zuwendung und Hilfe erfahren.» Vision der Krebsliga Schweiz, 2010

Vorwort Krebs – fünf Buchstaben, die das Leben aus den Fugen geraten lassen und für jeden Menschen, der von dieser Krankheit betroffen ist, eine existenzielle ­Bedrohung bedeuten. Fünf Buchstaben, die uns auch gesamtgesellschaftlich betrachtet immer wieder vor Herkulesaufgaben stellen, in Zukunft nicht weniger als in der Vergangenheit. Tatsächlich ist einiges, was im Zusammenhang mit Krebs bereits vor 100 Jahren galt, auch heute noch wahr. Und doch haben sich viele Aspekte rund um die Krankheit und ihre gesellschaftliche Bewältigung binnen eines Jahrhunderts fundamental gewandelt. Am 1. Mai 1910 wurde die Schweizerische Vereinigung für Krebsbekämpfung in Bern gegründet. Damals war die Krebsliga ein kleines Fachgremium von Medizinern, das sich zum Ziel setzte, die Organisation der Krebsforschung in der Schweiz zu verbessern. Heute ist sie eine professionelle Non-Profit-­ Organisation, bestehend aus der Krebsliga Schweiz als Dach- und Fachorganisation sowie 20 kantonalen und regionalen Ligen, die sich auf vielfältige Weise für Menschen mit Krebs und ihre Angehörigen einsetzen. Wie gross der Wirkungskreis, wie umfassend die Tätigkeitsfelder der Krebsliga geworden sind, verdeutlicht ihre Vision, die ihre «raison d’être» in Worte fasst. Anlässlich ihres 100-Jahr-Jubiläums ist für die Krebsliga Schweiz der Moment gekommen, zu analysieren, was bislang erreicht wurde, und auf der Basis eines soliden Rückblicks zu reflektieren, was noch getan werden muss. Dazu braucht es nicht nur historisches Faktenwissen und wissenschaftliche Tiefenschärfe, sondern insbesondere auch kritische Distanz. Die medizinhistorische Studie, die wir in Auftrag gaben, sollte sich jedoch keineswegs ausschliesslich mit der ­G eschichte der Krebsliga beschäftigen, sondern ein ganzes Jahrhundert der Krebs­bekämpfung in der Schweiz in den Blick nehmen. Im Sommer 2008 machte sich der Historiker Daniel Kauz auf in die Archive und begann, sich durch umfangreiche Aktenberge zu arbeiten. Unterstützt wurde er während der zwei Jahre dauernden Arbeit von einer Begleitgruppe mit Iris Ritzmann, Privatdozentin für Medizingeschichte an der Universität Zürich, Martin Lengwiler, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel, Professor Daniel Betticher, Onkologe und Vorstandsmitglied der Krebsliga Schweiz sowie Mitgliedern der Geschäftsleitung und Mitarbeitenden des Wissenschaftlichen Sekretariats der Krebsliga. Die vorliegende Publikation wird unseren Erwartungen voll und ganz gerecht. Sie bietet ein faszinierendes Kaleidoskop zentraler Facetten der Krebsbekämpfung in der Schweiz: von der autoritär-pädagogisierenden Aufklärung der Anfänge zur modernen, zielgruppengerechten Öffentlichkeitsarbeit; von

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ersten summarischen Sammelstatistiken zu hochauflösenden Krebsregistern; von anfänglich wenig erfolgreichen Chirurgie- und Radiotherapieverfahren zu zielsicheren «targeted therapies», wie wir sie heute kennen. Das Buch erzählt auch anschaulich vom Wandel im Umgang der Ärzteschaft mit den Patientinnen und Patienten und vom veränderten Selbstverständnis der Betroffenen. Tatsächlich haben Transparenz und Empowerment der Patienten Bevormundung und Tabuisierung weitgehend abgelöst. Die Betroffenen werden heute offen informiert und von Ärzten und Pflegepersonal in Behandlungsentscheide partnerschaftlich einbezogen. Das progressive Aufbrechen des Tabus rund um die Krankheit – obschon je nach kulturellem Hintergrund und individueller Situation des Patienten sehr unterschiedlich gehandhabt – ist sicher eine der wichtigsten Errungenschaften in unserem Umgang mit Krebs. Die Krankheit selbst wird heute tief im Innern der Zellen erforscht und auf molekularer Ebene immer besser verstanden. Die therapeutischen Optio­ nen der Chirurgie, Chemotherapie und Bestrahlung, dank derer wir rund die Hälfte der Patientinnen und Patienten erfolgreich behandeln, entwickeln sich laufend weiter. Immer mehr Menschen leben noch Jahre nach ­ihrer Krebsdiagnose. Allerdings werden sie zunehmend zu Langzeitpatienten, was wiederum neue gesellschaftliche Herausforderungen mit sich bringt. Während wir bei einigen Krebsarten über wirkungsvolle Früherkennungs- und Präventionsmassnahmen verfügen, sind unsere Möglichkeiten bei anderen beschränkt oder inexistent. Die bestehenden kantonalen Krebs­ register – unverzichtbare epidemiologische Basis jeder evidenzbasierten Krebsbekämpfung – erfassen jedoch erst knapp zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung. Deutliche Lücken sind auch in der Betreuungskette zu beklagen, beispielsweise im Bereich der palliativen Pflege und Medizin. Angesichts der Herausforderungen, die noch vor uns liegen, sind die ­Errungenschaften der letzten 100 Jahre wohl nur Etappen auf einem langen Weg, dessen Ziel nicht in Sichtweite ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund möchte ich allen herzlich danken, die zum Gelingen dieser Publikation beigetragen haben – speziell dem Autor Daniel Kauz, ohne dessen unstillbare Neugierde und akribische Recherchierlust die Geschichte der Krebsbekämpfung in der Schweiz vermutlich weitere 100 Jahre in den Archiven schlummern würde.

Prof. Dr. med. Jakob R. Passweg Präsident Krebsliga Schweiz

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Einleitung Krebs ist ein Dauerthema. Es vergeht kaum eine Woche ohne diesbezügliche Neuigkeiten: Seien es Berichte über neue Therapien, Medikamente, diagnostische Verfahren oder über neu erforschte Zusammenhänge bei der Entstehung von Tumoren, seien es Meldungen zu erkrankten, genesenen oder verstorbenen Persönlichkeiten. Es gibt wohl kaum eine andere Krankheit mit vergleichbarer medialer Präsenz. Gleichwohl bleibt Krebs eine individuelle Erkrankung, die dem Menschen stets in grundlegender Weise widerfährt. Nach wie vor wird sie assoziiert mit Angst, Schmerzen, Leiden, Tod. Es ist eine Krankheit, deren Schrecken – allen therapeutischen Fortschritten zum Trotz – bis heute nicht verschwunden sind. Krebs ist immer existenziell. Die Geschichte der organisierten Krebsbekämpfung in der Schweiz von 1910 bis 2010 ist nicht ausschliesslich eine Geschichte der Krebsliga, doch steht sie als wichtige Schnittstelle immer wieder im Zentrum der Darstellung. Die Krebsbekämpfung umfasste stets höchst unterschiedliche Felder, darunter die verschiedenen Sparten der Behandlung wie Chirurgie, Strahlentherapie und Chemotherapie, die Aufklärung, die Früherkennung, die ­Patientenfürsorge, die Prävention, die Krebsforschung, aber auch Aspekte wie die Registrierung Krebskranker oder die Beschaffung von Fördergeldern. Die Entwicklung dieser Gebiete verlief jedoch nicht immer parallel, sondern teilweise auch in zeitlicher Abfolge oder sich wechselseitig bedingend. So standen zwischen 1910 und 1930 Aspekte der Behandlung – etwa die Institutionalisierung der Strahlentherapie oder die Verteilung des kostspieligen Radiums – im Vordergrund. Zugleich galt es, über die wichtigsten Anzeichen und Symptome von Krebs aufzuklären, zunächst mit Hilfe von Merkblättern, Vorträgen, Zeitungsartikeln und Ausstellungen, später auch mittels Filmen. Die Früherkennung bestimmter Krebserkrankungen, zunächst jener der weiblichen ­Geschlechtsorgane und der Bronchialkarzinome, gewann seit Ende der 1930er Jahre im Zuge der Etablierung neuer Geräte an Bedeutung. Die weitere Entwicklung der diagnostischen Techniken zeigte eine immer stärkere Verzahnung mit der Behandlung. Eine verbesserte Fürsorge Krebskranker war Mitte des 20. Jahrhunderts das Ziel einer grundlegenden ­Reorganisation der Strukturen. In diesem Zusammenhang gründete man die kantonalen und regionalen Ligen und führte erstmals jährliche Sammelaktionen durch. Jene Entwicklung ging auch mit einem Wahrnehmungswandel einher: Krebs wurde nun nicht mehr nur als medizinisches, sondern ebenso als soziales Problem gesehen. Die Dekade zwischen 1960 und 1970 war das Jahrzehnt, in dem sich die Krebsforschung – die Grundlagenforschung und die klinische Forschung – in der Schweiz institutionalisierte und die Onkologie innerhalb

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der klinischen Disziplinen etablierte. Für die Krebsliga, die bis ­dahin einzige Organisation auf dem Feld der Krebsbekämpfung, stellte sich das Problem, wie sie sich, beispielsweise in Bezug auf die Forschungsförderung, im Gefüge neuer Akteure und Organisationen positionieren sollte. Sowohl die Krebsprä­ vention, welcher aufgrund neuer Forschungsergebnisse zunehmend Gewicht zukam, als auch die Registrierung Krebskranker, die systematische Erfassung von Inzidenz und Mortalität, waren zu Beginn der 1970er Jahre aufkommende, sich parallel entwickelnde Felder. Aus der Prävention gingen dann auch neue, zielgruppenspezifische Konzepte und Strategien der Aufklärung und Information hervor. Psychosoziale Aspekte, etwa Fragen rund um die «Lebensqualität» Krebskranker, hatten ihren Ausgangspunkt bereits in den Fürsorgestrukturen der 1950er Jahre, erlangten jedoch erst rund 30 Jahre später einen anerkannten, festen Stellenwert. Die Professionalisierung der Krebsliga und die verstärkte Arbeit an der Aussenwahrnehmung als Organisation, wie sie seit 25 Jahren zu beobachten sind, hatten unter anderem das Ziel, sich in einem immer kompetitiveren Spendenmarkt zu behaupten. Waren zunächst aus den verschiedenen historisch gewachsenen Feldern der Krebsbekämpfung, etwa der Behandlung, der Forschung und der Pflege, unterschiedliche Organisationen und Vereinigungen hervorgegangen, so ist in letzter Zeit eher der Bündelung der Kräfte Bedeutung zugekommen. In der Schweiz stellt die Gesundheitspolitik in erster Linie eine kantonale Domäne dar; entsprechend fanden auch diverse Entwicklungen der Krebsbekämpfung im besonderen Rahmen der föderalistischen Strukturen statt. ­Dabei artikulierten sich nicht nur regionale Interessenunterschiede, vielmehr kristallisierten sich, besonders in der deutsch- und ­f ranzösischsprachigen Schweiz, mitunter ganz unterschiedliche Strukturen heraus, die nicht ­zuletzt auch abweichende kulturelle Umgangsweisen mit Krebserkrankungen erken­ nen lassen. Während etwa in Lausanne und Genf bereits 1924 sogenannte Centres anticancéreux gegründet wurden, gab es in der Deutschschweiz eine tiefsitzende Abneigung gegenüber zentralisierten und vor allem auch öffentlich sichtbaren Anstalten der Krebsbehandlung. Auch die Institutio­nalisierung von Krebsregistern und Strukturen der Früherkennung setzte in der Westschweiz oft früher ein. Dass gerade in der Krebsliga der Gegensatz von Zentralismus und Föderalismus ein stets spannungsgeladenes Orientierungs- und Konfliktmuster bildete, dürfte deshalb kaum verwundern. Doch auch auf Bundesebene war Krebs immer ein Thema. Der Anstieg der Krebsmortalität im Laufe des 20. Jahrhunderts spielte dabei eine wichtige Rolle. Hier hatten auch gesundheitspolitische Überlegungen zur Krankheit ihren Ausgangspunkt, etwa die Frage, ob es sich bei Krebs um eine individuelle Krankheit oder um eine die Allgemeinheit bedrohende «Volksseuche» hand-

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le, was wiederum gegebenenfalls gesundheitspolitische Massnahmen auf nationaler Ebene bedingt hätte. Die Bekämpfung der ansteckenden ­Tuberkulose, für die entsprechende gesetzliche Grundlagen bestanden, stellte deshalb in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auch für den Kampf gegen Krebs einen wichtigen Orientierungspunkt dar. In der Folge war das Thema auf nationaler Ebene in erster Linie im Kontext der Forschungsförderung präsent. Im Rahmen eines nationalen Krebsbekämpfungsprogramms schliesslich stellte sich Ende des 20. Jahrhunderts das komplexe politisch-juristische Problem, wie die Kompetenz- und Regulationsbereiche des Bundes und der Kantone aufeinander abzustimmen sind. Die Geschichte der Krebsbekämpfung ist durch ein eigentümliches Paradox gekennzeichnet, das den Umgang mit und die Wahrnehmung der Erkrankung betrifft: Während Krebs als allgemeines Thema in der Öffentlichkeit stets omnipräsent war, umgab man die Erkrankung im individuellen Fall bis vor 20, 30 Jahren mit Schweigen. Diagnosen wurden umschrieben und verheimlicht, in der Deutschschweiz wiederum weit ausgeprägter als in der französischen Schweiz. Dieses Tabu verweist auf die mit Krebserkrankungen verbundenen tiefsitzenden Ängste und auf die Ohnmacht der Mediziner angesichts der oft nur prekären Heilungsaussichten. Zurzeit unterscheidet man rund 230 Varianten von Krebserkrankungen. Nach wie vor stellen diese gerade wegen ihrer vielfältigen ­Erscheinungsformen sowie aufgrund ihres unberechenbaren und schwierigen, oft chronischen Krankheitsverlaufs eine therapeutische Herausforderung dar. Seit rund 130 Jahren werden Krebsbehandlungen verbreitet durchgeführt; ­anfänglich – ­infolge der Etablierung von Anästhesie und Antisepsis – mittels ­chirurgischer Techniken, seit der Wende zum 20. Jahrhundert, bereits kurz nach der bahnbrechenden Entdeckung Wilhelm Röntgens, zusätzlich mittels Bestrahlung, und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch medikamentös. Jede einzelne dieser Techniken vermochte sich im Verlauf ihrer Geschichte so­ wohl in technischer als auch in praktischer Hinsicht zu entwickeln. Darüber hinaus werden seit fast einem Jahrhundert die Kombination und die wechselseitige Abstimmung der verschiedenen therapeutischen ­A nsätze vorangetrieben. Gerade aufgrund der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen und ­Behandlungsmethoden liessen sich Krebserkrankungen zunächst nur ­schwer ins Spektrum der sich laufend spezialisierenden klinischen Disziplinen ­integrieren. Dies änderte sich erst mit der Institutionalisierung der Onkologie nach 1960. Möglicherweise steht die Erkennung und Behandlung von Krebserkrankungen heute an einer Schwelle. Im Rahmen eines internationalen Projekts, «The Cancer Genome Atlas», wird gegenwärtig auf der Grundlage von

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jeweils 500 Proben das vollständige Genom der Krebszellen von 50 verschiedenen Tumorarten entschlüsselt. Von der Entzifferungsarbeit dieser 25 000 Proben erhofft man sich, charakteristische Muster von Genveränderungen, «Krebsmuster», zu erkennen, welche wiederum ein differenzierteres und spezifischeres Behandlungsspektrum, gleichsam massgeschneiderte therapeutische Interventionen, ermöglichen sollen. Parallel befinden sich neue, ebenfalls auf Genanalysen basierende diagnostische Verfahren in Entwicklung, die in Aussicht stellen, individuelle Risiken für bestimmte Krebserkrankungen frühzeitig prognostizierbar zu machen. Ein Zeitalter «personalisierter Medizin» in der Krebsbehandlung wird angekündigt. Dieser Verbund individualisierter, genbasierter Diagnostik und Therapie bringt dabei zwangsläufig einigen sowohl juristisch-ethischen als auch gesundheitsökonomischen Diskussionsbedarf mit sich. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts fasste man die vielfältigen Erscheinungsformen von Krebs als Zellerkrankung mit dem gemeinsamen Nenner eines unkontrollierten Zellwachstums. Ebenso zahlreich wie die Erscheinungsformen waren auch die Bezeichnungen für dieses gefürchtete Phänomen: ­Gewächs, Geschwür, Geschwulst, Karzinom, Tumor, Neoplasma und weitere mehr. Die Morphologie der Erkrankung, ihre äussere Gestalt, hatten Mediziner und Anatomen schon seit längerem eingehend beschrieben. Der deutsche Pathologe Rudolf Virchow, der Krebs erstmals massgeblich als eine Erkrankung der Zellstrukturen begriff, liess um 1860 die früheren Klassifikationen von Tumoren Revue passieren. So wurde etwa bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts noch zwischen Polypen und Geschwulsten der Nasenhöhle oder ­(ihrem Aussehen nach) zwischen pilzartigen Geschwulsten, Blumenkohl-, Perl- und Wassergeschwulsten sowie Honig- und Colloidgeschwulsten (welche in ­ihrer Konsistenz angeblich an Honig beziehungsweise Tischlerleim erinnerten) ­unterschieden.1 Hinsichtlich der Entstehung von Krebs wurden im Verlauf der Zeit unzählige Hypothesen und Theorien formuliert. Unter anderem ­machte man Mikroorganismen, Fehleinstellungen im Stoffwechsel, ­hormonelle ­Ungleichgewichte, Gifte, Strahlungen, Umweltfaktoren und Konsumgewohnheiten für die Krebsentstehung verantwortlich. Zwar gelang es ­A nfang des 20. Jahrhunderts, Tumore experimentell zu erzeugen, sie in andere Organismen zu verpflanzen und ihr Wachstum immer genauer zu beobachten und zu erforschen, die Entstehungszusammenhänge und Wirkungsmechanismen, welche letztlich eine Krebserkrankung auslösen, blieben jedoch rätselhaft. Krebs stellte gleichsam eine «Black Box» dar, welche man zwar äusserlich beschreiben konnte, deren innen liegende Mechanismen jedoch nicht einsehbar waren.

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Im Verlauf der 1970er Jahre konnten die der Malignität einer Zelle z­ ugrundeliegenden Mechanismen und damit die ­Entstehungsbedingungen von Krebs erstmals ansatzweise durchschaut werden. Ausschlaggebend war hierbei die in der Nachkriegszeit aus einem disziplinären Zusammenschluss von Biophysik, Biochemie, Zellbiologie und Genetik ­hervorgegangene Molekular­biologie. Diese konzeptualisierte die grundlegenden Lebensvorgänge nicht mehr in Modellen und Begriffen der Energetik und Mechanik, sondern in solchen der Weitergabe und Speicherung genetischer Informa­ tionen.2 Dies b ­ edeutete: «Organismen in den unterschiedlichsten Formen sind mit Hilfe der gleichen ­Genbatterien konstruiert. Die Verschiedenartigkeit der Formen erklärt sich durch kleine Veränderungen in den Regulationssystemen, die die Genexpression, die ­Aktivierung der Gene, steuern.»3

Die Molekularbiologie entdeckte in den 1960er Jahren die «Einheit der genetischen Systeme» und die «Grundmechanismen, die das Funktionieren der Zelle lenken».4 Möglich wurde dies einerseits durch eine Reihe neuer, hochgradig verfeinerter Darstellungstechniken wie Röntgenstrukturanalyse, Ultrazentrifugation, Chromatografie, radioaktive Markierung und Elektronenmikroskopie, andererseits, weil die Forschung dazu überging, neue Modellorganismen wie Pilze, Protozoen, Bakterien oder Viren zu untersuchen. Verschiedene gentechnische Verfahren, die sich in den folgenden ­Jahren im Kontext der Molekularbiologie entwickelten, machten es möglich, die in komplexen Organismen enthaltenen riesigen Mengen an DNA zu manipulieren, das heisst bestimmte Gene, Segmente der DNA, ausfindig zu machen, sie zu isolieren, zu reproduzieren und auch in andere Organismen zu transferieren.5 Die Gentechnologie veränderte das Verhältnis zwischen Molekularbiologie und Medizin auf fundamentale Weise. Sukzessive konnten nun die Entstehungsbedingungen von Krankheiten, bei denen mutmasslich genetische Komponenten eine Rolle spielten, analysiert werden. Gerade der Krebsforschung bot diese Entwicklung bislang ungeahnte Möglichkeiten. Mittels der neuen rekombinanten Technologien liessen sich aus Krebszellen einzelne Gene isolieren und in andere, gesunde Zellen einsetzen. Erstmals wurde es damit möglich, Krebs auf molekularer Ebene zu erzeugen und zu analysieren. Die für die Krebsentstehung verantwortlichen Gene sind meist in einem Genspektrum angesiedelt, das für die präzise Regulation von Zellteilung und Zelldifferenzierung verantwortlich ist. Man bezeichnet sie als Krebsgene beziehungsweise Onkogene.6 Onkogene sind demnach mutierte Versionen normaler Gene. Für ihre wegweisenden Arbeiten zum Onkogen erhielten John Michael Bishop und Harold Varmus 1989 den Nobelpreis für Medizin. Die Entstehung eines Tumors, jener bislang weitgehend rätselhafte Vorgang unkon-

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trollierten Zellwachstums, war nun auf molekularer Ebene erstmals in Ansätzen reproduzierbar; in die «Black Box» konnte gleichsam ein erster Blick geworfen werden. An eine solche molekulare Medizin, für die bereits seit Mitte der 1970er Jahre erste wissenschaftliche Grundlagen geschaffen worden waren, knüpfte sich die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit eine Vielzahl erblich bedingter Krankheiten, allen voran Krebserkrankungen, therapierbar werden würde.7 In dem Masse jedoch, in dem sich die Molekularbiologie komplexeren Organismen zuwandte, sich also weniger mit Viren und Bakterien, sondern vermehrt etwa mit Fröschen und Mäusen auseinanderzusetzen und damit auch evolutionäre Prozesse aus molekularbiologischer Perspektive zu untersuchen begann, verkomplizierte sich das Bild. Die zu Beginn der 1960er Jahre entwickelten Vorstellungen vermochten die komplexen und vor allem auch überaus vielfältigen Spielformen, mit denen sich Genexpressionen vollziehen, nicht mehr adäquat zu fassen. Modelle wie jene, dass Gene (beziehungsweise die entsprechenden Sequenzen der DNA) Proteine auf einfache Art und Weise «codierten» oder dass das Genom den Organismus «programmiere», konnten im Zug weiterer Forschungen das weitaus komplexere Geschehen nicht mehr adäquat abbilden. Vielmehr kamen die Studien zum Schluss, dass bei Genen, die in Netzwerken wirken, die Funktionen wesentlich von der jeweiligen Zellumgebung abhängen. Man erkannte zudem, dass die Genexpression nicht nur in unterschiedlichen Kontexten, sondern ebenso in unterschiedlichen Entwicklungsstadien des Organismus variiert und dass schliesslich auch Umweltfaktoren und selbst der Zufall, sogenannter «devel­ opmental noise», eine Rolle spielt.8 Die zu Beginn angenommene und wechselseitig festgelegte Einzigartigkeit von Proteinen und Genen implizierte die Vorstellung eines linearen, kontinuierlichen Komplexitätszuwachses von «niederen» zu «höheren» Organismen, etwa von Bakterien zu Mäusen. Je entwickelter und je komplexer der Organismus sich darstellte, so die Annahme, umso mehr genetisches Informationsmaterial musste er aufweisen. Diese Vorstellung wurde abgelöst vom Bild des «Baukastens», das die Mechanismen der biochemischen Evolutionsprozesse weit treffender zu fassen vermochte: «Die lebende Welt gleicht einem Baukasten. Sie geht aus einer riesigen Kombinatorik hervor, durch die nahezu fixe Elemente, Gensegmente oder Genblöcke, die die Module für komplexe Operationen bestimmen, unterschiedlich angeordnet werden. Der Zuwachs an Komplexität in der Evolution stammt aus neuen Zusammensetzungen solcher vorher bestehenden Elemente. Mit anderen Worten, das Auftauchen neuer Formen, neuer Phänotypen stammt oft aus bisher nicht dagewesenen Kombinationen der gleichen Elemente.»9

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Die derart gefassten Evolutionsprozesse bezeichnete der Molekularbiologe und Wissenschaftshistoriker François Jacob als «molekulare Bastelei».10 Man erkannte, dass die genetischen Systeme im Verlauf der Evolution nicht Schicht um Schicht aufgebaut waren, sondern Prozesse der Verdichtung durchlaufen hatten. Das bedeutete zum Beispiel, dass die vergleichsweise einfache Anordnung eines bakteriellen Genoms – jenes in den Anfängen der Molekularbiologie bevorzugten Modellorganismus – weniger auf eine «ursprüngliche Schlichtheit» hinwies, sondern vielmehr «für das Ergebnis einiger Milliarden Jahre optimierter ­Informationsverpackung auf minimalem Raum» stand.11 Was für die Entwicklung der molekularbiologischen Forschung im Allgemeinen gilt, nämlich die Tatsache, dass sich das genetische Expressionsgeschehen nicht immer übersichtlicher, sondern im Gegenteil immer undurchschaubarer und komplexer darstellte, betrifft in besonderem Masse auch die Forschungen zur Krebsentstehung. Hoffte man noch zu Beginn der 1980er Jahre im Zusammenhang mit der Entdeckung der Onkogene, dass diese sich auf eine überschaubare Zahl eingrenzen liessen, so bewahrheitete sich letztlich just das Gegenteil.12 Die ersten Auswertungen des noch in Arbeit befindlichen «Cancer Genome Atlas», in dem bislang die kompletten Genome von verschiedenen Darm- und Brustkrebsarten entschlüsselt vorliegen, deuten auf mindestens 100 verschiedene im Spiel befindliche Krebsgene und zudem auf erhebliche individuelle Abweichungen innerhalb der verschiedenen Tumorarten hin. Ein Tumor geht folglich aus einem «einzigartigen Flickwerk» von Mutatio­nen hervor und präsentiert sich so individuell wie ein «Fingerabdruck».13 So ist nach wie vor über das Voranschreiten von einer normalen zu einer bösartigen Zelle kaum etwas bekannt. Die Krebsentstehung entspricht der Bastelei evolutionärer Prozesse, sie ist genetisch instabil. Therapeutische Behandlungen, Bestrah­ lungen, Chemo- und Immuntherapien führen dabei zu einer Art Auslese.14 Mittlerweile ist es der biomedizinischen Forschung gelungen, die biolo­ gische Komplexität evolutionärer Prozesse in ihr Bild der Krebsentstehung zu integrieren. Gerade dem Zufall kommt bei der Entstehung von Tumoren besondere Bedeutung zu. Eindeutige Kausalverknüpfungen sind kaum nachzuweisen, stets wirken vielfältige Ursachen zusammen. Umweltbedingungen, der persönliche Lebensstil, individuelle Risikofaktoren, genetische Konstitutionen können, zumeist längerfristig, DNA-Mutationen auslösen. Der schädigende Einfluss betrifft die DNA jedoch nie unmittelbar, sondern wirkt sich über sogenannte Modulatoren aus. Dies kann entweder von aussen, zum Beispiel mittels Viren oder Giften, oder von innen, etwa durch Hormone, geschehen. «Die beteiligten krebsauslösenden Faktoren und deren ‹Ziel›-Gewebe, -Zellen, und -Gene sind unterschiedlich, die Krebserkrankungen und deren Verlauf entsprechend verschieden, aber im Prinzip ist immer ein ähnliches Netz von Risikofaktoren und

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Modulatoren am Werke. Der entstehende Krebsklon entwickelt sich im Laufe der Zeit nach den gleichen Darwinschen Regeln wie auch Organismen während der Evolution. Der Zufall ist dabei stets der unberechenbare Parameter: Es ist dieser wahlund ziellose Bestandteil, der sowohl bei Krebs als auch bei der Evolution die entscheidende, gestaltende Rolle spielt.»15

Hier wird deutlich, in welchem Masse die Entstehung von Tumoren den «Darwinschen Regeln», also evolutionären Prinzipien folgt. Dabei zeigt sich allerdings auch, dass einige der für die Krebsentstehung relevanten Risikofaktoren (evolutionäre) Kehrseiten ursprünglich vorteilhafter Merkmale sind. Entwicklungsgeschichtlich zentrale Aspekte wie die hormongesteuerte Fruchtbarkeit oder die Möglichkeit, in Form von Fett Energie zu speichern, bergen zugleich das Risiko von Krebserkrankungen. Die evolutionäre Perspektive verdeutlicht damit zugleich, wie komplex die Erforschung und Behandlung von Krebs­ erkrankungen sich ausnimmt, gerade weil Gesundheit und Krankheit ent­ wicklungsgeschichtlich an vielen Stellen so eng miteinander ­verwoben sind.16

Dank Die Entstehung eines Buches verdankt sich stets vielen. Zu Beginn möchte ich mich bei der Krebsliga Schweiz bedanken, die diese historische Arbeit im Rahmen ihres 100-Jahr-Jubiläums ermöglicht hat. Ganz besonderer Dank gilt den Mitgliedern der Begleitgruppe aufseiten der Krebsliga Schweiz, Rolf Marti, ­Daniel Betticher, Marie-Pierre Fauchère, Kurt Bodenmüller, Christoph Gasser und ­Bruno Meili. Sie verfolgten das Projekt während der letzten zwei Jahre intensiv und standen mir im Arbeits- und Recherchealltag immer zur Seite. Iris Ritzmann und Martin Lengwiler, die für die historisch-wissenschaftliche Begleitung des Projekts verantwortlich waren, unterzogen die diversen Manuskriptfassungen einer kritischen Lektüre. Zusätzliche Orientierungspunkte über das weite und nicht immer übersichtliche Feld der Krebsbekämpfung in der Schweiz gaben mir Sylvia von Arx, Claude Thomann und Walter Weber. Zu erwähnen sind ­ausserdem die medizingeschichtlichen Archive, Bibliotheken und ­Museen in Lausanne, Bern und Zürich, die die Entstehung dieses Buches unterstützten. Marlen Rutz recherchierte zahlreiche Archiv- und Bildmaterialien und erleichterte damit die Arbeit ganz beträchtlich. Vom Schwabe Verlag gebührt Iris ­Becher für das profunde Lektorat sowie Thomas Lutz für die Gestaltung Dank. Ebenso sei allen gedankt, die an der Erstellung der französischen Fassung dieses Buches mitgewirkt haben, ganz besonders der Übersetzerin ­Christiane Hoffmann-Champliaud. Und schliesslich eigne ich die Arbeit meiner Frau Sabine Schilling zu, die immer da war, für mich und für dieses Buch. Gurtnellen, im Februar 2010

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Daniel Kauz


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