Babylon Europa

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UG_Babylon_Europa_Layout 1 26.05.11 08:58 Seite 1

Inhalt Georg Kreis, Europa: Vielfalt in der Einheit Konrad Ehlich, Europäische Sprachregime – Voraussetzungen und Perspektiven Miriam A. Locher, Englisch als Weltsprache Annelies Häcki Buhofer, Unterschiedliches Reden in der gleichen Sprache Georges Lüdi, «Unperfektes» und mehrsprachiges Reden Gabriele M. Müller, Mehrsprachigkeit an Hochschulen Alexandre Duchêne / Ingrid Piller, Mehrsprachigkeit als Wirtschaftsgut: Sprachliche Ideologien und Praktiken in der Tourismusindustrie

Der Herausgeber Georg Kreis, em. Professor für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Basel und Leiter des Europainstituts

I S B N 978-3-7965-2690-9

Schwabe Verlag Basel www.schwabe.ch

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783796 526909

Georg Kreis (Hrsg.)

Das europäische Integrationsprojekt hat die in Europa ohnehin bestehende Sprachproblematik bewusster gemacht: Wie verständigen sich Menschen, die immer näher beisammenleben, immer enger zusammenarbeiten, immer stärker in andere Sprachgebiete migrieren? Die europäische Sprachenvielfalt ist eine Realität, der es sich zu stellen gilt. Es fragt sich nur, ob man sie – im Sinne der babylonischen Sprachverwirrung – als Problem betrachtet oder ihr vornehmlich Positives abzugewinnen vermag. Die Aufgabe der Wissenschaft dabei ist, ein adäquates Bild der verschiedenen Sprachwirklichkeiten zu vermitteln und aufzuzeigen, wie man mit ihnen umgehen kann. Die hier versammelten Beiträge wollen in diesem Sinne informieren und sensibilisieren. Aus unterschiedlichen Perspektiven im weiten Feld der Sprachwissenschaften geben sie Einblicke in die erstaunliche Vielfalt der europäischen Sprachenvielfalt.

Babylon Europa

Georg Kreis (Hrsg.)

Babylon Europa Zur europäischen Sprachlandschaft





Babylon Europa Zur europäischen Sprachlandschaft

herausgegeben von Georg Kreis

Schwabe Verlag Basel


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft Basel

Abbildungen auf dem Umschlag: Links oben: Der Turm zu Babel (Ausschnitt), Flämischer Künstler, Ende 16. Jh., Siena, Pinacoteca Nazionale Rechts oben: Der Einsturz des Turms zu Babel (Ausschnitt), Cornelis Anthonisz., 1547, Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett Links unten: Zeichnung Thomas Lutz, Schwabe Rechts unten: Cartoon Ruben L. Oppenheimer, Maastricht

© 2011 by Schwabe AG, Verlag, Basel Lektorat/Korrektorat: Iris Becher, Schwabe; Thomas Heuer, Basel Umschlaggestaltung: Thomas Lutz, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Druckerei, Muttenz/Basel Printed in Switzerland ISBN 978-3-7965-2690-9 www.schwabe.ch


Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Georg Kreis Europa: Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Konrad Ehlich Europäische Sprachregime – Voraussetzungen und Perspektiven . . . . 27 Miriam A. Locher Englisch als Weltsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Annelies Häcki Buhofer Unterschiedliches Reden in der gleichen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Georges Lüdi «Unperfektes» und mehrsprachiges Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Gabriele M. Müller Mehrsprachigkeit an Hochschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Alexandre Duchêne / Ingrid Piller Mehrsprachigkeit als Wirtschaftsgut: Sprachliche Ideologien und Praktiken in der Tourismusindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159



Vorwort

«Babylon» ist der Ortsname für Vielsprachigkeit und kulturelle Vielfalt. In der Geschichte vom Turmbau zu Babel erscheint Sprachenvielfalt zwar in erster Linie negativ, als Strafe Gottes dafür, dass ein frevelhaftes Groß­ unternehmen angestrebt wurde, doch gilt «Babel» auch als quasi etymologi­ sche Erklärung des Umstands, dass es überhaupt unterschiedliche Sprachen gibt. Die Babel-Metapher ist in den Schriften zur europäischen Sprachen­ problematik recht präsent und scheint auch in unserem Band auf. Aller­ dings wird die als Sprachenwirrwarr ursprünglich negativ eingestufte Spra­ chenvielfalt mittlerweile oft auch positiv verwendet und steht für bunte, multikulturelle Realität. Beispiele dafür sind die Namensgebung für die im Tessin seit 1991 erscheinende Zeitschrift «Babylonia» oder das Buch «Baby­lonische Welt» von Harald Haarmann (2001). Europa weist im globalen Vergleich keine besonders hohe Sprachenviel­ falt auf. Aber das europäische Integrationsprojekt lässt wegen der sich in­ tensivierenden Zusammenarbeit die ohnehin bestehende Sprachenproble­ matik bewusster werden: Wie verständigen sich Menschen, die immer näher beisammenleben, immer enger zusammenarbeiten, immer stärker in andere Sprachgebiete migrieren? Die europäische Sprachenvielfalt wird somit mehr denn je zu einer Realität, der es sich zu stellen gilt. Es fragt sich nur, ob man diese – im Sinne der babylonischen Sprachverwirrung – als Problem betrach­ tet oder ihr vornehmlich Gutes abzugewinnen vermag. Die Aufgabe der Wis­ senschaft dabei ist, ein «adäquates» oder «angemessenes» Bild der verschie­ denen Sprachwirklichkeiten zu vermitteln und aufzuzeigen, wie man mit ihnen umgehen kann. Die hier versammelten Beiträge wollen in diesem Sinne informieren und sensibilisieren. Aus unterschiedlichen Perspektiven im weiten Feld der Sprachwissenschaften geben sie Einblicke in die erstaun­ liche Vielfalt der europäischen Sprachenvielfalt. Basel, im Februar 2011

G. K.



Europa: Vielfalt in der Einheit Georg Kreis

Die Vielsprachigkeit Europas ist Teil der vielbeschworenen europäischen Vielfalt. Sie lebt bis zu einem gewissen Grad von der Akzeptanz und Praxis der Vielfalt und nährt diese zugleich. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Bedeutung, der Idee und der Realität der europäischen Vielfalt im Allgemeinen und besonders im Sprachlichen. In einem ersten Teil müssen wir uns mit dem Begriff der kulturellen Vielfalt beschäftigen, in einem zwei­ ten Teil ihn in seiner Anwendung auf Europa diskutieren und in einem drit­ ten Teil den Anteil des Sprachlichen daran identifizieren.

Babele diventa sempre più povera Sabato si è celebrata la Giornata Internazionale della Lingua Madre Che scompaia l’orso polare può essere (giustamente) una preoccupazione per molti, sensibili al degrado dell’ambiente e alla perdita della biodiversità. Ma che spariscano l’eyak, negli Stati Uniti, o il luo, in Camerun, a quanti importa? No, non sono animali esotici a rischio di estinzione. Sono lingue, invece, ormai parlate da un solo essere umano. Lingue che, come molte specie viventi, stanno per svanire dalla faccia della Terra. L’occasione per preoccuparsene è ogni anno il 21 febbraio, proclamato dall’UNESCO Giornata Internazionale della Lingua Madre. PAGINA DI MARCO CAGNOTTI

L’anziano sulla branda è in fin di vita. Con l’ultimo fiato biascica poche parole ai figli e ai nipoti, nella casupola nella giungla peruviana. Ma nessuno lo comprende: il taushiro ormai lo parla solo lui. E con lui sparirà. Ne rimarrà un vocabolario taushiro-spagnolo compilato nel 1975, alcune dotte dissertazioni e poco altro. Ma, morto ormai l’ultimo parlante, anche questa lingua sarà defunta. Ecco una scena che nel prossimo secolo si ripeterà per più di 3.000 volte e segnerà in ogni occasione la sparizione definitiva di una lingua. Ogni essere umano è un universo unico e inimitabile, quindi immensamente prezioso. In quell’universo c’è anche la sua lingua madre, usata per pensare e interpretare la realtà, veicolo di cultura, sensibilità, visioni del mondo. Quando quell’essere umano è l’ultimo parlante, quell’universo interiore è ancora più prezioso. E, dopo la sua morte, il mondo è un po’ più povero.

Pressione sociale Le lingue sono minacciate dalla società e dalla pressione che esercita sui singoli. Una pressione che si manifesta in molti modi. C’è anzitutto una pressione interna alla popolazione stessa, quando la lingua viene percepita come fattore sì unificante, ma superato, lontano dalle esigenze della modernità. Se parli il «dialetto» sei inadeguato alle esigenze del mondo circostante, che ti impo-

Lingue che vanno, lingue che vengono Sia chiaro: il fenomeno, com’è risaputo dai linguisti, è assolutamente naturale. Da sempre le lingue nascono, si sviluppano, spariscono. Esattamente come le specie viventi. L’ambiente naturale e l’ambiente culturale hanno in comune questo continuo ricambio. Ma in passato era, appunto, un ricambio: alle lingue morenti si sostituivano lingue nuove di zecca. Ciò è accaduto anche in tempi recenti, come documenta la comparsa, a seguito delle conquiste coloniali, dei pidgin emersi dall’incrocio fra le lingue locali dei colonizzati e quelle importate dai colonizzatori. Pidgin che poi, raggiunta la cristallizzazione formale, sono assurti al rango e alla dignità di vere e proprie lingue. La caratteristica delle modernità più recente è però l’estinzione senza sostituzione: semplicemente le lingue minoritarie spariscono, al massimo lasciando qualche traccia in espressioni idiomatiche o singole parole nelle lingue vive. E poco o nulla di nuovo nasce in una cultura sempre più globalizzata e uniforme. Strumento indispensabile Il prezzo da pagare è la conoscenza scientifica. Le singole lingue, oltre che preziose perché uniche, rappresentano il retaggio di secoli di conoscenze, filosofie, religioni, forme di arte. Sono quindi uno strumento indispensabile per gli antropologi

Abbildung 1: Sorgen wegen der schwindenden Sprachenvielfalt (aus: ‹‹Corriere del ­T icino›› vom 23. Februar 2009, Archiv GK).


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1. Die kulturelle Vielfalt Vielfalt – in standardisiertem Neudeutsch ausgedrückt: diversity – ist ein po­ sitiv konnotierter Begriff. Er steht für Reichtum im Sinne von Artenvielfalt, Biodiversität. Einheitlichkeit oder gar Einfalt, quasi monokulturelle Arm­ seligkeit, sind dazu die negativen Gegenbegriffe. So wurde im Tessin, das sich sprachlich bedrängt fühlt, im Februar 2009 am internationalen Tag der Muttersprachen mit einem großen und entsprechend illustrierten Artikel daran erinnert: «Babele diventa sempre più povera» (Abb. 1). Vorwiegend denken wir an Vielfalt in kulturellen Dimensionen, doch es gibt sie unter anderem auch in ökonomischer, politischer und biologischer Hinsicht. Mit «kulturell» ist in überdachender Weise nicht das einfach Ge­ gebene, sondern im weitesten Sinn das vom Menschen Gestaltete gemeint. Und Gestalten meint weniger das Gestalten von absolut Neuem, sondern vielmehr der Umgang mit bereits Gegebenem. Und dieses Gegebene wird gerne als Erbe verstanden, für das man Sorge tragen muss. Vielfalt scheint dem Prozess der universalen Homogenisierung ausge­ setzt und von demjenigen des Aussterbens bedroht zu sein. Diese Einschät­ zung trifft zu, aber die diesbezügliche Wahrnehmung ist etwas einseitig. Es gibt auch den Prozess der Heterogenisierung und Individualisierung. Die Vergangenheit dürfte zuweilen einförmiger gewesen sein als die heutige bunte Gegenwart. Das kann man wahrscheinlich unter anderem im Sprach­ lichen erkennen, denn gewisse Minderheitensprachen waren auch schon toter, als sie es heute sind. Georges Lüdi hat das kürzlich wieder betont: Die meisten europäischen Sprachen sind immer mehrsprachiger geworden.1 Dem Singular Kultur liegt eine gewisse Gesamtheitsvorstellung zu­grun­de, die sich folgendermaßen definiert: als «Gesamtheit der unverwechsel­ baren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigen­schaften […], die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen, und dass sie über Kunst und Literatur hinaus auch Lebensformen, Formen des Zu­ sammenlebens, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen um­fasst».2 Neben der Neigung, Kultur im Singular zu denken, gibt es die zweite Nei­   1 Georges Lüdi, Einleitung, in: Georges Lüdi / Kurt Seelmann / Beat Sitter-Liver (Hrsg.), Sprachenvielfalt und Kulturfrieden. Sprachenminderheit – Einsprachigkeit – Mehrsprachigkeit: Probleme und Chancen sprachlicher Vielfalt, Fribourg 2008, S. 2.   2 Georg Kreis, Die Schweiz unterwegs. Schlussbericht des NFP 21 «Kulturelle Vielfalt und nationale Identität», Basel 1993, S. 21ff. – La Suisse chemin faisant. Rapport de synthèse, Lausanne 1994. – La Svizzera in cammino. Rapporto finale, Locarno 1995.


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gung, Kultur statischer zu denken, als sie in Wirklichkeit ist. Wir werden sehen, dass dies gerade bezüglich der Welt der Sprachen der Fall ist. Ich habe bei der Formulierung bewusst das Adjektiv «statisch(er)» gewählt, weil mir «undynamisch(er)» – paradoxerweise – zu dynamisch scheint, das heißt, der bei aller Entwicklung doch vorhandenen Trägheit und Stabilität, dem Be­ harrungsvermögen, nicht entspricht. Eine Gesamtheit setzt Subeinheiten voraus. Wie diese zu verstehen sind, zeigt ein mittlerweile älteres Forschungsprogramm, das ich von 1985 bis 1992 unter dem Präsidium von Georges Lüdi leiten durfte, und das mich auch bei den hier vorliegenden Äußerungen im weitesten Sinn geleitet hat. Das Pro­ gramm beruhte auf der wohl noch immer gültigen Prämisse, dass Gesell­ schaften komplex und nicht durch eine einheitliche Kultur bestimmt, son­ dern durch kulturellen Pluralismus gekennzeichnet sind, das heißt durch eine Vielfalt von Teilkulturen, sei es in horizontaler oder in vertikaler Hinsicht. Unterscheidungsmerkmale (unter Umständen im nationalen Rahmen) von Teilkulturen sind Sprache (natürlich), aber auch Religion, Ethnizität, sozioökonomisches Milieu, Schichtzugehörigkeit, Gender und Generation, Region und das Verhältnis von Zentrum und Peripherie. Diese Spezifizie­ rung, aber auch die allgemeine Grundbedingung lassen uns erkennen, dass es keine absolut selbständigen Teilkulturen gibt, dass diese zwar durchge­ hende Strukturen und Merkmale aufweisen, dass sie sich aber auch überlap­ pen und gegenseitig beeinflussen. Hier muss auch darauf hingewiesen wer­ den, dass die Formate und Gewichte, die Kompaktheiten und Porösitäten, die Dichten und Intensitäten der kulturellen Teileinheiten sehr unterschied­ lich sein können. Wir können die Vielfaltproblematik (ob in allgemeiner kultureller oder spezifischer sprachlicher Hinsicht) nicht erörtern, ohne zugleich auch von der Identitätsproblematik zu reden.3 Vielfalt erlaubt vielfältige Identitäts­ pflege, Pflege von individuellen wie kollektiven Selbstverständnissen. Dies geht nicht ohne Abgrenzung zum anderen. Die Unterscheidung zwischen sich und dem anderem ist so unvermeidlich wie nötig. Sie kann harmonisch oder konfliktuell sein. Das Spezielle besteht in der Relevanz von Vielfalt für ihren jeweiligen Träger. Sie gestattet dem Menschen eine spezifische Iden­ tität, wie diese wiederum die Vielfalt zum Ausdruck bringt und gewährleis­   3 Auch in den UNESCO-Texten taucht der Begriff auf: Förderung von traditionel­ len und zeitgenössischen kulturellen Ausdrucksformen, weil kulturelle Vielfalt Aus­ druck der Einzigartigkeit und Pluralität der Identitäten ist und Austausch, Innova­ tion und Zusammenarbeit zwischen Gesellschaft und Individuum fördert.


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tet. Identität ist ebenfalls etwas, das wir nicht im Singular und nur in Kom­ binationen, zugleich aber als nur leicht dynamisch denken sollten. Wir können das hier nicht vertiefen, sollten uns nur bewusst sein, dass es sich bei der Identität tendenziell um einen zu sehr im Singular benutzten und zu sehr auf feste Gegebenheiten sich berufenden Kampfbegriff handelt, der einer­ seits defensiv ist, andererseits aber auch aggressiv sein kann, zumal wenn es um die Bekämpfung tatsächlicher oder vermeintlicher Übermächte geht. Kulturelle Vielfalt sollten wir uns nicht als Schachbrett- oder Bienen­ wabenvielfalt vorstellen. Auch das da und dort verwendete Bild von Mosaik­ steinen suggeriert zu regelmäßige und zu einheitliche Teileinheiten, etwa wenn gesagt wird, dass sich das Mosaikbild Europa aus Teilstücken von un­ schätzbarem Wert zusammensetze, die da heißen Franken, Langobarden, Preußen, Polen.4 Dank einer faszinierenden Ausstellung in Bonn weiß ich zufällig, dass die Langobarden nur eine dünne Oberschicht eines Vielvöl­ kerreiches bildeten und somit in diesem Fall eine kleine Ethnie eine bunte und breite Mehrheit beherrschte.5 Statt der Metapher des Mosaikbildes wäre die des Patchworks angemes­ sener, wobei auch dieses Bild nur beschränkt die Sache trifft, weil ein Patchwork eigentlich nur dann entsteht, wenn eine Amateurschneiderin die einzelnen Stücke zusammennäht. Patchwork ist zudem meistens negativ kon­ notiert. So warnte Helmut Schmidt im Wendejahr 1989 davor, dass eine Auf­ nahme neuer Mitglieder (zum Beispiel Österreichs) unverantwortlich sei, «solange die EG ein Flickenteppich bleibt». Für ihn machte es damals kei­ nen Sinn, dem Teppich «noch einige zusätzliche Fransen anzufügen».6 Sein positives Gegenbild dazu war die problematische Metapher des Schmelz­ tiegels. Beim vielgescholtenen Europa, das von unseren nationalen Abwehrpo­ sitionen aus stets als Projektionsfläche für negative Einschätzungen dient, wird einerseits gerne das Fehlen eines einfachen und darum leicht wahr­ nehmbaren Vertragsgebäudes bemängelt, andererseits werden Pläne, die in Wirklichkeit seit über einem halben Jahrhundert bestehen, weitestgehend   4 Christina Weiss, Beauftragte der deutschen Bundesregierung für Kultur und Medien, in: Marie-Louise von Plessen (Hrsg.), Idee Europa. Entwürfe zum «Ewigen Frieden». Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Euro­ päischen Union. Ausstellungskatalog, Berlin 2003, S. 11.   5 Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Katalog zur Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn 2008/2009.   6 Helmut Schmidt, Österreich und die Türkei als Beitrittskandidaten. Der Teppich braucht keine neuen Flicken, in: Die Zeit, 27. Januar 1989.


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ignoriert. Heute reden wir gerne von Baustellen. Alles (und darum etwa auch die Universität) ist eine permanente Baustelle – aber eine Baustelle ohne einen Masterplan und ohne eine Masterschneiderin. Zutreffend ist, wenn wir uns das Ganze als ziemlich chaotische Baustelle mit unzähligen verschiedenartigen Teilbaustellen vorstellen. Und das nie fertige Ergebnis ist nicht ein schöner Turm zu Babel und auch nicht eine streng gegliederte gotische Kathedrale, sondern eine Kargo-Kontainer-Kultur à la Heathrow Airport. In der EU ist die Kulturpolitik grundsätzlich bei den Mitgliedsländern angesiedelt. Auf der internationalen Ebene liegt die Zuständigkeit für Kul­ turpolitik beim Europarat und seiner Generaldirektion IV, Bildung, Kultur und kulturelles Erbe, Jugend und Sport. 1954 kam in diesem Rahmen eine Europäische Kulturkonvention über zwischenstaatliche Zusammenarbeit und gegenseitige Kenntnisse der Sprachen, Geschichte und Kultur zustande. Kulturelle Vielfalt wird aber nicht nur von europäischen Institu­ tionen als Prinzip hochgehalten und konkret gepflegt. Die UNESCO, die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization, ist be­ kanntlich keine europäische, sondern eine globale Institution, doch auch sie setzt sich für die Pflege der kulturellen Vielfalt ein. In ihrer Erklärung von 2001 stipuliert sie, dass kulturelle Vielfalt nichts weniger bedeute als das «ge­ meinsame Erbe der Menschheit», und dass sie als «Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität für die Menschheit ebenso wichtig [ist] wie die biologische Vielfalt für die Natur. Aus dieser Sicht stellt sie das ge­ meinsame Erbe der Menschheit dar und sollte zum Nutzen gegenwärtiger und künftiger Generationen anerkannt und bekräftigt werden.» Es geht dabei nicht einfach um einen Wert an sich, sondern um einen Wert für die «Entfaltung der kreativen Kapazität», mithin um einen positiven Entwick­ lungsfaktor.7 Vier Jahre später, im Jahr 2005, schob die UNESCO eine «Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen»8 nach. Sie wurde im Juli 2008 auch von der Schweiz ratifiziert. Die Konven­ tion schafft eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage für das Recht aller Staaten auf eigenständige Kulturpolitik. Sie ermächtigt die einzelnen Staa­

7 Auf ihrer 31. Generalkonferenz, an der 185 Delegationen von Mitgliedsstaaten, 57 zwischenstaatliche Organisationen und über 300 Nichtregierungsorganisationen teil­ nahmen, verabschiedete die UNESCO am 2. November 2001 in Paris die «Allge­ meine Erklärung zur kulturellen Vielfalt».   8 Abgeschlossen in Paris am 20. Oktober 2005.


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ten, gegen wettbewerbsrechtliche Einschränkungen, die durch internatio­ nale Handelsabkommen wie GATS drohen, regulatorische und finanzielle Maßnahmen zu ergreifen, die darauf abzielen, die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen auf ihren Staatsgebieten zu schützen.

2. Die europäische Vielfalt Im – in jeder Beziehung – gewichtigen Ausstellungskatalog von 2003 zur «Idee Europa» erklärt der Generalsekretär des Europarats, dem das Patro­ nat der Ausstellung oblag, die «kulturelle Einheit in der Vielfalt» gehöre zum Erbe Europas wie die Menschenrechte, die Rechtsstaatlichkeit und die pluralistische Demokratie. In den Antworten auf die Frage, was Europa ausmache, steht die Nen­ nung der Vielfalt zuoberst.9 Das Gemeinsame besteht offenbar in der Unterschiedlichkeit. Sicher gab es und gibt es auch noch gemeinsame Ge­ meinsamkeiten: die geographische Lage, die Kleinkammerigkeit, eine eini­ germaßen gleichartige Elite, die Definition der Nichteuropäer, die innere Konkurrenz.10 Die Vielfalt ist eine verschränkte und konkurrierende Viel­ falt. Es ist aber zwischen zwei Arten kultureller Vielfalt zu unterscheiden: Die traditionelle Art sieht das Europäische in der Staatenvielfalt, während eine neuere Art die Vielfalt auch innerhalb der Staaten meint. Jacob Burckhardt meinte nicht die staatliche Vielfalt, als er Ende der 1860er Jahre erklärte: «Europäisch ist: das Sichaussprechen aller Kräfte, in Denkmal, Bild und Wort, In­ stitution und Partei, bis zum Individuum, das Durchleben des Geistigen nach allen Seiten und Richtungen, das Streben des Geistes, von Allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen […].»

9 Georg Kreis, Topos und Realität der Europäischen Vielfalt. Europa ist überall – min­ destens in Europa, in: Johannes Wienand und Christiane Wienand (Hrsg.), Die kul­ turelle Integration Europas, Wiesbaden 2010, S. 122–142. 10 Heinz Duchhardt, Was heisst und zu welchem Ende betreibt man Europäische Ge­ schichte?, in: Heinz Duchhardt / Andreas Kunz (Hrsg.), «Europäische Geschichte» als historiographisches Problem, Mainz 1997, S. 191–202. Eine ähnliche Liste mit acht «Europäischen Tatsachen» findet man bei Hermann Heimpel, Europa und seine mit­ telalterliche Grundlegung, in: Der Mensch und seine Gegenwart, Göttingen 1954, S. 78ff. Vgl. schließlich auch Wolfgang Reinhard, Was ist europäische politische Kul­ tur?, in: Geschichte und Gesellschaft 27, 2001, S. 593–616.


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Abbildung 2: Bildliches Symbol der politischen Einheit in der Vielfalt: schwedisch-norwegisch-dänischer Vertrag von Kalmar, 1397 (aus: Marie-Louise von Plessen [Hrsg.]: Idee Europa. Entwürfe zum ‹‹Ewigen Frieden››. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Euro­päischen Union. Ausstellungskatalog, Berlin 2003, S. 81).

Burckhardt ging (implizit) zwar davon aus, dass auch andere, nichteuropä­ ische Kulturen der Welt prinzipiell ähnliche Grundvoraussetzungen hätten, dass sie diese aber nicht über ein kontradiktorisches Ausleben zur Geltung brächten. Auch bei Burckhardt ist Asien beziehungsweise der Orient als ne­ gative Folie wichtig, das junge Amerika tritt dagegen wider Erwarten kaum als Gegengröße in Erscheinung. Nochmals: «[…] das Streben des Geistes, von Allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen» und weiter: «[…] sich nicht an Weltmonarchien und Theokratien, wie der Orient, lautlos hinzuge­ ben.» Die Völker des Morgenlandes, heißt es weiter in einer Formulierung, die Paul Valerys berühmtes Diktum von 1919 vom schmalen Kap des asiatischen Kontinents vorwegnimmt, hätten stets nur den gleichen Reichstypus repro­ duziert, der Okzident dagegen habe einen anderen Boden – «eine zackige


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Welt von lauter Vorgebirgen und Inseln» – und entsprechend ein anderes, nämlich freiheitliches und vielfältiges, Klima. «Denn Europäisch ist: nicht bloß Macht und Götzen und Geld, sondern auch den Geist zu lieben. Sie schufen die hellenische, römische, keltische und germanische Kul­ tur, welche die asiatischen Kulturen schon dadurch weit besiegen, dass sie vielgestal­ tig waren und daß in ihnen das Individuum sich voll entwickeln und dem Ganzen die höchsten Dienste leisten konnte.»

An die Adresse derjenigen, die meinen, dass es in Europa zu viel Vielfalt und vor allem disharmonierende Vielfalt gebe, bemerkte Burckhardt: «Von einem hohen und fernen Standpunkt aus, wie der des Historikers sein soll, klin­ gen Glocken zusammen schön, ob sie in der Nähe disharmonieren oder nicht: Discordia concors.»11

Ende der 1980er Jahre steigerte der französische Soziologe Edgar Morin diese Formel: Es sei für Europa typisch, dass Unterschiede stets versammelt und niemals verschmolzen würden. Es falle schwer, Europa zu denken und zu definieren, weil es eine unitas multiplex, eben eine Einheit in der Vielfalt oder Vielfalt in der Einheit und übrigens das Außereuropäische im Europä­ ischen stets enthalten sei. Was damals, 1988, eine neue Botschaft war, dürfte sich inzwischen als beinahe banale Wahrheit etabliert haben: «Wir leben in der Illusion, dass Identität etwas Einheitliches und Unteilbares ist, während sie eigentlich immer eine unitas multiplex darstellt.»12 11 Jacob Burckhardt, Historische Fragmente 84, Werke, VII, 1869, S. 368. Zur umge­ kehrten Formel der von Horaz mit Akzent auf der Einheit verwendeten Concordia discors siehe auch Werner Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bd. V, Basel 1973, S. 155ff. Im Weiteren vgl. auch Georg Kreis, Jacob Burckhardt: Die starke und die schwache Seite Europas, in: ders., Vorgeschichten zur Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze, Band 4, S. 21–36: «Diese Einsicht von 1869 erfuhr 1885 eine Bekräftigung: ‹Eine verborgene höchste Kraft erzeugt hier Zeitepochen, Nationen, Individuen von endlos reichem, besonderem Leben. Die abendländische Entwicklung hat das ech­ teste Zeichen des Lebens: aus dem Kampf ihrer Gegensätze entwickelt sich wirklich Neues; neue Gegensätze verdrängen die alten; es ist nicht ein bloßes resultatloses Wiederholen von Militär- und Palast- und Dynastie-Revolutionen wie siebenhundert Jahre lang in Byzanz und noch länger im Islam; – die Menschen werden bei jedem Kampf anders und geben Zeugnis davon; wir schauen in tausend individuelle Seelen hinein und können die Stile des Geistes nach Jahrzehnten datieren; während zugleich das Nationale, das Religiöse, das Lokale [...], zahllose geistige Nuancen von sich aus hineinbringen›» (zit. S. 33). 12 Edgar Morin, Europa denken, Frankfurt a. M. 1988, S. 185 u. 199 (franz. Original 1987).


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Abbildung 3: Alte nationale und neue ‹‹a-nationale›› Visualisierung kultureller Vielfalt: (links) ‹‹Europe­ – All your Colours to the Mast››. Plakat Nr. 16 des European Recovery Program (ERP). Reyn Dirksen, Rotterdam um 1950. Stiftung Deutsches Historisches Museum, Berlin (Inv.-Nr. P 94/3218); (rechts) Datenbank ENA. Rem Koolhaas & Office für Metropolitan Architecture (OMA) (beide Abbildungen aus: Marie-­Louise von Plessen [Hrsg.]: Idee Europa. Entwürfe zum ‹‹Ewigen Frieden››. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Ausstellungskatalog, ­Berlin 2003, S. 305 und S. 368).

Die Formel «Einheit und Vielfalt», die übrigens auch auf viele National­ staaten angewendet wird, gilt auch für andere Gebiete, zum Beispiel für die Rechtsprechung. Das Europarecht ist ein starker Motor der Vereinheitli­ chung, die Umsetzung von Richtlinien aber erfolgt bis zu einem gewissen Grad nach nationalen Usancen.13 Das Sich-Erproben im Umgang mit Vielfalt kann sogar zu einem Bedürf­ nis nach weiterer Vielfalt, einer Suche nach Gegenpositionen oder mindes­ tens nach Varianten des Eigenen führen. Jacques Derrida jedenfalls postu­ lierte zu Beginn der 1990er Jahre, Paul Valérys Bild vom «Kap» aufgreifend, man müsse zu Hütern eines Europa werden, «das gerade darin besteht, daß es sich nicht in seiner eigenen Identität verschließt und daß es sich beispiel­ haft auf jenes zubewegt, was nicht es selber ist, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das andere des Kaps».14 Der in Wien lehrende Historiker Wolfgang Schmale schließt hier indi­ rekt an, wenn er die Rezeptionsbereitschaft zum europäischen Wesensmerk­ 13 Thematisiert wird dies zum Beispiel bei Jürgen Schwarze (Hrsg.), Rechtseinheit und Rechtsvielfalt in Europa, Freiburg 2008. 14 Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a. M. 1992 (franz. Original 1991), S. 25.


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mal macht. Es geht ihm dabei vor allem um ein Gegenbild zu den vorherr­ schenden, stets etwas simplen Wurzelvorstellungen, welche die Identität gerne als von der Vergangenheit bestimmt definieren. Geschichte «wirke» nicht von selbst, sondern existiere vor allem über Re­ zeption (die Römer suchten ihren eigenen Ursprung bei den Griechen, die Christen bei den Juden). Dieses Sein sei nicht in der Vergangenheit pro­ grammiert, sondern durch so etwas wie Selbstzuordnung in der jeweiligen Gegenwart bestimmt. Man sei, wozu man sich bekenne. Der Terminus des «gemeinsamen Erbes» dürfe gleichwohl in Gebrauch bleiben, weil man Erb­ schaften ja annehmen, aber auch ausschlagen könne. Europa wurde und wird zum Teil noch heute vor allem im Gegensatz zu Asien definiert. Während noch im 18. Jahrhundert Asien tendenziell als überlegen oder mindestens ebenbürtig bewundert wurde, setzten sich im Eu­ ropa des 19. Jahrhunderts abwertende Vorstellungen durch, etwa die vom asiatischen Despotismus oder die der massenhaften Gleichförmigkeit. Ein Johann Gottfried Herder führte das Wort von den «asiatischen Barbaren» im Mund.15 Beinahe zweihundert Jahre später erklärte Klaus Hänsch, kein zweiter Herder, aber immerhin Dr. phil. in Politologie, SPD-Spitzenpoliti­ ker und von 1994 bis 1997 Präsident des Europäischen Parlaments, dass «eu­ ropäische Identität und Zusammenhalt» in «der eurasischen Steppe oder in ostanatolischen Gebirgszügen» nicht zu finden seien, und er bediente damit ungeniert das alte Stereotyp.16 Und eine Werbeaktion der Schweizerischen Bundesbahnen unterstützte ihrerseits unbewusst jenes Bild mit einer von uns beiläufig in uns aufgenommenen Darstellung (vgl. Abb. 4). Paul Valéry betonte mit seinem 1919 geprägten Bild vom kleinen europäischen Kap des großen asiatischen Kontinents den gleichen Gegensatz – es war schon da­ mals der zwischen dem freien Westen und dem unfreien bolschewistischen Reich. Die Vielfalt ist im europäischen Selbstverständnis oft nicht einfach eine Gegebenheit in und von Europa, sie wird als Unterscheidungsmerkmal be­ züglich anderer Kontinente verstanden. Wörtlich äußerte sich in dieser Rich­ tung noch jüngst der niederländische Universitätsprofessor Wim Blockmans im eingangs bereits zitierten Berliner Katalog von 2003: «In contrast to North

15 Vgl. Dietmar Herz / Christian Jetzlsperger, Die Europäische Union, München 2008, S. 16ff. 16 Klaus Hänsch, Vertiefung der Gemeinschaft und gesamteuropäische Identität. Ein System konföderaler Zusammenarbeit in Europa, in: Europa-Archiv, Jg. 48, H. 13/14, 1993, S. 389–396 (zit. S. 390).


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Abbildung 4: Asien grenzt hier ­o ffenbar an Austria – das groß­ flächige Negativbild vom Osten (Ausschnitt aus einer SBB-Werbung 2008, Archiv GK).

America or Australia, Europe has a long history of cultural diversity.» Als Mittelalterhistoriker kann man das möglicherweise behaupten. Blockmans erklärt die europäische Vielfalt aus dem Umstand, dass Europa nie unter massivem Einfluss von außen gestanden und nie eine dominante Gruppe dafür gesorgt habe, dass Sprache und andere kulturelle Eigenheiten zu einem allgemeinen Standard geworden seien. Darum sei auch keine partikulare Elite imstande gewesen, ihre Sprache anderen aufzudrängen, wie dies in China während beinahe zweitausend Jahren der Fall gewesen sei. Block­ mans räumt allerdings ein: «Linguistic diversity is certainly not exceptional as such», aber im Vergleich mit den großen Gebilden, eben China, der ara­ bischen Welt, den USA, sei doch in Europa ein offenbar positiv gewerteter Mangel an Verständigungsmöglichkeiten festzustellen. Wenn wir noch einen Moment bei Blockmans verweilen und bis zu sei­ nem Schlusssatz ausharren, stoßen wir auf einen weiteren schönen Beleg für die Meinung, dass Vielfalt der Schlüssel zu Europas Erfolg sei und darum respektiert werden müsse. Auch unsere moderne Gegenwart, erklärt der Mediävist, beruhe auf jahrhundertealten Identitäten.


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Georg Kreis

«In the ongoing movement towards European integration from below, based on the centuries-old identities, respect for added value of diversity will prove to be the clue to success.»17

3. Die sprachliche Vielfalt Die europäische Sprachlandschaft ist vielfältiger, als man in der Regel auf den ersten Blick zu sehen meint. Sie geht über die 23 derzeitigen Amts- und Arbeitssprachen der EU hinaus. Sprachwissenschaftler wissen von mindes­ ten 150 Sprachen in Gesamteuropa, im Europa der ehemals 15 (vor der Ost­ erweiterung von 2004) wurden neben den 11 Amts- und Arbeitssprachen noch 45 Minderheitensprachen gezählt, die von immerhin 30–45 Millionen Menschen der insgesamt 380 Millionen gesprochen würden.18 Bekannt dürfte das Katalanische in Spanien sein, wohl auch das Okzitanische in Frankreich, kaum bekannt etwa das Aromunische in Griechenland. Eine Sprache kann aber auch, wie im Falle des Schwedischen, zugleich Mehr­ heits- und Minderheitssprache sein, Letzteres in Finnland; analog dazu das Russische im Baltikum. So vielfältig wie die Sprachlandschaft ist auch die Landschaft der Sprach­ politik: Spanien etwa gilt als Vorzeigestaat bezüglich der Respektierung der Mehrsprachigkeit, Frankreich dagegen bekundet Mühe mit seinen sechs bis sieben Regionalsprachen und darum auch mit der 1992 zur Unterzeichnung aufgelegten Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitenspra­ chen.19 17 Wim Blockmans, Europe? Which Europe?, in: Marie-Louise von Plessen (Hrsg.), Idee Europa. Entwürfe zum «Ewigen Frieden». Ordnungen und Utopien für die Ge­ staltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Ausstellungskatalog, Berlin 2003, S. 17–22. 18 Im Hinblick auf die Osterweiterung von 15 auf 27 Mitglieder rechnet Peter Hans Nelde (Mehrsprachigkeit und Minderheiten in Europa, in: Eva Gugenberger / Mecht­ hild Blumberg [Hrsg.], Vielsprachiges Europa. Zur Situation der regionalen Spra­ chen von der Iberischen Halbinsel bis zum Kaukasus, Frankfurt a. M. 2003, S. 15–29) mit einer Erweiterung von 56 auf 80 bis 90 Amts- und Minderheitensprachen (S. 18). Vgl. auch Bernd Heine / Tani Kuteva, The Changing Languages of Europe, Oxford 2006 (zu Veränderungen im Status peripherer Sprachen). 19 Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, aufgelegt zur Unterzeichnung am 5. November 1992 in Straßburg, Inkrafttreten: 1. März 1998. Vgl. www.conventions.coe.int/treaty/ger/Summaries: Der Vertrag war «zum einen gerechtfertigt durch das Bemühen, die kulturellen Traditionen und das Kulturerbe Europas zu erhalten und weiterzuentwickeln, und zum anderen durch die Achtung


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